Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 11 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Die Überschrift bezeichnet den Psalm als von David verfasst und als dem Vorspieler oder Sangmeister zur Einübung für den öffentlichen Gottesdienst überwiesen.

  In den Inhalt mögen uns folgende Worte Ch. Simeons1 einführen: "In den Psalmen ist ein großer Reichtum von Erfahrungswissen niedergelegt David wurde in den verschiedenen Abschnitten seines Lebens fast in jede Lage geführt, in die der Gläubige, sei er reich oder arm, kommen kann, und in diesen Meistergesängen schildert er alles, was da in seinem Herzen vorgegangen war. Er führt uns auch die Gesinnung und die Handlungsweise so mancher Leute vor Augen, die in seinen Leiden und Freuden irgendwie eine Rolle spielten, und gibt uns so eine Darstellung von allem, was in den Herzen der Menschen überall in der Welt vorgeht. Als er diesen Psalm verfasste, war er wohl von Saul verfolgt, der ihm nach dem Leben trachtete Seine furchtsamen Freunde waren in großer Unruhe um seine Sicherheit und rieten ihm, ins Gebirge zu fliehen und sich dort in sicherem Versteck vor der Wut Sauls zu bergen. David aber wies in der Kraft des Glaubens den Gedanken von sich, auf so kleinmütige Weise sich aus der Not zu helfen und fasste den Entschluss, sein Leben vertrauensvoll in Gottes Hand zu legen". Nach dieser Auffassung hätte David es erst später als Gottes Willen erkannt, sich durch die Flucht den Mordanschlägen Sauls zu entziehen. Andere Ausleger beziehen diesen Psalm auf die Anfangszeit der Absalomischen Verschwörung, als diese noch im Verborgenen glomm und noch nicht hell auflodernd, das ganze Volk in Brand gesteckt hatte.
  Wir wollen diesem kurzen, aber köstlichen Psalm als Merkzeichen für das Gedächtnis die Überschrift geben: Das Lied des standhaften Gläubigen.

  Einteilung. Vers 1-3 beschreibt David die Versuchung, die ihn bestürmte, und Vers 4-7 die Gründe, die seinen Glaubensmut aufrechterhielten.


Auslegung

1. Ich traue auf den Herrn.
Wie saget ihr denn zu meiner Seele:
Fliehet, wie ein Vogel, auf eure Berge?
2. Denn siehe, die Gottlosen spannen den Bogen,
und legen ihre Pfeile auf die Sehnen,
damit heimlich zu schießen die Frommen.
3. Denn sie reißen den Grund
um; was sollte der Gerechte ausrichten?


1-3. Diese Verse erzählen uns, wie David bei einer nicht näher bezeichneten Gelegenheit stark versucht wurde, Gott zu misstrauen. Es mag sein, dass ihm in den Tagen, da er an Sauls Hofe lebte, zur Flucht geraten wurde, und zwar zu einer Zeit, wo ihm diese als Pflichtvergessenheit gegen den König oder als Beweis persönlicher Feigheit hätte zur Last gelegt werden können. Es war der wohlgemeinte und nach Lage der Dinge wohlbegründet scheinende Rat von mutlos gewordenen Freunden; eben darum war er desto versuchlicher. Oder waren es falsche Freunde und befand er sich demnach in derselben Lage wie Nehemia, dessen Feinde ihm unter der Maske der Freundschaft rieten, sich davon zu machen, um sein Leben zu retten, weil sie hofften, ihn so in ihre Schlinge zu bekommen? Wäre er diesem Rate gefolgt, so hätten sie einen Grund zur Anklage gehabt. Nehemia gab die wackere Antwort: Sollte eilt solcher Mann, wie ich bin, fliehen? (Neh. 6,11) Und in demselben Geist weigerte sich David zu entweichen, indem er sagte: Ich traue auf den Herrn, oder wörtl.: Bei dem Herrn berge ich mich, d. i. suche ich Zuflucht. Wie saget ihr denn zu meiner Seele; Fliehet, wie ein Vogel, auf eure Berge? Wenn der Teufel uns nicht durch Übermut stürzen kann, dann versucht er mit großer Verschmitztheit, uns durch kleingläubiges Misstrauen zuschanden zu machen. Er benutzt dann oft unsere besten Freunde, um unser Gottvertrauen zu erschüttern, und er führt solch unwiderlegliche Vernunftgründe ins Feld, dass wir unvermeidlich unterliegen, es sei denn, dass wir ihm von vornherein das Wort abschneiden, indem wir wie David ein für alle Mal erklären, dass wir bei Jahwe Zuflucht suchen. Sonst bringt es der Versucher dazu, dass wir dem scheuen Vogel gleich werden, der sich auf die Berge flüchtet, sobald sich Gefahr zeigt. - Wie ergreifend wird in den vor uns liegenden Worten Davids Notlage dargestellt! Denn siehe, die Gottlosen spannen den Bogen, ja sie haben ihren Pfeil schon auf die Sehne gelegt, damit heimlich (wörtl.: im Dunkeln) zu schießen auf die Frommen (wörtl.: auf die, so redlichen Herzens sind). Fliehe, fliehe, du armes, wehrloses Vöglein, deine Rettung liegt einzig in schleuniger Flucht; mach’ dich fort, sonst durchbohren die Feinde dir mit ihren Pfeilen das Herz; eile, eile, oder es ist um dich geschehen! David scheint es in seiner Seele, seinem Gemüt, mächtig empfunden zu haben, wie überzeugend sich dieser Rat der Vernunft darbot; dennoch wollte er ihm nicht folgen, sondern lieber der Gefahr die Stirne bieten, als Misstrauen gegen den Herrn, seinen Gott, an den Tag legen. Unstreitig war David von großen Gefahren umringt. Es war tatsächlich so, dass seine Feinde bereit waren, ihn heimlich zu schießen; es war eben so wahr, dass sogar die Grundpfeiler (Grundtext 2 von Gesetz und Gerechtigkeit unter Sauls schlechter Regierung niedergerissen wurden. Aber was bedeutete dies alles für den Mann, der seine Hoffnung allein auf Gott gesetzt hatte? Er konnte der Gefahr trotzen, konnte den Feinden entgehen und furchtlos der Unredlichkeit und Falschheit begegnen, die ihn umgab. Seine Antwort auf die Frage seiner verzagten Freunde: "Was sollte der Gerechte da ausrichten?" würde jedenfalls die Gegenfrage sein: "Was sollte er mit Gott nicht ausrichten können?" Wenn wir durch das Gebet Gott als Bundesgenossen geworben und uns durch den Glauben der Erfüllung der Verheißungen versichert haben, was für ein Grund zur Flucht könnte dann vorliegen, wie grimmig und mächtig unsere Feinde auch immer sein mögen? Mit Schleuder und Stein hatte David schon früher den Riesen erschlagen, vor dem das ganze Heer Israels gezittert hatte, und der Herr, der ihn von dem unbeschnittenen Philister errettet hatte, konnte ihm sicher auch von der Gewalt des Königs Saul und seiner Häscher helfen. Es gibt in der Sprache des Glaubens kein Wort "unmöglich"; des Herrn Krieger wissen zu kämpfen und zu siegen, aber nicht feige zu fliehen.

 


4. Der Herr ist in seinem heiligen Tempel,
des Herrn Stuhl ist im Himmel;
seine Augen sehen drauf,
seine Augenlider prüfen die Menschenkinder.
5. Der Herr prüfet den Gerechten;
seine Seele hasset den Gottlosen, und die gerne freveln.
6. Er wird regnen lassen über die Gottlosen Blitze,
Feuer und Schwefel, und wird ihnen ein Wetter zu Lohn geben.
7. Der Herr ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb;
die Frommen werden schauen sein Angesicht.

Nun gibt David den Grund seines unerschütterlichen Mutes an. Sein Licht kommt ihm vom Himmel, von der großen Zentralsonne der Gottheit. Wir haben einen Gott, der nie und nimmer ferne ist von denen, die auf ihn trauen. Er ist nicht nur ein Gott der Bergfesten (vergl. 1. Könige 20,23), sondern auch der Gott der düsteren Täler und gefahrvollen Kampfesfelder.

4. Der Herr ist in seinem heiligen Tempel. Wie wir allüberall den Himmel über uns haben, so ist auch der Herr uns allezeit nahe, wie immer unsere Lage sein mag. Das ist ein triftiger Grund für uns, den nichtswürdigen Einflüsterungen des Unglaubens niemals Raum zu geben. Es ist einer im oberen Heiligtum, der auf Grund seines uns zugute vergossenen heiligen Blutes für uns fleht, und einer auf dem Thron, der für die Fürbitten seines Sohnes nie ein taubes Ohr hat. Warum sollten wir uns denn fürchten? Was für Ränke vermöchten Menschen zu schmieden, die der Allwissende nicht entdeckte? Der Satan hat ohne Zweifel unser begehrt, dass er uns möchte sichten wie den Weizen (Lk. 22,31); aber Jesus ist im Tempel und bittet für uns. Wie kann unser Glaube da wankend werden? Kann der Böse auch einen Anlauf nehmen, ohne dass Jahwe es merkt? Und wird er nicht, da er in seinem heiligen Tempel ist und sich dort an dem süßen Geruch des Opfers seines Sohnes erfreut, jeden Anschlag unserer Feinde zunichtemachen und uns hindurchhelfen?
  Des Herrn Stuhl ist im Himmel: Jahwe regiert unumschränkt. Nichts kann im Himmel oder auf Erden oder in der Hölle geschehen ohne seine Zulassung und Oberleitung. Er ist der große Herrscher aller Welt; warum sollten wir denn fliehen? Ist es nicht genug, dem König aller Könige zu vertrauen? Kann er uns nicht erretten, ohne dass wir uns feige zurückziehen? Ja, gepriesen sei der Herr, unser Gott, wir geben ihm den Ehrengruß als unserm Feldherrn, denn er ist ykIini hOfhy:, "der Herr, mein Panier" (2. Mose 17,15); in seinem Namen entfalten wir das Banner, und statt zu fliehen, erheben wir aufs neue unser Feldgeschrei.
  Seine Augen schauen (Grundtext). Der himmlische Wächter schlummert nie, seine Augen kennen keinen Schlaf. Seine Augenlider prüfen die Menschenkinder. Er gibt genau Acht auf ihre Handlungen, Worte und Gedanken. Wenn jemand einen sehr kleinen Gegenstand scharf prüfen will, schließt er die Augenlider beinahe ganz, um nichts anderes als diesen einen Gegenstand zu sehen; so sieht der Herr auf die Menschen und durchschaut sie bis ins Innerste. Gott sieht jedes Menschenkind so genau, als ob es außer diesem einen kein anderes Wesen im Weltall gäbe. Er sieht uns stets; er wendet kein Auge von uns ab; er liest das Verborgenste unseres Herzens eben so leicht, wie das, was uns auf dem Gesicht geschrieben steht. Ist das nicht ein genügender Grund, ihm zu vertrauen? Ist es nicht eine vollbefriedigende Antwort auf die quälenden Fragen des Kleinmuts? Meine Gefahr ist ihm nicht verborgen; er kennt meine Bedrängnisse, und ich darf versichert sein, dass er mich nie dem Verderben preisgeben wird, solange ich ihn zu meiner einzigen Zuflucht mache. Warum sollte ich denn, dem scheuen Vogel gleich, vor den mich umringenden Gefahren die Flucht ergreifen?

5. Der Herr prüft den Gerechten. Er hasst ihn nicht, er prüft ihn nur. Die Frommen sind ihm wert, darum erprobt er sie durch Trübsal, wie man das Gold durch Feuer prüft. Keines von Gottes Kindern darf hoffen, von Trübsal verschont zu bleiben; und recht besehen möchte auch keines von uns es anders wünschen, denn die Trübsal ist eine Quelle vieler Segnungen.

Das ist mir zum Heil beschieden,
Hier zu tragen Weh und Leid,
Drin zu schmecken Jesu Frieden,
Der mir Schmerz wie Freude weiht.

Leid kann uns das Wort erschließen,
Leid treibt ins Gebet uns hin,
Legt uns still zu Jesu Füßen,
Klärt und heiligt unseren Sinn.

Alle Lasten und Beschwerden
Trag’ ich nur mir selbst zum Heil.
Fehlten sie, könnt’ angst mir werden,
Ob Verwerfung nicht mein Teil.

Nach William Cowper † 1800.

  Ist das nicht Grund genug, uns nie durch misstrauische Furcht verleiten zu lassen, der Trübsal zu entfliehen? Würden wir doch dadurch versuchen, einem Segen zu entrinnen!
  Seine Seele hasset den Gottlosen, und die gerne freveln; warum sollte ich denn nun vor diesen bösen Menschen die Flucht ergreifen? Wenn Gott sie hasst, will ich mich nicht vor ihnen fürchten. Alles bückte sich vor Haman, solange er in des Fürsten Gunst stand; als aber der Zorn des Königs wider ihn entbrannt war, ei, wie wurden da auch die geringsten Diener so kühn, dass sie den Galgen vorschlugen für den Mann, vor dem sie so oft gezittert hatten! Achtet auf das Brandmal des göttlichen Hasses auf dem Angesicht unserer Verfolger, dann werdet ihr nicht vor ihnen davonlaufen. Wenn Gott im Streit auf unserer Seite ist, so wäre es töricht, den Ausgang in Frage zu stellen oder den Kampf ängstlich zu meiden.

6. Er wird regnen lassen über die Gottlosen Wurfschlingen (worunter Luther und andere Ausleger die schlängelnd herniederfahrenden Blitze verstehen), Feuer und Schwefel und Glutwind sind ihr Becherteil. (Wörtl.) Wie Sodom und Gomorra durch Feuer und Schwefel vom Himmel verderbt wurden, so werden alle Gottlosen umkommen. Sie mögen sich zusammenrotten zum Streit wie Gog und Magog, aber der Herr wird auf sie regnen lassen Platzregen mit Schloßen, Feuer und Schwefel (Hes. 38,22). Unter dem Glutwind hat man wohl den Samum, den erstickend heißen Wind aus der Arabischen Wüste, zu verstehen. Was für ein Wetter wird das sein, das die Verächter Gottes hinwegfegen wird! Was für ein Sturzregen des Zornes wird sich ohne Aufhören über die schutzlosen Häupter der unbußfertigen Sünder in der Hölle ergießen! Bekehret euch, ihr Empörer; wenn nicht, so wird diese feurige Sintflut euch bald umgeben! Die Schrecken der Hölle werden euer Becherteil sein, und ihr werdet die Hefen dieses Kelches des göttlichen Grimmes austrinken und die Tropfen auslecken müssen (Jes. 51,17). Und doch wird er nie leer werden! Ein Tropfen Höllenqual ist schrecklich genug; was muss ein voller Becher sein? Denkt daran - ein zum Überließen voller Elendsbecher, und kein Tropfen Gnade! O du Volk des Herrn, wie töricht ist es doch, die Menschen zu fürchten, die bald wie Reisigbündel im höllischen Feuer brennen werden! Denkt an ihr Ende; dann muss sich alle Furcht vor ihnen in Verachtung gegen ihre Drohungen und in Mitleid mit ihrem grausigen Schicksal verwandeln.

7. Der köstliche Gegensatz des letzten Verses ist unserer Beachtung wert. Er gibt uns noch einen überwältigend starken Grund an, warum wir fest und unbeweglich bleiben und uns von der Furcht nicht überwältigen oder zur Anwendung fleischlicher Mittel verleiten lassen sollten. Denn der Herr ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb. Er verteidigt diese nicht nur von Amts wegen, sondern es liegt in seiner Natur, sie zu lieben. Er würde sich selbst verleugnen, wenn er dem Gerechten nicht aufhülfe. Es gehört zu Gottes Wesen, gerecht zu sein; fürchte darum nicht den Ausgang deiner Drangsale, sondern "tue recht und scheue niemand". Gott steht dir bei; was macht es, wenn Menschen dir entgegen sind? Siehe nur zu, dass du fromm (redlich, gerade) vor Gott seiest, dann wird auch an dir einst die Verheißung in Erfüllung gehen, womit unser Psalm schließt, dass die Frommen Gottes Angesicht schauen werden. Schon die Gläubigen des alten Bundes erhoben sich ahnend über die Schrecken des Totenreiches und getrösteten sich des, dass sie einst Gott schauen würden. (Vergl. Hiob 19,26) Bei uns hat sich, seit unser Erlöser des Todes Bande gesprengt und uns den Himmel geöffnet hat, diese Ahnung in lebendige Hoffnung und Glaubensgewissheit verwandelt. Welch lieblicher Gegensatz, diese Seligkeit im Anschauen Gottes gegenüber dem Schreckensende der Gottlosen, das der Psalmist im vorhergehenden Vers geschildert hat! Er, der dies Wort des Glaubens gesprochen, lebt jetzt in dem seligen Genusse dessen, was er ahnend ersehnt hat. Das sei auch unsers Bechers Teil!
  Sollen wir angesichts einer solchen Verheißung es wagen, irgendetwas, was vor Gott nicht redlich ist, zu tun, um der Trübsal zu entgehen? Nein, wir wollen, David gleich, ein für allemal auf alle Nebenwege, auf alle krummen Pfade verzichten und auf dem guten und geraden Weg des Herrn bleiben, auf dem uns schon jetzt Sein Licht scheint und der uns endlich zum Schauen seines Antlitzes führen wird. Tritt die Versuchung an uns heran, unser Licht unter einen Scheffel zu setzen, unsere Frömmigkeit vor unseren Mitmenschen zu verbergen? Flüstert man uns zu, dass es Wege gebe, auf denen wir dem Kreuz entgehen und der Schmach Christi ausweichen könnten? Lasst uns der Stimme des Verführers nicht gehorchen, sondern suchen wir unseren Glauben zu stärken, damit wir es mit Fürsten und Gewaltigen (Eph. 6,12) aufnehmen und in echter Kreuzesnachfolge die Schmach des Herrn tragen können, der als Geächteter außer dem Lager gelitten hat. Der Mammon, das Fleisch, der Teufel, alle werden uns ins Ohr flüstern: Fliehet wie ein Vogel auf eure Berge; aber lasst uns ihnen kühn entgegentreten und sie alle zum Kampf herausfordern. Widerstehet dem Teufel, so fliehet er von euch (Jak. 4,7). Es ist weder Raum noch Ursache zum Rückzug. Vorwärts! Lasst die Vorhut vorstoßen! Heraus, all ihr Kräfte und Triebe der Seele! Mutig voran in Gottes Namen; denn der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz (Ps. 46,8).


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. In gewaltigen Zügen tritt hier die aufs Äußerste gestiegene Gottlosigkeit und das ruhige Vertrauen des Gläubigen sich entgegen; die völlige Gewissheit des endlichen Sieges der gerechten Sache erhebt unter allen irdischen Nöten und Ängsten zu einer seligen Ruhe in Gott. Ein für alle Mal hatte David sein Vertrauen auf den Herrn gesetzt (V. 1), in ihm ruhte sein ganzes Wesen; wie war es möglich, dass nun ein besonderer Unfall ihn aus der Fassung hätte bringen sollen? Wer dem Unveränderlichen vertraut, bekommt an dieser seiner Eigenschaft selbst einen Anteil, kann nie völlig erschüttert werden. - In Gott Ruhe finden in der Unruhe, das kann man aus diesem Psalm lernen. Prof. O. von Gerlach 1849.


V. 1. Die heilige Zuversicht der Kinder Gottes in Stunden großer Trübsal tritt uns lieblich in den folgenden schlichten Versen entgegen, welche die Blutzeugin Anna Askew (verbrannt zu Smithfield im Jahre 1546) dichtete, als sie in Newgate gefangen saß:

Gerüstet, wie wackere Krieger,
Zieh’ ich aus in den heiligen Streit.
Mein Heiland bleibet doch Sieger;
Droht die Welt mir: Er ist nicht weit.  

Der Glaube ist meine Waffe,
Mit der ich durch die Reihn
Der Feinde Raum mir schaffe
Und furchte nicht ihr Dräun.

Mein Jesus ist meine Stärke
Und Kraft, die Bahn sich bricht.
Selbst Satans List und Werke
Dürfen ihn hemmen nicht.

Der Glaube, dass mir aus Gnaden
Das Heil geschenket sei,
Macht auch auf finstern Pfaden
Das Herz so licht und frei,

Dass ich mit tausend Freuden
Dem Herrn will folgen nach
Und getrost auch in allem Leiden
Befehlen Ihm meine Sach’.

Von königlichem Throne,3
Da Recht sollt’ führen das Wort,
Kam, allem Recht zum Hohne,
Befehl zu Verfolgung und Mord.

Gerechtigkeit schien versunken
Wohl in der tosenden Flut.
Des Satans Rotte war trunken
Von der Unschuldigen Blut.
Zu dir, Herr, darf ich rufen
Um Kraft zu meinem Lauf.
Ich fleh’ an des Thrones Stufen:
O Herr, tue du mir auf!

Wenn Feinde mich umringen,
Mehr als ich zählen kann --
Sie sollen mich nimmer bezwingen:
Du nimmst des Schwachen dich an.

Auf dich will ich vertrauen,
Du gibst ihrem Grimm mich nicht.
Ich lasse mir nicht grauen:
Du bleibst meine Zuversicht.

Nicht mag ich Anker werfen,
Sobald sich Nebel zeigt;
Mein Blick nur soll sich schärfen,
Dass nicht mein Schiff sich neigt.

Nicht lieb’ ich’s, zu schreiben Gedichte,
Rede auch sonst nicht gar viel.
Doch sah ich jüngst Gesichte,
Davon ich nicht schweigen will.

Da dacht’ ich; Mein Herr Jesus,
Wenn du dereinst wirst stehn,
Richtend die Völker der Erde,
Wie wird es diesen ergehn?

Doch, Herr, hör’ auf mein Flehen:
Das, was sie all mir getan -
Lass Gnade darüber ergehen;
Rechne es ihnen nicht an!


David gleich soll auch die Gemeinde des Herrn gegenüber allen Verleumdungen und allen berückenden fleischlichen Ratschlägen am schlichten Vertrauen auf den lebendigen Gott, den Richter der ganzen Erde, festhalten. Einzig darin liegt ihre Rettung. W. Wilson 1860.
  Bei Jahwe berge ich mich. (Grundtext) Was nützt uns der Schatten eines mächtigen Felsen, wenn wir dabei in der Sonne sitzen? Was hilft es, dass Gottes Allmacht auf unsrer Seite ist, wenn wir uns mutwillig der Versuchung in die Arme werfen? Die Heiligen sind immer dann zu Fall gekommen, wenn sie ihre Festung verlassen haben; denn gleich dem Klippdachs (Spr. 30,26 Grundtext) sind sie in sieh selbst ein schwaches Volk, und ihre Stärke liegt in dem Felsen der Allmacht Gottes, der ihre Wohnung ist. William Gurnall † 1679.
  David vergleicht sich häufig mit diesem oder jenem Vogel; so mit dem Adler (Ps. 103,5: Dem Adler gleich erneuert sich deine Jugend), dem Käuzlein (Ps. 102,6  Grundtext: Ich bin wie ein Käuzlein in Ruinen), dem Pelikan (in demselben Vers; Ich gleiche dem Pelikan in der Wüste), einem einsamen, während alles schläft, auf dem Dache Klagetöne ausstoßenden Vogel (Ps. 102,8 nach verb. Lesart), dem Rebhuhn (1. Samuel 26,20), der Taube (Ps. 55,7: O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich flöge und etwo bliebe!). Aber wie ist es möglich, dass Vögel so verschiedener Art alle zum Bilde eines Mannes dienen können? Die Antwort daraus ist, dass zwei Menschen nicht stärker voneinander verschieden sein können, als der eine und nämliche Knecht Gottes zu verschiedenen Zeiten. Thomas Fuller † 1661.
  Die Gottlosen wollten gerne, dass ich wie ein Vogel würde, der auf denen Bergen in der Irre umherflöge; ich soll das Nest meiner Hoffnung auf Christum verlassen. - Denn außer dem Glauben ist nichts anders, denn umherziehen auf denen Bergen, in der Wüsten irren, da das Gewissen nicht kann zufrieden sein und ruhen. Martin Luther † 1546.
  In Zeiten innerer Not und Anfechtung ist es nicht gut, mit dem Satan zu verhandeln. Davids heimliche Feinde wurden durch den Teufel angetrieben, ihn zu entmutigen; er aber weist die Versuchung alsbald zurück, bevor sie sich noch in seinen Gedanken festsetzen kann. Er will nichts davon hören. Richard Gilpin 1677.
  Die Heiligen der alten Zeit verschmähten es, unter unwürdigen Bedingungen der Not zu entgehen. Sie wiesen die Zumutung, zu fliehen, um Ruhe zu haben vor den Verfolgern, mit Verachtung von sich, es sei denn, dass sie hinwegeilen konnten mit Taubenflügeln (Ps. 55,7), die mit dem Silberglanz der Unschuld geziert sind. Viele der Märtyrer waren eben so willig zu sterben wie zu leben. Die Peiniger wurden es müde, die edle Sklavin Blandina († unter Marc Aurel im 2. Jahrh.) zu quälen. "Wir schämen uns, Kaiser! Die Christen lachen über deine Grausamkeit und werden nur desto entschlossener", sagte ein Edelmann zu Julian, dem Abtrünnigen. Die Heiden nannten dies Eigensinn; sie kannten weder die Macht des heiligen Geistes, noch die Kraft der Überzeugung, womit die Christen gerüstet waren. John Trapp † 1669.

 


V. 1-3. In der Not zeigt es eine große Festigkeit des Vertrauens auf seinen Gott an, wenn man nicht so begierig auf alle Mittel, die sich einem auch zu einiger Erleichterung anbieten, hineinfällt, sondern darin nach göttlichem und nicht nach menschlichem Sinn zu wählen weiß, was gut tut oder nicht, was Grund hat oder wessen Grund sandig ist und umgerissen wird, da danach ein Gerechter froh ist, wenn er nichts auf einen solchen Sandberg gebaut hat. Es macht auch eine namhafte Glaubensübung aus, dass man sich von aller Gemeinschaft mit solch eitlen und unzuverlässigen Hilfsmitteln lossagt und sein Vertrauen auf den Herrn durch nichts so Geteiltes zu schwächen, sondern vielmehr in Verleugnungskraft zusammenzuhalten bedacht ist, wie denn auch David im Psalm, nachdem er das Eitle von sich geschafft hat, sich nun desto besser und mehr Gottes rühmen kann, der schon alles ausführen werde (V. 4-7). Karl Heinrich Rieger † 1791.


V. 2. Dieser Vers zeigt uns das Bild des ungleichen Kampfes zwischen der bis an die Zähne bewaffneten und mit allen Vorzügen der Schlangenklugheit ausgestatteten Weltmacht einerseits und der aller fleischlichen Waffen baren Unschuld anderseits. Sie spannen den Bogen und legen ihre Pfeile auf die Sehnen: das waren die Kriegswaffen jener Zeit. Damit heimlich zu schießen. So wollten sie unversehens aus dem Hinterhalt herausfahren und vielleicht noch Liebe und Freundschaft heucheln. Die, so redlichen Herzens sind. (Grundtext) Wehrlos scheint die nackte Unschuld ihren Pfeilen preisgegeben; und doch hat sie die stärkste Rüstung eben in sich selbst. Thomas Fuller † 1661.
  Man vergleiche dazu die schlauen Anschläge der Hohenpriester und Pharisäer, Jesus mit List zu greifen und zu töten (Mt. 26,4). Sie spannten ihren Bogen, als sie Judas Ischariot bestachen, seinen Herrn zu verraten; sie richteten ihre Pfeile zum Abschießen, als sie falsch Zeugnis suchten wider Jesus, auf dass sie ihn töteten (Mt. 26,59). Er war fürwahr redlichen Herzens, er, der eine Wahre und Gerechte. Und dieselbe Feindschaft erfuhren seine Apostel und die lange Reihe derer, welche von der Zeit an bisher treu an ihm gehangen haben. Wie der Meister, so die Diener (Mt. 10,25): davon zeugen die Verleumdungen und Schmähungen, die seit der Zeit, da Joseph von seiner Herrin angeklagt wurde (1 Mose 39), bis auf den heutigen Tag je und je das Los der Kinder Gottes gewesen sind. Michael Ayguan 1416.
  List und Grausamkeit vereinen sich in höllischem Bunde. Die List erdenkt mit scharfsinniger Tücke den Plan, die Grausamkeit führt ihn mit unmenschlicher Wut aus. Die List ordnet Zeit, Ort und Mittel an, die Grausamkeit vollführt die Tat. Die List verbirgt das Messer, die Grausamkeit stößt es dem unschuldigen Opfer ins Herz. Die List entwirft den Angriffsplan und legt mit großer Klugheit den Hinterhalt, und die Grausamkeit, gleich rohen Herzens, schrickt auch vor dem Schrecklichsten und Schmutzigsten nicht zurück und ist bereit, bis an die Knöchel, ja bis an den Hals, im Blut zu waten. Wie entsetzlich ist es, von solchen Feinden angegriffen zu werden! John King 1608.


V. 3. Das ist auch eine schöne Tugend derer Gottlosen, das ist alle ihre Arbeit, dass sie einreißen, was Du gegründet hast. Martin Luther 1530.
  Hier begegnen wir einem gewaltigen Einwurf, den wir mit der Kraft eines Goliaths niederschlagen müssen. Ist es denkbar, dass die Grundpfeiler der Religion eingerissen werden können? Ist es möglich, dass Gott so lange schläft, in solch starre Gleichgültigkeit versinkt, dass er geduldig zusieht, wie Recht und Gerechtigkeit in Trümmer gehen? Wenn er zusieht und dennoch nicht wahrnimmt, wie die Grundpfeiler zerstört werden, wo ist dann seine Allwissenheit? Wenn er es sieht und nicht helfen kann, wo bleibt dann seine Allmacht? Wenn er es sieht und helfen kann, und doch nicht eingreifen will, wo ist dann seine Güte und Barmherzigkeit? Viele werden sagen: Wäre Gott wirklich gegenwärtig auf Erden und hätte er jene Eigenschaften, so würden sicherlich die Grundlagen der Religion nicht zerstört werden. Wir antworten: Es ist ganz unmöglich, dass die Grundlagen der Religion jemals ganz und gar zerstört werden, weder in der Gemeinde des Herrn im Ganzen, noch in irgendeinem echten, lebendigen Glied derselben. Für das erstere haben wir eine bestimmte Zusage von Christus selbst: Die Pforten der Hölle sollen meine Gemeinde nicht überwältigen (Mt. 16,18). Der Berg Zion wankt nicht, sondern bleibt ewiglich (Ps. 125,1). Was aber den einzelnen Christen betrifft, so sagt Paulus (2. Tim. 2,19): Der feste Grund Gottes bestehet und hat dieses Siegel: Der Herr kennet die Seinen. Jedoch, obgleich um dieser Gründe willen die Grundlagen niemals ganz und für immer vernichtet werden können, so mag es doch teilweise geschehen, und zwar auf vierfache Art. Erstens in den Wünschen und verzweifelten Bemühungen der Bösen. Wenn sie die Grundlagen nicht zerstören, so ist es nicht ihre Schuld; denn die ganze Welt gibt ihnen das Zeugnis, dass sie ihr Bestes (d. h. ihr Schlimmstes) getan haben, was nur durch Macht und Bosheit möglich war. Zweitens nach der prahlerischen Einbildung der Gottlosen. Sie reden es sich nicht nur ein, sondern sie glauben es auch wirklich, dass sie die Grundlagen der Religion zerstört hätten. Übertreibung ist die gewöhnliche Sprache des Stolzes. Drittens können die Grundlagen nach allem, was äußerlich sichtbar ist, zerstört sein. Wenn Verfolgung über die Kirche hereinbricht, so gleicht sie einem Schiff im Sturme. Die Mastbäume werden alle herunter gelassen, ja man ist manchmal gezwungen, sie in höchster Eile umzuhauen. Man sieht kein Stückchen Leinwand mehr, womit der Wind spielen könnte, alle Segel liegen fest zusammengewickelt im Kielraum, damit der Orkan keine Macht über sie habe; aber sobald der Sturm vorüber ist, werden sie wieder so hoch aufgezogen und so weit aufgespannt wie zuvor. So ist es auch mit der Kirche. Wenn sie Verfolgungen fürchtet oder gar erfährt, verliert sie alle äußere Zierde und Stattlichkeit, welche sonst andere anziehen könnte, und sie ist es zufrieden, wenn sie sich ruhig verhalten darf. Sie trägt in den Tagen der Trübsal ihr schlechtestes Gewand, während ihre Feierkleider unterdessen in der Truhe verwahrt sind in der gewissen Hoffnung, dass Gott ihr noch einen heiligen Festtag bereiten wird, an dem sie dann mit Freuden ihr prächtigstes Gewand tragen wird. Und endlich können die Grundfesten der Religion zerstört sein nach den kleingläubigen Gedanken der besten Heiligen und Diener Gottes, besonders in ihren Anwandlungen von Schwermut; wie selbst Elia, der doch kein Neuling war, sondern einer der größten von Weibern Geborenen, klagend ausruft: Ich bin allein übergeblieben, und sie stehen darnach, dass sie mir mein Leben nehmen (1. Könige 19,10). Thomas Fuller † 1661.
  Die Grundpfeiler eines Volkes sind seine Gesetze und Ordnungen, die Grundlagen des Rechts und der Sittlichkeit. Werden diese eingerissen, was sollen dann die Besten und Weisesten ausrichten? Da gibt es keine andere Hilfe, keine andere Antwort als die im nächsten Vers angedeutete: Der Herr ist in seinem heiligen Tempel usw. Ob auch alle Grundfesten des Landes wanken (Ps. 82,5), bleibt der Rat des Ewigen doch bestehen. Joseph Caryl † 1673.
  Die Grundpfeiler. Es heißt nicht, wenn das Dach einzustürzen droht oder die Seitenmauern erschüttert werden, sondern wenn die Pfeiler, die Säulen, die Grundlagen eingerissen werden. Und zwar nicht nur hier und da ein Stück, sondern die Grundpfeiler alle. Thomas Fuller † 1661.
  Was kann da der Gerechte tun? Diese Sprache führen solche, welche nicht auf den Herrn selbst, sondern auf das, was von seinem Wirken unter den Menschen erscheint, ihr Vertrauen setzen und also mit den Zeitumständen entweder feststehen oder wanken und fallen. Prof. O. von Gerlach 1849.
  Was sollte der Gerechte ausrichten? Das Können des Gerechten ist schon insofern beschränkt, als es der Richtschnur des Wortes Gottes unterliegt. Böse Menschen können alles tun; ihr Gewissen, das so weit ist, dass es schließlich keines mehr ist, erlaubt ihnen alles, wie unerlaubt es auch sei. Sie können alle, die ihren Plänen hinderlich sind, erstechen, vergiften und hinschlachten. Jedes Mittel, jede Zeit, jeder Ort ist ihnen genehm. Solche Freiheit haben die Gerechten nicht; für sie gibt es eine Regel, nach der sie wandeln müssen, die sie weder übertreten dürfen noch wollen. Wenn darum ein Gerechter auch wüsste, dass er durch das Übertreten von Gottes Geboren das Zerstörte wieder aufrichten könnte, so sind ihm doch Hand, Kopf und Herz gebunden; er kann nichts tun, weil deren Verdammnis ganz recht ist, die da sagen: Lasset uns Übels tun, auf dass Gutes daraus komme (Röm. 3,8). Thomas Fuller † 1661.
  Zeiten, wo die Sünde überhandnahm, sind stets besondere Zeiten des Gebets für die Heiligen gewesen. Die böse Zeit trieb Esra an, schweren Herzens die Sünde seines Volkes zu bekennen und ihre Missetaten vor dem Herrn zu beklagen (Esra 9). Und Jeremia sagte seinen herangekommenen Zeitgenossen, seine Seele müsse heimlich weinen über ihrer Hoffart (Jer. 13,17). In der Tat wird manchmal die Sünde so mächtig, dass die Frommen kaum etwas anderes tun können, als sich in einen Winkel zurückziehen und die allgemeine Verderbtheit des Zeitalters beklagen. Solch trübselige Tage nationalen Niedergangs haben auch wir erlebt, als die Grundlagen der Regierung zerstört waren und alles in grausame Verwirrung gestürzt war. Wenn es so mit einem Volke steht, was kann da der Gerechte tun? Ei, dieses dürfen und sollen sie tun: fasten und beten. Es gibt noch einen Gott im Himmel, bei dem man Hilfe suchen kann, wenn die Rettung eines Volkes über Menschenmacht und -weisheit hinausgeht. Siehe den folgenden Vers. Und was das Gebet ausrichten kann, haben auch wir in unserm Lande erfahren. William Gurnall † 1679.


V. 4. Gottes Wohnung ist im Himmel und im Heiligtum. Beides wird sehr häufig verbunden. Denn das Heiligtum selbst war nur eine sichtbare Darstellung des Gnadenthrones im Himmel, ein Unterpfand der wahrhaftigen Gegenwart Jahwes in der Mitte seines Volks, und es zeigt sich am deutlichsten in der Rede Salomos bei der Einweihung des Tempels 1. Könige 8,27 ff., dass die Israeliten, so gewiss sie davon überzeugt waren, dass Jahwe in der Stifshütte oder dem Tempel nach seiner Herrlichkeit gegenwärtig sei, doch immerdar in ihrem Gebet Herz und Sinne gen Himmel erhoben haben. Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.
  Seine Augen sehen drauf. Ist sehr tröstlich gesagt: Ich weiß, dass er es sieht. Es lässt sich wohl ein wenig von außen ansehen, dass er schlafe, denn er lässt sie ihren Bogen spannen; aber er sieht es. Sind eitel Worte des Glaubens. Martin Luther 1530.
  Gott sieht nicht wie die Menschen, dass er erst erforschen müsste, was früher vor ihm verborgen gewesen wäre. Mit einem Blick ist seine Untersuchung schon geschehen; er sieht ins Herz, er durchschaut die Nieren. Gottes Blick ist durchdringend. Es ist alles bloß und entdeckt vor seinen Augen (Hebr. 4,13). Er hat im Nu einen so genauen Einblick in alle verborgenen Dinge, in die innersten Falten des Herzens, als ob sie mit der größten Genauigkeit vor ihm seziert worden wären. Richard Alleine † 1681.
  Bedenke, dass Gott nicht nur alles sieht, was du tust, sondern dass er dein Tun mit der Absicht ansieht, es zu prüfen und zu erforschen. Er blickt dich nicht mit einem oberflächlichen, gleichgültigen Blick an, sondern mit seinem durchdringenden, alles beobachtenden und durchforschenden Auge. Er schaut hinein in die Ursachen, Beweggründe und Absichten all deiner Handlungen. Off. 1,14 heißt es von Christus: Seine Augen sind wie eine Feuerflamme. Des Feuers Eigenschaft ist es, die Dinge, die ihm ausgesetzt werden, zu erproben und die Schlacken von dem edeln Metall zu scheiden; so prüft und untersucht auch Gottes Auge die Handlungen der Menschen. Er erkennt genau, was noch von Unlauterkeit, Scheinheiligkeit, Zerstreutheit und totem Wesen auch deinen besten Taten anhaftet; er durchschaut alle deine schön klingenden Vorwände, womit du die Menschen zu blenden suchst, während du im Grunde doch nur ein frommer Gaukler bist. Er ist ein Gott, der durch die Feigenblätter des äußerlichen Bekenntnisses hindurchblickt und deine jämmerliche Blöße alsbald erkennt. Hesekiel Hopkins † 1690.
  Ziehe Gott zu Rate. Der Himmel überblickt die Hölle. Gott kann dir zu jeder Zeit sagen, was für Pläne dort gegen dich ausgeheckt werden. William Gurnall † 1679.
  Wenn ein Verbrecher, oder einer, der eines Verbrechens angeklagt ist, vor dem Richter steht, um verhört zu werden, dann beobachtet ihn der Richter genau. Er schaut ihn mit durchdringenden Blicken an und befiehlt ihm, aufzusehen. "Sieh mich an", sagt der Dichter, "und antworte mir ins Gesicht!" Die Schuld umwölkt gewöhnlich die Stirn und verdunkelt den Blick; die Last drückt dem Schuldigen den Kopf hinunter. Der Verbrecher hat einen eigenen Blick und getraut sich nicht aufzusehen. Wie froh ist er, wenn der Richter den Blick von ihm wendet. So wird hier von dem Herrn, dem großen Richter Himmels und der Erden, gesagt: Seine Augenlider prüfen die Menschenkinder. An jenem großen Gerichtstag, der Off. 6,16 beschrieben wird, wünschen alle die Schuldigen, sich verbergen zu können vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt. Sie können Christus nicht ansehen, noch vermögen sie Christi Blick auszuhalten; und dennoch prüfen seine Augenlider die Menschenkinder. Die Bosheit kann es nicht ertragen, dass irgendein Auge, geschweige denn das Auge des Richters, sie anblickt. Darum trösten sich die Gottlosen, indem sie sich einreden: "Wer sieht uns?" Es ist sehr schwer, die Schuld des Herzens auf dem Angesicht zu verbergen, und eben so schwer, sie dort zeigen zu müssen. Joseph Caryl † 1673.


V. 5. Der Herr prüft den Gerechten. Ausgenommen unsere Sünden ist wohl nichts so gemein auf Erden als die Trübsale, welche aus der Sünde kommen. Da wir nicht im Paradies, sondern in der Wüste sind, müssen wir auf eine Not nach der andern gefasst sein. Wie ein Bär auf David los kam nach dem Löwen, und nach dem Bären ein Riese, und nach dem Riesen ein König, und nach dem König die Philister, so müssen die Gläubigen oft, wenn sie mit der Armut gekämpft haben, mit dem Neid ringen, und wenn sie mit diesem fertig sind, kommt die Ehrlosigkeit, und wenn sie diese überwunden haben, kommt Krankheit; sie sind wie Arbeiter, die nie einen Feierabend haben. Henry Smith † 1591.
  Zeiten der Trübsal und Verfolgung scheiden die Erwählten von den Nichtswürdigen, die unlauteren Bekenner von den wahren. Verfolgung ist der Christen Prüfstein, daran man erkennen kann, ob sie Silber oder Blei, Gold oder Schlacken, Weizen oder Spreu, echt oder unecht, geistlich oder fleischlich, aufrichtig oder falsch sind. Nichts zeugt lauter von der Echtheit und Aufrichtigkeit der Gesinnung, als wenn jemand auch dann nach der Heiligung strebt, wenn er darum leiden muss, gehetzt und verfolgt wird. Wer im Feuer der Trübsal fest bleibt, zeigt damit, wie lauter sein Innerstes ist. Thomas Brooks † 1680.
  Man beachte den eigentümlichen Gegensatz der beiden Versteile. Gott hasst den Bösen, und im Gegensatz dazu liebt er den Gerechten; aber dafür wird hier gesagt, dass er ihn prüfe. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass in Bezug auf uns Menschen Prüfen und Lieben bei Gott ein und dasselbe ist. C. H. Spurgeon 1869.


V. 6. Er wird regnen lassen auf die Gottlosen Wurfschlingen. (Grundtext) Wie auf der Jagd mit dem Lasso der Jäger von oben her eine Schlinge auf sein Opfer wirft, um dessen Kopf oder Füße darin zu verwickeln, so wird der Herr von oben herab mit der vielverschlungenen Schnur des Schreckens die Verächter seines Gesetzes umwickeln, fesseln und gefangen nehmen. C. H. Spurgeon 1869.
  Er wird auf sie regnen lassen Blitze usw. Wenn sie es am wenigsten erwarten, wenn sie am ausgelassensten sind, wird das Verderben sie übersahen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Bischof William Nicholson 1662.
  Auf den Urteilsspruch des alles durchschauenden Richters V. 4 f. folgt die Verdammnis V. 6, die uns hier an dem Umsturz von Sodom und Gomorra dargestellt wird. Fangstricke: weil die Lockungen des Satans in diesem Leben sich in die größten Strafen im folgenden verwandeln werden. Das Feuer des Zorns, der Schwefeldunst der Unsittlichkeit, der Glutwind des Hochmuts, der Fleischeslust, der Augenlust und des hoffärtigen Lebens; das ist ihr Becherteil. Damit vergleiche man, was der Psalmist von sich sagt: Der Herr ist mein Gut und mein Becherteil (Ps. 16,5). M. A. Cassiodor † um 575.
  Ihr Becherteil. Dieser Ausdruck bezieht sich auf die Sitte, dass der Hausvater jedem Hausgenossen und Gaste sein Teil darreichte. French und Skinner 1842.


V. 7. Dass Gott Gnade schenken kann ohne Herrlichkeit, ist begreiflich; aber dass er einen Menschen, der keine Gnade empfangen hat, zur Gemeinschaft mit ihm in der Herrlichkeit zulassen sollte, ist undenkbar und mit Gottes Heiligkeit unvereinbar. Der Herr ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb; die Frommen werden schauen sein Angesicht. Er sieht sie mit liebendem Blick an, und sie dürfen kraft der Gnade seinen Blick erwidern. Es liegt in der Natur der Sache, dass Gott in Anbetracht seiner Heiligkeit nicht mit einem unreinen Wesen in herzlicher Liebe frei verkehren kann. Entweder muss Gott seine Natur ändern, oder des Sünders Natur muss eine Wandlung durchmachen. Wolf und Schaf, Finsternis und Licht können nie zusammengehen. Gott kann den Sünder als Sünder nicht lieben, denn er hasst die Unreinheit seinem innersten Wesen nach. Es ist für ihn ebenso unmöglich, die Sünde zu lieben, als dass er aufhören könnte, heilig zu sein. Stephan Charnock † 1680.


Homiletische Winke

V. 1. Des Glaubens kühnes Bekenntnis und seine unerschrockene Zurückweisung jeder Versuchung zum Weichen.
  Dieser Vers lehrt uns 1) dass wir Gott vertrauen sollen, wie groß immer die Gefahr sei; 2) dass die Versuchung an uns herantreten wird, dies Vertrauen wegzuwerfen; 3) dass wir uns dennoch an das Gottvertrauen anklammern sollen als an den festen und sicheren Anker unserer Seele. Thomas Wilcocks 1586.
  Der Rat der Feigen und der Spott der Frechen, beide durch den Glauben beantwortet. Lerne daraus, dass du nicht versuchen sollst, eine andere Antwort zu geben.
V. 2. Die Tücke unserer geistlichen Feinde.
V. 3. 1) Wenn es möglich wäre, dass Gottes Eid und Zusage wankte, was könnten wir tun? Die Antwort ist leicht. 2) Wenn alles Irdische zugrunde geht und auch der Staat, dessen Bürger wir sind, zusammenbricht, was können wir tun? Dann können wir getrost leiden, freudig hoffen, geduldig warten, ernstlich beten, zuversichtlich glauben und endlich herrlich triumphieren.
  Die Notwendigkeit, die Grundwahrheiten festzuhalten und zu verkündigen.
V. 4. Gottes Thron; erhaben, geheimnisvoll, rein, ewig usw.
V. 4-5. Diese Verse zeigen uns, dass sowohl die Kinder der Welt, als auch die Gerechten geprüft werden. Stelle den Unterschied dieser beiden Prüfungen 1) nach ihrer Absicht, 2) nach ihrem Ergebnis ins Licht.
V. 5. 1) Wen prüft der Herr? den Gerechten. 2) Was prüft er an ihm? Den Glauben, die Liebe usw. 3) Wie prüft er ihn? Durch Prüfungen jeglicher Art. 4) Wie lange? 5) Zu welchem Zweck?
  Wie gründlich und völlig Gott die Sünde hasst. Zu erweisen an Gottes Strafheimsuchungen, an seinen Drohungen, alt den Leiden des Versöhners und an den Schrecken der Hölle.
  Das Prüfen des Goldes und das Ausscheiden der Schlacken.
V. 6. Gnädiger Regen und vernichtender Regen.
  Das Los der Unbußfertigen.
V. 7. Gerechtigkeit eine hervorragende Eigenschaft des Herrn. Er betätigt sie selber, liebt sie, wo immer er sie findet, und segnet diejenigen, welche sie ausüben.

Fußnoten

1. Charles Simeon († 1836) war einer der fruchtbarsten homiletischen Schriftsteller, sowie einer der Hauptbegründer der so genannten evangelischen Partei der englischen Staatskirche, d. h. derjenigen Richtung welche durch Gotte Gnade die große methodistische Erweckung, aber auf calvinistischer Lehrgrundlage, in die Staatskirche übertrug im Gegensatz zu Unglauben toter Orthodoxie und hochkirchlichem Formenwesen auf Bekehrung und lebendigen Glauben drang und teils selbständig, teils in freiem Zusammenschluss, mit den auf gleicher evangelischer Grundlage stehenden Dissenters eine reiche Tätigkeit in der inneren und äußeren Mission entfaltete und noch entfaltet.

2. V. 3 Grundtext: Wenn die Grundpfeiler eingerissen werden -- was hat der Gerechte (dann durch seinen Widerstand) ausgerichtet? Delitzsch u. a. verteidigen übrigens Luthers Übers. "Was sollte usw."

3. Heinrich VIII., der aus persönlichen Gründen England von Rom losriss, war selbst ein Feind und blutiger Verfolger des Evangeliums.