Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 114 (Auslegung & Kommentar)


Inhalt

Dieses kleine, aber feine Lied von dem Auszuge Israels ist unteilbar. Die heilige Poesie steigt in ihm zu hehrer Höhe auf; keine Menschenkunst hat je seine erhabene Schönheit zu erreichen, geschweige denn zu übertreffen vermocht. Der Psalm singt davon, wie Gott sein Volk aus Ägypten nach Kanaan führte und wie die ganze Erde bei seinem Kommen in Bewegung geriet. Wir sehen die unbeseelten Kreaturen sich gleich lebendigen Geschöpfen gebärden, da der Herr des Weltalls vorüberzieht. Sie werden mit wunderbarer Kraft der Sprache angeredet und gefragt, so dass wir uns mitten in das Schauspiel versetzt sehen. Der Psalm verherrlicht den Gott Jakobs als den, der über Meer und Fluss und Berge befiehlt und die gesamte Natur zwingt, seiner glorreichen Majestät zu huldigen und zu dienen.


Auslegung

1. Da Israel aus Ägypten zog,
das Haus Jakob aus dem fremden Volk,
2. da ward Juda sein Heiligtum,
Israel seine Herrschaft.
3. Das Meer sah es und floh;
der Jordan wandte sich zurück;
4. die Berge hüpften wie die Lämmer,
die Hügel wie die jungen Schafe.
5. Was war dir, du Meer, dass du flohest,
und du Jordan, dass du dich zurückwandtest?
6. Ihr Berge, dass ihr hüpftet wie die Lämmer,
ihr Hügel wie die jungen Schafe?
7. Vor dem Herrn bebte die Erde,
vor dem Gott Jakobs,
8. der den Fels wandelte in Wassersee
und die Steine in Wasserbrunnen.


1. Da Israel aus Ägypten zog. Das Lied setzt sofort mit vollen Akkorden ein, als ob des Dichters Begeisterung sich nicht mehr zurückhalten ließe. Die von der Herrlichkeit des göttlichen Waltens ganz erfüllte Seele gönnt sich nicht die Zeit, ein Vorwort auszusinnen, sondern ergießt sich alsbald in der Gedanken Fülle. Ja, das war ein Auszug ohnegleichen, da Israel aus Ägypten ging, heraus aus der Volksmasse, unter der es zerstreut gewesen war, fort von dem knechtischen Joch, hinweg von der eisernen Hand des Königs, der das freie Volk zu einer Herde von Sklaven erniedrigt hatte. Durch eine hohe Hand und einen ausgereckten Arm zog Israel aus, all der Macht des stolzen Reiches trotzend, und ganz Ägypten in schwere Wehen versetzend, als wäre das auserwählte Volk in jener Mitternachtsstunde daselbst zur Geburt gelangt. Das Haus Jakob aus dem fremden Volk. Als eine Familie, als das Haus Jakob, waren sie nach Ägypten hinabgezogen, und wiewohl aus den siebenzig Seelen tausendmal tausend geworden, waren sie doch so eng miteinander verbunden und wurden auch von Gott so ganz als eine Einheit angesehen, dass mit Recht von ihnen noch als dem Hause Jakob gesprochen wird. Wie ein Mann waren sie bereit gewesen, Gosen zu verlassen; so viel ihrer waren, blieb doch kein einziger zurück. Einmütigkeit ist ein liebliches Zeichen der Gegenwart Gottes unter seinem Volk und zugleich eine ihrer köstlichsten Früchte. Zu den Übelständen, die die Israeliten in Ägypten empfanden, gehörte auch die so große Verschiedenheit der Sprache. Wörtlich heißt es: aus dem stammelnden, d. h. unverständlich redenden Volke; die Septuaginta übersetzt mit ähnlichem Sinn: aus barbarischem Volke. Die Israeliten dünkte demnach die Sprache der Ägypter ein Gestammel, ein Kauderwelsch, das sie nicht verstehen konnten, und sehr natürlich hielten sie die Ägypter für Barbaren, denn gar oft wohl bekamen sie Schläge, weil sie die ihnen erteilten Befehle nicht verstanden. Die Sprache ausländischer Fronvögte ist für das Ohr armer fern von der Heimat Verbannter nie Musik. Wie lieblich klingt dem Christen, der gezwungen gewesen ist, das unflätige Geschwätz der Gottlosen zu hören, die heimatliche Sprache, wenn er endlich aus solcher Umgebung herausgeführt wird und unter seinem eigenen Volke weilen darf!

2. Da ward Juda sein Heiligtum, Israel seine Herrschaft. Das Fürwort sein tritt ein, wo wir Gottes Namen zu vernehmen erwartet hätten. Der Dichter ist ebenso völlig mit seinen Gedanken in den HERRN vertieft, dass er es vergisst, dessen Namen anzuführen, gerade wie die Braut in dem Hohenlied, deren Liebessehnsucht in die Worte ausbricht: "Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes" (Hohelied 1,2), oder wie Maria Magdalena: "Sage mir, wo hast du ihn hingelegt?" (Joh. 20,15.) Daraus, dass hier Juda und Israel nebeneinander erwähnt sind, haben etliche Kritiker gefolgert, der Psalm müsse nach der Zertrennung des Reiches geschrieben sein; allein das ist nur ein neues Beispiel davon, auf welch schwachem Grunde die Gelehrten ihre Meinungen oft aufbauen. Schon lange vor der Bildung der beiden Reiche hatte ja David gesagt: Gehe hin, zähle Israel und Juda (2. Samuel 24,1). Das war so gebräuchliche Redeweise. Auch Uria, der Hethiter, drückte sich so aus: Die Lade und Israel und Juda bleiben in Zelten (2. Samuel 11,11), so dass aus dem Gebrauch der Namen ein Schluss nicht zu ziehen ist. An Getrenntsein der beiden Reiche kann hier nicht gedacht sein; spricht der Dichter doch von dem Auszuge aus Ägypten, da das Volk so sehr ein Ganzes war, dass er es eben zuvor das Haus Jakob genannt hatte. Man kann mit ebenso viel Recht aus dem ersten Vers folgern, dass der Psalm geschrieben worden, als das Volk noch in seiner Einheit bestand. Juda war bei der Wüstenwanderung der führende Stamm, und die Weissagung sah in ihm den königlichen Stamm; daher die auszeichnende Nennung, die ihm der Dichter hier zuteil werden lässt. Der Sinn dieses Versgliedes ist aber der, dass das ganze Volk, als es aus Ägypten gegangen war, dem HERRN abgesondert und geweiht war als Volk des Eigentums, als eine priesterliche Nation, deren Losung sein sollte: Heilig dem HERRN. Juda war des HERRN Heiligtum als das für seine heiligen Zwecke ausgesonderte Volk. Israel war auch in einzigartigem Sinn des HERRN Herrschaftsgebiet, denn es bildete eine Theokratie, einen Gottesstaat, wo Jehovah allein König war. Es war sein Gebiet in einem Sinn, wonach die ganze übrige Welt außerhalb seines Königreichs lag. Das waren die lieblichen Jahre, da Israel jung war, die Zeit seines Brautstandes, da es dem HERRN folgte in der Wüste und Jehovah vor ihm herging mit Zeichen und Wundern. Da war das ganze Volk der Gottheit Altar, das ganze Lager ein großer Tempel des Höchsten. Welch ein Wechsel muss das für die Gottesfürchtigen in Israel gewesen sein, als sie so von den Abgöttereien und lästerlichen Gräueln der Ägypter in den heiligen Dienst und unter die gerechte Herrschaft des erhabenen Königs versetzt wurden. Sie lebten in einer Welt der Wunder, wo sie Gott ebenso schauten in dem Wunderbrot, das sie aßen, und dem Wasser aus dem Felsen, das sie tranken, wie in den feierlichen Gottesdiensten seines Heiligtums, das unter ihnen aufgerichtet war. O wenn der HERR sich offenkundig in einer Gemeinde als in ihrer Mitte gegenwärtig kundtut und seine gnadenvolle Herrschaft in willigem Gehorsam anerkannt wird, ja da ist ein goldenes Zeitalter angebrochen, und wie groß sind die Vorrechte, deren sein Volk alsdann genießt! Ach, dass es also unter uns sei!

3. Das Meer sah es und floh. Was schaute es denn? Ihn, den großen, herrlichen Gott, und das auserwählte Volk, seiner Führung folgend; und von Beben ergriffen floh es hinweg. Ein kühnes Bild! Im Schilfmeer spiegelten sich die endlosen Scharen Israels ab, die an seine Ufer hinabgekommen waren, und in seinen Wogen strahlte die Wolke wider, die als das Wahrzeichen der Gegenwart Jehovahs hoch oben schwebte; nie zuvor hatte sich ein solches Schauspiel im Spiegel eines Meeres abgebildet. Solch ungewohnten, erstaunlichen Anblick vermochte das Meer nicht zu ertragen; es floh zur Rechten und Linken und erschloss damit dem auserwählten Volke einen Durchgang. Ein ganz ähnliches Wunder geschah am Schluss des langen Wüstenzuges Israels: Der Jordan wandte sich zurück. Dieser war ein rasch fließender Fluss, der sich mit starkem Gefälle durch die beispiellos tiefe Einsenkung hin zum Toten Meere ergoss; er wurde mithin nicht nur zerteilt, sondern sein Lauf wurde zurückgedrängt, so dass der noch dazu damals seine Ufer hoch überschwemmende Strom, aller Natur entgegen, bergan floss. Das war Gottes Werk. Der Dichter singt nicht von Aufhebung der Naturgesetze, auch nicht von einer einzigartigen, schwer erklärbaren Naturerscheinung; seine Seele ist davon erfüllt, wie Gottes Gegenwart unter seinem Volke sich fühlbar machte. Darum schildert er uns in diesem erhabenen Liede, wie der Strom sich zurückwandte, weil der HERR da war. Das ist hoch poetisch und doch nur ein buchstäblich getreuer Bericht der Tatsache. Von Erdichtung ist hier keine Spur, die ist vielmehr bei den ungläubigen Kritikern zu suchen, die lieber die unglaublichsten Erklärungen des Wunders versuchen, als dass sie zugeben, der HERR habe hier seinen mächtigen Arm vor den Augen seines Volkes offenbart. Die Teilung des Meeres und das Vertrocknen des Jordans sind hier zusammengestellt, wiewohl vierzig Jahre dazwischen lagen, weil sie der Eröffnungs- und der Schlussakt eines großen Schauspiels waren. So können auch wir unsere geistliche Geburt und unseren abschließenden Übergang aus dieser Welt in das verheißene Erbe im Glauben miteinander verbinden; denn derselbe Gott, der uns aus dem Ägypten der Sündenknechtschaft herausführte, wird uns auch durch den Todesjordan leiten, heraus aus der Wüste dieses versuchungs- und wechselvollen Lebens mit allen seinen Irrfahrten und Entbehrungen in die ewige Heimat. Es handelt sich bei dem Ganzen um ein und dieselbe Errettung, und der Anfang verbürgt uns das Ende.

4. Die Berge hüpften wie die Lämmer (wörtl. Luther 1524: wie die Widder, ebenso V. 6), die Hügel wie die jungen Schafe. Als der HERR auf den Sinai herabfuhr, bewegten sich die Berge, sei es, dass sie ob der Gegenwart ihres Schöpfers vor Freuden hüpften wie die jungen Lämmer, sei es, dass sie entsetzt auffuhren ob der schrecklichen Majestät Jehovahs und davonflohen gleich einer in Angst versetzten Herde Schafe. Den Menschen flößen die Berge Ehrfurcht, ja wohl Grauen ein; die Berge aber zittern vor dem HERRN. Leichten Fußes bewegen sich die Schafe und Lämmer auf den Wiesen; die Berge aber, die wir ewig nennen in ihrer starren Unbeweglichkeit, wurden in so lebhafte Bewegung versetzt, als gehörten sie zu den behendesten Geschöpfen. Die Widder sind bei ihren Kraftproben, die Lämmer bei ihrem Spiel nicht in größerer Erregung, als die granitenen Hügel es waren, da Jehovah nahte. Nichts ist unerschütterlich, außer Gott selbst: die Berge werden weichen und die Hügel hinfallen, aber sein Gnadenbund bleibt fest auf immer und ewig. Ebenso müssen auch Berge von Sünde und Not sich wegbewegen, wenn der HERR kommt, um sein Volk ins ewige Kanaan zu geleiten. Darum wollen wir uns nimmer fürchten, vielmehr spreche unser Glaube zu jedwedem Berge: "Hebe dich von hinnen und wirf dich ins Meer", so wird es geschehen.

5. Was war dir, du Meer? Erschrakest du so? Verließ dich deine Kraft? Entsank dir das Herz? Was war dir, du Meer, dass du flohest? Du warst ja von alters her der Nachbar des mächtigen Pharaonenreiches, und doch fürchtetest du seine Heere nicht. Und nie hatten die Stürme, so mächtig sie brausten, dich also bezwungen, dass du dich vor ihnen zerteilt hättest. Aber als des HERRN Pfad deine großen Wasser kreuzte, da wurdest du von Entsetzen ergriffen und wandtest dich zur Flucht! Und du Jordan, dass du dich zurückwandtest? Was ist dir geschehen, du sonst so mächtig abwärts drängender Strom? Deine Quellen sind doch nicht versiegt, auch hat sich doch kein Abgrund vor dir aufgetan, dich zu verschlingen! Das Herannahen Israels mit seinem Gott genügte, dass du deinen Lauf rückwärts wandtest. Und was ist all unseren Feinden, dass sie fliehen, wenn der HERR als Heerführer unserer Reihen sich kundtut? Was ist der Hölle selbst, dass sie so ganz in Verwirrung gerät, wenn Jesus wider sie sein Banner entfaltet? Angst und Zittern befällt sie, vor ihm wird auch das stärkste Herz feige, sinkt der Gewaltigste zu Boden als ein Toter.

6. Ihr Berge, dass ihr hüpftet wie die Lämmer, ihr Hügel wie die jungen Schafe? Was kam euch an, dass ihr in solche Bewegung gerietet? Es gibt darauf nur eine Antwort: Die Majestät Gottes ergriff euch also mächtig. Billig mag das durch Gottes Gnade erneuerte Gemüt die menschliche Natur strafen ob ihrer seltsamen Gefühllosigkeit, wenn selbst Meer und Fluss, Berge und Hügel die Gegenwart Gottes so erschütternd empfinden. Der Mensch, der mit Geist und Herz begabt ist, kann kalt bleiben bei dem, was die leblose Natur in Wehen versetzt! Gott ist uns wahrlich nähergekommen, als jemals dem Sinai oder dem Jordan, denn er hat unsere Natur angenommen; dennoch wendet sich die große Menge nicht von ihren Sünden, noch lässt sie sich bewegen, den Pfad des Gehorsams einzuschlagen.
  In dem Grundtexte stehen die Fragen V. 5 und V. 6 in der Zeitform der Gegenwart: "Was ist dir, du Meer, dass du fliehst usw.?" So lebhaft vergegenwärtigt sich der Dichter das einst Geschehene. Und ebenso ist es mit dem folgenden Vers, der dem Sinne nach die Antwort auf jene Frage enthält.

7. Vor dem Angesichte des Herrn (des Herrschers) erbebe, du Erde, vor dem Angesichte des Gottes Jakobs. (Grundtext) Sehr passend ruft der Psalmist die ganze Natur auf, in heiligem Beben zu erschauern, weil ihr Herrscher in ihrer Mitte ist. Solches Zittern erfasste sie damals, und immer wieder (darum die Zeitform der Gegenwart) muss die Schöpfung in solche Bewegung geraten, wenn Gottes Nähe sich ihr in besonderer Weise zu erfahren gibt. Und auch der Gläubige wird, wenn ihn das Bewusstsein durchdringt, dass Gott gegenwärtig ist, dem HERRN dienen mit Furcht und sich freuen mit Zittern. Die heilige Ehrfurcht vor Gott wird durch den Glauben nicht ausgetrieben, sondern wird durch ihn vielmehr vertieft. Die höchste Ehrerbietung wird dem HERRN da, wo man ihn am meisten liebt.

8. Der den Fels wandelte (oder, vergl. zu V. 5 f. und V. 7, Grundtext: wandelt) in Wassersee, indem er einen See sich an seinem Fuße bilden ließ, so dass die Wüste zum Teich wurde. So reichlich war der Vorrat an Wasser, das aus dem Felsen floss, dass sich ein ganzes Becken davon füllte. Und die Steine (Kieselgestein) in Wasserbrunnen, in Quellen, die fröhlich sprudelten und das ganze Volk mit ihrem köstlichen Wasser labten. Siehe, was Gott zu tun vermag! Es schien rein unmöglich, dass der kieselharte Fels sich in einen Quell verwandeln könnte; aber er spricht, und es geschieht. Nicht nur bewegen sich Berge, sondern auch Felsen lassen Ströme fließen, wenn der Gott Israels es also befiehlt. "Preiset mit mir den HERRN, und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen" (Ps. 34,4), denn er ist es, er allein, der solche Wunder tut. Er stillt unsere irdischen Bedürfnisse oft aus Quellen der undenkbarsten Art und lässt den Strom seiner Freigebigkeit niemals versiegen. Unsere geistlichen Bedürfnisse aber finden ihre volle Befriedigung durch das Wasser und Blut, das sich aus dem zerspaltenen Felsen, Christus Jesus, ergoss; darum lasst uns den HERRN, unseren Gott, erheben.
  Unsere Befreiung von dem Joch der Sünde ist in dem Auszug Israels aus Ägypten trefflich vorgebildet, desgleichen der Sieg unseres Herrn und Heilandes über die Macht des Todes und der Hölle. Dieser Auszug sollte darum von uns Christen stets lebhaft im Andenken behalten werden. Und redete Mose nicht auf dem Berge der Verklärung mit unserem Herrn von jenem andern Exodus, dem Ausgang, welchen er bald erfüllen sollte zu Jerusalem? (Lk. 9,31) Und steht nicht von den Scharen am gläsernen Meer geschrieben: Sie sangen das Lied Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes? (Off. 15,3) Warten wir selber nicht auf ein abermaliges Kommen des HERRN, da vor seinem Angesicht Himmel und Erde fliehen werden und das Meer nicht mehr sein wird? (Off. 20,11; 21,1) So vereinigen wir uns denn mit den um den Passahtisch versammelten Sängern und machen ihr Hallel (vergl. zu Ps. 113 S. 546) zu dem unsern; denn auch wir sind aus dem Diensthause herausgeführt und werden wie eine Herde Schafe geleitet durch die Wüste, da der HERR all unseren Mangel stillt mit Himmelsmanna und Wasser aus dem ewigen Felsen. Hallelujah!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Als ich diesen schönen Psalm in freier Weise in unsere Sprache zu übertragen versuchte, also den Zug Israels ans Ägypten schilderte und dabei die glorreiche Gegenwart des Höchsten unter dem auserwählten Volke zum Ausdruck bringen wollte, fiel mir eine Schönheit an dem Liede auf, die mir ganz neu war, und die ich unbewusst eben im Begriff gewesen war zu verwischen. Der Dichter verhüllt nämlich zu Anfang des Psalms ganz die Gegenwart Gottes und umgeht es
V. 2 zu dem Zweck sogar, den Namen Gottes zu nennen, indem er das Fürwort "sein" setzt, ohne dass das Hauptwort, auf das es zurückweisen sollte, vorhergeht. Ebenso fehlt V. 3 das Objekt: Das Meer sah, - wozu doch, vergl. Ps. 77,17, Ihn zu ergänzen wäre. Diese Eigentümlichkeit gehört gerade zu den hervorragenden dichterischen Schönheiten des Psalms. Sie findet ihre Erklärung darin, dass der Aufbau des Psalms stufenmäßig zu der verwunderten Frage V. 5 f. aufsteigt, die bei weitem nicht so ergreifend wirken würde, wenn Gottes Gegenwart, die ja die Antwort auf die Frage bildet, schon vorher geschildert worden wäre. Erst jetzt tritt in dem erhabenen Bilde, das der Dichter entwirft, mit einer überaus glücklichen Gedankenwendung V. 7 Gott auf einmal in seiner vollen Majestät hervor. - Nach Isaak Watts 1712.
  Die Weltmacht stand in den Zeiten bald nach der Rückkehr aus dem Exil der Gemeinde Gottes noch immer entgegen wie ein tobendes Meer, ein überflutender Strom, ein hoher Berg, ein kahler, keine Erquickung bietender Felsen. Diejenigen, welche bei diesem Anblicke verzweifelten, führt der (nach des Verfassers Meinung nachexilische) Sänger aus der Gegenwart in die Vergangenheit, wo die Erde sich vor dem Gotte Israels demütigen musste, das Meer und der über alle seine Ufer gehende Jordan vor ihm zurückwichen, der Sinai in seinen Grundfesten erbebte, der kahle Felsen Wasser spenden musste, im Vorbilde desjenigen, was sich durch alle Jahrhunderte wiederholt, und was namentlich jetzt, wo die Verhältnisse denen Israels nach seinem Auszuge aus Ägypten so ähnlich waren, der Glaube wieder ausleben sieht. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.


V. 1. Das Haus Jakob. So wird auch die neutestamentliche Gemeinde des Herrn, wiewohl sie aus vielen, in aller Welt zerstreuten Gliedern und Stämmen besteht, ein Haus genannt (1. Tim. 3,15; Hebr. 3,6; 1. Petr. 2,5), und zwar, weil es nur einen Glauben, einen Gott, einen Vater, einen Herrn, eine Taufe gibt. Augustin Marlorat † 1562.
  Die beiden Eigenschaften des Barbarischen und des Fremdsprachlichen sind nach der Anschauung der Alten und unserer Volkskreise eng miteinander verknüpft. Auch das hier im Grundtext gebrauchte Wort enthält beides. Prof. Friedr. Bäthgen 1892.
  Auch nach der innerlichen Seite war die Sprache Ägyptens eine fremde, so dass Israel zwiefach dort unter einem fremden Volke wohnte und sich deswegen in Ägypten nicht heimisch fühlen konnte und sollte. Zephanja verheißt den Völkern reine Lippen, das sind solche, mit denen sie den Namen Jehovahs anrufen werden. Andrew A. Bonar 1859.


V. 2. Da ward Juda sein Heiligtum, sein heiliges Volk, das er zu seinem Eigentum gemacht hatte, die heilige Stätte, da er geheiligt ward, wo seine heiligen Priester ihm dienten, und wo seine Heiligungskräfte offenbar wurden, und Israel seine Herrschaft als das Volk, das er mit mächtiger Hand befreit hatte, und wo sein Gesetz, sein Königszepter regierte und die Richter und Könige nur aus Gottes Gnaden und in Unterordnung unter seine Befehle ihr Amt ausüben sollten. Dieser Vers kann auch zur Beleuchtung der ersten Bitten des Unservaters dienen: Geheiliget werde dein Name, dein Reich komme. Juda war Gottes Heiligtum, wo Gottes Name geheiligt wurde, und Israel war seine Herrschaft als Mittel zum Aufbau seines Reiches, auf dessen Vollendung das Sehnen der echten Israeliten gerichtet war. Prüfe sich ein jeder von uns, ob er als aus dem Ägypten der Sünde errettet Gottes Heiligtum und Herrschaftsgebiet ist. John Boys † 1625.
  Das erlöste Volk heißt Juda, inwiefern es Gott zu seinem Heiligen ($deq) machte, indem er in dessen Mitte sein Heiligtum ($dIfq:mi 2. Mose 15,17) aufrichtete, denn Jerusalem (el-kuds, die Heilige Stadt) war benjaminitisch-judäisch und galt seit David geradezu als judäisch. Inwiefern er aber dieses Volk zu seinem Reich machte, indem er sich zu dem durch ein geoffenbartes Gesetz eigentümlich verfassten als seinem Eigentumsvolke in Königsverhältnis stellte
(5. Mose 33,5), heißt es Israel. Das Zeitwort ist in weiblicher Form (sie ward, hebr.), weil Völker mit Stadt und Land zusammen im Hebräischen weiblich vorgestellt werden, vergl. Jer. 8,5. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 3. Der Jordan wandte sich zurück. Nun war der herrliche Tag angebrochen, wo Jehovah durch ein erstaunliches Wunder kundwerden lassen wollte, wie leicht es ihm war, jedes Hindernis seinem Volk aus dem Wege zu räumen und alles, was sich ihm feindlich entgegenstellte, zu besiegen. Drei Tage zuvor war der große Zug des Volkes (es waren ihrer insgesamt wohl an die zweieinhalb oder drei Millionen) an den Jordan gekommen und wartete nun in Marschordnung auf das Zeichen, den Fluss zu überschreiten. Zu jeder Zeit wäre der Übergang einer solchen Menge, mit Weibern und Kindern, Herden und Geräte ein großes Unternehmen gewesen. Jetzt aber war das Jordanbett mit wild tobenden Gewässern angefüllt, die auch das breitere Flutbett weithin überströmten, und drüben harrten gewiss die Kanaaniter schon auf den Augenblick, wo sie hervorstürzen könnten, um den Eindringlingen den Garaus zu machen, ehe sie das Ufer beträten. Aber diese Schwierigkeiten dienten nur dazu, den Eindruck des Wunders, das nun geschah, zu erhöhen. Auf Jehovahs Befehl gingen die Priester, die Bundeslade, das heilige Wahrzeichen der Gegenwart Gottes, tragend, zweitausend Ellen (fast ein Kilometer) vor dem Volke voraus, und das Volk musste diesen Abstand genau einhalten. So ward es klar, dass Jehovah und die Bundeslade des Schutzes des Heeres nicht bedurften, sondern er vielmehr der Beschützer wie der Führer Israels war, da die unbewaffneten Priester sich nicht fürchteten, sich von dem Heer zu trennen und sich mit der heiligen Lade angesichts der Feinde in den Fluss zu wagen. So von ferne stehend konnte der Heerzug Israels viel besser das Wunderbare, das nun eintreten sollte, beobachten und die Macht Gottes, die zu ihrem Besten wirksam wurde, bewundern. Kaum hatten nämlich die Fußsohlen der Priester den Rand des alles überschwemmenden Flusses berührt, als die schwellenden Wasser vor ihnen zurückwichen. Und nicht nur das seichtere breite Flutbett, sondern auch die tiefe Rinne des eigentlichen Stromes leerte sich von Wasser, so dass der Kiesboden trocken da lag. Das Wasser unterhalb floss schleunigst ab und verlor sich im Toten Meer, während die Gewässer, die sonst nach dem Lauf der Natur von oben her nachstürzend den Raum eingenommen haben würden, wunderbar aufgehalten wurden und sich zu einem kristallenen Haufen auftürmten. Was für ein herrlicher Ausgang der langen Pilgerfahrt Israels! Der Durchgang durch diesen tiefen, reißenden Fluss in der ungünstigsten Jahreszeit war womöglich noch offensichtlicher wunderbar als der Zug durch das Rote Meer. Hier ward keine Naturkraft als Mittel benutzt. Kein mächtiger Wind fegte die Bahn, wie es dort der Fall gewesen; hier ist auch an kein natürliches Zurückweichen der Meeresflut zu denken, worauf bei jenem Ereignis Kritiker sich etwa zu stützen versuchen, um das Wunder zu verkleinern. Auch geschah es bei Tage, an der hellen Sonne, und vermutlich unter den Augen der feindlichen Umwohner, das Gemüt der Könige der Kanaaniter und Amoriter mit Schrecken erfüllend. Philipp H. Gosse 1877.


V. 4. Was haben doch die Berge, die gleichsam die Grundfesten der Erde sind, mit den Widdern und Lämmern gemein, dass sie gleich diesen hüpfend dargestellt werden? Aber der Prophet braucht absichtlich ein solch schlichtes Bild, um dadurch den Ungelehrten gerade desto kräftiger die unglaubliche Weise einzuprägen, in der Gott bei diesen Gelegenheiten seine Macht offenbarte. Jean Calvin † 1564.


V. 5.6. Eine einzigartige Lebendigkeit und fast dramatische Kraft empfängt der Psalm durch die dichterische Anrede in V. 5.6, und die Wirkung davon wird noch bedeutend erhöht durch den Gebrauch der Zeitform der Gegenwart im Grundtext. Das zerteilte Meer, durch das Israel wie auf trockenem Lande wandelt, der reißende, aber in seinem Laufe plötzlich gehemmte Jordan, die bis auf den Grund erschütterten Granitfelsen des Sinai - das alles sieht der Dichter vor Augen und fragt voll Staunens, was das alles bedeuten solle. J. J. St. Perowne 1868.
  Dies staunende Fragen mag uns lehren, dass auch wir den Gründen der wunderbaren Dinge nachforschen sollen, die rings um uns geschehen. Christus hat von Zeichen an Sonne, Mond und Sternen geredet, die geschehen sollen. Solche Wunder können reden; sie können Antwort geben, warum sie geschehen. Ja vielmehr, solche Vorgänge reden von selber eine laute Sprache. Sie zeugen von kommenden Gerichten, von dem zukünftigen Zorn und dem Tag der Rache unseres Gottes. Solches Fragen ist drum nicht eitle Neugierde, sondern ist nötig und nützlich, damit wir auf Gottes Gerichte achten und ihnen entfliehen, indem wir uns seiner Gnade hingeben. Wolfgang Musculus † 1563.


V. 7. Bebe, du Erde. (Grundtext) Das hebräische Wort wird auch vom Kreißen des Weibes, von der Angst einer Mutter, die in den Wehen ist, gebraucht. Ging es also zu, da das Gesetz gegeben ward, was sollte werden, wenn das Gesetz gebrochen wurde? John Trapp † 1669.
  Dieser Vers ist die Antwort auf die vorhergehende Frage. Kein Wunder, dass der Sinai und alle Hügel umher bei der majestätischen Offenbarung der Gegenwart Gottes also in Bewegung gerieten; muss doch die ganze Erde bis in ihre Grundfesten erbeben, wenn Jehovah naht. Thomas Fenton 1732.


V. 8. Der Dichter stellt es bildlich dar, als wäre der Fels selbst in einen Wasserteich verwandelt worden. Die Worte sind nicht zu pressen, sondern als ein feiner dichterischer Zug anzusehen, mit dem der Sänger die wunderbare, bei diesem Anlass entfaltete Gottesmacht vor Augen malt. William Walford 1837.
  Der auffallende Felsblock, den die Überlieferung als denjenigen bezeichnet, welchen Mose geschlagen habe, wäre seiner Lage nach jedenfalls trefflich passend. Auch finden wir bei den Reisenden der letzten Zeit mehr Geneigtheit als früher, diese Überlieferung als der Beachtung wert zu behandeln. Der Fels ist ein getrennt dastehender Granitblock, an die zwanzig Fuß im Geviert, und etwa ebenso hoch aus der Erde emporragend. An der Vorderseite des Felsens sind eine Anzahl waagerechter Spalten, in ungleicher Entfernung voneinander, einige nahe der Oberkante, andere ein wenig über dem Boden. Ein amerikanischer Reisender, Dr. Olin, erzählt, die Farbe und das ganze Aussehen des Felsen sei derart, dass wohl niemand, wenn er diesen Block an einer anderen Stelle sehen würde, also auch abgesehen von allen Traditionen, daran zweifeln würde, dass einst Wasser aus jenen Spalten geflossen sein müsse. Durch Menschenhand können diese Risse nicht wohl gebildet sein, und ebenso schwer ist zu denken, dass eine natürliche Quelle in der Höhe von etwa zwölf Fuß aus einem einzeln stehenden Felsblock entsprungen sein sollte. Da nun aber meiner Meinung nach das Wasser von Mose aus einem eben zu diesen Bergen gehörenden Felsen gebracht worden sein muss, finde ich es gar nicht unglaublich, dass dieser Felsblock der betreffende ist, und dass die Spalten und andern Anzeichen als augenscheinliche Beweise der Tatsache anzusehen seien. John Kitto † 1854.
  Die gleiche allmächtige Kraft, die das Wasser des Roten Meeres für Israel zu Mauern machte zur Rechten und zur Linken (2. Mose 14,22), wandelte den Felsen in einen Wassersee, in eine sprudelnde Quelle, an der Israel seinen Durst löschen konnte. So ward das Volk des HERRN sowohl beschützt als auch versorgt, und zwar durch eitel Wunder. Und dieser Fels war Christus, 1. Kor. 10,4. Er ist die Quelle lebendigen Wassers für sein Israel, daraus es Gnade um Gnade nimmt. Matthew Henry † 1714.
  Die beiden Wasserspendungsgeschichten 2. Mose 17,6 und 4. Mose 20,11 sind es, auf welche der Dichter zurückweist. Aber warum gerade auf diese? Aus Felsgestein Wasser hervorspringen zu lassen ist ein Tatbeweis der unbeschränkten Allmacht und der den Tod in Leben umschaffenden Gnade. Möge denn die Erde vor dem Herrn, dem Gotte Jakobs, zittern. Vor Jahve hat die Erde gezittert, und vor ihm möge sie zittern. Denn der er gewesen, ist er noch immer, und wie er vormals gekommen, kommt er wieder. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


Homiletische Winke

V. 1.2. Die Zeit der ersten (grundlegenden) Befreiung von der Sünde eine Zeit, die durch besonders mächtige Erfahrung der Gegenwart Gottes ausgezeichnet ist.
  Der HERR war seinem Volke 1) Retter, 2) Priester (sein Heiligtum), 3) König (seine Herrschaft).
V. 1.7. Das Haus Jakob und der Gott Jakobs; die Beziehung zwischen beiden.
V. 2. Die Gemeinde des HERRN der Tempel der Heiligkeit und das Herrschaftsgebiet des Gehorsams.
V. 3. Die Unbußfertigkeit der Sünder, beschämt durch die unbeseelte Schöpfung.
  Der zurückweichende Jordan ein Bild der Überwindung des Todes.
V. 4. Die Beweglichkeit des scheinbar Unbeweglichsten ein Bild von Gottes Macht, auch in ganz der Erstarrung verfallenen Gemütern, in uralt verfestigten Systemen und in mit Vorurteilen erfüllten Leuten der höchsten Stände eine sie bis ins Innerste bewegende Erschütterung hervorzubringen.
V. 7.8. Heilige Scheu. 1) Sie sollte in uns erweckt werden durch die Erkenntnis der Gegenwart Gottes. 2) Sie sollte vermehrt werden durch den Gedanken an Gottes Bundestreue ("vor dem Gott Jakobs"). 3) Sie sollte ihren Gipfel erreichen, wenn wir die herrlichen Erweisungen seiner Gnade gegen sein Volk wahrnehmen. 4) Sie sollte alle Welt ergreifen.
V. 8. Wunder, die dem an dem Felsen geschehenen ähnlich sind: 1) Christi Tod die Quelle des Lebens. 2) Beschwerlichkeiten aller Art ein Mittel zu wahrem Wohlergehen. 3) Harte Herzen, aus denen Gottes Geist Bußtränen fließen macht. 4) Geistliche Unfruchtbarkeit, verwandelt in überfließende Fülle.