Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 102 (Auslegung & Kommentar)


Inhalt

Der vorliegende Psalm enthält die Wehklage eines echten Vaterlandsfreundes über die Not seines Heimatlandes. Der Sänger hüllt sich in den Kummer seines Volkes wie in ein Gewand von Sacktuch und streut sich den Staub und die Asche des verwüsteten Landes auf das Haupt, zum Zeichen, dass seiner Volksgenossen Leid sein Leid ist. Wohl hat er eigenen Kummer und persönliche Feinde, ist dazu auch am Leibe von Krankheit schwer heimgesucht; aber viel größeres Herzeleid bereitet ihm der Jammer seines Volkes, und diesem Weh gibt er in einem inbrünstigen, erschütternden Klaglied Ausdruck. Bei aller Trauer ist er aber keineswegs ohne Hoffnung für sein geliebtes Vaterland; er hat Glauben an Gott und schaut voller Zuversicht nach der Zeit aus, da des HERRN allmächtige Gnade sein Volk wieder aufrichten wird. Das gibt ihm den Mut, mitten unter den Trümmern Jerusalems dahinzuwandeln mit dem aus freudigem Geist geborenen Trostbekenntnisse: Du liebes Zion, nein, du wirst nicht gar zu Grunde gehen. Nicht für immer ist die Sonne dir untergegangen, lichte Tage sind dir noch aufbehalten!
  Es wäre vergebliche Mühe, genau den Zeitpunkt in der Geschichte Israels feststellen zu wollen, wo die Seele eines Vaterlandsfreundes in dieser Weise bewegt sein konnte; denn gar oft lag das Land unter schwerem Druck, und in jedem solchem traurigen Zeitabschnitt konnte dieses Lied und Gebet der natürliche und passende Herzenserguss eines Propheten oder frommen Fürsten sein.

Überschrift
Ein Gebet ist dieser Psalm viel mehr dem Geiste als den Worten nach. Eigentliche Bitten enthält er nur wenige; doch geht vom Anfang bis zum Ende ein mächtiger Strom des Flehens durch ihn hindurch und findet, einer Unterströmung gleich, durch die Wehklagen des Kummers und die Bekenntnisse des Glaubens, die den größten Teil des Psalms füllen, seinen Weg zum Himmel. Er ist das Gebet eines Elenden oder Dulders, und er trägt die Kennzeichen seiner Abstammung deutlich an sich. Was von Jaebez berichtet wird, dass seine Mutter ihn mit Kummer geboren habe (1. Chr. 4,9), das können wir auch von diesem Psalme sagen. Jedoch wie Rahels Sohn Benoni oder Schmerzenskind von seinem Vater Jakob: Benjamin, Sohn der Rechten, d. i. Glückskind oder Trostkind, genannt wurde (1. Mose 35,18), so ist dieser Psalm auch beides, der treffendste Ausdruck des Trostes wie der Trostlosigkeit. Die Alten haben schwerlich das Richtige getroffen, indem sie ihn unter die (sieben) Bußpsalmen einreihten; denn der Schmerz, der sich in ihm ausklagt, ist der Schmerz eines gottseligen Dulders, nicht der eines reumütigen Sünders. Der Psalm hat sein eigen Leid (Spr. 14,10), das nicht dem des 51. gleicht. Der Gottesmann, der hier redet, ist mehr um andere als um sich selbst betrübt, sein Kummer gilt viel mehr Zion und dem Hause des HERRN als seinem eignen Hause. So er betrübt ist oder wörtlich: dahinschmachtet. Die besten Menschen sind nicht immer imstande, den Wildbach ihres Schmerzes zurückzudämmen. Sogar wenn Jesus an Bord ist, kann das Schiff sich mit Wasser füllen und zu sinken beginnen. Und seine Klage vor dem HERRN ausschüttet. Wenn ein Gefäß umgestürzt wird, dass sich der Boden zuoberst kehrt, so fließt naturgemäß alles heraus, was darinnen ist. So nimmt große Erschütterung durch Trübsal dem Herzen alle Zurückhaltung, dass die innersten Gedanken und Empfindungen frei ausströmen. Wohl uns, wenn das, was unsre Seele füllt, derart ist, dass wir es in Gottes Gegenwart ausschütten dürfen. Das ist nur bei einem durch Gottes Gnade erneuerten Herzen der Fall. Der Psalm ist eine Klage, aber keine Anklage gegen Gott, sondern eine Wehklage; der Ausdruck des Schmerzes, nicht der Empörung.
  Zum Zwecke leichteren Behaltens wollen wir den Psalm Des Vaterlandsfreundes Klaglied nennen.

Einteilung. In dem ersten Abschnitt, V. 2-12, nimmt das Wehklagen jeden Vers ganz in Anspruch; das Jammern geht fort ohne Unterbrechung, unsägliche Betrübnis ist das alles Beherrschende. Der zweite Abschnitt, V. 13-29, dagegen erschaut eine bessere Zukunft, indem er sein Augenmerk auf den gnadenreichen HERRN, sein ewiges Wesen und seine Fürsorge für sein Volk richtet. Zwar ist auch dieser Teil noch von dunkeln Wolken beschattet, aber die Sonne bricht bereits wiederholt hindurch, und er endet ganz herrlich mit ruhiger Zuversicht für die Zukunft und seligem Ausruhen im HERRN. Man mag das ganze heilige Lied einem Tage vergleichen, der mit Sturm und Regen beginnt, sich aber gegen Mittag allmählich zu erquickendem Sonnenschein aufklärt, mit einigen Unterbrechungen durch Regenschauer im Ganzen schön bleibt und in strahlendem Abendrot endigt.


Auslegung

2. HERR, höre mein Gebet
und lass mein Schreien zu dir kommen!
3. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not,
neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe,
so erhöre mich bald!
4. Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch,
und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand.
5. Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras,
dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen.
6. Mein Gebein klebt an meinem Fleisch
vor Heulen und Seufzen.
7. Ich bin gleich wie eine Rohrdommel in der Wüste;
ich bin gleich wie ein Käuzlein in den zerstörten Stätten.
8. Ich wache, und ich bin
wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.
9. Täglich schmähen mich meine Feinde;
und die mich verspotten, schwören bei mir.
10. Denn ich esse Asche wie Brot
und mische meinen Trank mit Weinen
11. vor deinem Dräuen und Zorn,
dass du mich aufgehoben und zu Boden gestoßen hast.
12. Meine Tage sind dahin wie ein Schatten,
und ich verdorre wie Gras.


2. HERR, höre mein Gebet. Wer von Herzen betet, gibt sich nicht damit zufrieden, zu beten um des Betens willen, das ist, um wieder einmal dieser Pflicht genügt zu haben, sondern begehrt wirklich des großen Gottes Ohr und Herz zu erreichen. In Leidenszeiten finden wir einen großen Trost darin, andern unseren Kummer mitzuteilen; wir fühlen uns erleichtert, wenn sie unseren Klagen Gehör schenken. Wie viel süßerer Trost aber ist es, zu wissen, dass Gott selbst uns ein Freund sein will, der voll Mitleids unseren Klagen lauscht. Dass er ein solcher ist, das ist kein Traum und keine Fabel, sondern eine wohl erwiesene Tatsache. Ein bittereres Weh könnte man uns freilich nicht antun, als wenn man unwiderleglich darzutun vermöchte, dass Gott nicht hört noch antwortet. Wer uns zu solch düsterem Glauben beredete, täte uns wahrlich damit keinen besseren Dienst, als wenn er unser Todesurteil uns verläse. Nein, besser tot als des Gnadenstuhls beraubt sein! Dann doch lieber gleich ein ausgesprochener Gottesleugner sein, als einen Gott glauben, der seine Geschöpfe nicht hört und kein fühlend Herz für ihre Leiden hat. Und lass mein Schreien zu dir kommen. Wenn der Jammer solche Höhe erreicht, dass Worte zu schwach sind, ihm Ausdruck zu geben, und das Beten sich in Schreien verwandelt, dann brennt das Herz danach, beim HERRN Gehör zu erlangen. Dringen unsere Hilferufe nicht durch die Wolken, kommen sie nicht zu dem lebendigen Gott, dann lasst uns nur ganz vom Beten abstehen, denn in den Wind zu schreien ist zwecklos. Doch, Gott sei gepriesen, die Weltweisheit, die uns solch abscheuliche Gedanken einflüstert, wird durch die Tatsachen der täglichen Erfahrung widerlegt, da Tausende von Gläubigen es mit dem Psalmdichter (66,19) bezeugen können: Wahrlich, Gott hat mich erhört!

3. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not. Erwecke nicht den Schein, als ob du mich nicht sähest oder mich nicht kennen wolltest. Lass dein Antlitz doch jetzt wenigstens mir freundlich leuchten. Spare dein Stirnrunzeln auf eine andere Zeit, da ich es besser ertragen kann - wenn ich es überhaupt je auszuhalten vermag; jetzt aber in meiner Angst und Drangsal schenke mir einen Blick mitfühlenden Erbarmens! Neige deine Ohren zu mir, wenn ich dich anrufe. O du Erhabener, beuge dich nieder zu meiner Schwachheit. Musst du um meiner Sünde willen dein Angesicht von mir gewandt halten, so lass mich doch wenigstens von der Seite dich schauen; leihe mir gnädig dein Ohr, wenn ich in dein Auge nicht blicken darf. Ich schreie zu dir, so erhöre mich bald! Eilends sende mir Hilfe! Die Not ist dringend, und meine Seele hat kaum mehr Kraft zu harren. Wir dürfen flehen, dass Gott uns so schnell wie möglich Antwort auf unser Gebet sende; nur dürfen wir nicht murren, wenn er es für weiser hält, uns noch warten zu lassen. Es ist uns gestattet, immer wieder anzufragen, ja sogar in gewisser Weise zudringlich zu sein (Lk. 11,8; 18,5), nimmermehr aber dürfen wir Gott Vorschriften machen wollen oder trotzig von ihm fordern. Wenn schleunige Hilfe hochnötig ist, sind wir ganz berechtigt, einen nahen Zeitpunkt in unserem Gebet zu nennen; denn Gott ist ebenso bereit, uns heute seine Gnade zu erweisen wie morgen, und ist nicht säumig in der Erfüllung seiner Verheißungen. Von menschlichen Wohltaten sagt das Sprichwort: "Doppelt gibt, wer schnell gibt", weil eine Gabe so sehr an Wert gewinnt, wenn sie zu der Zeit eintrifft, da man ihrer am dringendsten bedarf; sollten wir da nicht gewiss sein dürfen, dass unser himmlischer Wohltäter uns die besten Gaben in der besten Weise geben wird, indem er, wie es Hebr. 4,16 (Grundtext) heißt, uns Gnade finden lässt zu rechtzeitiger Hilfe? Wenn die Antwort unserer Bitte auf dem Fuße folgt, ist sie umso wunderbarer, tröstlicher und ermutigender.
  In diesen beiden Versen hat der Psalmist eine ganze Fülle von Ausdrücken zu einem Zweck vereinigt; er erbittet auf die mannigfaltigste Weise Gehör und Antwort vom HERRN. So erscheint dieser erste Teil als eine Art Vorwort zu dem Gebet, das nun folgt.

4. Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch. Der Kummer hat meinem Leben alle Kraft, allen Gehalt genommen, ich komme mir vor wie eine Dunstwolke, die nichts Festes in sich hat und sich bald in ein Nichts auflöst. Das Bild ist außerordentlich treffend gewählt; denn dem Unglücklichen erscheint das Leben nicht nur hinfällig, sondern von so vielem umgeben, das verdunkelnd, beschmutzend, blind machend und niederdrückend wirkt, dass er sich in seiner Verzagtheit einem Menschen vergleichbar fühlt, der in undurchdringlichem Nebel dahinwandert und sich dabei selber so schattenhaft vorkommt, als wäre auch er kaum etwas Besseres als eine Rauchsäule.1 Wenn unsre Tage weder Licht der Freude noch Feuer der Tatkraft mehr in sich haben, sondern wie ein qualmender Docht werden, der schmählich in Finsternis erstirbt, dann haben wir wahrlich Grund genug, uns flehend zum HERRN zu wenden, dass er uns nicht gar auslöschen wolle. Und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand oder (Engl. Übers.) wie ein Herd.2 Er war ausgebrannt wie eine Feuerstätte, auf der das Holzfeuer verzehrt ist, oder wie ausgebrannte Asche, in der sich kaum noch eine Spur von Glut findet. Seine Seele war nahe daran, wie ein Rauchdampf hinweggehaucht zu werden, und sein Leib schien zurückbleiben zu sollen wie ein verlassener Feuerherd, auf dem der letzte noch Hoffnung gebende Aschenfunke erloschen ist. Wie oft hat es uns geschienen, als stünde es mit unserer Frömmigkeit ebenso. Wir glaubten allen Grund zu haben, ihre Wirklichkeit in Frage zu stellen und zu fürchten, dass sie überhaupt nie etwas besseres gewesen als Dunst und Rauch. Der unleugbarste Beweis ihrer Schwäche lag uns vor Augen, denn wir vermochten auch nicht den geringsten Trost aus ihr zu gewinnen, so wenig wie ein frostdurchschauerter Wanderer sich an dem kalten Herd wärmen kann, auf welchem lange zuvor einmal ein Feuer gebrannt hat. Selbst erlebte Seelenpein wird uns am besten die Worte des Psalmisten verstehen lehren; auch schwere Zeiten in der Gemeinde mögen uns dazu dienen, wenn uns das traurige Los beschieden ist, sie erleben zu müssen. Der Kummer des Psalmdichters war hervorgerufen durch den Anblick der Nöte, unter denen sein Volk seufzte. Diese wirkten so schmerzlich auf sein von glühender Vaterlandsliebe erfülltes Gemüt, dass er von Angst verzehrt ward, sein Hoffnungsmut wie ausgebrannt war, ja sein Leben zu erlöschen drohte. Für ein Land, das solchen Sohn hat, ist noch Hoffnung; nimmer kann ein Volk ganz untergehen, solange treue Herzen noch bereit sind, für dasselbe zu sterben.

5. Mein Herz ist geschlagen, nämlich von der Hitze3 der Anfechtung, wie eine von der Tropensonne versengte Pflanze, und verdorrt wie Gras, das zu Heu eintrocknet, wenn die Sense es niedergemäht hat. Das Herz des Psalmisten war wie eine verwelkte und verdorrte Blume, das ausgebrannte Überbleibsel von einstigem üppig grünendem Leben. Tatkraft, Schönheit, Frische, Freudigkeit, alles war ihm geschwunden unter dem verzehrenden Einfluss der Angst und Pein. Dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen, oder: Vergesse ich doch (sogar), mein Brot zu essen! Schwerer Kummer raubt alle Lust zur Speise, und die Vernachlässigung der Leibesstärkung untergräbt dann vollends die Kraft, so dass die Gemütsstimmung noch tiefer sinkt. Wie die verdorrte Blume nicht mehr vom Tau des Himmels trinkt noch Nahrung aus der Erde schöpft, so weigert sich ein von tiefem Kummer zusammengepresstes Herz, sowohl Trost für die Seele als auch Stärkung für den Leib anzunehmen, und verfällt so zwiefach schnell der Schwachheit, Verzagtheit und Verzweiflung. Der hier geschilderte Zustand ist durchaus nicht selten; wir haben oft genug mit Leuten zu tun gehabt, die durch Kummer so zerrüttet waren, dass sie selbst an so notwendige Dinge wie Essen und Trinken nicht mehr dachten, und wir müssen gestehen, dass wir selber schon in gleicher Verfassung gewesen sind. Der eine brennende Schmerz erfüllte die Seele, nahm alle Gedanken in Anspruch und drängte alles andere dermaßen in den Hintergrund, dass wir so gewöhnliche Dinge wie Speise und Trank gänzlich missachteten und die Essenszeiten völlig unbeachtet vorübergingen. Die Folge aber war weniger eine alsbald erkennbare Schwächung des Körpers, als vor allem eine gesteigerte Ermattung des Herzens.

6. Mein Gebein klebt an meinem Fleisch4 vor Heulen und Seufzen. Er war ganz abgezehrt vor Kummer. Er hatte sich zu einem lebenden Gerippe geseufzt und ähnelte so in seiner körperlichen Erscheinung umso mehr jenen vom Rauch oder der Sonnenglut gedörrten, verwelkten und ausgebrannten Dingen, mit denen er sich soeben verglichen hatte. Es wird, fürchten wir, bei manchen Christen noch sehr lange dauern, bis die Leiden der Gemeinde Gottes sie zu einem für anatomische Studien geeigneten Zustand zusammenschrumpfen lassen! Der Psalmist aber war von Mitgefühl für Zions Leiden so tief innerlich ergriffen, dass er unter dem unablässigen Gebet und Harm zu Haut und Knochen geworden war.

7. Ich bin gleich wie eine Rohrdommel oder nach den alten Übersetzungen wie ein Pelikan in der Wüste, ein melancholisches und sogar widerliches Geschöpf, das Bild der Vereinsamung; ich bin gleich wie ein Käuzlein in den zerstörten Stätten, das die Einsamkeit liebt, grübelnd zwischen den Ruinen sitzt und kreischende Misstöne ausstößt. Der Dichter vergleicht sich mit zwei Vögeln5, die als Sinnbilder der Traurigkeit und Unglückseligkeit sprichwörtlich waren. Zu andern Zeiten war er einem Adler gleich gewesen; aber die Leiden seines Volkes hatten ihn gar sehr heruntergebracht. Aus seinen Augen war der Glanz gewichen, alle Ansehnlichkeit des Leibes war geschwunden; er kam sich vor wie ein schwermütiger Vogel, der in Trübsinn versunken zwischen den zerfallenen Palästen und zerstörten Heiligtümern seines Heimatlandes sitzt. Sollten wir nicht ebenso wehklagen, wenn die Straßen Zions wüst liegen und die Macht der Gottesstadt dahingeschwunden ist? Ach, wäre mehr solch heiliger Traurigkeit unter uns zu finden, wir würden bald den HERRN sich aufmachen sehen, seine Gemeinde aufzubauen. Es steht Männern schlecht an, den Pfau zu spielen, sich in dummem weltlichem Stolze aufzublähen, wenn die Schäden der Zeit sie so traurig stimmen müssten, dass der Pelikan ihr Gleichnis wäre, und es ist geradezu schrecklich, es sehen zu müssen, wie Menschen sich gleich beutegierigen Geiern in Scharen über eine verfallende Kirche hermachen, während sie der Eule gleich über ihren Trümmern wehklagen sollten!

8. Ich wache (schlaflos), und ich bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Einsam wie eine alleinstehende Schildwacht halte ich Wache über mein Volk; meine Genossen sind zu selbstsüchtig und zu sorglos, sich um mein geliebtes Vaterland zu bekümmern. So gleiche ich einem Vogel, der in stiller Nacht einsam auf dem Dachfirst sitzt und wacht, während alles schläft. Wahrscheinlich dachte der Psalmsänger nicht an den muntern Sperling, sondern eher, weil die Schlaflosigkeit zur allgemeinen Schlafenszeit als Vergleich dient, an einen Nachtvogel wie die Eule, die nachts auf dem Dach zu sitzen und zu heulen pflegt. Man kann freilich auch, besonders wenn man das Wachen nicht in den Vergleich hineinzieht (siehe das Komma in Luthers Übersetzung), mit Hengstenberg an ein armes, hilfloses Vöglein denken, dem sein Weibchen oder seine Jungen genommen worden und das nun in der weiten Welt allein ist. Dann könnte gar wohl der Sperling gemeint sein, denn er liebt die Geselligkeit und würde, wenn er allein sein müsste, der einzige seiner Art in der Nachbarschaft, sich zweifellos sehr elend fühlen, traurig dasitzen und sich zu Tode grämen. Wer sich seiner Schwäche und Unbedeutenheit so bewusst geworden ist, dass er fühlte, er habe nicht mehr Macht über das Geschlecht seiner Zeit als ein Spätzlein über eine Stadt, der hat sich auch schon in Stunden, da er durch die Übel und Laster seiner Zeit von Verzagtheit zu Boden gedrückt wurde, im äußersten Elendsgefühl einsam hingesetzt, die Übel zu beklagen, die zu heilen er nicht imstande war. Christen von ernstem, die Schäden der Zeit wachsam beobachtendem Sinn sehen sich oft unter lauter solchen, die kein Verständnis für sie haben; sogar in der Gemeinde des HERRN schauen sie nicht selten vergeblich nach verwandten Seelen aus. Wohl halten sie dann desto ernster an Gebet und Arbeit an, aber sie fühlen sich dabei so einsam wie der arme Vogel, der vom Dachfirst Ausschau hält und keinem freundlichen Gruße von seinesgleichen begegnet.

9. Täglich (oder unaufhörlich) schmähen mich meine Feinde. Ihre Wut war unersättlich und machte sich unermüdlich in Sticheleien und Beleidigungen Luft. Die Liebe des Psalmisten zu dem Lande seiner Väter und sein Kummer um dasselbe waren die Zielscheibe ihrer boshaften Angriffe. Indem sie auf den traurigen Zustand seines Volkes hinwiesen, fragten sie wohl hämisch: "Wo ist nun dein Gott?", und frohlockten ihm zum Hohn, weil der Stern ihrer falschen Götter am Emporsteigen war. Solche Vorhaltungen schneiden wie ein scharfes Schermesser, und wenn sie Tag für Tag, Stunde um Stunde wiederholt werden, können sie einem das Leben fast unerträglich machen. Und die mich verspotten, wörtl.: wider mich rasen, schwören bei mir, d. h., wie schon Luther es verstanden hat, sie brauchen meinen Namen als Fluch. (Jer. 29,22) Er erschien ihnen so sehr als das schlagendste Beispiel eines von seinem Gott Gestraften und Verlassenen, dass sein Name ihnen ein geläufiges Fluchwort, der treffendste Ausdruck für Verachtung und Abscheu wurde. In welch trauriger Verfassung er bei solcher Zugabe zu dem inneren Leid und den äußeren Verfolgungen war, mag man ermessen.

10. Denn ich esse Asche wie Brot. Er hatte sich so oft zum Zeichen seiner Trauer Asche aufs Haupt gestreut, dass sie sich mit seiner Speise vermischte und ihm zwischen den Zähnen knirschte, wenn er sein täglich Brot aß. Das eine Mal vergaß er das Essen ganz, und dann wieder griff er mit solchem Heißhunger zu, dass er selbst Asche verschlang. Der Kummer hat seltsame Launen. Und mische meinen Trank mit Weinen. Sein Trank ward ihm ebenso zuwider wie die Speise, denn Ströme von Tränen hatten ihn salzig gemacht. Welch beredte Schilderung einer den Menschen ganz übersättigenden, jeden Genuss vergällenden Traurigkeit - das aber war das Teil eines der besten Menschen, und zwar nicht etwa infolge eigner Verfehlung, sondern wegen seiner inbrünstigen Liebe zu dem Volke des HERRN. Darum wollen wir, wenn es auch uns einmal beschieden ist, also Leid tragen zu müssen, uns die Hitze der Anfechtung nicht befremden lassen, als widerführe uns etwas Seltsames. (1. Petr. 4,12.) Des Sündigens ist gerade auch im Essen und Trinken viel; daher ist es nicht verwunderlich, wenn dem Menschen beides einmal verbittert wird.

11. Vor deinem Dräuen und Zorn, dass du mich aufgehoben und zu Boden gestoßen oder hingeworfen hast. Gottes Zorn hatte sich in der Verstörung des auserwählten Volkes und seiner kläglichen Gefangenschaft überwältigend geoffenbart. Der Psalmdichter hatte ein feines, starkes Gefühl für diesen göttlichen Zorn, und gerade dieses brachte ihn in die größte Seelennot. Er kam sich vor wie ein dürres Blatt, das der Sturmwind emporhebt und unaufhaltsam hinwegträgt, oder wie das Sprühwasser der See, das von der Brandung nur emporgespritzt wird, um zerstäubt und vernichtet zu werden. Man kann das Bild auch etwas anders fassen und etwa an ein Gefäß denken, das hoch emporgehoben wird, um mit desto größerer Gewalt auf den Erdboden geschmissen und in tausend Scherben zerschellt zu werden; oder aber an einen Ringkämpfer, der seinen Gegner in die Luft hebt, um ihn desto wuchtiger hinzuschleudern. Wir bleiben lieber bei dem Bilde von dem Sturmwind6, das so treffend die äußerste Hilflosigkeit malt, die der Verfasser fühlte, wie auch die Empfindung überwältigenden Schreckens, der ihn widerstandslos wie in einem Wirbelsturm des Kummers mit sich fortriss.

12. Meine Tage sind dahin wie ein Schatten, oder vielmehr nach dem Grundtext: Meine Tage sind wie ein gedehnter Schatten - dessen zunehmende Länge seine nahende Auflösung in nächtliches Dunkel verkündet. Die Schatten werden länger, bald wird die Sonne meines Lebens ganz versinken. Nur ein Schatten waren seine Tage, auch als er noch auf der Höhe des Lebens stand; jetzt aber erscheinen sie ihm wie ein Schatten, der im Schwinden begriffen ist. Ein Schatten ist wahrlich schon wesenlos genug; was für ein nichtiges Ding muss erst ein hinschwindender Schatten sein! Kein Bild könnte packender das Gefühl äußerster Hinfälligkeit anschaulich machen. Und ich selbst (Grundtext), ich verdorre wie Gras. Er war wie Gras, das, vom Glutwind versengt oder von der Sense gemäht, der brennenden Sonnenhitze hilflos überlassen ist und in kurzem völlig vertrocknet. Es gibt Zeiten, wo der Mensch infolge völliger Erschlaffung des Geistes das Gefühl hat, als wäre alles Leben aus ihm gewichen, ja als wäre sein ganzes Dasein nur ein Todesröcheln. Herzbrechendes Weh hat einen merkwürdig auszehrenden Einfluss auf unseren ganzen Organismus. Unser Fleisch ist in seinen besten Tagen nur wie Gras, und wenn schweres Leid es mit seinem scharfen Schlage trifft, schwindet seine Grases-Herrlichkeit bald, und es wird ein eingeschrumpftes, vertrocknetes, unansehnliches Ding wie entwurzelte Pflanzen.


13. Du aber, HERR, bleibest ewiglich,
und dein Gedächtnis für und für.
14. Du wollest dich aufmachen und über Zion erbarmen;
denn es ist Zeit, dass du ihr gnädig seiest,
und die Stunde ist kommen.
15. Denn deine Knechte wollten gerne, dass sie gebaut würde,
und sähen gerne, dass ihre Steine und Kalk zugerichtet würden;
16. dass die Heiden den Namen des HERRN fürchten
und alle Könige auf Erden deine Ehre,
17. dass der HERR Zion baut
und erscheint in seiner Ehre.
18. Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen
und verschmäht ihr Gebet nicht.
19. Das werde geschrieben auf die Nachkommen;
und das Volk, das geschaffen soll werden, wird den
HERRN loben.
20. Denn er schaut von seiner heiligen Höhe,
und der HERR sieht vom Himmel auf Erden,
21. dass er das Seufzen des Gefangenen höre
und losmache die Kinder des Todes;
22. auf dass sie zu Zion predigen den Namen des HERRN
und sein Lob zu Jerusalem,
23. wenn die Völker zusammenkommen
und die Königreiche, dem HERRN zu dienen.

Nun wendet der Psalmist seinen Blick von den Leiden, seinen persönlichen wie den ihm durch den jämmerlichen Zustand seines Volkes bereiteten, hinweg zu der rechten Quelle allen Trostes, zu dem HERRN selbst und den Gnadenabsichten, die dieser über sein Volk des Eigentums hat.

13. Du aber, HERR, bleibest ewiglich. Ich vergehe wie das Kraut des Feldes, Du niemals; mein Volk ist fast gänzlich vernichtet, Du aber bist völlig unverändert. Der Grundtext liest hier: Du sitzest d. i. thronst, oder besser (hebr. Imperf.) bleibst thronen in Ewigkeit.7 Du herrschst ruhig weiter, dein Thron bleibt ungefährdet, wenn auch deine auserwählte Stadt in Trümmern liegt und dein Eigentumsvolk in Gefangenschaft schmachtet. Die unantastbare Freiheit Gottes und seine Oberherrschaft über alles ist ein nie versagender Born des Trostes. Was immer sich begeben möge, Gott sitzt im Regimente, drum wird es alles wohl ausgehen.

  Gott muss man in allen Sachen,
  weil er alles wohl kann machen,
  End und Anfang geben frei.
  Er wird, was er angefangen,
  lassen so ein End erlangen,
  dass es wunderherrlich sei.
   (H. A. Stockfleth † 1708.)

  Und dein Gedächtnis für und für. Mich mag die Welt vergessen; dich aber, o Gott, werden die unaufhörlich sich erneuernden Beweise deiner Gegenwart der Menschheit von einem Geschlecht zum andern immer neu in den Sinn rufen. Was Gott jetzt ist, wird er ewig sein; was die Vorfahren uns vom HERRN gesagt haben, finden wir zu unserer Zeit als wahr bestätigt, und was unsre Erfahrung uns über ihn verzeichnen lässt, das werden unsre Kinder und Kindeskinder bekräftigen können. Alles andre schwindet gleich dem Rauche und verwelkt wie Gras; über all der Vergänglichkeit aber strahlt das eine ewige, unveränderliche Licht stetig fort und wird noch scheinen, wenn diese Schatten alle längst in Nacht versunken sind.

14. Du wirst (Grundt) dich aufmachen und über Zion erbarmen. Er glaubte fest und sagte mit kühner Zuversicht vorher, dass die scheinbare Untätigkeit Gottes sich bald in wirksame Tatkraft wandeln werde. Mögen andre träumen und säumen, der HERR wird sich gewiss bald rühren. Zion war ja vor alters erwählt, war hoch bevorzugt, ruhmvoll besiedelt und wunderbar bewahrt worden; so war es auf Grund der Erinnerung an die ehedem Zion erwiesene Huld über allen Zweifel erhaben, dass Jehovahs Gnade bald wieder über ihr neu werden müsse. Gott kann seine Gemeinde nicht für immer in Erniedrigung und Elend schmachten lassen. Er mag sich, um sie väterlich zu züchtigen, eine Weile vor ihr verbergen, dass ihr zum Bewusstsein komme, wie arm und hilflos sie ohne ihn ist; doch bald muss er sich, von erbarmender Liebe getrieben, wieder zu ihr kehren, wird sich erheben, um sie zu schirmen und ihr neue Wohlfahrt zu schaffen. (Jes. 55,7.8; Jer. 31,20.) Denn es ist Zeit, dass du ihr gnädig seiest, und die Stunde ist kommen. In Gottes Rat ist eine Segenszeit für die Gemeinde bestimmt, und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird der Segen nicht auf sich warten lassen. So war für die babylonische Gefangenschaft der Juden eine bestimmte Frist festgesetzt, und als die Zeitwochen erfüllt waren (Dan. 9, 23 ff.), konnten keine Schlösser noch Riegel die Erkauften Jehovahs in Banden halten. Als die Stunde geschlagen hatte, dass die Mauern Jerusalems wieder Stein um Stein erstehen sollten, da vermochten kein Tobia und kein Saneballat (Neh. 2,10) das Werk zu hindern, so sehr es sie auch verdross; denn der HERR selbst hatte sich aufgemacht, und wer mag des Allmächtigen Hand hemmen? Wenn Gottes Zeit gekommen ist, können weder Rom noch der Teufel selbst, weder Verfolger noch Gottesleugner das Reich Christi an seiner Ausbreitung hindern. Gottes Sache ist’s, dies zu tun - er muss sich aufmachen, sich erheben. Und er wird es tun, aber zu seiner eigenen vorbestimmten Zeit; bis dahin gebührt es uns, mit heiliger Bekümmernis und gläubiger Hoffnung auf sein Eingreifen zu warten.

15. Denn deine Knechte hängen mit Liebe an ihren Steinen, und es jammert sie ihres Staubes. (Grundtext) Ihre Liebe zu Zion ist so groß, dass selbst der Schutt der Gottesstadt ihnen teuer ist. Es war ein gutes Vorzeichen für Jerusalem, als die Gefangenen zu Babel heimwehkrank zu werden und nach Zion zu seufzen anfingen. Auch für die Rückkehr der Juden unsrer Zeit in ihr Land dürfen wir Hoffnung fassen, wenn die Liebe zu der Heimat ihrer Väter in ihnen mächtig wird und die Liebe zu Geld und Gewinn überwältigt. Ebenso gibt es für die Gemeinde Christi kein hoffnungsvolleres Zeichen, als wenn ihre Glieder voll tiefer Teilnahme werden für alles, was sie betrifft. Schwerlich wird Gedeihen auf einer Gemeinde ruhen, in welcher Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit in Bezug auf die Gottesdienste, die heiligen Einsetzungen des HERRN und die Arbeit an den Seelen der Mitmenschen vorherrscht; wenn dagegen selbst die geringsten und niedrigsten Dinge, die mit des HERRN Werk zusammenhängen, mit Ernst und Sorgfalt behandelt werden, dann dürfen wir überzeugt sein, dass eine Gnadenzeit im Anbruch ist. Auch das ärmste, unbedeutendste Gemeindeglied, der tief Gefallene, der reumütig wiederkehrt, der unwissendste Neubekehrte sollten in unseren Augen köstlich sein, weil sie einen, wenn auch vielleicht gar kleinen Stein am Bau des neuen Jerusalem bilden. Wenn uns selber das Wohl der Gemeinde, welcher wir angehören, nicht ernstlich am Herzen liegt, dürfen wir uns dann wundern, wenn der HERR seinen Segen zurückhält?

16. Und Heiden werden den Namen des HERRN fürchten. (Grundtext) Gnadenwirkungen Gottes in der Gemeinde werden von denen, die draußen stehen, sehr bald wahrgenommen. Brennt im Hause ein Licht, so scheint es durch die Fenster hinaus. Wenn Zion sich der Gnade seines Gottes erfreuen darf, beginnen die Heiden seinen Namen zu ehren, denn sie hören von den Wundern seiner Macht und werden davon ergriffen. (Siehe z. B. Jos. 2,9 ff.; 9,9 f.) Und alle Könige auf Erden deine Ehre. Die Wiederherstellung Jerusalems war ein Wunder für alle die Mächtigen der Welt, zu denen die Kunde drang, und seine letzte, herrlichste Wiederherstellung in der Zukunft wird eins der großen Weltwunder der Geschichte werden. Eine von göttlicher Kraft belebte Gemeinde prägt solch auffällige Spuren in die Zeitgeschichte, dass sie der Beachtung nicht entgehen kann; so rein sie sich von aller Vermengung mit Staat und Politik halten mag, ist ihr Einfluss auf das öffentliche Leben doch so groß, dass die Staatsleiter sie nicht vornehm ignorieren können, sie beeinflusst durch ihre geistige Macht die Gesetzgebung und erzwingt unwillkürlich von den Großen der Erde Anerkennung des göttlichen Wirkens. Ach, dass wir in unseren Tagen solch ein Aufleben wahrer Frömmigkeit schauen dürften, dass Fürsten wie Volksvertreter sich genötigt sähen, dem HERRN zu huldigen und seine herrliche Gnade zu bekennen. Dies kann nicht eher geschehen, als bis die Christen selber tüchtiger werden und sich völliger miteinander erbauen lassen zu einer Behausung Gottes im Geist (Eph. 2,22). Innerliche kräftige Entwicklung ist für die Kirche die sichere, aber auch einzig wahre Quelle ihres Einflusses nach außen.

17. Dass der HERR Zion gebaut hat und erschienen ist in seiner Ehre oder Herrlichkeit. (Grundtext) Wie Könige ihre Kunst, ihre Macht und ihren Reichtum bei der Erbauung ihrer Residenz entfalten, so werde der HERR, des war der Psalmist gewiss, auch den Glanz seiner Vollkommenheiten in der Wiederherstellung Zions offenbaren. Ebenso will er sich jetzt in der Auferbauung seiner Gemeinde verherrlichen. Nie erscheint der HERR den Seinen verehrungswürdiger, als wenn er in seiner Gemeinde seine Segens- und Lebenskräfte entfaltet. Menschen bekehren, die als lebendige Steine dem heiligen Bau eingefügt werden, diese zum heiligen Dienst erziehen, die Bruderschaft lehren, erleuchten und heiligen, alle mit den innigen Banden christlicher Liebe aneinander ketten, und den ganzen Leib mit der Kraft des Heiligen Geistes erfüllen - das heißt Zion bauen. Wer die Kirche auf andre Weise aufbaut, der bläht sie nur auf; das Werk von Holz, Heu und Stoppeln stürzt so schnell wieder ineinander, wie es zusammengehäuft worden war. Was der HERR aber baut, ist fest und gut gemacht und verkündigt seinen Ruhm. Wahrlich, wenn wir den elenden Zustand der Gemeinde des HERRN betrachten und dabei die Torheit, Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit derer wahrnehmen, die ihre Baumeister zu sein beanspruchen, auf der andern Seite aber die Tatkraft, List und Macht derer, die ihren Untergang wollen, dann müssen wir unumwunden zugeben, dass es nur das ruhmvolle Werk der allmächtigen Gnade sein kann, wenn sie sich je wieder zu ihrer ersten Größe und Reinheit erheben sollte.

18. Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen, wörtlich: des Nackten. So heißt Israel, weil es der Heimat, Macht, Ehre und aller menschlichen Aussicht auf Wiederherstellung entblößt war. Nur die Allerärmsten waren bei der Wegführung des Volkes im Lande zurückgelassen worden, um zwischen den Trümmern der geliebten Stadt zu seufzen und zu weinen; die Übrigen waren Fremdlinge im fremden Lande, fern von dem Heiligtum. Dennoch sollten die Gebete der Gefangenen, die unter Babels Weiden zu Gott seufzten, wie der im Lande zurückgebliebenen Ärmsten gnädige Erhörung finden. Fragt Gott doch beim Erhören nicht danach, ob der Mensch viel Geld hat oder seine Äcker sich weit ausdehnen, sondern neigt in seiner Barmherzigkeit sein Ohr am willigsten dahin, woher der Hilferuf der höchsten Not ertönt. Und verschmäht ihr Gebet nicht. Wenn große Könige mit dem Bau ihrer Paläste beschäftigt sind, darf man von ihnen nicht erwarten, dass sie sich mit jedem Bettler, der ihnen sein Anliegen vorbringen will, aufhalten sollten. Doch wenn der HERR Zion baut und in den Kleidern seiner Herrlichkeit erscheint, sieht er es als Ehrenpflicht an, auf jede Bitte der Armen und Bedrängten zu lauschen. Er wird ihr Flehen nicht geringschätzig behandeln; er wird sein Ohr zum Hören neigen, sein Herz zum Erwägen und seine Hand zum Helfen. Welch ein Trost liegt hierin für diejenigen, welche sich ganz hilflos und verlassen vorkommen; ihrem dringenden Bedürfnisse entspricht aufs genauere die gnädige Verheißung, die ihnen hier dargeboten wird. Es lohnt sich, solche Verlassenheit zu erfahren, um so freundlich der göttlichen Beachtung versichert zu werden!

19. Das werde geschrieben auf die Nachkommen. Zur Zeit der Erfüllung wird man eine Urkunde davon aufnehmen; denn auch unter den zukünftigen Geschlechtern wird es Hilflose, Verlassene geben - "es werden allezeit Arme sein im Lande" (5. Mose 15,11) - und deren Augen wird es fröhlich machen, zu lesen, wie sich in früheren Zeiten des HERRN Erbarmen an den Hilfsbedürftigen erwiesen hat. Wir sollten in der Tat von den Erweisen der Freundlichkeit Gottes Niederschriften machen und aufbewahren. Trägt man doch in die Geschichtsbücher die Unglücksfälle der Völker wie Kriege, Hungersnot, Seuchen, Erdbeben und dergleichen sorgfältig ein; um wie viel mehr denn sollten wir auch Denkschriften über Gottes Wohltaten anfertigen! Wer am eigenen Herzen geistliche Verlassenheit empfunden hat und aus ihr erlöst worden ist, kann das nimmer vergessen; es mag aber auch seine Pflicht werden, andern, wenn auch mit weiser Vorsicht, davon zu erzählen, und vor allem wird er sich gedrungen fühlen, seinen Kindern in die Güte des HERRN Blicke zu öffnen. Und das Volk, das geschaffen soll werden, wird den HERRN loben. Der Wiederaufbau Jerusalems wird ein weltgeschichtliches Ereignis werden, für welches die Gemeinde der Zukunft, die er sich zu seiner Herrlichkeit schaffen wird (Jer. 43,7), Jehovah beständig preisen wird. Mächtige geistliche Neubelebungen verursachen nicht nur bei denen, die unmittelbar an ihnen teilhaben, unaussprechliche Freude, sondern bleiben eine Quelle der Ermutigung und Erquickung für das Volk Gottes auf lange hinaus, ja sind tatsächlich durch die ganze Folgezeit der Gemeinde des HERRN ein Antrieb zur Anbetung. Dieser Vers lehrt uns, dass wir auch an die Nachwelt denken und namentlich uns bemühen sollten, die Erinnerung an Gottes Liebesbeweise gegen seine Gemeine, sein armes Volk, wach zu erhalten, auf dass das junge Geschlecht, wenn es heranwächst, wisse, dass der Gott ihrer Väter gütig ist und ein Erbarmer. So niedergeschlagen der Psalmdichter war, als er die schwermutsvollen Vers dieses Klagepsalms niederschrieb, so war er doch nicht so gänzlich von seinem eigenen Kummer hingenommen oder von dem Unglück seines Volkes verwirrt, dass er die berechtigten Ansprüche der kommenden Geschlechter vergessen hätte. Ein klarer Beweis dafür, dass er doch nicht ganz ohne Hoffnung für sein Volk war; denn wer Anstalten trifft zum Besten eines künftigen Geschlechts, der ist noch nicht an seinem Volk verzweifelt. Das Lob Gottes sollte der eine große Zweck all unseres Tuns sein; und ihm auch von andern in Gegenwart und Zukunft ein reiches Maß von Preis und Anbetung zu sichern ist das Edelste, was geistbegabte Wesen sich als Ziel setzen können.

20.21. Dass er von seiner heiligen Höhe herabgeschaut, der HERR vom Himmel auf die Erde geblickt hat (Grundtext), gleich einem Wächter, der von seinem Turme Ausschau hält. Was war der Zweck, dass der Höchste sich so von den Zinnen des Himmels herabneigte? Warum dieses aufmerksame Niederschauen auf das Geschlecht der Menschenkinder? Die Antwort ist erstaunlich gnadenreich: der HERR blickt auf die Menschheit, nicht um ihre Großen zu betrachten und die Taten ihrer Edlen zu beobachten, sondern: dass er das Seufzen des Gefangenen höre und losmache die Kinder des Todes. Das Ächzen der im Kerker Schmachtenden ist wahrlich keine wohltönende Musik; doch so schrecklich es auch anzuhören, Gott neigt sich herab, darauf zu lauschen. Und die "Söhne des Todes", Menschen, die sich dem Tode verfallen wissen, sind in der Regel schlechte Gesellschaft; doch geruht Gott, von seiner Höhe sich zu ihnen niederzubeugen, um ihr unsägliches Elend zu lindern und ihre Ketten zu brechen. Solches tut er im Walten seiner Vorsehung, indem er Bedrängte rettet, Todkranken die Gesundheit wiederschenkt und Verschmachtenden Speise gibt; auf dem geistlichen Gebiet aber geschehen eben solche Wunder der Barmherzigkeit durch die freie Gnade, die uns durch die Vergebung von dem Todesurteil, das die Sünde über uns gebracht, errettet und durch die trostreiche Verheißung von der tödlichen Verzweiflung befreit, welche die Erkenntnis der Sünde in uns hervorgerufen. Wohl mögen diejenigen unter uns den HERRN preisen, die einst Kinder des Todes gewesen, jetzt aber in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes eingeführt worden sind. Zu Hamans Zeiten waren die damals ja unter persischem Zepter stehenden Juden samt und sonders zum Tode bestimmt; ihr Gott aber fand einen Weg der Rettung für sie, in Erinnerung woran sie voller Freuden das Purimfest zu feiern pflegen. (Siehe das Buch Esther.) Möchten doch alle die Seelen, die von der geriebenen Bosheit des alten Drachen befreit worden sind, mit noch größerer Dankbarkeit den so erbarmungsreichen HERRN preisen!

22. Auf dass sie (die Erlösten des HERRN) zu Zion predigen den Namen des HERRN und sein Lob zu Jerusalem. Der Höchste kann sein herrliches Wesen auf Erden nicht wirkungsvoller enthüllen, als wenn er solchen große Gnade erweist, die ihrer am dringendsten bedürfen. Handlungen reden lauter als Worte; Taten der Gnade sind eine noch eindrucksvollere Offenbarung als die allerfreundlichsten Verheißungen. Die Wiederherstellung Jerusalems, der Wiederaufbau der Kirche, die Aufrichtung verzagter Seelen und alle andern Erweise der Segensmacht Jehovahs sind ebenso viele an Zions Mauern angeschlagene Manifeste und Proklamationen, die das Wesen und den Ruhm des großen Gottes der Welt kundtun. Die Erfahrung jeden Tages sollte uns ein neuer Liebesgruß, ein königliches Rundschreiben vom Himmel, ein Tageskurier aus dem Hauptquartier der Gnade sein. Und wir haben die Verpflichtung, unseren Mitchristen von solchem Kenntnis zu geben, damit sie uns helfen, Gott über der Güte, die wir erfahren haben, zu preisen. Wenn Gottes Gnadentaten so beredte Sprache führen, dürfen wir nicht stumm bleiben. Andern mitzuteilen, was Gott an uns selbst oder an der Gemeinde im Großen getan hat, ist so offenbar unsre heilige Pflicht, dass man uns wahrlich nicht sollte antreiben müssen, sie zu erfüllen. Gott hat bei allem, was er tut, den Ruhm seiner Gnade im Auge; wir sollten ihm diesen Huldigungszins nicht vorenthalten wollen.

23. Wenn die Völker zusammenkommen (allzumal, Grundtext) und die Königreiche, dem HERRN zu dienen. Von dem herrlichen Werk der Wiederherstellung des zerstörten Zion wird man reden in dem goldenen Zeitalter der messianischen Zukunft, wenn die Heidenvölker alle zu Gott bekehrt sein werden. Selbst in jenen glanzvollen Tagen wird man dies erhabene Ereignis nicht gering achten können, das gleich dem Durchzug Israels durchs Rote Meer nie der Vergessenheit anheimfallen noch jemals aufhören wird, das auserwählte Volk zu Begeisterung zu entflammen. O seliger Tag, da alle Völker in der Anbetung Jehovahs eins geworden sein werden! Dann wird man die Geschichten der alten Zeit mit anbetendem Staunen lesen, und alle Welt wird erkennen, dass des HERRN Hand immerdar schützend und segnend auf der geweihten Schar seiner Erkorenen geruht hat. Welch jubelnde Lobgesänge werden dann gen Himmel steigen, dem zu Ehren, der die Gefangenen gelöst, die zum Tode Verdammten befreit, das, was Jahrtausende lang wüste gelegen, wieder aufgerichtet und aus Schutt und Trümmern einen herrlichen Tempel zu seinem Dienste auferbaut hat.


24. Er demütigt auf dem Wege meine Kraft,
er verkürzt meine Tage.
25. Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!
Deine Jahre währen für und für.
26. Du hast vormals die Erde gegründet,
und die Himmel sind deiner Hände Werk.
27. Sie werden vergehen, aber du bleibest.
Sie werden alle veralten wie ein Gewand;
sie werden verwandelt wie ein Kleid, wenn du sie verwandeln wirst;
28. Du aber bleibest wie du bist,
und deine Jahre nehmen kein Ende.
29. Die Kinder deiner Knechte werden bleiben,
und ihr Same wird vor dir gedeihen.


24. Er hat (wörtl.) auf dem Wege meine Kraft gedemütigt. Hier fällt der Psalmdichter wieder in die Klageweise zurück, siehe V. 12. Der Kummer hat seinen Geist niedergedrückt und selbst eine Schwächung seines Leibes verursacht, dass er einem Pilgrim gleicht, der todmüde sich fortschleppt und jeden Augenblick hinsinken kann um zu sterben. Er hat (wörtl.) meine Tage verkürzt. Wiewohl er für Jerusalem herrliche Hoffnungen hegte, fürchtete der Psalmdichter doch, dass er selbst längst sein Leben ausgehaucht haben werde, wenn diese Visionen Wirklichkeit geworden; er fühlte, dass er dahinsieche und ihm nur ein kurzes Leben beschieden sei. Das mag auch unser Los sein; dann wird es uns wesentlich dazu helfen, uns zufrieden darein zu schicken, wenn wir die gewisse Überzeugung haben, dass das, was uns das Höchste und Wichtigste ist, ganz gesichert, die uns so teure Sache des Reiches Gottes in des HERRN Händen wohl geborgen ist.

25. Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! Er nimmt seine Zuflucht zum Gebet. Welch besseres Heilmittel gäbe es auch wohl für gebrochene Herzen und niedergeschlagene Gemüter? Es ist uns gestattet, um Wiederherstellung aus Krankheit zu beten, und wir dürfen auf Erhörung hoffen. Gottselige Menschen sollen den Tod nicht fürchten, aber es ist ihnen nicht verboten, das Leben zu lieben. Aus gar mannigfachen Gründen mag gerade ein Mann, der die sicherste Hoffnung auf den Himmel hat, es für wünschenswert erachten, noch ein wenig länger hienieden weilen zu dürfen - sei es um seiner Familie, seines Lebenswerkes, der Gemeinde des HERRN, ja auch um der Ehre Gottes selbst willen. Man hat zu den Worten, die man auch etwa übersetzen könnte: "Nimm mich nicht auf, lass mich nicht auffahren", auch schon an die Entrückung des Elia erinnert, von welcher 2. Könige 2,1 das gleiche Wort gebraucht wird. Näher liegt es, (mit Fr. W. Schultz) an das ja schon V. 4 benutzte Bild vom Rauch zu denken.8 Lass mich nicht auf- und hinfahren wie entschwindenden Rauch; habe ich doch erst die Hälfte meiner Tage - und ach, eine traurige, düstere Hälfte war’s - gesehen. Lass mich noch leben, bis der stürmische Morgen sich zu einem stillen, heitern Nachmittage eines glücklicheren Daseins abgeklärt hat. Deine Jahre währen (ja) für und für. Du lebst, HERR; so lass mich auch leben! In dir ist die Fülle des Lebens, lass mich daran teilhaben. Beachten wir den hier wie schon V. 12 f. hervorgehobenen Gegensatz zwischen dem Beter, der verschmachtet und im Begriff zu verlöschen ist, und seinem Gott, der in der Fülle der Kraft lebt von Geschlecht zu Geschlecht und ewiglich. Dieser Gegensatz ist für alle, deren Herz im HERRN fest gegründet ist, voll mächtiger Trostkraft. Gepriesen sei sein Name, er stirbt nicht, darum wird auch unsre Hoffnung nicht sterben; nie wollen wir, weder für uns selbst, noch für die Gemeinde des HERRN, verzagen.

26. Du hast vormals die Erde gegründet. Schaffen ist für Gott nichts Neues; darum wird es ihm auch nicht schwer werden, Jerusalem neu erstehen zu lassen, es zu machen zum Lobpreis auf Erden (Jes. 62,7). Lange ehe die Heilige Stadt in Trümmer sank, hatte der HERR eine Welt aus dem Nichts erschaffen; so wird es ihm wahrlich keine Arbeit sein, die Mauern Zions wieder aus ihren Trümmerhaufen aufzurichten und die Steine an ihre Stätte zurückzubringen. Wir können nicht einmal unser eigenes Leben erhalten, geschweige denn andern Leben geben; der HERR aber "ist" nicht nur selbst, sondern ist auch der Schöpfer alles dessen, was ist. Darum haben wir, auch wenn es mit uns und unseren Angelegenheiten bis zum äußersten gekommen ist, dennoch gar keinen Grund zum Verzweifeln, denn der Allmächtige und Ewige kann uns doch wieder aufrichten. Und die Himmel sind deiner Hände Werk. Deshalb vermagst du nicht bloß die Grundmauern Zions zu legen, sondern es auch bis zum First zu vollenden, gerade wie du die Welt mit der schönen blauen Decke eingewölbt hast. Auch die erhabensten Stockwerke deines irdischen Palastes werden ohne Schwierigkeit in die Höhe getürmt werden, wenn du den Bau unternimmst; bist du doch der Bildner der Sterne, der Architekt der hohen Sphären, in denen sie ihre Bahnen wandeln. Wenn es gilt, dass ein großes Werk zur Vollendung komme, ist es besonders beruhigend, die Leistungsfähigkeit dessen zu betrachten, der es auszuführen übernommen hat; und wenn unsre eigne Kraft völlig erschöpft ist, erquickt und ermutigt es wundersam, wenn wir den Blick auf die nie versagende Tatkraft dessen richten, der immer noch uns zugute am Werke ist.

27. Sie werden vergehen, aber du bleibest. Die Macht, welche Erde und Himmel geschaffen hat, wird sie auch wieder zertrümmern, gerade wie deine geliebte Stadt auf deinen Befehl wieder in Staub gesunken ist; doch kann weder die Zerstörung Jerusalems noch der Untergang der ganzen Welt deine erhabene Unveränderlichkeit berühren, deine ewigen Pläne umstürzen oder deine Herrlichkeit mindern. Du bleibst bestehen, auch wenn alles Geschaffene zusammensinkt. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; wie ein Kleid wirst du sie wechseln, und sie werden (sich wechseln, d. i.) sich wandeln. (Grundtext) Die Zeit raubt allen Dingen ihre Schönheit und Kraft; ihre Gestalt veraltet und schwindet hin. Die sichtbare Schöpfung, gleichsam das Gewand des unsichtbaren Gottes, wird alt und schäbig, und unser himmlischer König ist nicht so arm, dass er allezeit denselben Mantel tragen müsste; gar bald wird er die Welten wie ein abgetragenes Kleid zusammenfalten und beiseite legen und sich ein neues Gewand umtun, indem er einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft, in welchen Gerechtigkeit wohnt (2. Petr. 3,13). Wie schnell wird das geschehen sein! "Du wechselst sie - und sie wechseln!" Wie einst bei der Schöpfung, so wird auch bei der Neuschöpfung die Allmacht ihr Werk ohne Hinderung vollbringen.

28. Du aber bleibest wie du bist oder bist derselbe. Wie ein Mensch derselbe bleibt, auch wenn er sein Kleid wechselt, so ist der HERR in Ewigkeit derselbe Unveränderliche, ob auch seine geschaffenen Werke mannigfache Veränderungen durchmachen und die Maßregeln seiner Vorsehung wechseln. Wenn Himmel und Erde dereinst vor dem Angesicht des erhabenen Weltrichters fliehen, wird er von der schrecklichen Verwirrung unberührt bleiben, und dass die Welt in Flammen aufgeht, wird in ihm keine Veränderung hervorbringen; gerade so - das ist wohl der Gedanke des Psalmdichters, den wir hier zwischen den Zeilen zu lesen haben - ist und bleibt jetzt, da Israel besiegt, die Hauptstadt zerstört und der Tempel dem Erdboden gleichgemacht ist, Israels Gott das gleiche aus und in sich selbst seiende, sich vollgenügende Wesen, das er stets gewesen ist, und wird sein Volk ebenso wieder aufrichten, wie er einst Himmel und Erde wiederherstellen und dann mit einer bis dahin ungekannten Herrlichkeit ausstatten wird. Die Wahrheit der Unwandelbarkeit Gottes sollte von uns mehr erwogen, lebendiger erfasst werden, als es geschieht; denn die Vernachlässigung dieser fundamentalen Schriftlehre schwächt das Rückenmark der Theologie nicht weniger Prediger und lässt sie manches aussprechen, dessen Ungereimtheit sie längst hätten einsehen müssen, wenn sie der Erklärung Gottes eingedenk gewesen wären: Ich bin der HERR (Jehovah) und wandle mich nicht, und darum ist es mit euch Kindern Jakobs noch nicht gar aus. (Mal. 3,6.) Und deine Jahre nehmen kein Ende. Gott lebt stetig fort, ihn kann kein Kräfteverfall ankommen, keine Vernichtung treffen. Welche Quelle der Freude ist das für uns! Die teuersten irdischen Freunde mögen wir verlieren, nimmermehr jedoch unseren himmlischen Freund. Des Menschen Lebenszeit wird oft plötzlich abgeschnitten, und auch wenn unsere Tage das höchste Maß erreichen, sind ihrer doch nur wenige (1. Mose 47,9); aber die Jahre des Höchsten mag niemand zählen, denn ihrer ist kein erstes noch letztes, wie kein Anfang, so kein Ende. O meine Seele, freue dich im HERRN allewege, weil er allezeit derselbe ist!

29. Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, wörtlich: (sicher) wohnen (vergl. Ps. 37,27). Der Dichter hatte schon V. 19 auf das zukünftige Geschlecht hinausgeblickt; hier nun spricht er mit fester Zuversicht aus, ein solches Geschlecht werde aufkommen und von Gott bewahrt und gesegnet werden. Einige lesen diese Worte als Gebetswunsch: Mögen die Kinder deiner Knechte bleiben usw. Aber die gewöhnliche Übersetzung als Aussage, die wir schon bei den Alten finden, entspricht sicherlich mehr der Glaubensgewissheit des Psalmisten und gibt dem Psalm einen viel kraftvolleren Abschluss. In beiden Fällen freilich sind die Worte für uns gar tröstlich: wir dürfen Gottes segnende und schirmende Gnade für unsere Nachkommen erflehen, und wir dürfen im Glauben erwarten, dass Gottes Reich und Gottes Wahrheit in den zukünftigen Geschlechtern sich in neuer Kraft entfalten werden. Lasst uns hoffen, dass diejenigen, welche unseren Platz einnehmen sollen, nicht so halsstarrig, ungläubig und voll Irrens sein werden, wie wir es gewesen. Ist die Gemeinde des HERRN durch die Lauheit des gegenwärtigen Geschlechts gehindert und heruntergebracht worden, so wollen wir den HERRN anflehen, dass er eine bessere Klasse von Menschen erstehen lasse, deren Eifer und Gehorsam ihnen geistliche und leibliche Wohlfahrt gewinne und erhalte. Und ach, dass unsre eigenen Lieben durch Gottes Gnade zu diesem besseren Geschlechte zählen möchten, das in des HERRN Wegen gehen wird, im Gehorsam des Glaubens ausharrend bis zum Ende. Und ihr Same wird vor dir gedeihen, wörtlich: bestehen oder gefestigt werden. Gott vernachlässigt nicht die Kinder seiner Knechte. Das ist die heilige Regel, dass Abrahams Isaak des HERRN Eigentum ist, dass Isaaks Jakob von dem Höchsten geliebt wird und Jakobs Joseph vor dem Angesicht Gottes Gnade findet. Wohl ist die Gnade nicht erblich; doch ist es Gottes Wohlgefallen, sich in derselben Familie für unausdenkliche Zeiten verehren zu lassen, gerade wie es sich so manche unserer großen Landbesitzer zur Freude rechnen, die gleichen Familien von Geschlecht zu Geschlecht als Pächter auf ihren Gütern zu haben. Hierauf ruht Zions Hoffnung: ihre Söhne werden sie aufbauen, ihre Nachkommen sie zu ihrer früheren Herrlichkeit erheben. Wir dürfen daher, nicht nur um unser selbst willen, sondern auch aus Liebe zu der Gemeinde Gottes, Tag für Tag darum beten, dass unsere Söhne und Töchter des Heils teilhaftig und durch die göttliche Gnade bis ans Ende im Glauben erhalten und also vor dem HERRN gefestigt werden mögen.
  So sind wir denn durch die Wolke hindurchgedrungen, und im nächsten Psalm werden wir uns am hellen Sonnenschein erquicken dürfen. Solcher Art ist die oft recht buntscheckige Erfahrung der Gläubigen. Paulus klagt und seufzt im siebenten Kapitel des Briefes an die Römer, und im achten darf er frohlocken und vor Freude jauchzen. So gehen auch wir jetzt von dem Seufzen und Stöhnen des 102. zu dem Gesang und Reigen des 103., indem wir dankbar den HERRN preisen, dass auch wir es erfahren dürfen: Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude. (Ps. 30,6.)


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Der Psalm ist, wie V. 14-18 zeigt, in der Zeit des Exils geschrieben, als es bereits längere Zeit gedauert hatte und jene siebenzig Jahre, welche die Propheten als Dauer desselben angegeben hatten, fast vorüber waren. Prof. A. Tholuck 1843.
  Der Sänger war bereits mit Jes. 40-66 bekannt, vergl. V. 16 und besonders V. 27, und lebte ohne Zweifel nicht noch im Exil, sondern erst nach der ersten Wiederherstellung Jerusalems, wo die neue Gemeinde von den feindlichen Nachbarvölkern bereits schwer zu leiden hatte. Dafür spricht V. 14.15, dafür auch das Dass mit Perfektum (im Grundtext) in V. 17 f. und V. 20. Die Annahme, dass das Perfektum hier immer wieder als reines futurum exactum stehe, dass ihm noch gar nichts Faktisches zu Grunde liege, ist unnatürlich. Der Psalm bildet also zu den vorhergehenden Psalmen 91-100 ein ergänzendes Seitenstück, wie Ps. 94, indem er auch den Anfechtungen und Beängstigungen der damaligen Frommen, besonders ihrem Hauptanliegen, einen treffenden Ausdruck gibt. Dass der Verfasser so individuell redet und doch nur das nationale Leiden im Sinn hat, erklärt sich am besten, wenn er eins der Häupter in der neuen Gemeinde war. - Kommentar von Prof. Fr. W. Schultz 1888.
  Mit der Inbrunst eines Menschen, dem es aufs festeste gewiss ist, dass Gebete den Himmel durchdringen, beginnt er Gott anzurufen. Man fühlt es der Glut dieser Klagen ab, dass sie nicht bloß Privatleiden bejammern, dass sie, wie die Klaglieder Jeremiä, der Demütigung eines einst vor Gott und vor Menschen hochgeehrten Volkes gelten, als dessen Mitglied der Sänger sich weiß. Es ist die Demütigung seines Volkes, wodurch, wie vor ihm Jeremias, dieser Sänger im Innersten verwundet worden, aber in Verbindung damit auch der Schmerz über die Sünde, welche diese Züchtigung veranlasst hat. - Hat indes auch der HERR sein Verhalten gegen Israel geändert, in seinem Wesen bleibt er ewig derselbe, und darum hat er ja verkündigen lassen, dass die Gefangenschaft nach bestimmter Frist ein Ende haben soll. (Jer. 30,11; 31,23 f.) Ja, auch wann diese Züchtigung zu Ende gehen werde, hat er offenbaren lassen: Jer. 25,11. So hat die Hoffnung des Klagenden einen Anhalt, an dem er sich zur heitersten Zuversicht aufschwingt. Die Geschichte dieser Erlösung soll insbesondere eine Predigt sein, die neuen Bewohner sollen Evangelisten des wahren Gottes werden, wenn die Zeit kommt, wo der HERR die Völker der Heiden hinzutun wird zum Volke Gottes. Wird aber der Sänger diese glorreiche Zukunft erleben? Er fühlt, dass seine Lebenskraft geschwunden sei. Doch - der HERR bleibt in seinem Wesen unverändert, wie auch alles im Himmel und auf Erden veränderlich sei. Lässt er in der Gegenwart bis jetzt noch seine Offenbarung anstehen: die Kinder seiner Knechte werden doch noch seinen Segen erleben. Prof. A. Tholuck 1843.


V. 1. Gebet für einen Elenden usw. (Wörtl.) Diese Überschrift gibt sicherlich nicht den nächsten Zweck an, zu welchem der Psalm gedichtet worden ist, sondern enthält den Wink, dass der Psalm, der unverkennbar aus persönlicher Empfindung wirklich vorhandener (nicht aber etwa mit Hilfe der Phantasie oder prophetischer Eingebung vorausgeschauter) Not heraus gedichtet worden ist, auch andern, die in Lage und Gesinnung dem Verfasser ähnlich sind, als Gebetswort dienen könne. Die Überschrift mag aus einer späteren Zeit als der Psalm selbst stammen, wo der Psalter bereits gleich unseren Gesangbüchern ein Andachtsbuch zum öffentlichen wie privaten Gebrauch geworden war. - J. M
  Da der Verfasser nicht genannt noch sonst zu erkennen gegeben wird, so kann sich’s ein jeder Elender desto näher auf sich selbst zueignen und ein treffliches Muster davon nehmen, was der Glaube unter allerlei Druck und Not für einen Zugang zu Gott habe, und daraus erkennen, dass viel an Gott sei, das ein Elender zu seinem Trost ergreifen könne. O wie viel Seufzer und Klagen hat Gottes Ohr schon vor sich kommen lassen! Wie bald sind aber wir überdrüssig und unwillig, wenn der Elende seine Klage vor uns ausschütten will! Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Und er seine Klage vor dem HERRN ausschüttet. Hier wird die Art, welche das Gebet der Gemeinde des HERRN in Zeiten großer Not annimmt, unter dem Bilde eines Gefäßes dargestellt, das mit neuem Wein oder dergleichen bis an den Rand gefüllt ist und daher birst, weil der mächtig gährende Inhalt sich Luft machen muss. O welche das Herz zersprengenden Hilferufe entströmen der Gemeinde Gottes unaufhörlich in solchen Zeiten! Da hört alles lässige, verdrossene Beten, alles Lippenwerk auf, da sieht man das Gebet nicht mehr als fromme Leistung an, da ist es nicht ein leerer Schall von Worten, der doch niemals dem Beter eine gnädige Antwort von Gott noch auch nur die geringste Erleichterung für sein bekümmertes Gemüt verschaffen kann; sondern da kommt es zu einem Ausschütten des Herzens vor Gott wie bei Hanna (1. Samuel 1,15) und bei Jeremia (vergl. Klgl. 2,11), da werden die Worte des Flehens mit Ungestüm und unter starken inneren Wehen hervorgestoßen. So sind die Führungen des HERRN mit seinem Volk und seiner Gemeine: ehe er den Becher des Trostes über sie ausgießt, müssen sie Ströme von Tränen vergießen. Finiens Canus Vove (ein Verbannter) 1643.


V. 2. Mein Gebet - mein Schreien. Das Gebet ist, dass er Gnade begehret; das Geschrei, dass er sein Elend erkläret, wie denn folget. Martin Luther 1525.
  Mein Schreien. Das Schreien ist gleichsam die lauteste Glocke im Betgeläute. O so lass, wenn mein Beten nicht durchdringt, doch mein Schreien zu dir kommen! Hörst du nicht auf mein Schreien, so werde ich schreien, weil ich nicht Gehör finde; hörst du aber auf mein Schreien, so werde ich weiter rufen, um noch völliger erhört zu werden. So werde ich denn, ob du mir Antwort gibst oder nicht, immer noch rufen und schreien, und Gott gebe es, dass ich also anhalte. Richard Baker † 1645.


V. 2.3. Der große Gott lässt es zu, dass seine stammelnden Kinder zu ihm in ihrer Sprache reden, auch wenn die Worte, die sie brauchen, seiner geistigen, unsichtbaren und für uns unbegreifbaren Erhabenheit nicht entsprechen. David Dickson † 1662.
  David sendet sein Gebet als einen Gesandten zu Gott. Nun sind vier Stücke erforderlich, wenn eine Gesandtschaft gelingen soll. Der Gesandte muss von dem Fürsten, zu welchem er gesandt wird, mit gnädigem Auge angeschaut und mit willigem Ohr gehört werden; und er muss, nachdem ihm, was er begehrt hat, bewilligt worden ist, ohne Säumen zurückkehren. Diese vier Stücke erbittet David für sein Gebet von Gott, seinem König. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 3. Neige deine Ohren zu mir. Das deutet hin auf die große Erschöpfung des Elenden, der da betet. Er ist so abgemattet, dass er kaum mehr imstande ist zu rufen, sondern mit fast versagender Stimme nur noch lispelt, wie ein ganz erschöpfter Kranker, zu dem wir, wenn wir sein Flüstern auffangen wollen, unser Ohr niederbeugen müssen. Martin Geier † 1681.


V. 4. Vergangen wie Rauch. Ganz der gleiche Ausdruck, welchen David Ps. 37,20 in Beziehung auf die Feinde des HERRN gebraucht hatte, wozu man auch Ps. 68,2 vergleichen kann: Gott erhebt sich, seine Feinde zerstieben. So hatte also den gottseligen Dulder das Los der Gottlosen getroffen. A. R. Fausset 1866.
  Und meine Gebeine sind wie ein Herd durchglüht. Die Bedeutung Herd ist durch das Arabische gesichert. Es kann jedoch der Herd mit dem, was darauf liegt (dem Feuer und Holz) zusammengefasst werden (Jes. 33,14; 3. Mose 6,2). K. B. Moll † 1878.
  Und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand. Gleichwie das Feuer auszeucht alles Feiste und machet dürre (machet eine dürre Griebe), also auch das Leiden macht alle Kräfte der Seele dürre, kraftlos und überdrüssig. Martin Luther 1525.


V. 5. Mein Herz ist geschlagen und verdorret wie Gras. Das Gras, so abgeschlagen oder gebrochen, verliert seinen Ursprung, das ist, der einfließende Saft und Feuchtigkeit wird dürre, und wird gut Feuerwerk. Martin Luther 1525.
  Dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen. Ahab, David und Daniel vergaßen oder weigerten sich alle drei, Speise zu sich zu nehmen, wiewohl ihr Kummer sehr verschiedener Art war. 1. Könige 21,4; 2. Samuel 12,16 f.; Dan. 10,3. Solch natürliche Gefährten sind Trauern und Fasten. Siehe ferner Ps. 107,18; Hiob 33,20; Hanna 1. Samuel 1,7; Saul 1. Samuel 20,34; 28,20.23; Darius Dan. 6,19 [18]. Samuel Burder 1839


V. 6. Mein Gebein klebt an meinem Fleisch. Wenn die Knochen an der Haut kleben, sind beide nahe daran, am Staube zu kleben (Ps. 119,25 Grundtext, vergl. Ps. 44,26). Joseph Caryl † 1673.
  Dass großer Kummer sehr schnelles Hinschwinden der Körperkräfte verursachen kann, ist bekannt. Über den Kardinal Wolsey wird von einem Augenzeugen berichtet, er habe, als er hörte, dass sich die Gunst seines königlichen Herrn, Heinrichs VIII. von England, von ihm gewandt habe, die ganze Nacht hindurch einen so furchtbaren Kampf des Kummers gerungen, dass sein Angesicht am andern Morgen zu der Hälfte einer ehemaligen Größe zusammengefallen gewesen sei. C. H. Spurgeon 1874.


V. 7. Die Rohrdommel, welche Luther nach seiner bekannten trefflichen Weise, die fremdländischen Tiere, Bäume u. dergl. in seiner Übersetzung durch einheimische zu ersetzen, hier nennt, ist ein bräunlicher, zu den Sumpfreihern gehörender Vogel, ein Nachttier, eulenartig auch in den Federn. Es macht gern Lärm, täuscht aber durch steifes Stillsitzen oft den Jäger. Der hebräische Name "der Speier" führt auf den Pelikan, der in seinem am Unterkiefer hangenden großen Kehlsack Fische aufzuspeichern und diese dann gleichsam wieder auszuspeien pflegt, um seine Jungen zu füttern. - James Millard
  Wie ein Pelikan in der Wüste. Das Wohnen in der Wüste, d. h. an einsamen Orten, fern von menschlichen Wohnungen, ist in der Tat eine der Eigentümlichkeiten der Kropfgans oder des Pelikans. Er macht sein Nest in unbebauten, einsamen Gegenden, wo er nicht gestört wird; dorthin kehrt er auch zurück, nachdem er sich sein reichliches Mahl aus dem Wasser geholt hat, um es in stiller Muße zu verdauen. Dr. Tristram meint, das Bild des Dichters lehne sich vielleicht an die dem Pelikan mit seinen Verwandten gemeinsame Gewohnheit an, nachdem er sich mit Speise vollgepfropft hat, den Kopf auf der Schulter, den Schnabel auf der Brust stundenlang unbeweglich dazusitzen. J. G. Wood 1869
  Nur hier in Huleh habe ich den Wüstenpelikan gesehen. Es war einer angeschossen worden, und da ihm nur ein Flügel verwundet worden war, hatte ich gute Gelegenheit, seine Art genau zu betrachten. Das sehr große Tier war sicherlich der schwermütigste Vogel, den ich je gesehen, ein Kopfhänger wie er im Buch steht. Man bekam schon genug vom bloßen Ansehen. Der Dichter konnte wahrlich kein treffenderes Abbild von Vereinsamung und Schwermut finden, um seinen eigenen traurigen Zustand zu schildern. William M. Thomson 1859.
  Käuzlein. Manche Alte verstehen nicht unter dem ersten sondern dem zweiten hier genannten Vogel den Pelikan, indem sie den zweiten hebräischen Namen etwa "Bechervogel" (Sackvogel) deuten. Die Beschreibung, dass der Vogel in zerstörten Stätten wohne, passt aber besser auf eine Eulenart, wie denn auch die Septuaginta das Wort mit dem (auch in unseren Sprachen wegen des Gekrächzes der Eulen üblich gewesenen) Namen Nachtrabe wiedergibt. Wahrscheinlich ist die in ganz Syrien am stärksten verbreitete kleine Eule, der nächste Verwandte unseres Käuzleins, gemeint. Sie wird beschrieben als ein wunderlich und drollig aussehender kleiner Vogel, der zahm und doch vorsichtig ist, sich nie unnötig bewegt, sondern wie angeleimt festsitzt, es sei denn, dass er guten Grund hat, sich entdeckt zu glauben. Dabei dreht und wendet er den Kopf statt der Augen, um zu sehen, was um ihn her geschieht. Man findet ihn zwischen Felsen in den Bachtälern oder auf Bäumen am Wasser, in Olivengärten, in Grabstätten und Ruinen, aus den Sandhügeln von Beer-Seba und auf den von der Brandung bespritzten Überresten von Tyrus, wo man sicher sein kann, um Sonnenuntergang seinen tiefen klagenden Ruf zu vernehmen und ihn mit Beugungen den Takt zu seiner Musik schlagen zu sehen. W. Houghton 1874.


V. 8. Vogel. Das im Hebräischen gebrauchte Wort zippor dient zwar auch als Bezeichnung des Sperlings, dieses im ganzen Morgenland so gut wie bei uns gewöhnlichsten Vogels, wird aber auch als allgemeine Bezeichnung für allerlei Vogelarten gebraucht. Der Sperling kann an unserer Stelle nicht gemeint sein, denn er ist überall der gleiche viel Kameradschaft liebende und bis zur Frechheit lustige Spatz. Dagegen gibt es einen andern in Westasien wie in Südeuropa ebenfalls häufigen Vogel, der auch wohl, freilich ganz irrtümlich, für eine Sperlingsart gehalten wird, jedoch nach Größe, Gestalt und Stimme vielmehr eine richtige Drossel ist, nämlich die Blaudrossel. Dieser Vogel unterscheidet sich aber von den andern Drosseln ganz eigentümlich, und zwar überall im Orient, dadurch, dass er eine besondere Vorliebe hat, allein auf menschlichen Wohnstätten zu sitzen. Er hält nie mit andern Gesellschaft, sogar mit seinem Weibchen nur zu einer Zeit im Jahr; und selbst dann kann man ihn oft ganz allein oben auf dem Haus sehen, wo er seine lieblichen klagenden Weisen hören lässt und zu singen anhält, während er von Dach zu Dach hüpft. Auch Amerika hat eine die Einsamkeit liebende Drossel von etwas anderer Art und Lebensweise. The Biblical Treasury.
  Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Ich bin nicht entschlafen und an mein selbst Acht gegangen. Denn die Welt schläft, als der Apostel 1. Thess. 5,6 saget. Aber darinnen ist er alleine und niemand mit ihm; denn sie schlafen alle. Und er saget: auf dem Dache, als spräche er: Die Welt ist ein Haus, darinnen sie alle schlafen und beschlossen liegen; ich aber alleine bin außer dem Hause, auf dem Dache, noch nicht im Himmel, und auch doch nicht in der Welt. Die Welt habe ich unter mir, den Himmel über mir: also schwebe ich zwischen der Welt Leben und dem ewigen Leben einsam im Glauben. Martin Luther 1525.


V. 7.8. Du brauchst wahrlich nicht wie Elia darüber zu klagen, dass du allein und einsam bist; siehest du doch, dass die größten Heiligen in allen Jahrhunderten unter dem gleichen Schmerze gelitten haben, wie z. B. David. Zu Zeiten kann er freilich rühmen, dass er auf grüner Aue weidet und zu stillen Wassern (Ps. 23,2 Grundtext) geführt wird; aber hernach muss er seufzen, er versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund sei (Ps. 69,3). Was ist aus der grünen Aue geworden? Sie ist verdorrt, von der Hitze ausgebrannt. Wo sind jene stillen Wasser? Sie sind aufgewühlt durch den Sturm der Trübsal. In unserem Psalm vergleicht sich David einer Eule, und im nächsten findet er sein Abbild im Adler! Gibt es zwei Vögel verschiedenerer Art? Der eine ist der Kauz, der andre der König unter den Vögeln, der eine der verachtetste, der andre der geehrteste, der eine der langsamste, der andre der schnellste, der eine der scharfsichtigste, der andre der blödsichtigste aller Vögel. Wundre dich denn nicht, wenn du bei dir plötzliche und seltsame Veränderungen erfährst. Es ist so allen Knechten Gottes in ihren Trübsalskämpfen ergangen. Und habe des gute Zuversicht: ob du jetzt auch von den Wogen des Kummers wie auf eine Sandbank geschleudert bist, dein Schifflein wird doch zu guter Zeit wieder flott werden und fröhlich und getrost dem Hafen zusegeln. Thomas Fuller † 1661.
  Nur wenig verstehen die Menschen, was es um Einsamkeit ist und wie man sie allerorten empfinden kann. Eine Menschenmenge ist noch keine Gesellschaft, und Gesichter sind nur eine Bildergalerie, Gespräche nur eine klingende Schelle, wo die Liebe fehlt. Das lateinische Sprichwort "magna civitas, magna solitudo (große Stadt, große Einsamkeit)" weiß etwas davon, denn in großen Städten sind die Freunde zerstreut, so dass sich dort meist nicht die Geselligkeit findet wie in kleineren Orten. Aber wir können weitergehen und streng der Wahrheit gemäß behaupten, dass die eigentliche und traurigste Einsamkeit die ist, wenn man keine wahren Freunde hat, ohne welche die Welt nur eine Einöde ist. Franz Baco v. Verulam † 1626.
  Warum lieben Betrübte die Einsamkeit? Sie sind voll Herzeleids, und ein Herz, in welchem sich der Kummer tief eingewurzelt hat, zieht sich naturgemäß in sich selbst zurück und flieht allen Verkehr. Der Gram ist ein gar schweigsamer, die Heimlichkeit liebender Geselle. Leuten, die über ihren Kummer viel schwatzen und lärmen, sitzt der Jammer nicht tief. Manche wundern sich, warum schwermütige Menschen so viel allein sein wollen; ich will euch die Ursachen sagen. Erstens liegt vielfach eine Störung in dem Stoffwechsel des Körpers vor, wodurch ihr Temperament, ihre Gemütsart und ihre Neigungen eine solche Veränderung erleiden, dass sie nicht mehr dieselben sind wie ehedem. Ihre ganze Stimmung ist allem, was sie fröhlich machen oder von ihrer krankhaften Eingezogenheit ablenken könnte, abgeneigt. Wem das unverständlich ist, der könnte sich mit ebenso viel Weisheit darüber wundern, warum solche Leute denn überhaupt krank sein wollen. Sie wären es sicherlich nicht, wenn sie es ändern könnten; aber die Krankheit der Schwermut ist so hartnäckig, dass nur Gottes Macht sie völlig heben kann, ich weiß kein andere Heilung dafür. Sodann wird dieses Leiden nur von solchen verstanden, die es selber durchgemacht haben. Gewöhnlich achtet man ja gar nicht auf das, was Gemütskranke sagen, glaubt nicht an ihr Leiden, sondern macht es lächerlich. So grausam ist man in der Regel mit andern Kranken nicht. Nun kann man wahrlich niemand tadeln, wenn er die Gesellschaft solcher meidet, die seinen Worten nicht einmal das Vertrauen schenken, das man doch den andern Menschen nicht vorenthalten zu dürfen glaubt. Aber der tiefste Grund, warum Menschen, die in Seelennot und Traurigkeit sind, allein zu sein begehren, ist der, dass sie sich gemeiniglich als Zielscheibe ganz besonderer göttlicher Ungnade ausersehen wähnen. Sind sie doch oft wegen der ausnehmend schweren Trübsale, die über sie hereinbrechen, sich selber ein Schrecken und den andern ein Rätsel. Es bricht sogar ihren Mitmenschen das Herz, zu sehen, wie tief sie im Elend liegen, wie schwer sie bedrückt sind, die einst so ruhig lebten, so wohlgemut und hoffnungsfreudig waren, wie es andre sind. Man vergleiche z. B. Hiob 6,21: "Ihr schaut das Schreckliche und scheuet dran", und Ps. 71,7: "Ich bin vor vielen wie ein Wunder (ein abschreckendes Zeichen)". Auch ist es andern meist unbehaglich, mit solchen Leidenden zusammen zu sein. Ps. 88,19: "Du machst, dass meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich ferne von mir halten um solches Elends willen". Und wiewohl das bei den Freunden Hiobs nicht zutraf, so griff sie doch der Anblick seines Jammers aufs tiefste an, ja der Ärmste war so verändert, dass sie ihn nicht erkannten. Siehe Hiob 2,12 f. Timothy Rogers † 1729.
  So empfindlich in diesem Psalme die göttliche Traurigkeit beschrieben wird, so ist doch selbst unter solchem Heulen und Seufzen im tiefsten Grund mehr Zufriedenheit als unter aller Welt Freude. Denn es ist mehr Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, mehr Untertänigkeit unter Gott dabei, mehr Freude als bei aller Lustbarkeit, die ein stetes Streiten wider Gott mit sich führt. Auch als ein einsamer Vogel auf dem Dache ist man doch dem Himmel näher als einer, der sich in der Welt anbauen und festsetzen will. Doch spürt man freilich, dass man nicht im Himmel ist, sondern zwischen dem Weltleben und dem ewigen Leben einsam im Glauben schweben muss, wie unser seliger Luther über diesen Psalm sagt. Es wird aber auch an die Welt kommen, dass sie noch mehr als Rohrdommels Heulen erfahren muss. Das hat schon das alte Babel bei seiner Zerstörung erfahren (Jes. 13,21 f.), und dem jetzt noch stehenden wird’s auch nicht besser gehen, siehe Off. 18,2. O wie viel besser ist es, hier mit Zion und über Zion zu weinen! Wer hier zeitlich hat geweint, der darf nicht ewig klagen. Karl Heinrich Rieger † 1791.


V. 9. Schmähen. Es ist wahr, was Plutarch sagt, dass die Menschen von Hohn mehr verletzt werden als von andern Beleidigungen. Auch gibt die Trübsal dem Spott eine sonderlich scharfe Spitze; denn Bekümmerte sind doch viel mehr geeignet, zu Mitleid zu bewegen als zu Spott zu reizen. H. Moller 1639.
  Bin ich, wo sie sind, so schmähen sie mich ins Angesicht; bin ich nicht unter ihnen, so lästern sie mich hinter meinem Rücken. Und beides tun sie nicht je und dann, in Ausbrüchen der Leidenschaft, so dass ich doch zwischenein aufatmen könnte, sondern sie speien ihr Gift auf mich den ganzen Tag und einen Tag wie den andern, unaufhörlich; und nicht einzeln, sondern sie haben sich alle miteinander dazu verschworen. Und nun zähle all meinen Jammer zusammen, mein Fasten, Seufzen, Wachen, das Schamgefühl, von allen wie ein Ungeheuer angestarrt zu werden, das Elend, von niemandem ein Wort des Trostes, einen Händedruck der Teilnahme zu empfangen, sondern mit meinem Jammer ganz allein sitzen zu müssen, und endlich den Hass und die tückischen Schmähungen und Verleumdungen meiner Feinde - was Wunder dann, wenn mein Herzeleid mich verzehrt und ich nur noch Haut und Knochen bin! Richard Baker † 1645.
  Schwören bei mir, d. i. sie machen mich zum Exempel, Schwur, Fluch und Wunsch, wie man spricht: Es müsste dir Gott tun wie diesem und jenem. Martin Luther 1525.


V. 10. Denn ich esse Asche wie Brot. An eine wirkliche Verunreinigung des Brotes ist nicht zu denken; es ist ein bildlicher Ausdruck gleich dem: Staub ist ihr Brot. (Jes. 65,25; vergl. 1. Mose 3,14; Ps. 72,9.) K. B. Moll † 1878.
  Und mische meinen Trank mit Weinen. Ist seine Speise schon schlecht - schlechter noch als Nebukadnezars Gras - so ist sein Getränk noch übler; denn Tränen sind ein gar bitterer Trank, wie das salzige Wasser des Meeres. Ist das ein Mittel, den Durst zu stillen? Da mag man wohl sagen, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit. Ist’s nicht jämmerlich, nichts andres zu haben, um den Durst zu löschen, als das bittere Augenwasser, die Zähren des Kummers? Doch welchem Menschen, der Sünde tut, wird es besser gehen? Man tut ja die Sünde der Lust wegen, die sie so verlockend darbietet; aber sei doch jeder, der Sünde begeht, des versichert, dass er, früh oder spät, tausendmal mehr Not und Kummer in ihr finden wird, als er je Vergnügen und Lust in ihr gefunden hat. Denn alle Sünde ist eine Art Überfüllung, und es gibt kein anderes Mittel, ihre tödliche Wirkung aufzuheben, als dass man solche Diät halte, dass man Asche wie Brot esse und mische seinen Trank mit Weinen. Wo aber findet man solche Buße? Richard Baker † 1645.


V. 11. Dass du mich aufgehoben hast, damit ich mit desto größerer Wucht zu Boden stürze. Der Mann Gottes klagt hier nicht Gott der Grausamkeit an, sondern beklagt sein eignes Elend. Miserum est fuisse felicem, es ist kein kleines Unglück, glücklich gewesen zu sein. John Trapp † 1669.
  Dass du mich aufgehoben und niedergeworfen, ist nach Hiob 30,22 zu verstehen: erst hat ihm Gott den festen Boden unter den Füßen entzogen, dann ihn aus der Schwebe zu Boden geworfen - ein Bild des Geschickes Israels, welches seinem Vaterlande entrückt und in das Elend (d. i. Fremdland) hingeworfen ist. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 12. Meine Tage, d.i. meine Lebenszeit, sind wie ein gedehnter Schatten, wie der lang werdende Abendschatten, der zeigt, dass die Nacht nahe ist. Die Vergleichung ist, wiewohl nicht in Worten ausgeführt, ein überaus sprechendes Bild des zu Grunde liegenden Gedankens. Thomas J. Conant 1871.
  Ich - ich verdorre usw. Das "ich" steht im Grundtext in deutlichem Gegensatz zu dem "Du aber" V. 13. A. R. Fausset 1866


V. 14. Du wirst (Grundtext) dich aufmachen und über Zion erbarmen. "Du wirst" - wie die Sunamitin den Propheten Elisa bei den Füßen hält, wo Gehasi sie abstoßen will, und spricht: So wahr der HERR lebt und deine Seele, ich lasse nicht von dir! (2. Könige 4,27.30.) Und wie Jakob zu dem Engel, nachdem er die ganze Nacht mit ihm gerungen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. (1. Mose 32,27) Bischof John King 1620.
  Die Stunde ist kommen. Es gibt vorherbestimmte Zeiten für Gottes große Taten. Gott lässt die Mächte der Finsternis ihre Zeit haben (Lk. 22,53), aber er nimmt auch seiner Stunde wahr; er wird nicht eine Sekunde zurückbleiben hinter der Zeit, die er für die Enthüllung seiner Gnade festgesetzt hat. Wann ist diese Stunde gekommen? Wenn die Seinen Asche wie Brot essen und ihren Trank mit Weinen mischen, wenn die Knechte Gottes aufs tiefste gebeugt sind und in ihnen eine so inbrünstige Liebe zu der Gemeinde des HERRN ist, dass ihnen selbst die Steine und der Schutt des Hauses Gottes lieb sind, und sie von so tiefem Sehnen nach der Wiederherstellung desselben erfüllt werden wie die Juden in der Gefangenschaft nach der Wiederaufrichtung des Heiligtums aus seinem Schutt und mit redlichem, lauterem Herzen Gott bei seinen Zusagen fassen. Ohne Glauben können wir nicht Gnade begehren, ohne Beugung sie nicht empfangen, ohne ein von sehnsüchtiger Liebe entbranntes Herz sie nicht schätzen, ohne Lauterkeit keinen Nutzen aus ihr ziehen. Zeiten tiefer Not aber tragen sehr dazu bei, diese Vorbedingungen der Gnade in uns wachsen und ausreifen zu lassen. Stephen Charnock † 1680.


V. 15. Denn deine Knechte hangen mit Liebe an ihren Steinen, und es jammert sie ihres Staubes (Grundtext) Welch treffendes Bild zu dieser Stelle bietet heute noch die bekannte Klagmauer zu Jerusalem. "Hier", sagt Olin, "am Fuße der Mauer des alten salomonischen Tempels ist ein offener, mit Fliesen gepflasterter Platz, wo die Juden jeden Freitag, in kleinerer Anzahl auch an anderen Tagen, zusammenkommen, um zu beten und die Verwüstung des Heiligtums zu beklagen. Sie halten den Boden sehr sorgfältig rein und ziehen die Schuhe aus als auf heiligem Boden weilend. Sie stehen oder knieen, das Angesicht gegen die uralte Mauer gerichtet, und starren entweder schweigend die ehrwürdigen Quadern an oder lassen ihren Klagen Lauf in zwar halb unterdrückten, aber doch vernehmbaren Tönen. Wie viele Tränen sind da schon vergossen, wie viele Seufzer zum Himmel gesandt worden!" Vergl. Ps. 137,5.6. John Kitto † 1854


V. 17. Und erscheinet in seiner Herrlichkeit. Die Sonne ist auch am düstersten Tage herrlich, aber ihre Herrlichkeit erscheint erst, wenn sie die Wolken zerstreut hat, die sie den Blicken der unteren Welt verhüllen. Gott ist herrlich, auch wenn die Welt ihn nicht sieht; aber seine Herrlichkeit erscheinet, wenn die Herrlichkeit seiner Gnade und Treue in der Errettung seinem Volkes durchbricht. William Gurnall † 1679.
  Warum wird der HERR, gerade wenn er Zion bauet, in seiner Herrlichkeit erscheinen? Erstlich, weil dies das Werk ist, an dem er sonderliches Wohlgefallen hat, und sodann, weil Himmel und Erde nur ein vergängliches Werk sind, das nur eine Woche, sechs- oder siebentausend Jahre, stehen soll und dann abgebrochen wird wie eine Lehmhütte, die Erbauung Zions aber sein Meisterstück ist, an dem er sich ewiglich ergötzen will. Stephen Marshall 1645.


V. 18. Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen. Seines Reichs Art ist, dass es elende, rufende, betende Leute hat, die viel leiden um seinetwillen; so ist seine Art und Regiment nicht anders, denn solchen Armen, Elenden, Sterbenden und Sündern zu helfen, sie erhören und ihnen beistehen. "Kommt zu mir alle, die ihr mühselig seid". Und verschmähet ihr Gebet nicht. Es ist nicht ein weltlich Reich, da man der Obrigkeit muss helfen, geben und beistehen, sondern ein geistliches, da jedermann geholfen wird aus allerlei Not an Leib und Seele. Martin Luther 1525.
  Ich habe oft beobachtet, wie solche betrübte Gotteskinder, die sich verlassen und aller Hilfe und allen Trostes entblößt vorkommen, mehr als alle anderen darauf aus sind, die Fürbitte ihrer Freunde zu erbitten, wo immer sie jemand sehen, der besondere Gnadengaben hat und sich des Friedens eines heiteren Gemüts und der inneren und äußeren Freiheit, zu beten und sich mit der Gemeinde des HERRN zu vereinigen, erfreut. O wie froh sind sie, wenn sie eines solchen Mannes Fürbitte erlangen können! Während in Wahrheit gerade solche vielmehr es wünschen würden, dass die geistlich Armen, Verlassenen, Entblößten für sie einträten. Denn wahrlich, wen immer Gott außer Acht lassen mag, so wendet er sich doch sicher zum Gebet der Verlassenen und hilf- und trostlosen Gläubigen. Darum du Betrübter, der du von den Wogen hin und her geworfen wirst und meinst, du seiest vom HERRN gar verstoßen, o halte an, deine Seele vor ihm auszuschütten; du hast hier eine kostbare Verheißung, die der treue Gott sicherlich einlösen wird. Stephen Marshall 1645.
  Solch ein "Entblößter" weiß wie beten. Er bedarf dazu keines Lehrmeisters. Seine Trübsale unterweisen ihn wunderbar in dieser Kunst. O dass wir uns recht entblößt wüssten, damit wir lernten, wie wir beten sollen; entblößt von Kraft, Weisheit, von der Macht des Einflusses, die wir besitzen sollten, von wahrer Glückseligkeit, entsprechendem Glauben, völliger Hingebung, von Schrifterkenntnis, von Gerechtigkeit usw. - Diese Worte des Psalms stehen in unmittelbarer Verbindung mit einer Weissagung von herrlichen Dingen, die in der Zukunft eintreten sollen. Wir behaupten, nach der Erfüllung dieser wunderbaren Hoffnungen begierig zu sein; aber bringen wir das Gebet des Entblößten dar? Ist nicht im Gegenteil die Gemeinde des HERRN im Großen und Ganzen vielmehr der Gemeinde zu Laodicäa ähnlich? Lässt sich nicht eine Menge ihrer Taten, ja vielfach ihr ganzes Gebahren bei richtiger Beurteilung in den Worten zusammenfassen: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts? Und müssen ihre Gebete nicht der vorwurfsvollen Antwort begegnen: Du weißt nicht, dass du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß? Dein äußerliches Blühen, Glänzen und Wirken entspricht nicht deinem inneren Stand. Ich rate dir usw. Off. 3,18. George Bowen 1873.
  Es ist unserer vollen Beachtung wert, dass hier die Erlösung und Wiederherstellung des Volks mit den Gebeten der Treugesinnten in Zusammenhang gebracht wird. Jene Dinge sind doch freie Gaben, die ganz von der Gnade Gottes abhängen; dennoch schreibt Gott selbst sie oft unseren Gebeten zu, um uns zu eifrigerem, inbrünstigerem Beten anzureizen. D. H. Moller 1639.
  Und verschmähet ihr Gebet nicht. Wie vielen hat das Gebet aus verzweifelter Lage geholfen! Das Gebet hat auch bisher unser Reich erhalten. Erinnern wir uns des stolzen Rühmens unserer Feinde (des Heeres König Karls I. von England im Kampf mit dem Parlamentsheer unter Cromwell, 1642-45), als wir Bristol verloren hatten. Da sandten sie ins ganze Land und sogar in andere Königreiche ein triumphierendes Schreiben, in welchem sie behaupteten, dass ihnen nun alles unterworfen sei. Unter andern gar zuversichtlichen Ausdrücken war auch folgender: "Es bleibt dem König nichts zu besiegen als die Gebete etlicher Fanatiker". Die (lateinischen) Worte waren übrigens zweideutig; man konnte sie auch so verstehen: "Es bleibt nichts übrig, was den König besiegen könnte, als die Gebete etlicher Fanatiker". Wir waren damals in der Tat in sehr schlimmer Lage. Unsere Festungen waren genommen, unsere Heere zusammengeschmolzen, unsere Herzen zumeist von Furcht und Mutlosigkeit beherrscht, massenhaft flohen Leute aus dem Reiche, und gar viele verließen unsere Sache als eine verlorene und suchten sich in Oxford (wo der König nach diesen Siegen 1644 ein Gegenparlament berufen hatte) mit der königlichen Partei zu versöhnen. Ja, es war uns fast nichts geblieben als preces et lacrimae (Gebet und Tränen). Aber, Gott sei gelobt, das Gebet ward nicht besiegt; die Feinde fanden an ihm den unersteiglichsten Wall, die mächtigste, unbesiegbarste Brigade. Es hat uns bisher erhalten, hat uns unerwartete Hilfskräfte erweckt, uns so manche kaum zu hoffende Erfolge und Errettungen gebracht. Darum lasst uns, nach Gott, dem Gebet die Krone der Ehren geben. Ihr Notabeln und Helden, gebt euch alle damit zufrieden, dass es so sei. Es wird euer keinem den verdienten Ruhm schmälern; Gott und Menschen werden euch geben, was euch gebührt. Viele von euch haben rühmenswert gehandelt, aber das Gebet übertrifft euch alle; und das ist nichts Neues, das Gebet hat stets den Vorrang gehabt bei der Auferbauung Zions. Gott hat mancherlei besondere Aufgaben besonderen Männern und besonderen Zeiten vorbehalten; aber in allen Zeitaltern und unter allen Menschen ist das Gebet das vorzüglichste Werkzeug gewesen, sonderlich wo es der Auferbauung Zions galt. - Aus einer vor dem Oberhause gehaltenen, "Der mächtige Helfer" betitelten Predigt von Stephen Marshall 1645
  Aber wer mag das glauben, dass Gott in seiner Herrlichkeit sich mit solch geringen Dingen abgeben wird? Verträgt sich das denn mit seiner Ehre? Menschen, die zu Würden kommen, halten sich allerdings in gebührender Entfernung von den Armen und meinen, sich etwas zu vergeben, wenn sie niederschauen; Gott aber rechnet es sich zur Ehre, die Ungeehrten zu beachten, und sieht, ob er wohl der Höchste ist, so tief hinab, dass er auch den Niedersten wahrnimmt, und erweist den Verachtetsten die größte Huld. Ganz so handelte auch Christus nach seiner Verklärung; da wusch er den Jüngern die Füße und setzte den Petrus ebenso sehr in Staunen ob seiner Erniedrigung wie da er ihn seine Herrlichkeit hatte schauen lassen. Richard Baker † 1645.


V. 19.22. Loben. Das Volk, das Gott in Gnaden aus Niedrigkeit und Elend führt, das sind die Leute, von welchen er Lob und Preis erwartet. In der Tat ist die Selbstsucht unserer verderbten Natur so groß, dass wir, wenn wir irgendetwas sind oder irgendetwas tun, alsbald geneigt sind, Gott zu vergessen und unserem eigenen Netz zu opfern und unserem Garn zu räuchern (Hab. 1,16), so dass, wenn Gott je ein Volk findet, das auf ihn traut und ihn preist, es ein armes, geringes Volk sein muss (Zeph. 3,11-13) oder ein Volk, das aus solchem Zustand herausgebracht ist. Die wissen die freie Gnade zu schätzen. Und ihr möget die ganze Schrift durchgehen, immer werdet ihr finden, dass die Loblieder, die so jubelnd von Heil und Rettung singen, von Leuten stammen, die in ihren eigenen Augen zunichte geworden waren, die Gott aber nach seiner Barmherzigkeit von den Toren des Todes zurückgebracht hatte. Erst wenn sie sich also ansehen gelernt hatten, gaben sie Gott die Ehre, die seinem Namen gebührt. Stephen Marshall 1645.
  Diese errettete Gemeinde denkt nicht an sich, an das Wohlbefinden, die Freude, Freiheit, Macht oder irgendetwas anderes, das ihr aus dieser Befreiung erwächst; sie bespiegelt sich nicht selbst, sondern all ihr Sinnen und Streben geht darauf, wie das jetzige und die zukünftigen Geschlechter dem HERRN die Ehre geben sollen. Für diese Gesinnung hat die Gemeinde des HERRN gute Gründe: Sie weiß, dass der HERR sich nichts anderes denn die Ehre vorbehält; die Wohltaten lässt er die Seinen ungeschmälert genießen, nur über seiner Ehre wacht er eifersüchtig. Sie wissen ferner, dass er die Seinen eben dazu aus allen Völkern der Erde ausgesondert hat, dass sie ihm alle Ehre und den Preis seines Namens geben. "Ich habe sie geschaffen zu meiner Herrlichkeit." (Jes. 43,7) Drittens endlich wissen sie gar wohl, dass auch ihr eigener Vorteil mit Gottes Ehre und Herrlichkeit verknüpft ist, dass wo immer Gott die Ehre bekommt, die ihm gebührt, sie nicht dabei zu kurz kommen, sondern Gott auch ihnen die höchsten Ehren gibt, dass er sie als seine Werkzeuge und Mitarbeiter ehrt. Stephen Marshall 1645.
  Das werde geschrieben. Es gibt kaum etwas Zäheres als das Gedächtnis des Menschen, wenn diesem ein Unrecht zugefügt ist; kaum etwas Schlafferes, wenn es sich um empfangene Wohltaten handelt. Darum will Gott, dass seine Gnadentaten, damit sie nicht der Vergessenheit anheimfallen, der Schrift anvertraut werden. Thomas Le Blanc † 1669.


V. 21. Dass er das Seufzen des Gefangenen höre. Gott nimmt Kenntnis nicht nur von den Gebeten seiner betrübten Kinder, der Sprache der Gnade, sondern auch von ihren Seufzern, der Sprache der Natur. Matthew Henry † 1714.
  Kinder des Todes heißen, auf hebräische Weise, die Menschen, die zum Tod übergeben sind; wie man sagt Kind des Lebens, Kind der Bosheit usw. Denn die Christen sind dem Tode übergeben. (Röm. 8,36.) Martin Luther 1525.


V. 22. Wes das Werk ist, des ist auch billig der Name; wes der Name ist, des ist auch das Lob, und die Ehre des, des das Lob ist. Martin Luther 1525.


V. 24. Er demütiget auf dem Wege meine Kraft. Dass der Weg der Lebensweg ist, zeigt V. 25. Vergl. aber auch 2. Mose 18,5. Auf dem Wege sind David und Israel so lange, bis sie das herrliche ihnen gesteckte Ziel, die Weltherrschaft, erreicht haben, das Reich der Herrlichkeit eingetreten ist. Es ist eine große Versuchung, wenn mitten in dieser Laufbahn die Kraft auszugehen scheint; aber die Ermattung und Ohnmacht können immer nur vorübergehend sein, die jugendliche Kraft kehrt stets wieder zurück, vergl. Ps. 103,5. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.


V. 25. Mein Gott. Die Auslassung eines Wortes kann ein Testament ungültig machen und den vermeinten Erben um alle seine Hoffnungen bringen; das Fehlen dieses einen Wortes mein (Gott), bedeutet für den Gottlosen den Verlust des Himmels und ist der Dolch, der sein Herz in der Hölle in alle Ewigkeit durchbohren wird. George Swinnock † 1673.
  Ob er mich wohl bricht und drückt, will ich darum nicht von ihm laufen, sondern desto mehr auf ihn hoffen und anrufen und bitten - wie denn alle seine Heiligen tun. Martin Luther 1525.


V. 26-28. mit Hebr. 1,10-12. Wenn der Verfasser des Hebräerbriefs V. 26-28 des Psalms ohne weiteres auf Christum bezieht, so rechtfertigt sich dies dadurch, dass der Gott, den der Dichter als den Unwandelbaren bekennt, Jahve der Kommende ist. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Wie kommt der Verfasser des Briefes dazu, diese Aussage, die der Grundtext auf Jehovah bezieht, von dem Sohne gelten zu lassen? Er ward dazu nicht durch das von den Septuaginta V. 26 aus dem 13. Vers eingefügte Ku/rie (HERR) ganz mechanisch verführt, sofern Ku/rioj (Herr) die gewöhnliche Benennung Christi in der apostolischen Zeit war. Nein, der Psalm selbst hatte christologischen Charakter. Delitzsch verweist auf die Tradition, welche Ps. 2; Ps. 45 und den (hier Hebräer Kap. 1) gleich folgenden 110. Psalm messianisch fasste. Schon diese Verknüpfung mit lauter messianischen Psalmen führt uns auf die gleichfalls messianische Deutung dieses Psalms. Der "Elende" des 102. Psalms, welchem die Trümmer Jerusalems die Gebeine schwinden machen, tröstet sich mit dem Gedanken an die Ewigkeit dessen, der die Erde und den Himmel gemacht - und derselbe bleibt in Ewigkeit. Diese Wahrheit ist eine Wahrheit in der vergangenen Zeit; beim Beginne der Welt war sie in Kraft. Aber sie ist zugleich eine bleibende Wahrheit, die für die Zukunft gilt. Vor diesem Jehovah sollen nach V. 29 dereinst seine Knechte eine feste Wohnung haben - in dem wiedererbauten Jerusalem. Dieser Ausblick lenkt ein in die messianischen Hoffnungen des Volkes Gottes, und was von Jehovah gilt, das gilt ebenso von dem Sohne Gottes. - Zugleich ist hier die höchste Stufe der Namen Jesu erreicht. Jesus Christus heißt in diesem ersten Kapitel des Hebräerbriefes: "Abglanz der Herrlichkeit, Ebenbild des Wesens Gottes"; sodann heißt er der "Sohn", als solchen sollen ihn alle Engel Gottes anbeten. Darauf wird er zweimal mit dem Namen "Gott" (Elohim) bezeichnet, und nun zum Schluss mit dem Namen "HERR", d. i. Jehovah, dem allerhöchsten und allertröstlichsten, gleichsam dem Eigennamen des göttlichen Wesens. Die Engel heißen zwar Elohim, aber wahrlich nicht Jehovah; dem Sohne aber ist nichts vorenthalten. Die dem Sohne, im Unterschied von den Engeln, zuteil werdenden Auszeichnungen seitens des Vaters kulminieren (gipfeln) in dieser letzten, wonach Gott Vater den Sohn als den ewig bleibenden Jehovah deklariert. Was da von Ewigkeit her feststand, und wovon das Wort der Verheißung wiederholt gezeugt, das wurde bei der Erhöhung des Sohnes zur Rechten des Vaters für Zeit und Ewigkeit offenbar. Hier fand auf den Sohn des Menschen eine Devolution (Übertragung) aller Namen, Eigenschaften und Würden Gottes statt, die er sich kraft seines Gehorsams an der Abgefallenen Statt verdient hatte. Der Sohn entäußerte sich selbst, er tauchte unter in unsere elende Seinsweise, und als er wieder emportauchte, da bekleidet ihn Gott, sein Gott, mit allen jenen Namen und Prärogativen (Vorrechten), die er vor der Welt Grundlegung besessen. (Joh. 17,5; Röm. 1,3 f.) - Zu Ps. 21,6 bemerkt der Midrasch Tillim: Auch den König Messias benennt Gott nach seinem Namen: Jehovah unsere Gerechtigkeit (Jer. 23,6). Die Synagoge weiß also auch davon, dass der Messias "Jehovah" heiße. - Die alttest. Citate im N. T. von Prof. Eduard Böhl 1878.

V. 25. Deine Jahre währen durch alle Geschlechter. (Im Licht von Hebr. 1,10-12.) Lasst uns das Dasein Christi durch alle Zeiten verfolgen. Er war vor seiner Empfängnis, Hebr. 10,5.7, vor dem etliche Monde vor ihm geborenen Täufer, Joh. 1,15, vor den Propheten, in welchen der Geist Christi war, 1. Petr. 1,11; er war zu Moses Zeit, denn ihn versuchten die Israeliten, 1. Kor. 10,9 (vergl. den Engel, in welchem der Name Jehovahs, 2. Mose 23,20 f.), zu und vor Abrahams Zeiten, Joh. 8,56.58, zu Noahs Zeiten, 1. Petr. 3,19, am Anfang der Welt, Joh. 1,1, die durch ihn gemacht ist, V. 3.10 - also währen seine Jahre buchstäblich durch alle Geschlechter, und er war, ehe die Erde gegründet ward; ja sein Ausgang war von Ewigkeit her, Micha 5,1. Was Ps. 90,2 von Gott dem Vater gesagt ist: Du bist, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, das gilt ebenso von dem Sohne. Thomas Goodwin † 1679.


V. 26.27. Erde - Himmel. Er nennt die festesten und die schönsten Teile der Schöpfung, diejenigen, die am freiesten sind von Vergänglichkeit und Wandelbarkeit, um eben an ihrem Vergehen die Unwandelbarkeit Gottes ins Licht zu stellen. Wie ihre Schönheit vor der Herrlichkeit Gottes erbleicht, so kommt auch ihre Festigkeit zu kurz gegen seine ewige Beständigkeit. Stephen Charnock † 1680.
  Sie werden vergehen. Aber was wird dann aus den Heiligen werden, wenn Erde und Himmel in Flammen aufgehen? Sie werden aus allem errettet werden, werden wie jene drei Knechte Gottes des Höchsten (Dan. 3) mitten in dem großen glühenden Ofen einer brennenden Welt los im Feuer gehen, unversehrt, weil einer bei ihnen ist, sie zu erretten, "ein Sohn der Götter", ihr Erlöser. - Aber wird alles gar vergehen? Nein, es wird vielmehr eine Umschmelzung, nicht eine Vernichtung der Substanz von Himmel und Erde vor sich gehen. Die Verdorbenheit der Natur, die Fleischlichkeit wird vergehen, die Natur wird bleiben; die Schlacken werden ausgeschieden, das Gold wird erhalten. - An jenem Tage wird keiner der Weltlinge sagen können wie Hiobs Bote: Ich bin allein entronnen. Da gibt’s nur eine Arche, die vor dem Untergang retten kann: der Busen Jesu Christi. Thomas Adams 1614.
  Wie ein Gewand usw. Die LXX lieben die Abwechslung und setzen daher statt des zweimaligen a)lla/ssein das erste Mal e(li/xeij: du wirst sie wegwälzen. Das Bild im Urtext ist freilich schöner: Wie ein Kleid wechselst du sie, und sie fallen dahin, d. h. gleiten von dir ab, mit der Schnelligkeit und Leichtigkeit eines Gewandes - Du aber stehst immer als derselbe da. Nach Prof. Ed. Böhl 1878.


V. 28. Du aber bist derselbe. (Grundtext) Der Psalm behauptet nicht nur die Ewigkeit Gottes (Du bleibest, V. 27), sondern auch seine Unveränderlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit. Du bist derselbe, der gleiche Gott in Wesen und Art, in Wille und Vorsatz. Du änderst alle Dinge nach deinem Belieben; du selbst aber bist unwandelbar in jeder Hinsicht, in dir geht auch nicht ein Schatten von Veränderung vor sich. Der Psalmdichter deutet hier auf den Namen Jehovah hin und schreibt nicht nur Unveränderlichkeit Gott zu, sondern schließt auch alles andere von der Teilnahme an dieser Vollkommenheit aus. Stephen Charnock † 1680.


V. 29. Die Kinder ... werden bleiben. Kinder sind Erben und bleiben; die Knechte aber, denen Gott zeitlichen Lohn gibt, bleiben nicht im ewigen Erbe mit den Kindern. Martin Luther 1525.
  Die Kinder deiner Knechte werden bleiben. O der Torheit der Weltleute, die ihren Häusern immerwährende Dauer zu geben suchen durch gesetzmäßige Testamente, die vielleicht es vermögen, ihre Güter zu erhalten; aber reicht es auch dazu hin, ihren Samen zu erhalten? Es mag ihren Erben Ländereien sichern, aber kann es auch ihren Ländereien Erben sichern? Nein, wahrlich nicht! Das ist ein Vermächtnis, das Gott allein machen kann. Richard Baker † 1645.


Homiletische Winke

V. 1. 1) Die Elenden dürfen beten. 2) Sie sollen beten, selbst wenn sie am Verschmachten (Grundtext) sind. 3) Sie können beten, denn es handelt sich um ein Ausschütten ihrer Klage vor dem HERRN, nicht um eine rednerische Leistung. 4) Sie finden für ihr Gebet gnädige Annahme, wie der vorliegende Fall aufs beste erweist.
V. 2.3. Fünf Stufen zum Gnadenthron. Der Psalmist bittet: 1) um Gehör (Audienz): Höre mein Gebet; 2) um Zutritt: Lass mein Schreien zu dir kommen; 3) um Zuwendung des göttlichen Angesichts: Verbirg usw.; 4) um ein geneigtes Ohr: Neige usw.; 5) um Antwort: Erhöre usw. Charles A. Davis 1874.
V. 3. Gebet in der Not 1) am nötigsten, 2) am dringendsten, 3) am wirksamsten.
  1) Gebet in der Zeit großer Not. 2) Die Bitte der größten Not: Verbirg dein Antlitz nicht vor mir. Nicht: Nimm die Trübsal hinweg, sondern: Sei mit mir in der Trübsal. Ein feuriger Ofen ist ein Paradies für uns, wenn Gott dort bei uns ist. Prof. George Rogers 1874.
V. 3a. Das Gotteskind bittet vor allem, dass ihm in der Not das göttliche Antlitz sich nicht verberge, denn das würde 1) die Not tausendfach verschärfen, 2) ihm die Kraft rauben, die Not zu tragen, 3) ihn verhindern, so zu handeln, dass Gott durch ihn in der Not verherrlicht wird, und 4) könnte es der heilsamen Wirkung der Not auf ihn selbst Eintrag tun.
V. 3c. Erhöre mich bald! 1) Wir bedürfen oft, dass Gott uns eilends erhöre. 2) Gott kann es. 3) Er hat es schon oft getan. 4) Er hat es verheißen.
V. 4-12. 1) Die Ursachen des Kummers. a) Die Hinfälligkeit des Lebens, V. 4a. b) Körperliche Schmerzen, V. 4b. c) Niedergeschlagenheit des Gemütes, V. 5.6. d) Vereinsamung, V. 7.8. e) Schmach und Verwünschung, V. 9. f) Demütigung, V. 10. g) Verbergen des göttlichen Angesichts, V. 11. h) Augenfälliges Schwinden der Kräfte, V. 12. 2) Die Beredsamkeit des Kummers. a) Sein Leben vergeht wie Rauch, V. 4a. b) Der Schmerz wühlt in seinem Körper wie Feuer, V. 4b. c) Sein Gemüt ist niedergeschlagen, wie von der Sonnenglut versengtes Gras. Wer mag essen, wenn das Herz also betrübt ist? V. 5. d) Er gleicht in seiner Vereinsamung dem Pelikan in der Wüste, dem Käuzlein in verstörten Stätten, dem einsamen Vogel auf dem Dache, V. 7.8. e) Seine Schmähung: er ist wie von Rasenden (Grundtext) umgeben, V. 9. f) Seine Demütigung: Essen von Asche, Trinken von Tränen, V. 10. g) Gottes Verbergen des Angesichts: er fühlt sich wie aufgehoben und zu Boden geschleudert, V. 11. h) Er schwindet wie der sich dehnende Schatten, wie verdorrendes Gras, V. 12. Prof. George Rogers 1874.
V. 5b. Ungläubiges Grämen veranlasst uns, die zu unserer Erhaltung dargebotenen Mittel zu vernachlässigen. Wir vergessen 1) die Verheißungen, 2) die Erfahrungen der Vergangenheit, 3) den Herrn Jesum, unser Lebensbrot (Joh. 6), 4) die nimmer aufhörende Liebe Gottes. Kein Wunder, wenn wir dann schwach werden, in Ohnmacht fallen usw. "Darum ermahne ich euch, Speise zu nehmen, euch zu laben" Apg. 27,34.
V. 7. Man vergleiche diesen Vers mit Ps. 103,5. Der starke Gegensatz gibt weiten Raum zu sehr anziehenden Erfahrungslehren.
V. 8. Die Gefahren und die Segnungen der Einsamkeit. Wann sie zu suchen ist und wann sie eine Torheit wird.
  Der kummervolle Wächter - allein, außerhalb der Schutzmauern der Gemeinschaft, unbedeutend in den eigenen wie fremden Augen, nach Gleichgesinnten sich sehnend, abgesondert um zu wachen.
V. 10. Die Kümmernisse des Gläubigen; ihre Menge, ihre Bitterkeit, ihre Ursachen, ihre Gegenmittel, ihre Wirkungen und ihre Tröstungen.
V. 11. 1) Die tiefste Trübsal: dein Dräuen, dein Zorn. 2) Was diese Trübsal noch bitterer macht: frühere Gunsterweisungen (dass du mich aufgehoben usw.) 3) Das beste Verhalten: siehe V. 10 und V. 13 u. 14.
V. 12.13. Ich und Du, oder der große Gegensatz. 1) Ich: a) Meine Tage sind wie ein Schatten. Der Schatten ist ohne Kraft, Bestand und Gehalt; er hat seiner Natur nach an der Finsternis teil, in welche er aufgeht; und je länger er wird, desto kürzer ist seine Frist. b) Ich selbst bin wie entwurzeltes Kraut, das von der Hitze verdorrt. 2) Du: bist Jehovah: ewiglich bleibend, ewiglich thronend (Grundtext), ewig denk- und preiswürdig, ewig der, in den sich die Geschlechter der Menschen sinnend, forschend und anbetend versenken. Charles. A. Davis 1874.
V. 14. 1) Zion bedarf oft der Wiederherstellung und Erneuerung, bedarf der Gnade. 2) Seine Wiederherstellung ist gewiss: Du wirst (Grundtext) dich aufmachen usw. 3) Die Zeiten seiner Wiederherstellung sind vorherbestimmt. Es gibt Gnaden-Zeiten und Gnaden-Stunden für Zion. 4) Vorzeichen solcher Zeiten werden oft gegeben. Prof. George Rogers 1874.
V. 14.15. 1) Gottes Knechte erwarten Gnadenheimsuchungen für Gottes Stadt (die Gemeinde des HERRN). 2) Sie stützen sich dabei auf Gottes vorbestimmten Gnadenrat. 3) Sie beobachten im Lichte der Verheißung die Zeichen der Zeit. 4) Zum Schluss die Frage: Wie stehen wir zu der Gottesstadt? Hängen wir in Liebe an ihren Steinen und jammert uns ihres Staubes?
  Die innige Anteilnahme des Volkes Gottes an allem, was Zion betrifft, eines der sichersten Zeichen, dass Zions Wohlstand wiederkehrt.
V. 16. Innerer Wohlstand der Gemeinde des HERRN unumgänglich notwendig, wenn ihr Einfluss auf die Welt mächtig sein soll.
V. 17. Gott ist Zions Erwerber (Bauherr), Baumeister (der den Plan macht), Bauleiter (Erbauer), (königlicher) Bewohner und Gebieter.
  1) Zion auferbaut. Wie? Wenn häufige Bekehrungen geschehen, viele sich zu der Gemeinde des HERRN bekennen, die innere Einheit der Gemeinde fest wird, die "Erbauung" gediegen ist und die Mission in die Tiefe, die Breite und die Höhe wächst. 2) Gott verherrlicht. Wie? Durch den von ihm selbst gelegten Grund; durch die von ihm verordneten Ämter (Dienste); durch Schwierigkeiten und Feinde; durch die Armseligkeit der Arbeiter und des Baumaterials; sogar durch unsere Fehler. 3) Die Hoffnung belebt. Weil wir erwarten dürfen, dass der HERR sich verherrlichen wird. 4) Eine Frage: Bin ich an diesem Bau beteiligt - sei es als Stein, sei es als Arbeiter - und zwar beides nicht nur dem Namen, Beruf, äußeren Schein nach, sondern in Wirklichkeit?
V. 18. 1) Die Verlassenen ("Entblößten") beten; 2) sie beten am meisten, 3) am besten, 4) am wirksamsten. Oder: Der sicherste Weg, im Gebet erfolgreich zu sein, ist, zu beten, wie die Verlassenen beten. Man zeige den Grund davon.
V. 19. 1) Eine Denkschrift. 2) Ein Danklied.
V. 19-22. 1) Tiefste Not, V. 21. 2) Gott achtet auf sie, V. 20. 3) Gott hilft aus ihr, V. 21. 4) Gottes Herrlichkeit wird infolge dessen verkündigt, V. 19 u. 22.
V. 20-23. 1) Gott nimmt Kenntnis von dem, was in der Welt vorgeht. a) Der Ort, von welchem aus er die Welt anschaut: vom Himmel, nicht von einem irdischen Standpunkt. b) Die Gesinnung, in welcher er sie betrachtet: von seiner heiligen Höhe, wo er jetzt noch auf dem Gnadenthron, nicht auf dem Richtstuhl sitzt. 2) Was in der Welt seine Aufmerksamkeit am meisten anzieht: das Seufzen der Gefangenen, die Bande der Kinder des Todes. 3) Der Zweck, zu welchem er diese beobachtet: um den Menschen zu helfen, V. 21, und um seine Ehre zu mehren, V. 22.23. Prof. George Rogers 1874.
V. 24. Eine Predigt für Kranke. Was soll mich die Krankheit lehren? 1) Ergebung: der HERR hat die Trübsal gesandt - Er demütigt usw. 2) Dienst: Gott entbindet mich jetzt von anderem Dienst, fordert dagegen von mir Geduld, Fleiß um mein Seelenheil usw. 3) Vorbereitung - auf den Heimgang. 4) Gebet - für andere, dass sie in meine Stelle treten mögen. 5) Frohe Erwartung: Bald werde ich im Himmel sein, nun, da meine Tage verkürzt werden.
V. 25. 1) Die Bitte: Nimm mich nicht weg usw. a) mitten aus dem Leben, beten etliche; b) mitten aus irdischem Fleiß und Gedeihen, beten manche um derer willen, die von ihnen abhängen; c) mitten aus meiner geistlichen Entwicklung, beten nicht wenige; d) mitten aus erfolgreichem Wirken für den HERRN, beten andere. 2) Die Begründung: Deine Jahre währen für und für. Du hast Jahre die Fülle, darum ist es dir ein Leichtes, mir etliche zuzusetzen - und deine eigenen Jahre währen durch alle Geschlechter. Prof. George Rogers 1874.
V. 26-28. 1) Die Unwandelbarkeit Gottes inmitten der Wechsel der Vergangenheit: vormals usw. a) Er war derselbe, bevor er die Erde gründete, wie hernach. b) Er war derselbe hernach wie zuvor. 2) Die Unwandelbarkeit Gottes inmitten der Wechsel der Zukunft: Erde und Himmel werden vergehen, veralten, verwandelt werden usw. a) Er ist derselbe, ehe sie vergehen, wie er hernach sein wird. b) Er wird derselbe sein, nachdem sie vergangen sind, wie zuvor. 3) Zusammenfassung: Die Unwandelbarkeit Gottes in Vergangenheit und Zukunft: Du bist derselbe. Prof. George Rogers 1874.
V. 27.28. 1) Inwiefern Gott sich ändern kann - nur in seinem Gewand, in den Kundgebungen seines Wesens, in Schöpfung und Vorsehung. 2) Worin er sich nicht ändern kann - in seinem Wesen, seinen Eigenschaften, in den Bündnissen, die er geschlossen, in seiner Liebe usw. 3) Die trostreichen Wahrheiten, die wir daraus ohne Gefahr entnehmen können oder die aus diesen Tatsachen Unterstützung empfangen.
  1) Die sichtbare Welt und Gott. a) Sie ist für ihn nicht mehr als das Kleid für den, der es trägt. b) Sie wird alt, er nicht. c) Sie wird bald durch eine neue ersetzt und dem Verderben überlassen werden, seine Jahre aber nehmen kein Ende. 2) Unser Verhältnis zu beiden. a) Lasst uns nie das Kleid mehr lieben als den, der es trägt; b) noch auch je auf das Veränderliche mehr bauen als auf den Unveränderlichen; c) noch leben für das, was vergeht.
V. 29. Wahre apostolische Sukzession. 1) Es wird allezeit solche geben, die Gott dienen. 2) Sie werden oft der Same der Gläubigen nach dem Fleische sein. 3) Allezeit aber werden sie der geistliche Same der Gläubigen sein, denn es gefällt Gott, Menschen durch Menschen zu bekehren. 4) Wir sollten bei allem Wirken, Beten und Arbeiten stets die Zukunft der Gemeinde Gottes im Auge haben.

Fußnoten

1. Um diesen Vergleich ganz zu würdigen, muss man den schweren, schmutzigen Londoner Nebel kennen, der Spurgeon dabei vorschwebt.

2. Ob dq"Om Feuerstätte (Herd), Brand = brennendes Holz oder Brand = Glut bedeutet, mag streitig bleiben. Jedenfalls aber bedeutet das Zeitwort nicht ausgebrannt im Sinne von erloschen, erkaltet (wie Spurgeon meint), sondern entweder ausgebrannt gleich: von der Hitze ausgedörrt, oder wohl eher: durchglüht. Man kann also übersetzen: wie ein Herd oder ein Holzstoß durchglüht oder (zu kIi siehe Ges. § 118, 6d): wie von Brand durchglüht oder wie von Glut ausgedörrt. Die rasende Fieberglut ist Bild des verzehrenden Schmerzes. - James Millard

3. Es ist das auch Jona 4,8; Ps. 121,6 und anderwärts von dem Stechen und Versengen der Sonnenglut gebrauchte Wort.

4. Zu dem Ausdruck vergl. Hiob 19,20; Klgl. 4,8. r&fbIf bezeichnet im Unterschied von r)"$: den fleischigen Teilen, ursprünglich wie arabisches basar die Haut. (Bäthgen.)

5. Welche Vogelarten V. 7 gemeint sind, ist unsicher. Beide sind levitisch unreine Tiere (3. Mose 11,17 f.); die erste Art bewohnt auch nach Jes. 34,11; Zeph. 2,14 wüste Gegenden.

6. Allerdings wird man an den Sturm zu denken haben; aber nicht an das Wegfegen dürren Laubes, sondern an die furchtbare Gewalt des Orkans, der einen Baum, eine Hütte in die Luft wirbelt, um den Gegenstand dann mit Wucht hinzuwerfen und zu zerschmettern.

7. Doch halten z. B. Siegfr. und Stade für unsre Stelle die Bedeutung dauernd fest, und das 2. Glied der Parallelstelle Klgl. 5,19 spricht eher für diese Auffassung als für die gegenteilige.

8. Vergl. auch Hiob 36,20: Begehre nicht der Nacht, die ganze Völker aufnimmt (hinwegführt) an ihrer Stätte.