Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 10 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Da dieser Psalm keine eigene Überschrift hat, vermuten manche, er sei ein Bruchstück des 9. Psalms, wofür man auch die Spuren alphabetischer Ordnung geltend macht. Man vergleiche hierüber die Vorbemerkung zu Psalm 9. In der griechischen und lateinischen Bibel werden beide als ein Psalm gezählt. Da unser Psalm aber in sich vollständig ist, ziehen wir es vor, ihn als selbständiges Ganzes anzusehen. Wir haben bereits Beispiele von Psalmen gehabt, die offenbar ein Paar bilden, so Psalm 1; 2; Psalm 3; 4; und dieser ist mit dem 9 wiederum ein solcher Doppelpsalm.
  Der Hauptgegenstand des Psalms ist die Bedrückung und Verfolgung der Frommen durch die Gottlosen. Wir wollen ihm daher zur Unterstützung unseres Gedächtnisses die Überschrift der Hilferuf eine Unterdrückten geben.

  Einteilung. Der 1. Vers, ein Ausruf des Erstaunens, legt die Absicht des Psalms dar, nämlich Gott zu bewegen, dass er sich zur Errettung seines armen, unterdrückten Volkes aufmache. Vers 2-11 beschreiben in kraftvoller Sprache die Denk- und Handlungsweise des Unterdrückers. Im 12. Vers bricht der Hilferuf des ersten Verses wiederum durch, aber in bestimmteren, deutlicheren Ausdrücken. In den folgenden Versen, 13-15, tritt sodann die klare Erkenntnis des Psalmisten zu Tage, dass Gottes Auge all die Grausamkeiten der Feinde sieht, und als eine Folgerung der göttlichen Allwissenheit erschaut er mit Freuden die schließliche Erlösung der Unterdrückten durch den gerechten Richter, Vers 16-18. Der Psalm bietet sowohl der Gemeinde des Herrn in Zeiten der Verfolgung, als dem einzelnen Gläubigen, wenn er unter der Hand stolzer Gottlosen schmachtet, passende Worte zu Gebet und Lobpreisung dar.


Auslegung

1. Herr, warum trittst du so ferne?
verbirgst dich zur Zeit der Not?


1. Warum stehest du fern, Herr? (Grundtext) Dem tränenvollen Auge des Dulders scheint Gott als teilnahmsloser Zuschauer ruhig dazustehen, als hätte er für seinen bedrängten Knecht kein Herz. Ja noch mehr, es ist ihm, als sei der Herr ganz ferne, als habe es keine Geltung mehr, dass Gott unsere Zuflucht und Stärke sei, als mächtige Hilfe in Nöten erfunden (Ps. 46,2 Grundtext), sondern als sei er vielmehr ein unzugänglicher Berg, den niemand erklimmen könne. Die Nähe Gottes ist die Wonne der Seinen, und eben darum versetzt sie der leiseste Verdacht, als sei er ferne, in die größte Beunruhigung. Lasst uns denn stets dessen eingedenk sein, dass der Schmelzer nie weit von dem Schmelzofen ist, wenn sich das Gold im Feuer befindet. Der Sohn Gottes wandelt stets inmitten der Flammen, wenn seine Kinder im Feuerofen sind (Dan. 3,25). Wer aber des Menschen Schwachheit kennt, wird sich darüber wenig wundern, dass wir es in Zeiten scharfer Läuterung fast unerträglich finden, dass der Herr uns scheinbar vernachlässigt, indem er unsere Befreiung verzögert.
  Warum verbirgst du dich (oder: dein Angesicht) zur Zeit der Not?1 Was uns so tief ins Fleisch schneidet, ist nicht sowohl die Not an sich, als das Verbergen des väterlichen Angesichts Gottes. Wenn Trübsal und Verlassenheit zusammen über uns hereinbrechen, dann sind wir in so übler Lage wie Paulus, dessen Schiff zwischen zwei Strömungen auf Grund fuhr (Apg. 27,41). Kein Wunder, dass das Schiff zerbrach von der Gewalt der Wellen. Wenn unsere Sonne sich verfinstert, dann ist es wahrlich dunkel. Sollten wir einer Antwort auf die Frage unseres Textes bedürfen, so finden wir sie in der Tatsache, dass es nicht nur für die Anfechtung, sondern auch für das Traurigsein in der Anfechtung ein göttliches Muss gibt (1. Petr. 1,6). Wie könnte es aber zu dieser Traurigkeit kommen, wenn der Herr sein Angesicht bei unseren Prüfungen über uns leuchten ließe? Wenn der Vater sein Kind tröstete, während er es züchtigt, wo bliebe der Nutzen der Bestrafung? Ein lächelndes Angesicht und die Rute passen nicht zueinander. Gott lässt uns die Streiche gründlich fühlen: denn nur solche Prüfungen, die wir empfinden, können gesegnete Trübsale werden. Wenn Gott uns über jeden Strom in seinen Armen trüge, wo bliebe die Prüfung und wo die Erfahrung oder Bewährung, zu der wir eben durch die Trübsal heranreifen sollen?


2. Weil der Gottlose Übermut treibt, muss der Elende leiden.
Sie hängen sich aneinander und erdenken böse Tücke.
3. Denn der Gottlose rühmet sich seines Mutwillens,
und der Geizige saget dem Herrn ab und lästert ihn.
4. Der Gottlose meint in seinem Stolz, er frage nicht danach;
in allen seinen Tücken hält er Gott für nichts.
5. Er fährt fort mit seinem Tun immerdar;
deine Gerichte sind ferne von ihm;
er handelt trotzig mit allen seinen Feinden.
6. Er spricht in seinem Herzen: Ich werde nimmermehr
danieder liegen;
es wird für und für keine Not haben.
7. Sein Mund ist voll Fluchens, Falsches und Trugs;
seine Zunge richtet Mühe und Arbeit an.
8. Er sitzt und lauert in den Dörfern;
er erwürget die Unschuldigen heimlich;
seine Augen halten auf die Armen.
9. Er lauert im Verborgenen wie ein Löwe in der Höhle;
er lauert, dass er den Elenden erhasche,
und er haschet ihn, wenn er ihn in sein Netz zieht.
10. Er zerschlägt und drücket nieder,
und stößt zu Boden den Armen mit Gewalt.
11. Er spricht in seinem Herzen: Gott hat’s vergessen;
er hat sein Antlitz verborgen, er wird’s nimmermehr sehen.


2. Dieser Vers enthält die förmliche Anklage gegen die Gottlosen: Der Gottlose verfolget in seinem Übermut (hitzig) den Armen. (And. Übers.2 Die Anschuldigung teilt sich in zwei Anklagen: Hochmut und Gewalttätigkeit. Das eine ist die Wurzel und Ursache des anderen. Der zweite Satz enthält den Wunsch oder die Bitte des Unterdrückten: Möchten sie ergriffen werden in den bösen Tücken, die sie erdacht haben. (Grundtext, ähnlich schon Luther 1519.3 Solche Bitte ist vernünftig, gerecht und natürlich. Sogar nach dem Urteil unserer Feinde ist es billig, dass den Leuten geschehe, wie sie andern haben tun wollen. Wir wollen nur, dass euch auf eurer eigenen Waage zugewogen und euer Korn mit eurem eigenen Scheffel gemessen werde. Schrecklich wird dein Tag sein, Babel, du Verfolgerin des Volkes Gottes, wenn du aus dem Kelch wirst trinken müssen, den du selbst bis an den Rand gefüllt hast mit dem Blut der Heiligen (Off. 17,6). Niemand wird Gottes Gerechtigkeit in Frage stellen, wenn er jeden Haman an seinen eigenen Galgen hängen (Esther 7,10) und alle Feinde Daniels in ihre eigene Löwengrube werfen wird (Dan. 6,25).

3. Die Anklage ist verlesen und die Klageschrift vorgelegt; nun wird der Beweis über den ersten Punkt der Klage angetreten. Was den Hochmut betrifft, ist der Beweis von entscheidender Kraft, und kein Geschworenengericht könnte zögern, seinen Wahrspruch gegen den vor den Schranken des Gerichts stehenden Gefangenen abzugeben. Doch lasst uns die Zeugen, einen nach dem andern, vernehmen. Der erste bezeugt dass der Angeklagte ein Prahler ist. Der Gottlose rühmet sich seines Mutwillens, wörtlich: des Gelüstes seiner Seele. Sein Prahlen ist sehr einfältig, denn nicht mit Taten, sondern mit bloßen Wünschen brüstet er sich. Und er offenbart damit seine freche Unverschämtheit; denn wonach ihn gelüstet, das sind Bubenstücke. Ja er ist ein verworfener Mensch, denn er rühmt sich seiner Schande. Großsprecherische Sünder sind die allerschlechtesten und verabscheuungswürdigsten, zumal wenn ihre schmutzigen Gelüste - zu schmutzig, als dass sie sie ausführen könnten - der Gegenstand ihrer Prahlereien werden. Wenn Herr Hasse-das-Gute und Herr Eigendünkel Handelsgenossen werden, machen sie flotte Geschäfte mit des Teufels Waren. Dieser eine Beweis reicht hin, den Angeklagten zu verdammen. Kerkermeister, führ’ ihn ab! Doch halt, noch ein Zeuge meldet sich, um eidlich vernommen zu werden. Diesmal tritt die Frechheit des stolzen Aufrührers noch klarer zu Tage: Er segnet den Habgierigen und verachtet den Herrn. (And. Übers. 4 Schon eben das, dass er den, der bei jedem Geschäft, einerlei wie, seinen Schnitt zu machen versteht ((ac"bIo), beglückwünscht und auch in dem Räuber und Betrüger, wenn er nur an den Gesetzen vorbeizukommen weiß, nur den "smart man " sieht und ihn als solchen preist, das zeigt, welch ein Verächter des heiligen Gottes er ist. Das ist die höchste Frechheit, dass er sich nicht entblödet, in offenem Widerstreit mit dem Urteil des Richters aller Welt den zu segnen, welchen Gott verflucht. Solches tat das verkehrte Geschlecht zu Maleachis Zeiten, da sie die Verächter glücklich priesen (Mal. 3,15). Wie oft haben wir Gottlose in ehrenden Ausdrücken von Habgierigen, Leuteschindern und schlauen Betrügern reden hören! Ja, wir wissen wohl, wie die Welt die Menschen wägt. Der ist ihr am liebsten, der den vollsten Beutel hat. Herr Hochmut ist mit Frau Habgier gut Freund und beglückwünscht sie wegen ihrer Vorsicht, Sparsamkeit und Klugheit. Zu unserem Schmerze müssen wir sagen, dass deren sogar nicht wenige sind, die sich für fromm ausgeben und dennoch einen reichen Mann wertschätzen und ihm schmeicheln, auch wenn sie wohl wissen, dass er sich an dem Fleisch und Blut der Armen gemästet hat. Die einzigen lasterhaften Menschen, die aller Ehren wert gelten, sind die habgierigen Leute. Ist jemand ein Ehebrecher oder ein Trunkenbold, so schließt man ihn aus der Gemeinde aus; aber wer hat je davon gelesen, dass an solch einem elenden Götzendiener, einem Habgierigen und Geizigen, Kirchenzucht geübt worden wäre? Lasst uns vor dem Gedanken erbeben, dass wir etwa erfunden werden könnten als solche, die der frechen Sünde mitschuldig wären, den Habgierigen zu segnen, den der Herr verabscheut, und also den Herrn zu verachten.

4. Die Zeugnisse von dem stolzen Prahlen des Gottlosen und seiner sträflichen Sympathie mit den von Gott Verworfenen sind zu Protokoll genommen, und nun bestätigt sein eigenes Antlitz die Anklage. Der Gottlose (wähnt) in seiner Hochnäsigkeit: Mit nichten wird er ahnden. (Wörtl.) Ein stolzes Herz erzeugt ein stolzes Angesicht und steife Knie. Es ist trefflich so geordnet, dass des Herzens Gedanken so oft in dem Gesicht geschrieben stehen, gerade wie die Bewegungen der Räder einer Uhr auf dem Zifferblatt jedermann kund werden. Eine freche Stirn und ein zerbrochenes Herz sind nicht beieinander. Wir bezweifeln sehr, dass die Athener weise handelten, als sie beschlossen, die Angeklagten sollten im Dunkeln verhört werden, damit ihr Gesichtsausdruck nicht etwa auf die Richter bestimmend einwirke; denn man kann von den Bewegungen der Gesichtsmuskeln viel mehr entnehmen, als von dem, was der Mund redet. Die Ehrlichkeit leuchtet dem Menschen aus dem Angesicht, und ebenso guckt die Niederträchtigkeit einem aus den Augen heraus.
  Siehe, was der Stolz vermag. Er blendet dem Menschen die Augen, dass er Gottes Gerichte nicht sieht. Ja er brütet die Leugnung Gottes aus. In allen seinen Tücken hält er Gott für nichts. Wörtlicher übersetzen wir: Es gibt keinen Gott, ist die Summe seiner Gedanken, oder: (darauf gründen sich) alle seine Tücken. Sein Herz ist voll tückischer Gedanken-Gespinste, aber an Gott denkt er dabei nicht und will er nicht denken: und wenn er an ihn denkt, dann so, dass er sich vorredet, es gebe keinen Gott. Unter Haufen von Gedankenspreu nicht ein Weizenkörnlein. Die einzige Stätte, wo Gott nicht ist, sind die Gedanken des Gottlosen. Das ist eine vernichtende Anklage; denn wo der Gott vom Himmel nicht ist, da herrscht und wütet der Herr der Hölle. Leugnen wir Gott in unseren Gedanken und Plänen, so werden diese uns ins Verderben bringen.

5. Die Bedeutung des ersten Satzes unterliegt Zweifeln. Meist deutet man (nach Hiob 20,21): Stark sind seine Wege allezeit, d. h.: Was er unternimmt, hat jederzeit Bestand. Das war und ist ja je und je für die Redlichen und Gottesfürchtigen eine schwere Anfechtung, dass es oft den Anschein hat, als wären die frechen Übeltäter besondere Günstlinge des Himmels, weil ihre Unternehmungen gedeihen. Luther und andere verstanden das Wort "Weg" hier im sittlichen Sinn von der Handlungsweise des Gottlosen, von seinem bösen Treiben: Er fährt fort mit seinem Tun immerdar. Was fragt er nach Gesetz und Recht? Und ob sein Tun andern Herzeleid und Qual bereitet, was kümmert ihn das? Er sitzt gleich Dschaggernaut auf seinem ungeheuren Götzenwagen, gänzlich ohne Mitgefühl für die Menschenmassen, die unter den Rädern zermalmt werden.
  Deine Gerichte sind hoch droben (Grundtext) von ihm ferne. Ob er gleich seine Nase hoch trägt, so ist sein Blick doch nicht in die Höhe gerichtet. 5 Wie er Gott zu leugnen sucht, so auch Gottes Gerichte. Er hat nicht das geringste Verständnis für die göttlichen Dinge. Ein Schwein wäre wohl eher noch fähig, die Sterne durch ein Fernrohr zu betrachten, als solch ein Mensch, das Wort Gottes zu erforschen und die Gerechtigkeit des Herrn zu verstehen. Er handelt trotzig mit allen seinen Feinden. Wörtlich: Er bläst sie geringschätzig an. (Andere übersetzen: Er schnaubt sie an) Er gebärdet sich trotzig und übermütig. Und wenn Leute seinem schändlichen Treiben entgegentreten, nimmt er eine höhnische Miene an und droht. sie mit einem Puh! zu zerstieben und zu vernichten. Wehe dir, Prahler; du hast einen Feind, der sich um dein Trotzen nicht kümmert. Der Tod wird dir mit seinem Puh! das Lebenslicht ausblasen, und im Grabe wirst du schwerlich noch ans Prahlen denken.

6. Das Zeugnis dieses Verses schließt die Aufnahme des Beweises gegen den Angeklagten hinsichtlich der ersten Anschuldigung, die auf Hochmut lautete, und dies Zeugnis ist von entscheidendem Gewicht. Der Zeuge, der jetzt zu Wort kommt, hat nämlich an der geheimsten Kammer des Herzens gelauscht, und er tritt auf, um uns zu sagen, was er da gehört hat.- Er spricht in seinem Herzen: Nicht werd’ ich wanken; in alle Zukunft werde ich ein solcher sein, der nicht in Unglück gerät. (Grundtext) Seht, wie seine Unverschämtheit in den Samen schießt! Dieser Mensch hält sich für unbeweglich, für allmächtig. Er, er wird nie ins Unglück kommen. Er hält sich für den Günstling des Glücks. Ihm wird’s nicht gehen wie gewöhnlichen Menschen, ihm wird kein Kummer nahen. Er hat sein Nest zwischen den Sternen gemacht (Obadja 1,4), und es kommt ihm nicht im Traume in den Sinn, dass irgendjemand ihn von dannen hinunterstürzen könnte. Aber lasst uns bedenken, dass dieses Mannes Haus auf den Sand gebaut ist, auf einen Untergrund, so unbeständig wie die rollenden Wogen der See. Wer zu sicher ist, ist gar nie sicher. Die luftigen Bogen der Prahlerei sind schlechte Fundamentgewölbe, und das Selbstvertrauen ist ein armseliges Bollwerk. Das ist das Verderben der Narren, dass sie, wenn es ihnen gut geht, im Selbstbetrug sich aufblähen und vor Hochmut platzen. Sie wähnen, ihr Sommer werde ohne Ende währen und ihre Blumen ewig in der Blüte stehen. Sei demütig, Mensch, denn du bist sterblich und dein Geschick so veränderlich, dass es vor Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen ist.
  Nun ist die zweite Beschuldigung an der Reihe der Prüfung. Die erwiesene Tatsache, dass dieser Mensch stolz und anmaßend ist, lässt schon vermuten, dass es auch mit der Anklage auf Rachsucht und Grausamkeit seine Richtigkeit habe. Hamans Stolz war der Vater seines grausamen Planes, alle Juden zu ermorden (Esther 3). Nebukadnezar lässt ein goldenes Bild machen und befiehlt im Hochmut, dass alle davor niederfallen und anbeten; da steht auch schon die Grausamkeit bereit, den Ofen für die, welche sich dem königlichen Willen nicht fügen wollen, siebenmal heißer zu machen, als man sonst zu tun pflegte (Dan. 3). Jeder hochmütige Gedanke ist der Zwillingsbruder eines grausamen. Wer sich selbst erhöht, verachtet andere; ein Schritt weiter, und er wird ’zum Tyrannen.

7. Lasst uns nun wieder die Zeugen hören. Der Schurke möge für sich selber sprechen; denn aus seinem eigenen Munde wird er verdammt werden. Sein Mund ist voll Fluchens, Falsches und Trugs oder Gewalttätigkeit. Nicht nur ein wenig Böses findet sich bei ihm, sondern sein Mund ist voll davon. Eine dreiköpfige Schlange hat sich in der Höhle seines bösen Maules zusammengeringelt, bereit, ihr Gift auf alle zu schießen. Verwünschungen speit er aus, beides gegen Gott und Menschen; mit Falschheit bestrickt er die Unbedachtsamen, und durch Bedrückung beraubt er auch in seinen ganz gewöhnlichen Handlungen seine Nachbarn. Hüte du dich vor einem solchen; habe nichts mit ihm zu schaffen! Sogar unter den Gänsen wollten nur die dümmsten Reineckes Rede hören; und nur die Erznarren begeben sich in die Gesellschaft von Schurken. Doch weiter! Wir müssen dem Mann nicht nur in den Mund, sondern auch noch unter die Zunge gucken: Unter seiner Zunge (birgt sich) Unheil und Verderben. (Grundtext) Da stecken die noch ungeborenen Worte, die, wenn sie herauskommen, Unheil und Verderben anrichten werden.

8. Trotz all seinem Prahlen scheint der Niederträchtige eben so feige als grausam zu sein. Er sitzt und lauert in den Dörfern; er erwürget die Unschuldigen heimlich: seine Augen halten (spähend) auf den Unglücklichen. (Grundtext) Er spielt die Rolle des Wegelagerers, der sich plötzlich aus seinem Versteck auf den arglosen Wanderer stürzt. Es lauern immer böse Menschen im Hinterhalt auf die Frommen. Hier auf Erden sind wir im Land der Räuber und Diebe. Lasst uns wohl bewaffnet reisen, denn in jedem Gebüsch ist ein Feind versteckt. Überall sind Fallen für uns gestellt; überall gibt es Feinde, die nach unserm Blut dürsten, sogar an unserem eigenen Tisch. Nie und nirgends sind wir sicher, es sei denn der Herr bei uns.

9. Das Bild wird immer schwärzer. Der Gottlose ist zum Raubtier geworden. Er lauert im Verborgnen wie ein Löwe in seinem Dickicht, um auf die Beute zu springen. Im zweiten Versglied wird er mit einem listigen Jäger verglichen: Er lauert, dass er den Elenden erhasche; er erhaschet den Elenden, wenn er ihn in sein Netz zieht, oder: indem er ihn fortschleppt mit seinem Netz. Fürwahr, es gibt Menschen, auf welche diese ganze Beschreibung buchstäblich passt. Mit Argusaugen bewachen sie den Gerechten und bringen ihn mit Verdrehungen und Verleumdungen, mit heimlichen Verdächtigungen, ja, wenn’s nötig ist, mit falschen Schwüren um seinen guten Namen und morden so den Unschuldigen: oder aber, sie fangen mit Rechtsklaubereien, mit Pfand- und Schuldbriefen, mit Vollziehungsbefehlen und ähnlichen Mitteln die Armen und schleppen sie fort mit ihrem Netz. Der Kirchenvater Chrysostomus († 407) eiferte besonders streng gegen die letztgenannte Erscheinungsform der Grausamkeit, aber sicherlich nicht mehr, als sie es verdient. Nehmt euch in Acht, meine Brüder, denn es gibt noch andere Schlingen außer diesen. Francis Quarles († 1644) schildert unsere Gefahr in folgenden Zeilen:

  Sieh’, der Versucher sucht dich zu fäll’n,
  Überall Netze und Stricke zu stell’n,
  Netze im Elend, Stricke im Sieg,
  Netze im Frieden, Stricke im Krieg,
  In den Gedanken, in deinem Wort,
  Netze und Stricke an jeglichem Ort.

  Netze im Fasten und im Genuss,
  Netze und Stricke für Hand und für Fuß,
  Netze am Wege, Stricke im Herzen,
  Netze im Hoffen, Stricke in Schmerzen,
  Netze im Jubeln, Stricke in Not,
  Netze in Krankheit, Stricke im Tod.

  O Herr, behüte deine Knechte und schirme uns vor allen unseren Feinden!

10. Er duckt sich und kauert, liegt nach Raubtierart tief sich bückend auf der Spähe, damit die wehrlosen Unglücklichen in seine Klauen (wörtl.: seine Starken) fallen6. Schein-Demut ist oft der Waffenträger der Bosheit. Der Löwe duckt sich, um mit desto größerer Kraft auf die Beute zu springen und seine starken Krallen in sein Opfer zu schlagen. Als der Wolf alt geworden war und Menschenblut gekostet hatte, da rief der alte Sachse: Hütet euch! Ein Wolf! Und wir haben auch Ursache zu rufen: Hütet euch vor dem Fuchs! Wer uns vor die Füße kriecht, will uns zu Fall bringen. Nehmt euch wohl in Acht vor kriechenden Schmeichlern, denn Freundschaft und Schmeichelei sind Todfeinde.

11. Wie bei dem früheren Anklagepunkt, so steht auch bei diesem ein Zeuge auf, der den Angeklagten an dem Schlüsselloch seines Herzens belauscht hat. Sprich heraus, Freund: lass uns hören, was du zu berichten hast! - Er spricht in seinem Herzen: Gott hat’s vergessen; er hat sein Antlitz verborgen, er wird’s nimmermehr sehen. Dieser gewalttätige Mensch tröstet sich mit der Einbildung, Gott sei blind, oder wenigstens habe er ein schlechtes Gedächtnis. Welch läppische, törichte Einbildung! Die Menschen bezweifeln Gottes Allwissenheit, während sie die Heiligen verfolgen! Hätten wir eine Empfindung für die Nähe Gottes, so wäre es uns unmöglich, seine Kinder schlecht zu behandeln. Es gibt in der Tat kein besseres Mittel, uns vor der Sünde zu bewahren, als den steten Gedanken: Du, Gott, siehst mich.
  Das Verhör ist zu Ende. Die Anklage hat sich in ihrem vollen Umfang bestätigt. So ist es denn kein Wunder, dass der Kläger, der so viel Bedrückung hat leiden müssen, seine Stimme erhebt und um ein gerechtes Urteil über seinen Verfolger bittet, wie wir es in dem nun folgenden Vers finden.


12. Stehe auf, Herr; Gott, erhebe deine Hand;
vergiss der Elenden nicht!

12. Mit welch kühner Sprache wendet sich der Glaube an seinen Gott! Und doch, wie viel Unglaube ist nicht selbst mit unserem stärksten Vertrauen vermischt. Furchtlos bestürmt der Psalmist den Herrn, aufzustehen und seine Hand zu erheben, um den Seinen zu helfen und deren Verfolger zu bestrafen; und zu gleicher Zeit bittet er zaghaft, der Herr möge doch der Elenden und Gebeugten nicht vergessen - als ob es je geschehen könnte, dass der treue Bundesgott nicht an die Seinen denke! Dieser Vers ist der unaufhörliche Ruf der streitenden Gemeinde, von dem sie nicht ablassen wird, bis ihr Herr in seiner Herrlichkeit kommt, um sie an allen ihren Widersachern zu rächen.

 


13. Warum soll der Gottlose Gott lästern,
und in seinem Herzen sprechen:
Du fragest nicht darnach?
14. Du siehst ja, denn Du schauest das Elend und Jammer;
es stehet in deinen Händen;
die Armen befehlen’s dir;
Du bist der Waisen Helfer.
15. Zerbrich den Arm des Gottlosen,
und suche heim das Böse,
so wird man sein gottlos Wesen nimmer finden.

13.14. In diesen Versen ist die Beschreibung des Gottlosen in wenige Worte zusammengedrängt. Seine Bosheit wird auf ihre Quelle zurückgeführt, nämlich auf seine gottesleugnerischen Gedanken über die Regierung der Welt. Wir merken alsbald, dass diese Darstellung den Zweck hat, Gott in neuer, noch dringenderer Weise aufzurufen, dass er seine Macht zeige und seine Gerechtigkeit offenbare. Wenn die Ruchlosen Gottes Gerechtigkeit in Frage stellen, mögen wir wohl den Herrn bitten, sie zu lehren, wie schrecklich seine Gerechtigkeit für den Sünder ist. Im 13. Vers wird dargelegt, was der Ungläubige hofft und wünscht. Warum verachtet der Gottlose Gott? Weil er nicht glaubt, dass auf die Sünde Strafe folge. Er spricht in seinem Herzen: Du fragest nicht darnach. Wenn es für andere Menschen keine Hölle gäbe, sollte doch eine da sein für solche, die in Zweifel ziehen, dass es eine vergeltende Gerechtigkeit gebe. Dieser niederträchtige Gedanke findet seine Antwort im 14. Verse: Du hast es wohl gesehen! Denn Du schauest immer auf Leid und Kummer, sie in deine Hand zu nehmen. (Grundtext) Gott ist ganz Auge für das Herzeleid, das seinen Kindern widerfährt, und ganz Hand, um ihre Feinde zu züchtigen. Vor Gottes allsehendem Blick gibt es kein Verbergen und vor der göttlichen Gerechtigkeit kein Entrinnen. Wer die Elenden unterdrückt, wird selbst vom Elend unterdrückt werden; wer wider Gottes Kinder mit den Zähnen knirscht, wird bald an dem Ort sein, wo ewiges Zähneknirschen ist; und wer Tücken in seinem Innern aufspeichert, wird schon hienieden ein reiches Erbteil an Kummer bekommen. Ja wahrlich, es gibt einen Gott, der auf Erden Gericht übt. Auch ist das nicht der einzige Erweis der Gegenwart Gottes auf Erden; denn während er die Unterdrücker züchtigt, erzeigt er den Unterdrückten hilfreich sein Wohlwollen. Die Armen oder Hilflosen befehlen dir; sie übergeben sich ganz der treuen, mächtigen Hand ihres Gottes. Indem sie ihr Urteil seiner klaren Einsicht, ihren Willen seiner Oberhoheit unterwerfen, beseligt sie die Gewissheit, dass er alles zu ihrem Besten ordnen werde. Und er täuscht ihre Hoffnung nicht. Er erhält sie in Zeiten der Not und lässt sie frohlocken über seine Güte. Du bist der Waisen Helfer. Gott ist der Vater aller Vaterlosen. Wenn dein irdischer Vater unter dem Rasen schläft, lächelt dir deines himmlischen Vaters Angesicht aus der Höhe. Irgendwie finden die Waisen ihre Versorgung, und das ist ganz natürlich, da sie einen solchen Vater haben.

15. In diesem Vers hören wir von neuem die Bitte, der Herr möge doch der Gottlosigkeit ein Ende machen. Zerbrich den Arm des Gottlosen, und der Böse - suche sein gottloses Wesen (rächend) heim, bis du nichts mehr findest. (And. Übers.7 Nimm dem Sünder seine Macht zu sündigen, tue dem Tyrannen Einhalt, lege den Unterdrücker in Fesseln. Beraube den Gewaltigen seiner Macht und zerbrich den Arm des Wüterichs. Sie leugnen deine Gerechtigkeit; lass sie dieselbe im Vollmaß erfahren. Ja fürwahr, sie werden sie zu fühlen bekommen; denn Gott wird den Sünder ewig verfolgen. Bis aufs winzigste Körnchen wird die Sünde aufgespürt und bestraft werden. Es ist höchst beachtenswert, dass nur sehr wenige von den großen Verfolgern in ihrem Bette gestorben sind. Der Fluch hat sie augenscheinlich verfolgt, und ihre entsetzlichen Leiden haben sie dazu gebracht, die göttliche Gerechtigkeit anzuerkennen, gegen die sie einst ihren Hohn geschleudert hatten. Gott lässt es zu, dass Tyrannen sich erheben - als Dornhecken, die seine Gemeinde vor dem Eindringen von Heuchlern schützen, und um seine abtrünnigen Kinder durch sie zu züchtigen, wie Gideon die Leute zu Sukkoth die Dornen der Wüste fühlen ließ (Richter 8,16); aber bald rottet er solche Herodesse aus gleich den Dornen und wirft sie ins Feuer. Als Thales von Milet, einer der sieben Weisen Griechenlands, einst gefragt wurde, was er für die größte Seltenheit in der Welt achte, antwortete er: einen Tyrannen alt werden zu sehen. Siehe, wie der Herr stolzen Unterdrückern nicht nur den Arm, sondern das Genick bricht. Wer Gottes Kindern weder Gerechtigkeit noch Barmherzigkeit erwiesen hat, dem wird ein gerüttelt und geschüttelt Maß von vergeltender Gerechtigkeit, aber nicht ein Körnlein Barmherzigkeit zuteil werden.

 


16. Der Herr ist König immer und ewiglich;
die Heiden müssen8 aus seinem Land umkommen.
17. Das Verlangen der Elenden hörest9 du, Herr;
ihr Herz ist gewiss, dass dein Ohr drauf merket,
18. dass du Recht schaffest dem Waisen und Armen,
dass der Mensch nicht mehr trotze auf Erden.10

Der Psalm endet mit lobpreisendem Dank an den großen, ewigen König dafür, dass er das Verlangen seines gebeugten und unterdrückten Volkes gestillt, die Vaterlosen verteidigt und die Heiden, die seine armen, betrübten Kinder mit Füßen getreten haben, gezüchtigt hat. Lasst uns daraus die Lehre entnehmen, dass wir sicherlich wohl fahren werden, wenn wir unsere Klagen vor dem König aller Könige vorbringen. An seinem Thron wird unser Recht beschützt und das uns widerfahrene Unrecht wieder gut gemacht werden. Seine Regierung vernachlässigt nicht die Interessen der Dürftigen, noch duldet sie Bedrückung von Seiten der Mächtigen. Großer Gott, wir überlassen uns deiner Hand. Dir befehlen wir aufs Neue deine Gemeine. Stehe auf, Herr, und lass den Menschen von der Erde, diese Eintagsfliege, zerbrochen werden vor der Majestät deiner Macht. Komm, Herr Jesu, und führe dein Volk zur Herrlichkeit. Amen, ja Amen!


Erläuterungen und Kernworte

V. 1. Es ist meines Erachtens kein einziger Psalm, der die Art und Neigung, Sitten, Werke, Worte, Gedanken, Zustand und Gestalt derer Gottlosen eigentlicher, weitläufiger und deutlicher abmale und beschreibe, als eben dieser; so dass, wenn hiervon bisher noch zu wenig gesagt worden, oder auch zukünftig nicht möchte gesagt werden, man hier ein vollkommenes Muster und Abbildung der Gottlosigkeit haben kann. Es gibt uns demnach dieser Psalm den vollkommenen Abriss von einem Gottlosen und der Gottlosigkeit, das ist, einem solchen Menschen, der zwar in seinen und anderer Leute Augen frömmer als Petrus scheinet, aber vor Gott ein rechter Gräuel ist. Welches denn auch den heiligen Augustinus und andere, so ihm gefolgt, bewogen, dass sie diesen Psalm von dem Antichrist ausgelegt haben. Allein, dieweil dieser Psalm ohne Titel und Überschrift ist, so wollen wir ihn in dem allerweitläuftigsten Verstande nehmen und darin ein allgemeines Bild der Gottlosigkeit betrachten; doch schließen wir den Antichrist zugleich mit ein. Martin Luther 1519.
  Herr, warum verbirgst du dich zur Zeit der Not? Die Antwort darauf ist nicht weit zu suchen; denn wenn der Herr sich nicht verbergen würde, gäbe es überhaupt eigentlich keine Zeit der Not. Man könnte ebenso wohl fragen, warum die Sonne nicht in der Nacht scheine; dann gäbe es ja gar keine Nacht. Es ist zu unserer gründlichen Züchtigung ganz wesentlich notwendig, dass der himmlische Vater uns das Lächeln seines Angesichts entzieht. Es gibt ein göttliches Muss nicht nur für unsere mannigfaltigen Anfechtungen, sondern auch dafür, dass wir durch sie innerlich bedruckt werden. Dem Zweck der Rute wird nur dadurch entsprochen, dass sie uns Schmerzen verursacht. Kommen wir durch die Züchtigungen nicht in innere Not, so tragen wir auch keinen Gewinn davon. Verbirgt Gott sich nicht, so ist das Leiden kein bitterer Trank und hat daher auch keine reinigende Wirkung. C. H. Spurgeon 1869.
  Zeiten der Not sollten Zeiten des Trauens auf Gott sein. Ist das Herz fest in Gott, so kommt die Furcht nicht auf. "Vor schlimmer Kunde fürchtet der Gerechte sich nicht: getrost ist sein Herz, voller Vertrauen auf den Herrn. Sein Herz ist fest, er fürchtet nichts." (Ps. 112,7 f. wörtl.) Ohne festes Gottvertrauen dagegen sind wir veränderlich wie eine Wetterfahne, von jedem Hauch böser Botschaft bewegt; dann ist unsere Hoffnung bald obenauf, bald tief drunten, je nach den Nachrichten, die wir bekommen. Es scheint oft, als schliefe die Vorsehung, und als müssten Glaube und Gebet sie aufwecken. Die Jünger hatten nach ihres Meisters Urteil nur einen kleinen Glauben; dennoch erweckte dieser ihr kleiner Glaube ihn in dem Sturm, und er errettete sie. Der Unglaube aber entmutigt gleichsam Gott, seine Macht zu unserm Heil zu zeigen. Stephen Charnock † 1680.


V. 2. Bei dem Hochmut des Gottlosen muss der Arme brennen. (Grundtext) Jener berüchtigte Christenverfolger, Domitian, beanspruchte gleich andern der römischen Kaiser göttliche Ehre und heizte den Ofen siebenmal heißer für die Christen, weil sie sich weigerten, sein Bild anzubeten. So war es auch mit den römischen Päpsten. Als sie sich mit den lästerlichen Titeln schmückten, als seien sie die Herren der Welt und aller Väter, da ließen sie die Bluthunde gegen die wahren Jünger Jesu los. Hochmut ist das Ei, woraus die Verfolgungswut ausschlüpft. C. H. Spurgeon 1869.


V. 3. Der Gottlose rühmet sich seines Mutwillens, und der Geizige segnet sich (Übers. Luthers und anderer) und lästert den Herrn. Höre, wie der Gottlose sich rechtfertigt, wenn er den Gerechten aussaugt: Ich verlange nur, was nach dem Gesetz mir gehört. Es war ja seine freie Tat, warum hat er sich mir verpfändet? Ich kann nach dem Recht ihm Hab und Gut pfänden oder ihn in den Schuldturm werfen lassen; und das eine oder andere soll geschehen, oder ich will mein Geld bar wieder haben. Was geht das mich an, ob seine bettelnden Kinder abzehren oder sein stolzes Weib zu Grunde geht? Ich will bezahlt sein, oder er soll dafür sitzen, bis ich den letzten Heller habe oder aber seine Knochen. Das Gesetz ist gerecht und gut; und wie kann mein Vorgehen, wenn ich doch nach dem Gesetz handle, für ungerecht gelten? Dreißig vom Hundert, was ist das für einen Handelsmann? Bin ich dazu geboren, Mützen zu nähen oder Stroh aufzulesen? Soll ich mein Vermögen für ein paar Tränen und ein weinerliches Gesicht verkaufen? Ich danke Gott, dass das mich nicht so viel kümmert, als wenn ein Hund um Mitternacht heult. Ich gebe keinen Tag Frist, wenn auch der Himmel selber mir Bürgschaft stellte. Ich muss bares Geld haben, oder seine Knochen müssen herhalten! Was, ich soll mich mit der Zahlung von fünfundsiebzig fürs Hundert abfinden lassen? Zum Henker! Gewissen? Sprecht mir nicht davon. Gewissen führe ich nicht unter meinen Waren. Dieses Gewissen, ja, das hat mehr Leute bankrott gemacht, als all die feilen Dirnen in der Hauptstadt. Mein Gewissen ist kein Narr. Es sagt mir, dass, was mein ist, mir gehört, und dass ein gut gespickter Beutel kein betrügerischer Freund ist, sondern mir treu anhangen wird, wenn all meine Freunde mich verlassen. Wenn das das Kennzeichen eines schlechten Gewissens ist, ein gutes Vermögen aus nichts zu gewinnen und eine zweifelhafte Schuld, die so gut wie nichts ist, wiederzuerlangen, dann helfe Gott den Guten. Schwätzt mir doch nicht von Knickerei und Unterdrückung. Die Welt ist nun einmal hart, und wer emporkommen will, muss fest zugreifen. Was ich verschenke, verschenke ich, und was ich leihe, leihe ich. Wenn das der Weg zum Himmel ist, dass man auf Erden ein Bettler wird, dann gehe den Weg, wer dazu Lust hat. Ich weiß gar nicht, was ihr immer von Bedrückung der Armen redet. Das Gesetz ist meine Richtschnur. Aber wenn ich nur die Wahl habe, entweder zu unterdrücken oder unterdrückt zu werden, so wähle ich natürlich das erstere, das ist nützlicher. Wenn die Schuldner ehrlich sein und zahlen wollten, wären uns die Hände gebunden: aber wenn ihre Zahlungsunfähigkeit meinem Beutel zu Leibe geht, so tasten sie meinen Augapfel an, und dann muss ich mir zu meinem Recht verhelfen. Francis Quarles † 1644.
  Habgier ist das lüsterne Begehren, das zu besitzen, was man nicht hat, und großen Reichtum an Geld und Gut zu erlangen. Ich wende mich an das Urteil meiner Mitmenschen, die selber im geschäftlichen Leben stehen, ob Habgier nicht die Seele des Handels jederart ist und die Hauptursache all der Schäden des Geschäftslebens, über die man überall klagt. Im Vergleich mit dem geordneten, stillen Fleiß unserer Väter, die mit einem kleinen, aber sicheren Gewinn zufrieden waren, enthüllen die wilde, weitschweifende Spekulation auf große Gewinne, das unbesonnene, hastige und abenteuerliche Geschäftsgebaren, worauf wir täglich stoßen, und die verzweifelten, dem Hazardspiel ähnlichen Wagnisse, die man unternimmt, ganz unzweifelhaft, dass sich ein Geist der Habsucht unser bemächtigt hat. Das aufkommende Geschlecht tritt nicht mehr von dem Bestreben erfüllt ins Leben, in ehrbarem Wettbewerb treuen Fleißes und unter Gottes Segen ihre Familien zu ernähren und ihr geschäftliches Ansehen zu erhalten, sondern unsere jungen Leute tragen sich von vornherein mit der Absicht, schnell ein Vermögen zu erringen und es sich dann bequem zu machen und alle Genüsse der Welt zu kosten. Ich muss euch, meine teuren Brüder, mit allem Ernst aufrufen, gegen diese himmelschreiende Sünde der Habsucht einen guten Kampf zu kämpfen. Die großen Weltstädte und Handelsplätze sind die Residenzorte und Festungen der Habsucht. Und ihr, die ihr durch Gottes Gnade in solchen Mittelpunkten des Mammonsdienstes aus der Welt in Christi Reich seid berufen worden, ihr seid zu dem ausdrücklichen Zweck auserwählt worden, dass ihr, wie gegen jeden anderen, so vornehmlich gegen diesen Abfall der Kirche zeuget, der meiner Meinung nach so besonders klar vor Augen liegt und so allgemein ist wie keine andere Verirrung. Denn wer entgeht heutzutage der Schlinge der Habsucht? Edward Irving 1828.


V. 4. In unserm Psalm spricht David von großen, mächtigen Bedrückern und Staatsmänner, die keinen Größeren und Höheren auf Erden sehen, als sich selbst, und darum denken, sie könnten ungestraft den wilden Tieren gleich die Kleineren zur Beute machen; und im 4. Vers wird uns nun die Wurzel alles dessen aufgedeckt, nämlich, dass sie denken, Gott frage nichts danach, ja dass alle ihre Gedanken darauf gehen, es gebe keinen Gott. In all ihren Plänen und Ränken machen sie die Rechnung ohne Gott. Das ist der tiefste Grund all ihrer gottlosen und gemeinschädlichen Anschläge und all ihrer betrügerischen Handlungen: dadurch werden sie so kühn und frech in ihren bösen Wegen. Thomas Goodwin † 1679.
  Seneka († um 38) sagt, es gebe keine Atheisten, wiewohl etliche es zu sein vorgäben. Wenn irgendwelche Leute sagen, sie glaubten nicht, dass es einen Gott gebe, so lügen sie. Wiewohl sie bei Tage so sprechen mögen, ist es ihnen doch alsbald anders, wenn es Nacht wird und sie allein sind. So verzweifelt etliche sich auch verstocken, so bekennen sie doch alsbald, dass ein Gott sei, wenn er ihnen seine Schrecken zu fühlen gibt. Viele unter den alten und neuen Heiden haben das Dasein Gottes geleugnet und dennoch, wenn sie in Not waren, auf ihren Knien ihn angerufen, wie Diagoras, der großmäulige Atheist, die Gottheit, welche er geleugnet hatte, anerkannte, als er sich in Schmerzen wand. Diese Art Gottesleugner überlasse ich der göttlichen Barmherzigkeit: ich zweifle aber, ob solche für sie da ist. Richard Stock † 1626.
  Der Hochmut der Gottlosen ist die Hauptursache ihrer Leugnung Gottes. Sie suchen Gott nicht zu erkennen, denn es ist ihnen unangenehm, an Gott zu denken. Der Hochmut besteht in einer ungebührlich hohen Meinung vom eigenen Ich. Darum können die Menschen in ihrer Hochnäsigkeit nicht einmal es ertragen, dass jemand ihnen gleich sei, und hassen jeden, der über ihnen steht; sie wollen keinen Meister. In dem Maße, als der Hochmut im Herzen die Überhand gewinnt, steigert er in uns den Wunsch, niemand über uns zu sehen, kein Gesetz außer unserem Willen anzuerkennen und keiner andern Richtschnur als unseren eigenen Neigungen zu folgen. So verführte er den Satan, sich gegen seinen Schöpfer zu empören, und verleitete er unsere ersten Eltern zu dem Begehren, zu sein wie Gott. Sind das die Folgen des Stolzes, so ist es klar, dass einem hochmütigen Herzen nichts unerträglicher ist als der Gedanke an Gott, dieses Wesen, das so unendlich machtvoll, gerecht und heilig ist, dem niemand widerstehen, das niemand täuschen oder hintergehen kann, das über alle Geschöpfe und alle Umstände nach seinem unumschränkt freien Willen verfügt und ganz besonders allen Stolz hasst und gewillt ist, ihn zu demütigen und zu züchtigen. An solch ein Wesen kann das stolze Herz nur mit Empfindungen von Furcht, Abneigung und Widerwillen denken. Es kann ihn nicht anders denn als seinen natürlichen Feind ansehen, als den einen großen Feind, den es zu fürchten hat. Die Erkenntnis Gottes zielt nun unmittelbar darauf hin, diesen unendlichen, unwiderstehlichen und unversöhnlichen Feind dem stolzen Menschen recht klar vor die Augen zu stellen. Sie lehrt ihn, dass er einen Meister hat, dessen Obergewalt er nicht entfliehen und dessen Macht er nicht widerstehen kann, ja dessen Willen er gehorchen muss, wenn er nicht von ihm zermalmt werden und für immer elend sein will. Sie zeigt ihm eben das, was zu merken ihn mit Hass erfüllt, nämlich, dass ungeachtet all seines Widerstrebens Gottes Ratschluss dennoch besteht, dass Gott tut, was ihm gefällt, und über all das stolze Gebaren der Menschen hoch erhaben ist. Diese Wahrheiten martern das stolze, ungebeugte Herz der Gottlosen, und darum hassen sie die Erkenntnis Gottes, welche sie davon überzeugt, und wollen Gott nicht erkennen. Im Gegenteil, sie wünschen von einem solchen Wesen nichts zu wissen, und es ist ihr Bestreben jeden Gedanken an Gott sich aus dem Sinn zu schlagen. Zu dem Zweck übergehen sie alle die Teile der göttlichen Offenbarung im Wort, welche Gottes wahres Wesen beschreiben, oder sie verdrehen sie oder deuteln sie weg und geben sich Mühe zu glauben, Gott sei wie ihresgleichen.
  Wie töricht, wie ungereimt, wie verderblich erscheint doch der Stolz! Blindlings zerstört er seine eigenen Ziele. Indem er sich zu erheben versucht, stürzt er sich nur in den Kot; indem er sich selbst einen Thron zu errichten sucht, unterhöhlt er den Boden, worauf er steht, und gräbt sein eigenes Grab. Die Selbstüberhebung stürzte den Satan vom Himmel in die Hölle; sie bannte unsere ersten Eltern aus dem Paradiese; und sie wird alle, die ihr frönen, ins Verderben stoßen. Der Hochmut hält uns in Unwissenheit über Gott, schließt uns von seiner Gnade aus und hindert uns, ihm ähnlich zu werden. Ja dieser Welt beraubt er uns all der Ehre und Glückseligkeit, welche die Gemeinschaft mit ihm uns verleihen würde: und in der zukünftigen Welt wird er uns, es sei denn, dass wir ihm vorher absagen, ihn hassen und bereuen, auf immer des Himmels Tür verriegeln und die Pforten der Hölle hinter uns zuschließen. O meine Freunde, hütet euch darum mit allem Fleiß vor dem Hochmut! Hütet euch, dass ihr nicht etwa unvermerkt ihm anhanget; denn er ist vielleicht von allen Sünden die verborgenste und feinste, und so unvermerkt wie sie schleicht sich wohl keine andere ins Herz hinein. Edward Payson † 1827.


V. 5. Hoch entrückt sind deine Strafgerichte von ihm (Grundtext), d. h. aus seinem Sehbereich, wie der Adler hoch in den Lüften fast unsichtbar wird, dass das Tierlein unten ihn nicht achtet, auf das er doch bald mit Blitzesschnelle niederstoßen wird. So wird der Mensch frech im Sündigen; doch auf Frechheit folgt schnell Verzweiflung. Erst heißt es: Ei was, sollte Gott sich darum kümmern? Hernach: Wehe mir! Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge. Die Augen, welche die Frechheit zuschließt, öffnet meist die Verzweiflung. Thomas Adams 1614.
  Siehe hierin den Unterschied zwischen den Frommen und Gottlosen. Ein frommer Hiob ist wegen aller seiner Werke besorget, da sie doch rein sind (Hiob 9,30 f.). Die Gerichte Gottes sind ihm sehr nahe, dass er mit David spricht: Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht (Ps. 143,2). Hingegen aber der Gottlose macht sich gar keinen Kummer über seine Werke, die doch alle unrein und befleckt sind; so weit sind die Gerichte Gottes von ihm entfernt. Ja der Stolze bildet sich noch wohl ein Gott sei sein Schuldner, weil er solche gute Werk aufzuweisen habe, die er noch zum Überfluss getan und die an und für sich selbst des ewigen Lebens würdig wären. Martin Luther 1519.
  Seine Feinde bläst er verächtlich an und vergisst, dass er selbst nur ein Windeshauch ist. Joseph Caryl † 1673.
  Er ist dahingegeben in stumpfe Gleichgültigkeit und kümmert sich so wenig um andere als um sich selbst. Wer immer nach seiner Meinung ihm Feind sein mag, das lässt ihn kalt. Verachtung und Hohn sind seine einzigen Waffen, und er hat es ganz verlernt, andere besserer Art zu brauchen. Sein ganzes Denken und Tun hat das Gepräge der Geringschätzung anderer, und er behandelt die Urteile und Meinungen und die Handlungsweise selbst der weisesten Männer mit Verachtung. John Morison 1829.


V.6. Fleischliche Sicherheit öffnet jeder Art Gottlosigkeit (V. 7) die Herzenstür. Als Pompejus eine Stadt lange vergeblich belagert hatte, ersann er eine Kriegslist. Er sagte den Belagerten, er werde unter der Bedingung von der Belagerung ablassen und Frieden schließen, dass sie etliche schwache, kranke und verwundete Krieger in die Stadt einließen, damit diese dort Pflege fänden. Sie gingen darauf ein, und als die Stadt sich in Sicherheit wiegte, öffneten jene dem Heer des Pompejus die Tore. Die fleischliche Sicherheit verschafft einem ganzen Heer von Lüsten den Eingang in die Seele. Thomas Brooks † 1680.
  Diese falsche Ruhe gleicht der unheimlichen Stille vor dem Sturme, jener seltsamen Vorbotin besonders schrecklicher Naturereignisse, von der manche Seereisende zu erzählen wissen. Ganz plötzlich kommt eine große Stille über den weiten Ozean; das Wasser wird durchsichtig wie Kristall und glatt wie ein Spiegel, die Luft ganz klar. Der unerfahrene Reisende ist ruhig und heiter, aber der wettergebräunte Seemann fängt an zu zittern. In einem Augenblick beginnen die Wogen zu schäumen, der Wind heult, der Himmel verdüstert sich, taufend Abgründe öffnen sich, schreckliche Blitze flammen ringsumher auf, und jede Woge droht plötzlichen Untergang. Das ist ein passendes Gleichnis von der Heilsgewissheit mancher Leute. Jacques Saurin † 1730.


V. 7. Unter seiner Zunge birgt sich Unheil und Verderben, wie die Schlangen Giftdrüsen unter ihren Zähnen haben und mit großer Geschicklichkeit denen tödliches Unheil beibringen, welche in ihren Bereich kommen. Eine ergreifende Schilderung der traurigen Verheerungen, die solche, die das Gift des Unglaubens in sich haben, in der menschlichen Gesellschaft anrichten. Durch ihre Verkehrung der Wahrheit und ihre unsittliche Denk- und Lebensweise wirken sie auf die Gesinnung ihrer Umgebung so schädlich ein, wie das tödlichste Gift auf den Körper. John Morison 1829.
  Er sagt hier nicht vergebens: unter der Zunge: denn er will damit anzeigen, dass oberhalb der Zunge, oder zum Schein und dem äußerlichen Ansehen nach, wo es in die Sinne fällt, ihre Rede in anderer Augen gut zu sein scheinet. Denn da ist ihre Zunge schmeichelhaft und glatt; unterhalb aber derselben, das ist, in der Tat selbst, Mühe und Schmerz. Martin Luther 1519.
  Flucher sind verfluchte Leute. John Trapp † 1669.


V. 7-9. In dem Bericht der Märtyrerin Anna Askew über ihr Verhör vor Bischof Bonner finden wir ein Beispiel von der Meisterschaft, die so manche Verfolger treuer Wahrheitszeugen sich in der List und Grausamkeit erworben haben. Sie erzählt: "Am folgenden Tag schickte der Bischof (von London) schon um ein Uhr nach mir, während die Verhandlung erst auf drei Uhr festgesetzt war. Als ich vor ihm erschien, sagte er, meine unglückliche Lage erfülle ihn mit tiefem Bedauern, und er wünsche zu hören, was ich über die Anklagen dächte, welche man wider mich vorgebracht habe. Er ersuchte mich, ihm freimütig mein Herz zu offenbaren und keine Furcht zu hegen; niemand solle mir ein Leid zufügen um irgendwelcher Dinge willen, die ich in seinem Hause sagen würde. Ich antwortete: Da Euer Hochwürden die Verhandlung auf drei Uhr festgesetzt haben und meine Freunde erst zu jener Stunde erscheinen werden, bitte ich, mir die Antwort bis dahin zu erlassen." - In dieser Beschleunigung des Verhörs kann der aufmerksame Beobachter wahrnehmen, wie gierig dieser Bischof von Babel oder vielmehr dieser blutdürstige Wolf auf seine Beute war. Wie die Schrift sagt: Ihre Füße sind eilend, unschuldig Blut zu vergießen: mit ihren Zungen handeln sie trüglich, Otterngift ist unter ihren Lippen, ihr Schlund ist ein offenes Grab
(Röm. 3,13.15). Sie fressen Gottes Volk, als ob sie Brot äßen (Ps. 14,4 Grundtext). Bischof John Bale † 1563.


V. 8. Der räuberische Beduine lauert wie ein Raubtier zwischen diesen Sandhügeln: plötzlich stürzt er sich auf den einsamen Wanderer, plündert ihn aus in einem Nu und verschwindet eben so schnell wieder in dem Labyrinth von Sandhügeln und Gestrüpp, wo jede Verfolgung nutzlos wäre. Unsere Freunde sind sehr darauf bedacht, uns am Umherschweifen oder Zurückbleiben zu verhindern, und doch scheint es so töricht, hier einen Überfall zu befürchten, - Haifa vor uns, Akko im Hintergrunde und Reisende in Sicht auf beiden Seiten. Dennoch kommen gerade an der Stelle, wo wir jetzt sind, oft genug Raubanfälle vor. Ein eigenartiges Land! Und es ist immer so gewesen. Hundert Anspielungen auf diese Dinge finden sich in den Geschichtsbüchern, den Psalmen und den Propheten. Eine ganze Reihe lebhafter Schilderungen fußt darauf. So Psalm 10, V. 8-10. Der Schurken sind unzählige, die wie lebende Originale zu diesem Bild noch heute sich ducken und überall im Lande im Hinterhalt lauern, um den hilflosen Wanderer zu erhaschen. Alle Leute, denen wir begegnen, sind bewaffnet. Sie würden es nicht wagen, ohne ihre Flinte von Akko nach Haifa zu gehen, trotzdem die Kanonen der Kastelle jeden Schritt des Weges zu beherrschen scheinen. Welch merkwürdiges Land! Aber es stimmt wunderbar mit seiner alten Geschichte überein. W. M. Thomson, Palästinas Land und Leute, 1859.
  Meine Gefährten fragten mich, ob ich wisse, welcher Gefahr ich entronnen sei. Nein, erwiderte ich, welcher? Da erzählten sie mir, dass sie, gleich nachdem sie mich verlassen, gesehen hätten, wie ein Araber mir, die Flinte in der Hand, auf dem Boden kriechend nachgeschlichen sei, und wie er, sobald er in Schussweite von mir gekommen sei, seine Flinte angelegt habe. Da habe er wild umhergeblickt, wie jemand, der eben im Begriff ist, einen bösen Streich auszuführen: In dem Augenblick sei er aber ihrer ansichtig geworden und daraufhin verschwunden. Jeremia wusste auch etwas von der Weise dieser Beduinen; er sagt: An den Straßen sitzest du und lauerst auf sie wie ein Araber in der Wüste. Diese warten und lauern auf ihre Beute mit größtem Eifer und zäher Ausdauer. John Gadsby 1860.
  Diese ganze lebhafte Schilderung bezweckt, die Emsigkeit, die List und niederträchtige Geschicklichkeit zu zeigen, welche die Feinde der Wahrheit und Gerechtigkeit oft anwenden, um ihre verderblichen und ruchlosen Pläne auszuführen. Die Ausrottung der wahren Frömmigkeit ist ihr großes Ziel, und sie schrecken vor keinem Mittel zurück, das zu dessen Erreichung dienen mag. Die Mächte, von denen die Gemeinde des Herrn zu verschiedenen Zeiten unterdrückt worden ist, haben diese Schilderung voll bewahrheitet. Sowohl heidnische Gewalthaber, als auch solche, die sich christlich nannten, sind zu solchen Niederträchtigkeiten hinabgestiegen. Sie haben wirklich im Hinterhalt auf die armen Schäflein Christi gelauert; sie haben jede Kriegslist angewandt, welche höllischer Scharfsinn erfinden konnte; sie haben sich verbündet mit Fürsten in Palästen und mit dem Pöbel in den Gassen. Sie haben die einsamen Dörfer heimgesucht so gut wie die belebten, dicht bevölkerten Städte. Und das alles zu dem vergeblichen Zweck, einen Namen auszutilgen, der ewiglich bleiben wird, solange die Sonne währet (Psalm 72,17). John Morison 1829.


V. 9. Das Wild, das sie jagen, sind die Elenden und Armen. Die müssen früh aufstehen und spät aufsitzen, ihr dürftiges Mahl mit Sorgen essen und ihre Kindlein um Brot schreien hören, während die ganze Frucht ihrer mühseligen Arbeit an ihrer Unterdrücker Tafel aufgetischt wird. Klage darüber, so viel du willst, pecuniosus nescit damnari, wie Verres sagt, für den Reichen gibt es keinen Galgen. Aber mag der Geldprotz auch auf Erden keinen Richter haben, im Himmel steht sein Urteil schon geschrieben. Denn die Unterdrückung der Armen schreit zum Himmel; des Herrn Ohren merken darauf, und sein Arm der Gerechtigkeit duldet solche Herausforderung nicht. Ob auch die Armen schweigen, so werden doch die Steine in der Mauer schreien und die Balken am Gespärr ihnen antworten
(Hab. 2,11). Die ungerechten Geldbußen, die Quälereien, Plackereien, Pfändungen und Bedrückungen allerart schreien zu Gott um Rache. - Sie sind grausamer als selbst die wilden Tiere. Kein Tier, nur der Mensch sucht seine Raubgier an seinesgleichen zu befriedigen. Aber es scheint auch nur so, als ob sie ihresgleichen jagten. Sie sind in Wirklichkeit blutdürstige Wölfe, jene, die sie verfolgen, wehrlose Lämmer. Kein mächtiger Nimrod wagt es, auf solche, die ihm gleich sind, Jagd zu machen; aber die Macht- und Wehrlosen würgt er wie ein Nero. Steht er bei den Hohen in Gunst, so darf ihm niemand auf hundert Schritt nahe kommen. Wütend schlägt er alles nieder; ein Hauch seines Mundes verursacht ein Erdbeben. Aber Macro grüßt Sejanus nur, solange dieser der allvermögende Günstling des Kaisers (Tiberius) ist; stürzt er aus dieser Höhe, so sind auch die Hunde schon bereit, ihn zu zerreißen. Thomas Adams 1614.
  Sie lauern alle aufs Blut; ein jeglicher jagt den andern, dass er ihn verderbe (Micha 7,2). Gar kunstvoll haben sie ihre Netze geknotet und dann verborgen, um die Leute zu fangen. Durch schillernde Waren locken und ziehen sie Käufer in ihre dunkeln Winkelläden (und wie sollten die das Licht lieben die von der Finsternis leben), wo die listigen Blutegel schnell die Pulsader finden können. Sind sie gezwungen zu kaufen, so sollen sie, was sie brauchen, teuer bezahlen. Und wiewohl sie behaupten: Wir zwingen niemand, unsere Waren zu kaufen; der Käufer sehe selber zu - so werfen sie doch mit wohl ersonnenen Redensarten und fluchwürdigen Beteuerungen den Einfältigen einen Schleier über die Augen und fangen sie mit ihren verschmitzten Kunstgriffen. Auf diese Weise haben sich manche bei uns ein warmes Nest bereitet, nicht durch offene Gewalt, sondern durch kluge Überlistung. Aber, wie schon Augustin († 430) sagt, ob ihre Ränke auch in jure fori bestehen mögen, so doch nicht in jure poli - wohl vor menschlichen Gerichten, aber nicht vor dem königlichen Gericht des Himmels. Thomas Adams 1614.


V. 10. Er duckt sich und kauert am Boden. Nichts ist ihnen zu gemein, zu kriecherisch und niederträchtig, wenn es dazu dient, ihre unheilvollen Pläne zu fördern. Ihr könnt es sehen, wie Seine Heiligkeit der Papst den Pilgern die Füße wäscht, wenn diese List nötig ist, um auf die leicht betrogene Volksmenge Einfluss zu gewinnen; oder ihr könnt ihn auf purpurnem Thron sitzen sehen, wenn er den Königen der Erde Scheu einflößen und sie so beherrschen will. John Morison 1829.
  Erwischt ihr einen Wolf im Schafsfell, so hängt ihn alsbald auf; denn er ist der schlimmste von der ganzen Art. Thomas Adams 1614.


V. 11. Er spricht in seinem Herzen: Gott hat’s vergessen. Ist es nicht wider alle Vernunft, sich über Sünden, die man vor langer Zeit begangen hat, der Sorglosigkeit hinzugeben? Die alten Sünden, die die Menschen längst vergessen haben, sind dem unbeschränkten Gedächtnis des Unendlichen unauslöschlich eingeprägt. Die Zeit kann das nicht austilgen, was Gott schon von Ewigkeit her zuvor gewusst hat. Amalek musste zu Sauls Zeiten die alte Schuld seiner Unfreundlichkeit und Hinterlist gegen Israel büßen, wiewohl das Geschlecht, das die Sünde begangen hatte, längst im Grabe vermodert war. (1. Samuel 15,2 f.) Unsere alten Sünden stehen in einem Buche geschrieben, das allezeit vor Gott offen liegt. (Vergl. Jes. 65,6) Unsere Missetaten sind vor Gott in ein Bündlein zusammengebunden (Hos. 13,12), wie es die Leute etwa mit den Schuldscheinen machen. Wie Gottes Vorwissen sich auf alle Taten der Menschen erstreckt, die noch geschehen werden, so umfasst sein Gedächtnis alles und jedes einzelne, das die Menschen je getan haben von Beginn der Welt an. Stephen Charnock † 1680.
  Viele sprechen in ihrem Herzen: Gott wird’s nimmermehr sehen, während sie mit der Zunge bekennen, dass er allsehend sei. Das Herz hat ebenso wohl eine Zunge als der Mund, und diese beiden Zungen sprechen selten dieselbe Sprache. Joseph Caryl † 1673.
  Überall führt die Schrift die Sünde auf ihre Wurzel zurück. Es gibt keine Sünde, die nicht aus der in unserm Vers gezeigten bittern Wurzel entspringt oder genährt wird. Man merze nur den Glauben an die göttliche Vorsehung aus oder schwäche ihn ab: alsbald wird es sich zeigen, wie Ehrsucht und Habsucht, Hintansetzung Gottes, Misstrauen, Unleidlichkeit und allerlei anderes Unkraut über Nacht aufschießen! Gerade aus dieser Quelle schöpft die Ungerechtigkeit einen Beweis nach dem andern, um sich dadurch im Bösen zu befestigen; denn nichts schreckt so sehr die aufsteigenden verderblichen Lüste ab, nichts treibt sie so aus dem Herzen aus, wie die lebhafte Überzeugung, dass Gott auf das Tun und Treiben der Menschen achte. Stephen Charnock † 1680.
  Weil nicht bald geschieht ein Urteil über die bösen Werke, dadurch wird das Herz der Menschen voll, Böses zu tun (Pred. 8,11). Gott säumt mit der Strafe, darum säumen die Menschen mit der Buße. Der Sünder denkt: Gott hat mich all die Zeit verschont, er hat seine Geduld bis zur Langmut ausgedehnt; er wird mich gewiss nicht strafen. Gott vertagt manchmal in seiner großen Geduld die Gerichte; denn er hat keine Lust am Strafen. (Vergl. 2. Petr. 3,9.) Es ist der Biene rechte Art, Honig darzureichen; sie sticht nur, wenn sie gereizt wird. Der Herr möchte, dass die Menschen Frieden mit ihm machten. (Jes. 27,5 Grundtext: Dass man Frieden mit mir machte, mit mir Frieden machte!) Gott gleicht nicht einem unbarmherzigen Gläubiger, der keine Frist gestattet; er kann in seiner großen Langmut warten und harren; aber sein Zweck ist dabei, eben durch seine Geduld die Sünder zu gewinnen, dass sie Buße tun. Doch wie wird diese Geduld missbraucht! Gottes Langmut verhärtet viele. Thomas Watson 1660.
  Weil Gott fortfährt, die Sünder zu schonen, fahren sie fort, ihn herauszufordern. Schont er ihr Leben, so schonen sie ihre Lüste. Was ist das anders, als wenn jemand mutwillig sich alle Knochen brechen wollte, weil es einen Arzt gibt, der sie wieder zusammenfügen kann? Weil die Gerechtigkeit die Augen zuzudrücken scheint, meinen die Leute, sie sei blind. Aber mögen solche wissen, dass der geräuschlose Pfeil ebenso wohl töten kann wie die donnernde Kanone. Die Geduld Gottes währet wohl lang, aber lang ist nicht ewig. William Secker 1660.


V. 13. Sie machen es wie jener verwegene Seeräuber, dem der Kapitän des Schiffs, das er plünderte, sagte, die Gerechtigkeit könne ihn zwar jetzt nicht ergreifen, er werde es aber am Tage des Gerichts zu verantworten haben. Er erwiderte: Wenn es noch so lange geht, dann will ich erst dein Schiff und dich noch dazu nehmen. Mit diesem Selbstbetrug bereden sich nur zu viele große Diebe und Bedrücker in ihrem Herzen, wenn sie es auch nicht auszusprechen wagen. Thomas Adams 1614.


V. 14. Die Armen befehlen’s dir. Unsere Leidensscheu kommt vornehmlich aus dem Mangel an Vertrauen zum Herrn. Unser kleingläubiges Herz wandelt auf dem Felsengrund der göttlichen Verheißungen zuerst wie jemand, der sich aufs Eis begibt und anfangs voller Furcht und Unruhe ist, es möchte unter seinen Füßen zusammenbrechen. Ergeben wir uns aber Tag für Tag aufs neue dem Herrn in gläubigem Vertrauen, so werden wir immer mehr mit den Gedanken an die Macht und Treue Gottes vertraut, so dass die argwöhnische Furcht schwindet, die uns sonst so leicht befällt, wenn wir in irgend eine große Not kommen, und wir machen dann auch immer herrlichere Erfahrungen von der Zuverlässigkeit unseres Gottes und seiner Verheißungen. Da wir so sinnlich, kindisch und schwach sind, fällt es uns gar schwer, Gott einfach aufs Wort zu glauben, und wir finden daher in den Erfahrungen eine ganz besondere Stütze für das Vertrauen auf ihn im Blick auf die Zukunft. Lasst uns denn jeden Morgen uns selbst und unsere Sache ihm befehlen; und jeden Abend lasst uns wieder zusehen, wie Gott unser Vertrauen geehrt hat. Lege dich nicht schlafen, ehe du dein Herz von seiner Treue überführt und zu neuem Vertrauen auf seine Hut in der Nacht in Pflicht genommen hast. Und wenn Gott dir etwas nicht gewährt hat, was du im Glauben von ihm erwarten zu dürfen meintest, dann merke darauf, wie Gott die Lücke ausfüllt und den scheinbaren Verlust in Gewinn verwandelt, und ruhe nicht, bis du Gott deinem Herzen gegenüber gerechtfertigt hast. Mache es dir ganz gewiss, dass keine Unzufriedenheit mit Gottes Walten auf deiner Seele lasten bleibt, tadle vielmehr dein Herz dafür, wie der Psalmist im Psalm 42. Achtest du so auf dein Herz und auf Gottes treues Walten, so wird dein Glaube erstarken, dass er auch größere Proben aushalten kann, wenn Gott sie sendet. William Gurnall † 1679.
  Du bist der Waisen Helfer. Gott waltet mit ganz besonderer Sorgfalt über solchen, die in Elend und Jammer sind. Daher wird ihm neben andern Namen auch dieser beigelegt: der Waisen Helfer. Mit Berufung hierauf kehrt das durch seinen Abfall ins Elend gekommene Volk zu seinem Gott zurück: Denn bei dir finden die Waisen Erbarmen. (Hos. 14,4 Grundtext) Gibt es stärkeren Trost als diesen, dass der die Welt regiert, der so weise ist, dass bei ihm aller Irrtum ausgeschlossen ist, so treu, dass er nie jemand täuschen kann, so mitleidig, dass er die Seinen nimmer vernachlässigen kann, und so mächtig, dass er Steine in Brot zu wandeln vermag, wenn es ihm gefällt? Gott regiert die Welt nach seinem Willen, aber nicht nach Willkür wie ein tyrannischer Despot, sondern nach seiner Weisheit und Güte als ein liebender Vater. Seine Herzenslust ist es nicht sowohl, nur seine unumschränkte Macht oder seine unfassbare Weisheit zu zeigen, sondern vor allem seine unermessliche Güte an den Menschen zu erweisen. Stephan Charnock † 1680.
  Du hast es wohl gesehen! Gott sieht auf das Tun der Menschenkinder mit Augen, die zu rein sind, als dass er Böses anschauen könnte, und er vermag Gewalttat nicht mit anzusehen (Hab. 1,13). Er ist nicht ein müßiger Zuschauer, sondern ein Vergelter und Rächer. Darum wohl dem Gerechten! Denn ihm wird es wohl gehen; denn die Frucht seiner Taten wird er genießen. Wehe aber dem Gottlosen! Ihm wird es übel gehen; denn was seine Hände verübt haben, wird ihm widerfahren.
(Jes. 3,10 f.) Nur die Götzen, die Augen haben und sehen nicht, die haben Hände und schlagen nicht. Joseph Caryl † 1673.
  Mögen es die Armen, die wehrlos ihren Unterdrückern preisgegeben sind, zu Herzen nehmen, dass der Herr auf sie Acht hat, und mögen sie darum den Rat des weisen Predigers beherzigen: Fluche dem Reichen nicht in deiner Schlafkammer (Pred. 10,20). Man schade der guten Sache nicht durch unchristliche Bitterkeit und Schmähreden, sondern lasse sich an dem Trost genügen, dass Gott der Unterdrückten Helfer und Rächer ist. Genügt es nicht, all die Stürme der Unzufriedenheit zu beschwichtigen, dass Gottes Wort uns sagt, wie Gott unsere Trübsal sieht und bald herniederkommen wird, um die zu erretten und zu rächen, die auf ihn gehofft haben? Edward Marbury 1649.
  Gott stellt sich auf die Seite derer, die Recht haben, ob sie auch die schwächste Partei seien. Er handelt nicht wie so manche, die sich unparteiisch zu stellen pflegen, wenn sich ein Streit erhebt, bis sie sehen, welche Partei die stärkere ist - nicht, welche das Recht auf ihrer Seite hat. Gott sieht allezeit auf das Recht; besonders aber zieht es ihn zu den schwachen Duldern des Unrechts. Er verbündet sich mit vielen, weil sie schwach sind, mit keinem, weil er stark ist. Die Menschen gleichen oft den Wolken, die ihre Wasser ins Meer ergießen; sie machen den Reichen Geschenke und unterstützen die Mächtigen. Gott aber sendet den erquickenden Regen auf das dürre Land und lässt seine mächtige Hilfe den Schwachen angedeihen. Du bist der Geringen Stärke, der Armen Stärke in der Trübsal, eine Zuflucht vor dem Ungewitter, ein Schatten vor der Hitze, wenn die Tyrannen wüten (Jes. 25,4). Joseph Caryl † 1673.


V. 15. Es will, hauptsächlich um der letzten Worte des Verses willen (du wirst nicht finden oder findest nicht, also ohne Objekt), schlecht gelingen, die Teile dieses Verses zu einem sprachlich sowie sachlich einwandfreien Ganzen zu vereinigen. Auch die in der Auslegung gegebene Übersetzung unterliegt Bedenken. Von anderen Versuchen seien nur folgende beispielsweise erwähnt. Delitzsch übersetzt die zweite Hälfte: Und der Böse - ahnden (heimsuchen) mögest du seinen Frevel, mögest mit nichten ihn fürder finden. Gott möge also das Böse strafrichterlich bis auf die letzte Spur wegräumen, dass es auch für Gottes Auge nicht mehr findbar, also aus dem Bereich des wirklich Vorhandenen schlechthin verschwunden sei. Keßler dagegen: Und der Böse - suchst du seine Gottlosigkeit, solltest du sie nicht finden? Das Zeitwort #rd mit dem Doppelsinn suchen - heimsuchen sei statt des sonst als Gegenwort zu "finden" üblichen $qI"bIi absichtlich mit feiner Ironie gewählt im Rückblick auf das Gerede des Gottlosen V. 4.13, wo dasselbe Wort. - James Millard


V. 17. Wie köstlich, dass all diese Wohltaten, die sowohl an und für sich, als weil sich in ihnen Gottes Güte spiegelt, von so hohem Wert sind, mit dem Zeichen versehen sind: errungen durchs Gebet. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
  Das Verlangen der Elenden, eigentlich der Dulder. Gottes auserlesene Bekanntschaft sind demütige Leute. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
  Wer dem Staube am nächsten, ist dem Himmel am nächsten. Andrew Gray 1616.
  Der Gläubige ist im Gebet sozusagen mit Allmacht gegürtet; denn das Gebet nimmt an Gottes Allmacht teil. Es hat eherne Ketten gesprengt (Apg. 12,7) und eiserne Türen aufgeschlossen (Apg. 12,10; 16,25 f.); es hat des Himmels Fenster geöffnet (Jak. 5,18) und des Todes Riegel zerbrochen (Joh. 11,40.43). Selbst Satan, der Drache an Bosheit, die Schlange an List, der Löwe an Kraft, kann vor dem Gebet nicht bestehen. Hamans unergründliche Bosheit wird zunichte vor Esthers Gebet; Ahitophels unübertroffene Klugheit welkt dahin vor Davids Flehen; ein Heer von tausendmal tausend Mohren flieht, als wären sie lauter Feiglinge, auf Asas Glaubensbitte (2. Chr. 14,10-12). Edward Reynolds † 1676.


V. 18. Dass du Recht schaffest den Waisen und Armen. Die Tränen der Armen rinnen ihnen die Backen hinab zur Erde; aber sie steigen zugleich aufwärts gen Himmel und schreien um Rache vor Gott, dem Vater der Waisen und dem Richter der Witwen (Ps. 68,6). Kambyses, der König der Perser und Meder († 523 v. Chr.), hatte in seinem Reich einen bestechlichen Richter, der auf Geschenke erpicht war und sich den Reichen sehr willfährig erzeigte. Er wusste stets unter der Hand seinen Vorteil zu wahren und brachte es dahin, dass auch sein Sohn eine hohe Stellung bekam - nach dem alten Sprichwort: Glücklich das Kind, dessen Vater zum Teufel fährt. Aber da drang der Hilfeschrei einer armen Witwe zu des Königs Ohren, und dieser ließ sofort den ungerechten Richter hinrichten, ihn schinden und seine Haut auf den Richterstuhl legen, damit alle Richter, die künftig Urteil sprechen würden, auf dieser Haut sitzen sollten. So kommt auch die Zeit, wo Gott alle Ungerechtigkeit heimsucht, und aus Liebe zu meinem Vaterlande sehne ich diese Zeit herbei. Hugh Latimer, Bischof und Märtyrer, † 1555.


Homiletische Winke

V. 1. Die Beantwortung der Fragen dieses Verses bietet dem gereiften Prediger ein treffliches Thema für eine Predigt aus dem Erfahrungsleben dar. Es sei nur angedeutet, dass die Fragen nicht in allen Fällen in gleicher Weise zu beantworten sind. Der himmlische Vater kann sein Antlitz verbergen zur Züchtigung wegen geschehener Sünden, zur Erprobung der christlichen Tugenden, zur Stärkung des Glaubens, zur Enthüllung unserer Verderbnis, zu unserer Belehrung usw.
V. 2. Wie die religiöse Verfolgungssucht in allen ihren Erscheinungsformen im Hochmut wurzelt.
V. 3. Wie der Geiz zum Hass gegen Gott führt. Vergleiche des Judas Herzensstellung zu Jesus.
V. 4. Der Stolz ein Hemmnis auf dem Wege zur Bekehrung.
V. 4b. Die Summe der Gedanken des Gottlosen: Es ist kein Gott.
  Gedanken, in denen Gott nicht ist, gewogen und zu leicht gefunden.
V. 5. Die sittliche Unfähigkeit gewisser Menschen, das Wesen und die Taten Gottes zu beurteilen.
V. 6. Die falsche Sicherheit der Sünder.
V. 8. Die Gefahren gottesfürchtiger Leute, oder: Gefährliche Schlingen auf dem Wege des Gläubigen.
V. 9. Die Grimmigkeit, Verschlagenheit, Macht und Behändigkeit Satans, des auflauernden Löwen.
V. 9b. Der Satan als Seelenfänger, seine Kunst, sein Eifer, sein Erfolg usw.
V. 10. Die falsche Demut entlarvt.
V. 11. Gottes Allwissenheit und die erstaunliche Vermessenheit der Sünder.
V. 12. Das Gebet: "Stehe auf, Herr": notwendig, zulässig, zeitgemäß usw.
V. 13a. Eine erstaunliche Tatsache und eine billige Frage.
V. 13. Zweifel über die zukünftige Vergeltung. 1) Wer hegt sie? Der Gottlose. 2) Wo hegt er sie? In seinem Herzen. 3) Zu welchem Zwecke? Zur Einschläferung des Gewissens usw. 4) Wohin führen sie? Zur Verachtung und Lästerung Gottes. Wer an keine Hölle glaubt, misstraut auch dem Himmel.
V. 13-14. Die göttliche Weltregierung. 1) Wer bezweifelt sie? 2) Warum? 3) Wer glaubt daran? 4) Was wirkt dieser Glaube?
V. 14b. Ein Mahnwort zum Besten der Waisen.
V. 16. Das ewige Königtum Jahwes.
V. 17. 1) Die Gesinnung des christlichen Herzens: Demut. 2) Das Merkzeichen des christlichen Lebens: Verlangen - nach größerer Heiligkeit, innigerer Gemeinschaft mit dem Herrn, tieferer Erkenntnis, reicherer Gnade, größerer Fruchtbarkeit, und endlich nach der Offenbarung von Gottes Herrlichkeit. 3) Die Freudigkeit des christlichen Strebens: die Gewissheit der Erhörung.
  Betrachte die Art des rechten Verlangens und dessen Erfolg.

Fußnoten

1. Siehe die Anmerkung (6.) zu Psalm 9,10.

2. So übers. manche Rabb. und Calvin, auch einige Neuere. Andere dagegen, sich Luther nähernd: Bei des Gottlosen Hoffart brennt der Elende, was in zwiefachem Sinn gedeutet wird, entweder: er verzehrt sich in Angstglut, oder: er entbrennt im Unmut.

3. Man kann allerdings auch indikativisch übersetzen, in welchem Fall man einen Subjektwechsel zwischen Haupt- und Relativsatz annehmen muss: Sie (die Elenden) werden gefangen in den Tücken, die sie (die Gottlosen) erdacht haben.

4. Diese Übers. ist diejenige mancher älteren und neueren Ausleger, auch z. B. Hupfelds. Die Übers. der revidierten Lutherbibel ist jedoch mehr anerkannt. Zu segnen in dem Sinne von Adieu sagen, daher: jemand den Abschied geben, ihm absagen, vergl. man Hiob 2,9; 1. Könige 21,10. - Völlig anders fasst Kautzsch den ganzen Vers auf: Denn der Gottlose lobsingt (Jahwe und tut dabei,) was ihn gelüstet, und der Habgierige preist (und) lästert (zugleich) Jahwe. Mit Recht macht Bäthgen (1904) gegen diese sehr ansprechende Übersetzung geltend, dass der Psalmist dann schwerlich das Objekt (Jahwe) im 1. Versglied hätte fehlen lassen dürfen und dass im ganzen übrigen Psalm nichts andeute, dass Scheinheilige gemeint seien. Vergl. hiergegen gleich den folgenden Vers.

5. Es liegt in dem Satz neben dem Subjektiven, das Spurgeon mit vielen Auslegern allein geltend macht, wohl auch das Objektive, vergl. den ersten Satz des Verses, sowie Ps. 73,3 ff. u. a. St.

6. Ähnlich Delitzsch. Ganz anders übersetzen viele: und zermalmt sinkt der (im Netz Gefangene) dahin; es fallen durch seine (des Gottlosen) Starken die Unglücklichen.

7. Vgl. aber die Erläuterungen und Kernworte.

8. Grundtext: sind umgekommen aus seinem Lande.

9. Grundtext: hast du gehört.

10. Oder: auf dass nicht mehr trotze (sich gewalttätig gebärde, vergl. 9,20) der hinfällige Mensch (enosch) von der Erde. Man beachte das Wortspiel im Hebräischen: Ne terreat homo e terra K. B. Moll).