Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 117 (Auslegung & Kommentar)


Inhalt

Dieser Psalm, so klein den Worten nach, ist doch an Geist außerordentlich umfassend; denn er durchbricht alle Schranken der Nationalität und Menschenrassen und fordert die ganze Menschheit auf, den Namen des HERRN zu preisen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er als ein kurzes, fast für jeden Anlass passendes Lied sehr häufig gebraucht, namentlich auch, wenn nur kurze Zeit zur Andacht blieb. Vielleicht sang man ihn auch etwa zum Anfang oder am Schluss anderer Psalmen, wie wir jetzt (besonders in England) die bekannte Doxologie "Ehre sei dem Vater usw." gebrauchen. Der Psalm hätte jedenfalls zur Eröffnung wie zum Schluss der Gottesdienste trefflich gepasst. Er ist so kurz und lieblich. Der gleiche Gottesgeist, der sich im 119. Psalm so ausführlich verbreitet, drängt hier seine Ansprüche in zwei kurze Verse zusammen; dennoch ist die gleiche unerschöpfliche Fülle vorhanden und wahrnehmbar. Es mag auch wert sein zu vermerken, dass dieser Psalm das kürzeste Kapitel und zugleich das mittelste Stück der ganzen Bibel ist.


Auslegung

1. Lobet den HERRN, alle Heiden;
preiset ihn, alle Völker!
2. Denn seine Gnade und Wahrheit
waltet über uns in Ewigkeit.Hallelujah!


1. Lobet den HERRN, alle Heiden. Diese Aufforderung an die Völker alle, Jehovah zu preisen, ist ein klarer Beweis, dass der Geist des Alten Testaments weit unterschieden ist von der engen und verdrehten, nur das eigne Volk schätzenden fanatischen Frömmigkeit, an der die Juden zu Jesu Zeiten so hartnäckig krank waren. Es konnte von den Völkern unmöglich erwartet werden, dass sie in das Lob Jehovahs mit einstimmten, es sei denn, dass sie auch an den Wohltaten teilhatten, deren Israel sich erfreute. Daher war dieser Psalm für Israel ein Wink, dass die Gnade und Wahrheit Gottes nicht auf ein Volk beschränkt bleiben, sondern sich in glücklicheren künftigen Tagen auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen sollte, wie schon Mose geweissagt hatte, da er sprach: Jauchzet, ihr Heiden, sein Volk. (5. Mose 32,43 nach Stier u. a., während Paulus Röm. 15,10 nach der Septuaginta die Worte also wiedergibt: Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk.) Die Heiden sollten sein Volk sein, wie er denn auch durch Hosea spricht: Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Liebe, die nicht die Liebe war. (Röm. 9,25, vergl. 1. Petr. 2,10) Wir wissen und glauben, dass nicht ein einziger Zweig der Menschheit der Vertretung ermangeln wird bei dem allgemeinen Lobgesang, der einst zu dem HERRN aller emporsteigen wird. Schon sind einzelne aus allen Heiden und Völkern und Sprachen durch die Predigt des Evangeliums gesammelt, und diese stimmen recht von Herzen mit ein in das Lob der Gnade, die sie gesucht und zu der Erkenntnis des Heilands gebracht hat. Sie aber sind nur die Vorhut einer Schar, die niemand zählen kann, die in kurzem herankommen wird, um dem Allherrlichen ihre Anbetung darzubringen. Preiset ihn, alle Völker. Habt ihr es einmal getan, so tut es wieder, und tut es noch inbrünstiger, Tag für Tag zunehmend an der Ehrerbietung und dem Eifer, womit ihr den Höchsten erhebt. Preiset ihn nicht nur als Nationen durch eure Herrscher und Führer, sondern auch als Volksmasse. Die Menge des gemeinen Volks soll noch einmal den HERRN preisen. Durch die Wiederholung wird die Gewissheit der Tatsache bekräftigt. Die heidnischen Völker müssen und werden Jehovah erhöhen, sie alle, ohne Ausnahme. Wir beten unter dem Evangelium keinen neuen Gott an, sondern der Gott Abrahams ist unser Gott immer und ewiglich; aller Welt Gott soll er genannt werden (Jes. 54,5).

2. Denn machtvoll waltet seine Gnade über uns. (Wörtl.) Damit ist nicht nur seine große Huld gegen Israel gemeint, sondern gegen das ganze Geschlecht der Menschen.1 Der HERR ist gütig gegen uns als seine Geschöpfe und barmherzig gegen uns als Sünder; beides fasst sich in dem Wort Gnade zusammen. Diese Gnade hat sich als sehr groß oder mächtig erzeigt. Ja, die machtvolle Gnade Gottes hat sich so übermächtig erwiesen wie die Wasser der großen Flut, die die ganze Erde überwältigten; alle Schranken durchbrechend strömt die Gnade zu allen Abteilungen des mannigfaltigen Geschlechtes der Menschen. Ja Christo Jesu hat Gott sein Erbarmen und seine Huld im höchsten Grad erwiesen. Wir alle dürfen in dies dankbare Bekenntnis einstimmen und in den Lobpreis, der ihm deshalb gebührt. Und die Wahrheit (oder Treue) des HERRN währet ewig. (Grundtext) Er hat seine Bundesverheißung gehalten, dass in dem Samen Abrahams alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden sollten, und in Ewigkeit wird er jede einzelne in diesem Bunde enthaltene Verheißung allen denen halten, die auf ihn ihr Vertrauen setzen. Das sollte eine Ursache beständigen dankerfüllten Lobpreises sein, weshalb der Psalm mit Hallelujah schließt, wie er begonnen.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Dieser den Worten nach kürzeste, aber seinem messianischen Inhalte nach wichtige Psalm enthält den lyrischen Ausdruck des Bewusstseins der alttestamentlichen Gemeinde, 1) dass sie der Gegenstand a) einer besonderen und b) einer ewig währenden Fürsorge Jehovahs ist, 2) dass Ersteres von seiner Gnade und Letzteres von seiner Wahrheit abzuleiten ist; 3) dass aber eben deshalb (nicht Israel, sondern) Jehovah der würdige Gegenstand des Preises für alle Völker ist. Die Bestimmung aller Völker zur Anbetung des Gottes der geschichtlichen Offenbarung durch Vermittlung dessen, was er an und in Israel tut: das ist der Gedanke, den der Apostel Paulus (Röm. 15,11) aus den hier niedergelegten Keimen entwickelt. K. B. Moll 1884.
  Der 117. Psalm ist ein Meisterstück des Heiligen Geistes, mit so wenig Worten so viel zu sagen, aber auch ein Muster, wie etwas den Worten nach so leicht und so bekannt sein kann, das der Sache und Kraft nach so wenig verstanden wird. Dies Psälmlein wird ein jedes Judenkind auswendig gekonnt haben, und da es zur Erfüllung gekommen ist, ist es so schwer eingegangen. Welchen Rumor hat dieser kleine Psalm in der Welt angerichtet, bis es unter allen Völkern vom Toben wider den HERRN und seinen Gesalbten zum fröhlichen Loben gekommen ist! Karl H. Rieger † 1791.
  Der Aufruf an alle Völker ohne Unterschied, alle Nationen ohne Ausnahme begründet sich aus der Macht der Gnade Jahves, welche über Israel sich gewaltig erweist, d. h. durch ihre Intensität und Fülle menschliche Sünde und Schwachheit überreichlich deckend (vergl. Ps. 103,11; Röm. 5,20; 1. Tim. 1,14), und aus dessen Wahrheit, vermöge welcher die Geschichte bis in die Ewigkeit hinein in Bewährung seiner Verheißungen aufgeht. Gnade und Wahrheit sind die zwei göttlichen Mächte, welche sich in Israel einst vollkommen enthüllen und entfalten und von Israel aus die Welt erobern sollen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Wie reich erweist sich der Inhalt bei genauerer Erwägung! Fünf Hauptpunkte der Lehre seien herausgehoben: 1) Die Berufung der Heiden. 2) Die Summe des Evangeliums, nämlich die Offenbarung der Gnade und Wahrheit. 3) Das Ziel solch großer Segnung: die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. 4) Die Beschäftigung der Untertanen des großen Königs: das Lob und die Verherrlichung Jehovahs. 5) Ihr Vorrecht: ewiges Leben und ewige Glückseligkeit. H. Moller 1639.
  Dieser Psalm ist der kürzeste, der zweitnächste der längste. Es gibt Zeiten für kurze und für lange Lieder, Gebete, Predigten. Es ist besser, man sei in diesen Stücken zu kurz als zu lang; denn der Fehler kann leichter verbessert werden. George Rogers 1878.


V. 1. Alle Völker. Jedes Volk hat von Gott eine besondere Gabe bekommen, die anderen nicht verliehen ist und für die es Gott preisen sollte. Wie dies von den natürlichen Gaben gilt, so auch auf dem Gebiet der Gnade. Th. Le Blanc † 1669.


V. 2. Denn seine Gnade ist mächtig über uns (Grundtext, wie Ps. 103,11), sie ist nicht nur groß an Menge ihrer Erweisungen, sondern sie ist stark, sie waltet machtvoll, denn sie gewinnt den Sieg über Sünde, Satan, Tod und Hölle. Adam Clarke † 1832.
  Hier wie in verschiedenen andern Psalmen werden Gottes Gnade und Wahrheit miteinander verbunden. In allem, was Gott an seinem Volke tut, erweist sich nicht nur seine Gnade - so köstlich diese ist - sondern auch seine Wahrheit oder Treue. Die Segnungen fließen ihnen zu auf dem Grunde der Verheißung, durch die Bundestreue Gottes. Wie erquickend für die Seele, wenn so jede Gnade für sie ein Geschenk ist, vom Himmel ihr gesandt in Kraft einer Verheißung. Abraham Wright 1661.
  Schon im Alten Testament haben wir mehr als ein Beispiel, dass solche, die außerhalb des auserwählten Volkes standen, anerkannten, dass Gottes Gnade gegen Israel für sie eine Segensquelle sei. Solcher Art waren wohl, wenigstens in gewissem Grade, die Gefühle eines Hiram und der Königin von Reicharabien; solches die Erfahrung Naemans und der Kern der Bekenntnisse eines Nebukadnezar und Darius. Sie nahmen wahr, wie Jehovahs Gnade sich an seinen Knechten vom Hause Israel erwies, und priesen ihn darum. Joseph Fr. Thrupp 1860.
  O was hat die Gnade und Wahrheit Gottes schon besiegt und unter ihr sanftes Joch und Regiment gebracht, und wieviel fröhliches Lob Gottes ist schon daraus veranlasst, wieviel freundliche Aufnahme dieser Gnadengenossen untereinander dadurch gefördert worden. O dass bald alles vollends weggeräumt würde, was dies Regiment der Gnade und Wahrheit Gottes noch aufhält, und es unter allen Völkern und Heiden so aussähe, dass der Glaube fröhlich rühmte: Seine Gnade und Wahrheit waltet, die Liebe um alle das Band schlänge und sagte: über uns, die Hoffnung das Siegel darauf drückte: in Ewigkeit! Indessen freue sich, wer kann, der Barmherzigkeit, die andern widerfährt, und danke der Gnade, Treue und Wahrheit, die ihn selbst auch hält und trägt. Karl H. Rieger † 1791.


Homiletische Winke

V. 1.2. Das allumfassende Reich. Alle haben 1) den gleichen Gott, 2) den gleichen Gottesdienst, 3) die gleichen Gründe zu demselben.
  Die Gemeinde des HERRN ein Psalmbuch, daraus die Heiden Gottes Lob singen lernen sollen. (Für Missionsstunden.)
V. 2. Gottes Güte gegen uns erweist sich als Gnade, denn 1) unsre Sünde erheischt das Gegenteil von Güte, 2) unsre Schwachheit erfordert große Milde, 3) unsere misstrauische Scheu kann nur durch solche Gnade überwunden werden.
  Des HERRN Wahrheit währet ewig: 1) als Eigenschaft seines Wesens, 2) in seiner unfehlbaren Offenbarung, 3) in seinem stets den Verheißungen gemäßen Handeln.

Fußnoten

1. Mit dieser den Rahmen des Psalms überschreitenden Deutung verliert Sp. die schöne Pointe des Psalms.