Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 119 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Eine Überschrift hat der Psalm 119 nicht, auch ist kein Verfasser angegeben. Der längste Psalm, dieser Name kennzeichnet ihn ausreichend. Dem Umfange nach kommt er etwa zweiundzwanzig Wallfahrtspsalmen (Liedern im höheren Chore) gleich. Und es ist nicht bloß die Länge, wodurch er die Reihe der übrigen Psalmen überragt; er zeichnet sich gleicherweise aus durch die umfassende Weite seiner Anschauungen, die unergründliche Tiefe seiner Gedanken, die Höhe seiner andächtigen Begeisterung. Er gleicht darin dem himmlischen Jerusalem, von dem es heißt: Es liegt viereckig, und die Länge und die Breite und die Höhe der Stadt sind gleich. (Off. 21,16) Dem oberflächlichen Leser mag es ja vorkommen, als ob der Psalm nur auf einen Ton gestimmt sei und diesen in endloser Wiederholen erklingen lasse, aber solche Meinung zeugt von geringer Tiefe des Verständnisses. Wer sich in diesen heiligen Gesang versenkt, wer ihn sorgsam Zeile für Zeile nicht bloß überliest, nein, durch und durch liest, der muss staunen über diesen Reichtum an Weisheit und Erkenntnis. Der heilige Sänger hat es verstanden, mit geringem Aufwande an Worten die größte Mannigfaltigkeit von Gedankenverbindungen zum Ausdruck zu bringen, und dies in einer Weise, wie es nur der vermag, der bei völliger Vertrautheit mit seinem Stoffe aus einem besonders reich gesegneten Geiste zu schöpfen hat. Niemals wiederholt er sich; denn wo derselbe Gedanke wiederzukehren scheint, da tritt er doch stets in einer neuen Verbindung in anderer Gesellschaft auf und offenbart uns eine neue, überraschende Schattierung des Sinnes. Je häufiger du in den Psalm eintauchst, desto erfrischender, erquickender wirst du ihn finden. Man sagt, dass das Wasser des Nils den Trinkenden nach jedem Trunke wohlschmeckender dünke; so erscheint uns auch dieser Psalm reicher und voller und fesselnder, je häufiger wir an ihn herantreten, um aus ihm zu schöpfen, uns in ihn zu vertiefen. Da finden sich keine überflüssigen Worte. Die Trauben dieser Rebe sind bis zum Bersten angefüllt mit dem neuen Weine aus dem Gottesreich. Blicke nur hinein, wieder und wieder, in diesen Spiegel eines dankerfüllten Herzens; je öfter du dies tust, umso mehr wirst du darin finden. Seine Oberfläche, so glatt und friedlich, wie das gläserne Meer vor dem Throne des Ewigen, birgt in der Tiefe einen Ozean von Feuer. Wer mit ehrfürchtiger Andacht hinabschaut, der sieht nicht nur den Glanz, er fühlt auch die Glut dieses heiligen Feuers. Er ist beladen mit der köstlichen Last heiliger Gedanken, und das Gewicht dieser Last gibt ihrem Umfange in nichts nach. Immer wieder fühlen wir uns beim Studium dieses Psalmes zu dem Ausrufe gedrängt: O welch eine Tiefe des Reichtums! Aber diese Tiefen liegen verborgen unter anscheinender Einfachheit, und das ist es, wie Augustinus so treffend bemerkt, was die Auslegung so schwierig macht. Das Dunkel dieses Psalms ist unter einer Hülle von Licht verborgen, und nur die vermögen hindurch zu dringen, die zu schauen gelüstet, wie die Engel, hinein bis in seine innersten Tiefen.

Alphabetische Anordnung. Je acht Vers beginnen im Grundtexte mit demselben Buchstaben, der Reihe nach vom ersten bis zum letzten der zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabetes, so dass auf diese Weise die Anzahl von 176 Versen herauskommt. Daneben finden sich noch zahlreiche Parallelismen und sonstiger formaler Schmuck, wie ihn der formfrohe Orientale liebt und wie er auch von unseren älteren Dichtern geübt und angewendet wurde. Es hat dem Heiligen Geiste gefallen, hier zu den Menschen in Formen zu reden, die die Aufmerksamkeit fesseln mussten und zugleich eine Hilfe für das Gedächtnis bildeten. Der Psalmist bevorzugt meist schlichte Eleganz im Ausdruck, aber er verschmäht auch das Auffallende und mehr Gekünstelte nicht, wenn er damit seinen Zweck, die Wahrheit dem Gemüte einzuprägen, besser erreichen kann. Die ganze Anlage des Psalms kommt namentlich auch dem Lerneifer der Jugend entgegen. Sosehr er aber in bestimmte, fest umgrenzte Formen gegossen ist, bekundet sich in ihm doch überall hohes geistliches Leben.

Verfasser. Die modernen Ausleger zeigen das Bestreben, jeden Psalm, bei dem es irgend möglich erscheint, dem David abzusprechen. Doch der theologische Standpunkt sowie Ton und Sprache der Kritiker dieser Schule sind so bedenklicher Art, dass wir in dem Gefühle des Argwohns gegen alles, was aus jenem Lager kommt, geneigt sind, das Gegenteil für richtig zu halten. So glauben wir denn auch, dass David der Dichter dieses Psalmes ist. Ton und Ausdrucksweise dünken uns davidisch, und davidische Erfahrung spricht aus zahlreichen Stellen. Unser Schullehrer nannte diesen Psalm Davids Vademecum oder Taschenbüchlein, und wir haben noch heute eine Vorliebe für die uns damals in der Jugend vorgetragene Ansicht, dass uns hier eine Art Tagebuch des Königs mit Aufzeichnungen aus den verschiedenen Epochen seines langen, ereignisreichen Lebens vorliege. Wir rufen: Das ist Davids Beute (1. Samuel 30,20), der kostbare Gewinn seiner Mühen und Kämpfe, den wir ihm von niemand streitig machen lassen. Wenn man sich viel mit einem Schriftsteller und seinen Werken beschäftigt hat, wird man schließlich mit seiner Schreibweise so vertraut, dass man dieselbe auch da wiedererkennt, wo sein Name nicht genannt ist.

Inhalt
Das Thema des ganzen Psalmes ist das Wort des HERRN. Der Psalmist beleuchtet seinen Gegenstand von den verschiedensten Seiten und behandelt ihn in mannigfacher Weise; nur in ganz vereinzelten Fällen (V. 122 und etwa V. 132) unterlässt er es, das Wort des HERRN in einem Vers unter einem der zahlreichen Namen, die ihm dafür zur Verfügung stehen, zu erwähnen, und auch wo der Name fehlt, hat der Dichter die Sache im Auge. Der dieses wunderbare Spruchlied verfasst hat, muss die heiligen Schriften, soweit sie ihm schon vorlagen, in sich aufgenommen haben, bis Geist und Seele ganz davon erfüllt waren. Gleich jenem einfachen Bauersmann, von dem A. Bonar (1859) erzählt, dass er sich dreimal durch die Heilige Schrift hindurch gedacht und gesonnen habe, so ist auch unser Sänger weit über das Lesen hinaus zum tief innerlichen Nachsinnen gelangt. Wie Luther hat David jeden Fruchtbaum in Gottes Garten geschüttelt und goldene Früchte gesammelt. Die meisten, sagt der bekannte Martin Boos († 1825) in seiner etwas derben Weise, lesen ihre Bibel wie Kühe, die im hohen Grase stehen und die schönsten Blumen und zartesten Kräuter mit den Füßen zerstampfen. Aber heißt das nicht einen jämmerlichen Gebrauch von dieser köstlichen Gabe des Geistes Gottes machen? Der HERR behüte uns davor, beim Lesen dieses herrlichen Psalmes in diese Sünde zu verfallen.
  Es findet ein offenbarer Fortschritt in der Behandlung des Stoffes statt. Sprache und Inhalt der früheren Vers lassen auf einen jugendlichen Verfasser schließen, während viele der späteren die reife Weisheit höheren Alters voraussetzen. Hier wie dort aber, in jeder Zeile, tritt uns die Frucht tiefer Erfahrung, aufmerksamster Beobachtung, frommen, andächtigen Sinnens entgegen. War David nicht der Dichter unseres Psalmes, nun, dann muss es noch einen zweiten Mann Gottes gegeben haben von genau derselben Denkweise wie jener, gleich erfahren in der Kunst des heiligen Gesanges, gleich tief eingedrungen in die heiligen Schriften, die er mit gleicher Inbrunst liebte.
  Den köstlichsten Gewinn werden wir aus diesem heiligen Liede ziehen, wenn es ihm gelingt, unsere Herzen mit der gleichen inbrünstigen Liebe zu seinem Gegenstande zu erfüllen. Damit dies geschehe, werden wir wohl daran tun, diesen Psalm auswendig zu lernen. Viele vor uns haben sich dieser Aufgabe unterzogen und ihre Mühe reichlich belohnt gefunden. Sodann sollten wir uns in die Betrachtung der reichen Fülle, der Gewissheit, Klarheit und Holdseligkeit des göttlichen Wortes vertiefen, denn gerade solche Erwägungen werden in uns warme Liebe zu dem Wort des HERRN erwecken. Wie reich begnadet sind doch die Wesen, denen der ewige Gott mit eigenen Worten, mit eigener Hand solchen Brief gesendet! Und die inbrünstigste Andacht, die reichste, formvollendetste Sprache vermöchte nicht das Lob dieser göttlichen Zeugnisse und Offenbarungen würdig kundzutun. Wenn aber überhaupt je, dann ist es in diesem 119. Psalm geschehen, den man das Selbstgespräch einer frommen Seele, gehalten vor ihrer aufgeschlagenen Bibel, nennen mag.
  Ja, dieser heilige Sang ist selbst eine Bibel im Kleinen, eine Zusammenfassung der Heiligen Schrift auf engstem Raum, eine kostbare Dosis Biblin, Extractum Bibliae, wenn es erlaubt ist, so zu sprechen, - Schriftinhalt, Schriftgedanken, ausgezogen von einem in Gedanken und Werken heiligen Herzen. Wohl denen, die diese Sprüche himmlischer Weisheit lesen und verstehen mögen. Hier finden sie in Wahrheit die in Sagen gerühmten Gärten der Hesperiden mit ihren goldenen Äpfeln; für sie wird dieser Psalm wie das ganze Buch, dessen Preis er singt, immer mehr eine Insel der Seligen, voll köstlicher Perlen, voll lieblicher Blumen werden.


Auslegung

1. Wohl denen, die ohne Tadel leben,
die im Gesetze des HERRN wandeln!
2. Wohl denen, die seine Zeugnisse halten,
die ihn von ganzem Herzen suchen!
3. Denn welche auf seinen Wegen wandeln,
die tun kein Übel.
4. Du hast geboten,
fleißig zu halten deine Befehle.
5. O dass mein Leben
deine Rechte mit ganzem Ernst hielte!
6. Wenn ich schaue allein auf deine Gebote,
so werde ich nicht zu Schanden.
7. Ich danke dir von rechtem Herzen,
dass du mich lehrest die Rechte deiner Gerechtigkeit.
8. Deine Rechte will ich halten;
verlass mich nimmermehr!

Die ersten acht Vers beginnen mit einer Betrachtung der Glückseligkeit, welche an das Halten der Gebote Gottes geknüpft ist. Die Art der Behandlung des Gegenstandes ist mehr erbaulich als belehrend. Die Gemeinschaft des Herzens mit Gott wird genossen durch Liebe zu dem Worte, welches das Mittel ist, wodurch Gott mit der Seele durch seinen Heiligen Geist in Verbindung tritt. Gebet und Lobpreisung und alles, was die Andacht fühlt und wie sie sich äußert, das schimmert zwischen diesen Zeilen hindurch, wie die Sonnenstrahlen durch einen Olivenhain. Dies spricht nicht nur zu unserem Verständnisse, sondern zu unserem Herzen, weckt in ihm heilige Gefühle und hilft uns zugleich den rechten Ausdruck dafür finden.
  Die Liebhaber des heiligen Gotteswortes sind glückselig zu preisen, weil sie vor Befleckung, Verunreinigung bewahrt werden (V. 1), weil sie auch in ihrem Tun geheiligt werden (V. 2 und V. 3), weil sie dazu geführt werden, Gott ernstlich und aufrichtig nachzufolgen (V. 2). Dieser heilige Wandel muss erstrebenswert sein, denn Gott befiehlt ihn (V. 4); darum ist dies auch das Gebet der frommen Seele (V. 5); und sie fühlt, dass ihr Trost und ihre Zuversicht von der Erhörung dieses Gebetes abhängt (V. 6). In der Gewissheit, dass diese Erhörung kommen werde, ja dass sie schon da ist, ist das Herz von Dank erfüllt (V. 7), und es steht fest in dem feierlichen Entschlusse, sich diese Glückseligkeit nicht entgehen zu lassen, wofern der HERR Gnade dazu gibt (V. 8).
  Einige Wörter kehren in diesem Abschnitt mehrfach wieder, so das Wort Weg (V. 1 Grundtext, V. 3, V. 5 Grundtext), halten (V. 2.4.5.8), wandeln (V. 1.3). Doch sagen die oft so ähnlich klingenden Sätze stets wieder Neues, wenngleich es bei oberflächlichem Durchlesen erscheinen könnte, als ob derselbe Gedanke immer wiederkehre.
  Von dem dritten Vers an geht der Dichter von den Beziehungen zwischen Gott und den Menschen im Allgemeinen zu dem eigenen persönlichen Verhältnis zum HERRN über; von Vers zu Vers tritt dies klarer hervor, bis es in den letzten Versen in gewaltiger, herzbewegender Weise zum Ausdruck kommt. Möchte doch jeder, der diesen Psalm liest, ebenso inbrünstig fühlen.

1. Wohl denen, oder glückselig die. (Vergl. zu Ps. 1,1) Der Psalmist ist so begeistert von dem Worte Gottes, dass er es als die höchste Stufe der Glückseligkeit betrachtet, ihm gleichgestaltet zu werden. Die Schönheit des vollkommenen Gesetzes (Ps. 19,8) ist ihm vor Augen getreten, und als fasste er in diesen Eingangsworten alles, was ihn bewegt, in einem kurzen Wort zusammen, ruft er aus: Glückselig ist der, dessen Leben eine mit dem Griffel der Tat gezeichnete Kopie des geoffenbarten Willens Gottes ist. Echte Frömmigkeit ist nicht kalt und trocken, sie hat ihre Ausbrüche seligen Entzückens. Wir meinen nicht bloß mit dem Verstande, dass das Befolgen von Gottes Gesetz etwas sehr Zweckmäßiges und Kluges ist, sondern unser Herz brennt in uns für seine Heiligkeit, und in anbetender Bewunderung rufen wir aus: Wohl denen, die ohne Tadel leben, glückselig sind sie. Das soll aber nichts anderes heißen, als dass wir uns danach sehnen, auch zu diesen zu gehören, dass wir keine größere Seligkeit begehren, als vollkommen heilig zu sein. Vielleicht ja bedrückte den, der so sprach, das Bewusstsein seiner eigenen Sündhaftigkeit und Unzulänglichkeit, und beneidete er die, deren Wandel reiner, unsträflicher gewesen war. Ja die Betrachtung des vollkommenen Gottesgesetzes, zu der er sich anschickte, war schon an sich völlig ausreichend, um ihn zu Klagen über seine eigene Unvollkommenheit und zu Seufzern der Sehnsucht nach dem seligen Stande eines unsträflichen Wandels zu veranlassen.
  Wahre Frömmigkeit äußert sich stets auch im Handeln. Sie gestattet uns nicht, bei der bloßen Freude an der Vollkommenheit ihrer Forderungen stehen zu bleiben, sondern erweckt in uns zugleich den Wunsch, unser tägliches Leben diesen Forderungen gemäß einzurichten. Wohl ruht ein Segen auf dem andächtigen Lesen und Hören von Gottes Wort, aber nur dann kommt dieser Segen in seiner ganzen Fülle über uns, wenn wir nun auch dem Worte gehorsam sind und in Rede und Wandel zeigen, was wir in dieser Schule gelernt haben. Die größte Glückseligkeit ist Unsträflichkeit des Wandels.
  Dieser erste Vers ist gewissermaßen eine Vorrede zum ganzen Psalm und zugleich der Text, zu dem das Übrige die Predigt bildet. Darin entspricht er dem ersten Vers von Psalm 1, der an die Spitze des ganzen Psalmbuches gestellt ist, wie denn überhaupt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Psalter und dem 119. Psalm besteht. Und haben wir nicht hier einen vordeutenden Hinweis auf den Davidssohn, der seine erhabene Predigt gleichfalls mit einer Seligpreisung anfing? Es steht auch uns wohl an, dass unser Mund beim Segnen anhebe. Steht es auch nicht in unserer Macht, den Segen zu verleihen, so können wir doch zeigen, wie man ihn erlangt. Und besitzen wir die Glückseligkeit des untadeligen Wandels selber noch nicht, so ist es doch recht und wahrhaft heilbringend, dass wir uns in die Seligpreisung vertiefen, so dass der Wunsch in unserer Seele recht lebendig werde, auch dazu zu gelangen. HERR, wenn ich auch gleich noch nicht des Segens teilhaftig geworden bin, zu denen zu gehören, die ohne Tadel leben, so will ich mir doch stets ihre Glückseligkeit vorhalten, und meines Lebens höchstes Ziel sei, ihnen gleichzukommen.
  Wie David diesen Psalm, so sollte ein Jüngling sein Leben, so sollte ein Neubekehrter sein Bekenntnis, so jeder Christ einen jeden Tag seines Lebens anfangen. Grabe sie tief in dein Herz ein, diese erste, wichtigste Forderung und Voraussetzung praktischer Lebensweisheit, dass Heiligsein und Glücklichsein dasselbe bedeuten, dass es die höchste Klugheit ist, zuerst nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit zu trachten. Ein guter Anfang ist schon das halbe Werk. Es ist von unschätzbarem Wert, wenn wir unsere Laufbahn mit der richtigen Vorstellung von dem zu erstrebenden Glücke beginnen. Mit Glückseligkeit fing das Leben der Menschheit im Stande ihrer Unschuld an, und wenn das gefallene Menschengeschlecht je wieder den Zustand der Glückseligkeit zurückerlangen soll, so kann es ihn nur da wiederfinden, wo es ihn am Anfang verloren, nämlich in der Übereinstimmung mit dem Willen und Gebote des HERRN.
  Die ohne Tadel leben, die im Wandel Unsträflichen, Unbefleckten. Sie sind auf dem rechten Wege, dem Wege des HERRN, und sie bleiben darauf, sie wandeln mit heiliger Vorsicht und Sorgsamkeit, um ja nicht davon abzukommen; täglich waschen sie ihre Füße, damit sie nicht befleckt erfunden werden. Sie sind schon hier glückselig, sie genießen einen Vorgeschmack der himmlischen Seligkeit, die gewiss zum großen Teil in dem Bewusstsein der eigenen völligen Reinheit und Unbeflecktheit liegt. Ja, vermöchten sie durchaus fleckenlos, in völliger Reinheit bis zu Ende dahinzuwandeln, so hätten sie schon jetzt den Himmel hier auf Erden. Das Böse, das Übel, das von außen her an uns dringt, könnte uns wenig anhaben, wenn wir von dem Übel der Sünde gänzlich frei geworden wären. Aber das ist ein Ziel, das auch für den Besten von uns nur im Bereich des Wünschens liegt und noch von keinem erreicht worden ist, wenn schon wir eine so klare Vorstellung davon haben, dass wir es als gleichbedeutend mit Seligkeit überhaupt erkennen. Und darum trachten wir aus allen Kräften, dahin zu gelangen.
  Wessen Leben im Sinne des Evangeliums unbefleckt ist, der ist ein gesegneter Mann, denn er hätte niemals diesen Zustand erreichen können, wenn ihm nicht schon die reichsten Segnungen wären zuteil geworden. Der natürliche Mensch ist befleckt, abgewichen vom Wege; wir müssen darum in dem Blut gewaschen worden sein, das rein macht von aller Sünde, und wir müssen bekehrt worden sein durch die Kraft des Heiligen Geistes, sonst würden unsere Füße nicht auf den Weg des Friedens gerichtet sein. Aber das ist nicht genug, denn es bedarf dann noch fort und fort der Macht der Gnade, um den Gläubigen auf dem rechten Wege zu halten und ihn vor neuer Befleckung zu bewahren. Alle Segnungen des Bundes müssen sich gewissermaßen über denen ausgegossen haben, die dahin gelangt sind, von einem Tage zum anderen in der Heiligung voranzuschreiten. Durch ihren Wandel beweisen sie sich als die Gesegneten des HERRN.
  Der Psalmist spricht hier von einem hohen Grad von Glückseligkeit; denn manche sind auf dem rechten Wege, tun aber noch nur zu oft falsche Tritte und verunreinigen sich mit allerlei Flecken. Andere, deren Wandel mehr im Lichte ist, die engere Gemeinschaft mit Gott pflegen, können sich von der Welt unbefleckt erhalten, und diese genießen weit größeren Frieden der Seele, weit höhere Freuden, als ihre minder wachsamen Brüder. Sicher ist es, je heiliger unsere Heiligkeit, desto seliger unsere Seligkeit. Wir sind nicht nur wiedergeboren in Christo, sondern wir sollen auch in ihm weiterleben. Es ist schmerzlich, dass wir seinen heiligen Weg mit unserer Selbstsucht, unserer Selbstüberhebung, unserer Eigenwilligkeit, unserem fleischlichen Sinne besudeln, und dadurch eines großen Teiles der Seligkeit verlustig gehen, die in ihm als unserem Wege liegt. Der Gläubige, der je und dann vom Wege abirrt, mag darum doch noch selig werden, aber er erfährt nicht die ganze Freude, deren der Erlöste schon hienieden teilhaftig werden kann; er wird wie ein Brand aus dem Feuer gerissen, aber nicht reich gemacht; er erfährt große Geduld, aber nicht große Glückseligkeit.
  Wie leicht kann es doch geschehen, dass wir uns selbst in heiligen Dingen verunreinigen und beflecken, sogar wenn wir schon auf dem Wege sind. Es kann wohl sein, dass wir diese Verunreinigung erhielten, als wir in der Kirche oder Bibelstunde oder in unserem Kämmerlein vor Gott auf den Knien lagen. Die Stiftshütte hatte keinen anderen Fußboden als den Sand der Wüste; darum waren die Priester vor dem Altar genötigt, sich häufig ihre Füße zu waschen, und Gott hatte in seiner Güte dafür gesorgt, dass ein Becken (Handfass, L. 2. Mose 30,18) dafür bereit stehe. So steht unser Herr Jesus Christus für uns bereit, uns unsere Füße zu waschen, damit wir ganz rein werden. Wie glücklich waren die Apostel, als der Herr zu ihnen sagen konnte: Ihr seid rein. (Joh. 15,3.)
  Welche Seligkeit wartet derer, die dem Lamme nachfolgen, wohin es geht, die bewahrt werden vor dem Übel, das durch die Lust in die Welt gekommen ist. Sie werden an jenem Tage der Gegenstand des Neides für alle Welt sein. Und wenn man sie auch heute verachtet als finstere Eiferer und Mucker, so werden doch die Sünder, auch die vom Glück begünstigten, dann wünschen, mit ihnen tauschen zu können. O meine Seele, suche deine Seligkeit, dein Glück allein in der Nachfolge des Herrn, des heiligen, unschuldigen, unbefleckten Lammes; da hast du bisher deinen Frieden gefunden, und da wirst du ihn ewig finden.
  Die im Gesetze des HERRN wandeln, deren ganzes Leben von dieser Heiligkeit durchdrungen ist, deren ganzer Wandel, ihr Tun und Lassen, unter dem Gehorsam des Gesetzes Gottes steht. Sie essen oder trinken, oder was sie sonst tun, alles tun sie in dem Namen ihres großen Meisters und Vorbildes. Für sie ist die Religion nicht etwas nur Gelegentliches, sondern das Alltäglichste; sie beherrscht nicht nur ihre Andachtsstunden, sondern auch ihre allergewöhnlichsten Handlungen und Verrichtungen. Das gibt sichere Anwartschaft auf Glückseligkeit. Wer auf Gottes Wegen wandelt, wandelt in Gottes Gesellschaft; und der muss glückselig sein. Gottes Antlitz leuchtet ihm freundlich, Gott stärkt ihn, Gott tröstet ihn, wie könnte er anders als glückselig sein!
  Das heilige Leben ist ein Wandern, ein stetiges Voranschreiten, kein Wechsel von gewaltsamen Anläufen mit zwischenliegendem Stillstande. Henoch führte ein göttliches Leben, er wandelte mit Gott. Die Frommen trachten stets danach, noch frommer, noch besser zu werden, darum schreiten sie immer voran. Sie sind nie träge, darum legen sie sich nicht gemächlich nieder oder halten sich müßig auf, sondern wandern weiter dem ersehnten Ziele zu, ohne Säumen, aber auch ohne ängstliches Hasten und Jagen, in gleichmäßigem Schritt immer vorwärts, aufwärts, himmelan. Keine Unsicherheit, kein Zweifel über die einzuschlagende Richtung beunruhigt sie, sie sind glücklich in dem Bewusstsein, auf bestimmt vorgezeichnetem Wege zu wandern. Das Gesetz des HERRN ist ihnen keine Last, seine Verbote dünken sie nicht Sklavenketten, seine Gebote nicht unerfüllbare Forderungen, bewundernswert an sich, aber dennoch unsinnig, weil praktisch unausführbar. Nein, sie wandeln danach, sie leben darin. Sie ziehen das Wort des HERRN nicht nur gelegentlich zu Rate, um ab und zu einmal wieder Richtung zu gewinnen, sondern es ist ihnen, was dem Seemann die Karte, die er keinen Tag missen kann. Und nie empfinden sie Reue darüber, dass sie sich auf den Pfad des Gehorsams begeben haben; sonst würden sie ihn doch wieder verlassen, es bieten sich ihnen ja tausend Gelegenheiten zur Umkehr. Ihr fortgesetzter Wandel im Gesetz des HERRN ist das beste Zeugnis für den seligen Stand derer, die ein solches Leben erwählt haben. Ja, sie sind schon jetzt selig. Der Psalmist selbst bezeugt dies von sich, er hat es versucht und erfahren, und er spricht davon als von einer Tatsache, die allen Widerspruch zu Schanden macht. Hier steht es an der Spitze von Davids Magnum opus2, als erste Zeile seines größten Psalms: Wohl denen, die im Gesetze des HERRN wandeln! Rauh mag der Weg sein, streng die Regel, hart die Zucht, wohl, das wissen wir, und mehr als das; aber eine reiche Fülle von Segnungen liegt dennoch im göttlichen Leben, wofür wir den HERRN anbetend preisen.
  Der Glückseligkeit, die uns in diesem ersten Vers vor Augen gestellt wird, müssen wir nachtrachten, wir dürfen aber nicht hoffen, sie ohne ernstliche Anstrengungen zu erreichen. David hat gar viel darüber zu sagen, die Predigt dieses Psalmes ist lang und ernst. Dies mag ein Wink für uns sein, dass der Weg des völligen Gehorsams nicht an einem Tage gelernt wird; da gilt es, sich eine Zeile, eine Regel nach der anderen anzueignen, und nach langen Mühen und Anstrengungen, gleichsam hindurch durch die 176 Vers dieses längsten aller Psalmen, gelangen wir am Ende doch nur dahin, wie der Psalmist am Schlusse auszurufen: Ich bin wie ein verirrt und verloren Schaf, suche deinen Knecht, denn ich vergesse deiner Gebote nicht (V. 176). Immer aber müssen wir so stehen, wie es in dem Liede heißt: Mir ist nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun. Gottes Wort, das Zeugnis von ihm, ist der Leitstern für diese Predigt von der Glückseligkeit, und nur bei täglicher Gemeinschaft mit dem HERRN durch sein Wort können wir hoffen, jenen Weg zu lernen, rein zu werden von aller Unreinigkeit, zu wandeln in seinen Geboten. Wir traten an diese Auslegung heran mit der Aussicht auf besonderen Segen, wir erkennen den Weg, der dahin führt, wir wissen auch, wo das Gesetz desselben zu finden ist. Lasset uns den HERRN bitten, dass wir im weiteren Verlaufe unserer Betrachtung wachsen in der Gewöhnung an den Wandel im Gehorsam, und so selbst der Glückseligkeit teilhaftig werden, von der in dem Psalm geschrieben steht.

2. Wohl denen, die seine Zeugnisse halten. Wie? Noch ein Glückselig? Ja, doppelt glückselig sind die, deren äußeres Leben getragen wird von dem Eifer um Gottes Ehre, der ihr Inneres erfüllt. Im ersten Vers war die Rede von einem fleckenlosen Wandel, unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass solche Reinheit des Lebens nicht etwas bloß Äußerliches sein könne, sondern dass Gottes Gnade unsere Herzen mit seiner Wahrheit und seinem Leben erfüllen müsse. Nun wird dies ganz bestimmt ausgesprochen. Glückseligkeit wird denen zugesprochen, die die Zeugnisse des HERRN bewahren. Darin liegt natürlich, dass sie in der Schrift forschen, zu geistlichem Verständnis derselben hindurchdringen, sie lieb gewinnen, und dann nicht müde werden, sie im Leben praktisch anzuwenden. Erst müssen wir doch eine Sache ergriffen haben, ehe wir sie festhalten können, und wenn wir sie recht festhalten wollen, müssen wir einen festen Griff tun; wir können nicht im Herzen bewahren, was wir nicht warm ins Herz geschlossen haben. Gottes Wort ist sein Zeugnis, seine Offenbarung der erhabenen Wahrheiten, die ihn selbst und unser Verhältnis zu ihm betreffen. Unser Wünschen muss dahin gehen, diese Wahrheiten kennen zu lernen; und wenn wir sie erkannt haben, so müssen wir sie glauben; und wenn wir sie glauben, so müssen wir sie lieben; und wenn wir sie lieben, dann müssen wir sie festhalten und sie uns von niemand entreißen lassen. Es gibt verschiedene Arten, das Wort Gottes zu halten; ein Festhalten der biblischen Wahrheit in der Erkenntnis, da wir bereit sind, lieber den Tod zu erleiden, als sie fahren zu lassen, und ein Festhalten der Wahrheit in Betätigung derselben, indem wir unser ganzes Leben unter ihre Herrschaft stellen. Die geoffenbarte Wahrheit ist der köstlichste Edelstein und muss im Gedächtnis und im Herzen bewahrt werden, wie Kleinode in einer Schatzkammer, wie das Gesetz bewahrt wurde in der Bundeslade. Aber das genügt nicht. Das Wort Gottes ist da für den täglichen Gebrauch. In diesem Sinne müssen wir uns daran halten, ihm folgen, wie man einem Wege folgt, an einer eingeschlagenen Richtung festhält. Wenn wir Gottes Zeugnisse so bewahren, so werden sie uns auch bewahren in rechter Lehre, in Zufriedenheit des Geistes, in Heiligkeit des Wandels, in Freudigkeit der Hoffnung. Und sind sie überhaupt je des Besitzes wert gewesen, dann sind sie es auch heute noch, dann sind sie es immer. Sie vermögen ihr Ziel nicht an uns zu erreichen, wenn wir sie bloß zeitweilig ergreifen, sondern nur, wenn wir sie beharrlich festhalten: wer sie hält, der hat großen Lohn (Ps. 19,12).
  Wir haben die Pflicht, das Wort Gottes mit aller Sorgfalt zu halten und zu bewahren, denn es sind seine Zeugnisse. Er hat sie uns gegeben, aber noch sind sie sein eigen, und wir haben sie zu wahren, wie ein Wächter seines Herrn Haus bewahrt, wie ein Haushalter seines Herrn Gut verwaltet, wie ein Hirte seines Herrn Herde behütet. Wir werden Rechenschaft abzulegen haben, denn das Evangelium ist uns anvertraut, und wehe uns, wenn wir untreu erfunden werden. Wir können nicht den guten Kampf kämpfen, wir können nicht den Lauf vollenden, wenn wir nicht Glauben halten (2. Tim. 4,7). Dazu muss uns der HERR bewahren; nur wer aus Gottes Macht zur Seligkeit bewahrt wird, wird überhaupt imstande sein, seine Zeugnisse zu bewahren. Welche Glückseligkeit wird uns doch gewährleistet durch ein treues, gläubiges Festhalten an Gottes Wort, einen willigen und dauernden Gehorsam gegen dasselbe. Solches hat der HERR gesegnet, solches segnet er noch heute und wird er segnen in Ewigkeit. Diese Glückseligkeit, die David bei anderen sah, hat er auch für sich selber gewonnen, denn in Vers 168 sagt er: Ich halte deine Befehle und deine Zeugnisse, und in Vers 54 bringt er seine Jubellieder in Verbindung mit diesem Halten von Gottes Gesetz.
  Die ihn von ganzem Herzen suchen. Die des HERRN Zeugnisse halten, die suchen ganz sicher auch ihn selbst. Wenn schon sein Wort köstlich ist, so ist gewiss er selbst noch viel köstlicher. Persönlicher Umgang mit einem persönlichen Gott ist die Sehnsucht aller derer, die alle Kräfte des göttlichen Wortes haben auf sich wirken lassen. Haben wir erst die Kraft des Evangeliums erkannt, dann können wir nicht anders, wir müssen den Gott des Evangeliums suchen. Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seinem Stuhl kommen möchte (Hiob 23,3), rufen wir dann aus der Tiefe unseres Herzens. Achten wir auf den Fortschritt in diesen Gedanken. Erst das Wandeln auf dem Wege des göttlichen Gebotes, dann das Erfassen und Halten der köstlichen Wahrheit, und schließlich das köstlichste von allem, das Suchen der Gemeinschaft mit dem HERRN selbst. Wir sehen auch, dass, je weiter eine Seele in der Gnade fortgeschritten ist, auf umso Geistlicheres und Göttlicheres ist ihr Sehnen gerichtet. Der äußerlich fromme Wandel befriedigt die dankerfüllte Seele nicht, auch nicht der Besitz der Zeugnisse; sie streckt sich aus, den HERRN selbst zu ergreifen, und wenn sie erst etwas von ihm erfasst hat, so sehnt sie sich nach mehr.
  Gott suchen heißt das Verlangen nach immer innigerem Umgang mit ihm, ihm immer eifriger nachfolgen, immer völliger eins werden mit seinem Sinn und seinem Willen, seinen Ruhm und seine Ehre immer weiter ausbreiten, kurz, eben alles das sich zu Eigen machen, was er für ein frommes Herz sein kann. Der so gesegnet ist, der hat Gott schon, und darum sucht er ihn. Das ist scheinbar ein Widerspruch, aber die Erfahrung löst das Rätsel.
  Ein kühles Forschen des Verstandes ist noch kein wahrhaftes Suchen Gottes, mit dem Herzen müssen wir ihn suchen. Der Liebe offenbart sich die Liebe; Gott enthüllt sein Herz dem Herzen der Seinen. Umsonst würden wir ihn mit dem Verstande zu begreifen suchen, wir müssen ihn mit der Liebe ergreifen. Und nur ein ganzes Herz, nicht eines, in das sich noch viele andere Dinge teilen, kann den HERRN suchen. Gott selbst ist Einer, und wir werden ihn nie erkennen, solange unser Herz nicht selbst eins und ungeteilt ist. Ein zerbrochenes Herz braucht über sein Zerbrochensein nicht zu trauern, denn kein Herz ist so ganz und ungeteilt im Suchen nach Gott als nur ein solches zerbrochenes, da jedes Stück sich sehnt und seufzt nach dem Angesicht des Vaters. Nur gegen das geteilte Herz wendet sich unsere Stelle. Die Schrift hat eine sonderbare Ausdrucksweise. Ein Herz kann geteilt sein, ohne zerbrochen zu sein, zerbrochen, ohne geteilt zu sein; wiederum kann es zerbrochen und doch heil sein, ja, es kann nie heil sein, ehe es zerbrochen war. Wenn unser ganzes Herz den heiligen Gott in Christo Jesu sucht, so ist es zu ihm gekommen, von dem geschrieben steht: Alle, die ihn anrührten, wurden gesund. (Mk. 6,56.)
  Was der Psalmist hier im 2. Vers preist, dessen rühmt er sich in Vers 10: Ich suche dich von ganzem Herzen. Gut ist es, wenn die Anerkennung einer Tugend uns dahin führt, sie uns selbst anzueignen. Wer nicht an die Glückseligkeit derer glaubt, die den HERRN suchen, wird sich kaum selbst dazu entschließen; wer aber einen anderen glückselig nennt um der Gnade willen, die er in ihm wirksam und mächtig sieht, ist auf dem Wege, diese Gnade auch für sich zu erlangen. Wenn aber schon die, die den HERRN suchen, glücklich gepriesen werden, wie soll man erst das Glück derer würdig preisen, die nun wirklich bei ihm sind und wissen, dass er der Ihre ist!

3. Denn welche auf seinen Wegen wandeln, die tun kein Übel. Im Grundtext ist die Anordnung umgekehrt, da heißt es: Ja, sie tun kein Übel, sie wandeln auf seinen Wegen. Sie tun kein Übel. Fürwahr, glückselig würden die zu preisen sein, von denen solches ohne Einschränkung und bedingungslos behauptet werden könnte; wir sind in das Reich der vollkommenen Glückseligkeit eingegangen, wenn wir die Sünde ganz los geworden sind. Die dem Gebote Gottes folgen, tun kein Übel, diese Behauptung ist ganz unanfechtbar, und wenn die ausgesprochene Bedingung befolgt würde, so gäbe es nichts Verkehrtes. Über unser Leben kann der Außenstehende sich eigentlich nur aus unseren Handlungen ein Urteil bilden; wer darin nicht von dem abweicht, was Gott und den Menschen gegenüber recht ist, der befindet sich auf dem Wege zur Vollkommenheit, von dem dürfen wir getrost behaupten, dass es mit seinem Herzen gut bestellt ist. Hier sehen wir, dass ein ungeteilt Gott hingegebenes Herz dahin führt, die Sünde zu meiden; es heißt ja: die ihn von ganzem Herzen suchen, die, ja die tun kein Übel. Wohl wissen wir, dass kein Mensch den Anspruch erheben kann, ganz ohne Sünde zu sein, aber ebenso wohl sind wir überzeugt, dass es viele gibt, die nicht mit Überlegung, bewusst, gewohnheitsmäßig Böses, Gottloses und Unrechtes tun. Die Gnade hält unseren Wandel auf der Bahn der Gerechtigkeit, wenn schon der Christ vor Gott zu beklagen hat, dass sein Herz sich mannigfache Übertretungen zu Schulden kommen lässt. Aber nach menschlichem Maßstab gemessen, so wie Menschen ihre Mitmenschen beurteilen sollen, tun die wirklich Gottesfürchtigen kein Übel; sie sind ehrbar, wahrhaftig, keusch, gerecht und sittlich vorwurfsfrei. Und darum sind sie glücklich.
  Sie wandeln auf seinen Wegen. Sie gehen nicht nur einfach auf der großen Landstraße des allgemeinen Sittengesetzes dahin, sie merken auch auf die schmalen Fußwege der einzelnen Gebote und Forderungen. Wie sie jede Tatsünde meiden, so suchen sie auch von jeder Unterlassungssünde frei zu bleiben. Und wiederum geben sie sich nicht damit zufrieden, dass, was sie tun, nicht sträflich sei, sondern ihr Bestreben ist dahin gerichtet, wirklich das Rechte zu tun, Gutes zu vollbringen. Mag der Einsiedler aus der Welt flüchten, um nichts Böses zu tun, der rechte Heilige lebt in der menschlichen Gesellschaft, um hier Gott zu dienen, indem er auf seinen Wegen wandelt. Unsere Gerechtigkeit muss also sowohl im Tun des Guten wie im Nichttun des Bösen bestehen, und das Letztere wird nicht lange standhalten, wenn wir das Erstere versäumen. Der Mensch muss sich für einen Weg entscheiden; folgen wir nicht dem Pfade, den uns Gottes Gebote vorzeichnen, so werden wir uns bald auf dem Wege der Gottlosigkeit befinden. Das Sicherste ist, in jedem Augenblick Recht zu tun, dann bleibt für das Böse gar keine Zeit übrig. Unser Vers schildert den Gottesfürchtigen, wie er wirklich ist; wohl hat er seine Fehler und Schwächen, aber er hasst das Böse, er gestattet sich keine Übertretungen, er liebt den Weg der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Heiligkeit, und es ist sein Weg, der Weg, den er eingeschlagen hat. Er behauptet nicht, vollkommen zu sein, außer in der Sehnsucht seines Herzens; und darin ist er allerdings heilig, denn er lechzt danach, von jeglicher Sünde frei zu werden, in alle Heiligkeit hineinzuwachsen.

4. Du hast geboten, fleißig zu halten deine Befehle. Wenn wir also alles getan haben, sind wir doch nur unnütze Knechte; wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren, da wir das Gebot unsres HERRN dafür haben. Gottes Ordnungen erfordern ein sorgfältiges Befolgen, ein gelegentlicher Gehorsam gilt hier nicht. Viele meinen, sie könnten Gott in ihrer eigenen nachlässigen Weise, gewissermaßen aufs Geratewohl, dienen; solchen Dienst begehrt aber der HERR nicht, davon will er nichts wissen. Sein Gebot heißt: von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften, und davon weiß eine sorglose Religion nichts. Auch eifrig soll unser Gehorsam sein, wir sollen Gottes Gebote reichlich, völlig, bis zum Rande, bis zum Überfließen erfüllen, in ihrer engsten und in ihrer weitesten Bedeutung. Wie ein rechter Kaufmann es sich angelegen sein lässt, so viele Geschäfte zu machen, wie er nur irgend kann, so sollen auch wir alles daran setzen, dem HERRN zu dienen, soviel wir nur vermögen. Und wir dürfen uns dabei auch keine Mühe verdrießen lassen, denn fleißiger Gehorsam ist rastlos und selbstverleugnend. Wer in seinem Berufe eifrig ist, steht früh auf und geht spät schlafen und versagt sich viele Bequemlichkeiten und Erholungen. Er kennt keine Müdigkeit, und wenn sie doch kommt, so arbeitet er weiter mit schmerzendem Kopfe und brennenden Augen. So sollen wir dem HERRN dienen. Ein so guter Meister verdient fleißige, sorgsame, eifrige, unermüdliche Knechte. Solch völlig treuen Dienst fordert er, er begnügt sich mit nichts Geringerem. Wie selten aber gibt es solchen Dienst, solche Knechte; und darum gehen so viele durch ihre Lässigkeit des zweifachen Segens verlustig, von dem der Psalm redet.
  Manche Menschen sind wohl voll Eifers, sind es aber in ihrem Aberglauben und in selbsterwählter Geistlichkeit (Kol. 2,23). Setzen wir doch hingegen allen Eifer daran, Gottes Gebote zu halten. Es hat keinen Zweck zu eilen, wenn man auf falschem Wege ist. Mancher schon hat alle seine Kraft an eine von vornherein verlorene Sache gewandt; je mehr er arbeitete und sich abmühte, umso größer wurden seine Verluste. Im Geschäftsleben ist so etwas schon schlimm genug, auf religiösem Gebiet aber dürfen wir es uns keinesfalls leisten. Gott hat uns nicht befohlen, Gebote aufzustellen, sondern seine Befehle zu halten. Mancher legt seinem eigenen Nacken ein Joch auf oder schmiedet Fesseln für andere. Der Kluge aber begnügt sich mit den Vorschriften der Heiligen Schrift und lässt es sich angelegen sein, diese alle bei allen Gelegenheiten, gegen alle Menschen und unter allen Umständen zu halten. Wer das nicht tut, der mag in seiner selbsterfundenen Religion berühmt werden, er hat aber Gottes Gebote nicht erfüllt und wird deshalb ihm nicht wohlgefällig sein.
  Der Psalmist hat im Anfange von anderen Menschen, in der dritten Person, geredet: Wohl denen, die seine Zeugnisse halten, die auf seinen Wegen wandeln, die tun kein Übel. Aber er wird sehr schnell persönlich. Vers 4 bildet den Übergang dazu, hier heißt es allgemein: Du hast geboten, und schon im nächsten Vers hören wir ihn dann nur noch für sich und über sich selbst reden. Wenn die Sehnsucht nach Heiligung in uns brennend geworden ist, dann begehren wir auch, an uns selbst Erfolge und Fortschritte zu spüren. Das göttliche Wort ist etwas, das ans Herz greift, und wenn wir erst einmal dahin gekommen sind, in sein Lob mit einzustimmen, so werden wir seinen Einfluss auch bald an uns selbst merken; wir kommen dahin zu bitten, dass auch wir dem darin aufgestellten Vorbilde ähnlich gestaltet werden.

5. O dass mein Leben deine Rechte mit ganzem Ernst hielte! Auch in der Wahl dessen, worum wir beten, sollen wir uns von Gottes Wort leiten lassen. Aus uns selbst vermögen wir nicht, seine Rechte so zu halten, wie er es von uns verlangt und wie wir selbst gern möchten: was bleibt uns für ein Mittel als das Gebet? Wir müssen den HERRN bitten, seine Werke in uns zu wirken, sonst werden wir nie seine Befehle ausführen können. Dieser Vers ist ein Seufzer im Bewusstsein der Schuld, denn der Psalmist fühlt, dass er Gottes Rechte nicht mit ganzem Ernst gehalten hat; sodann ist er ein Seufzer im Bewusstsein der eigenen Schwäche, ein Hilferuf zu dem, der helfen kann, ein Angstruf des Verirrten nach einem Führer; es ist aber auch eine Bitte des Glaubens aus einem Herzen, das den HERRN liebt und vertrauensvoll auf seinen gnädigen Beistand hofft.
  O dass meine Wege dahin gerichtet seien, deine Rechte (immer) zu halten, so lautet im Grundtext der Vers. Unsere Wege sind von Natur den Wegen Gottes entgegengesetzt. Gottes Gnade muss sie in eine ganz andere Richtung lenken, sonst führen sie uns hinab ins Verderben. Der HERR vermag es, unseren Sinn und Willen zu lenken, ohne das Recht der freien Selbstbestimmung dabei zu verletzen, und wenn wir ihn darum bitten, so tut er es auch; ja wenn einer diesen Vers von Herzen mitbeten kann, so ist in ihm damit schon der Anfang gemacht. Das Herz möchte gerne schon jetzt, jetzt gleich heilig, vollkommen sein; o dass mein Leben deine Rechte jetzt, heute, in diesem Augenblick hielte. Aber auch in der Zukunft sollen unsere Wege von Gott gerichtet werden, seine Gebote zu halten; die Bitte enthält auch das Verlangen nach Gottes Gnadenhilfe für alle kommenden Zeiten.
  Dieser fünfte Vers ist ein richtiges Gebet, wenn er auch nicht die äußere Form eines solchen hat. Wunsch und Sehnsucht sind ihrer Natur nach dem bittenden Flehen nahe verwandt. Die Form des Ausdrucks ist Nebensache. Solch ein "O dass doch" kann ein ebenso wohlgefälliges Gebet sein wie ein Vaterunser.
  Solche Sehnsucht wird in uns geweckt, wenn wir uns die Seligkeit eines heiligen Lebenswandels und die Lichtgestalt eines wahrhaft Gottesfürchtigen vor Augen stellen und uns in andächtiger Ehrfurcht vor Gottes Geboten beugen. Sie bedeutet eben die Anwendung dieser Wahrheiten aufs eigene Leben. O dass mein Leben usw. Es wäre zu wünschen, dass alle, die Gottes Wort hören und lesen, diesem Beispiel folgten. Wir hätten mehr Täter des Wortes, wenn wir mehr Beter hätten, mehr Seelen, die seufzen und rufen um den göttlichen Gnadenbeistand zu solchem Tun.

6. Wenn ich schaue allein auf deine Gebote, so werde ich nicht zu Schanden.3 Das Beschämtwerden hat der Psalmist kennen gelernt, und er freut sich der Aussicht, davon fernerhin befreit zu werden. Die Sünde ist das, was Scham und Schande bringt, und wenn die Sünde weggetan ist, dann ist auch alle Ursache zur Scham beseitigt. Welch eine befreiende Tat wird dies sein; denn für viele ist Schande schlimmer als der Tod. Wenn ich schaue auf alle deine Gebote (wörtl.): wenn ich diese ansehe, dann werde ich auch angesehen. Achtung vor Gott und seinen Geboten schafft Selbstachtung und Achtung bei anderen. Und jede einzelne Übertretung, jeder Fall hat im Gefolge Verzagtheit und Scham. Wenn du erröten musst, wenn du erbleichst, ist im letzten Grunde die Sünde die Ursache. Und wenn vor niemand sonst, so muss ich mich vor mir selber schämen, wenn ich Böses tue. Unsere ersten Eltern wussten nichts von Scham, bis sie die alte Schlange kennen lernten; und sie wurden dieses Gefühl nicht eher los, als bis Gott selbst in seiner Gnade ihre Schande mit dem Fell des Sühnopfers bedeckt hatte. Und auch wir haben uns stets zu schämen, solange nicht jede Sünde abgetan, alle Gerechtigkeit erfüllt ist. Wenn wir den Willen Gottes allezeit und überall vor Augen und im Herzen haben, dann können wir auch uns selbst im Spiegel des Gesetzes betrachten und brauchen vor keinem Menschen oder Teufel zu erröten, mag auch ihre Bosheit noch so geschäftig sein, uns jede einzelne unserer Versündigungen vorzuhalten.
  Viele Menschen haben unter einem übergroßen Mangel an Selbstvertrauen zu leiden. Unser Vers bietet ein Mittel dagegen. Stetes Bewusstsein unserer Pflicht verleiht uns Kühnheit; wir werden uns fürchten, Furcht zu empfinden. Keine Scham vor Menschen wird uns hindernd in den Weg treten, wenn die Furcht vor Gott unser Herz erfüllt. Wenn wir am hellen Tage und in königlichem Dienst und Auftrage auf unseres Königs Heerstraße dahinziehen, so brauchen wir keinen Menschen um Erlaubnis zu fragen. Wir würden unseren irdischen König schlecht ehren, wollten wir uns schämen, des Königs Rock zu tragen und seiner Fahne zu folgen; nie sollte solche Scham die Wangen eines Christen röten, und das wird auch nicht geschehen, wenn er die rechte Ehrfurcht vor dem HERRN, seinem Gott, hat. An einem Leben der Heiligkeit ist nichts, dessen man sich zu schämen hätte; ein Mensch mag sich seines Stolzes, seines Reichtums, seiner eigenen Kinder schämen müssen, dass er aber in allen Dingen auf die Gebote des HERRN geschaut, sie beachtet hat, das wird ihm nie Veranlassung zum Schämen geben.
  Beachten wir, dass David nur dann darauf rechnet, vor dem Zuschandenwerden sicher zu sein, wenn er allein auf Gottes Gebote schaut, oder, wie es wörtlich heißt, alle Gebote Gottes beachtet. Übersieh auch du dies Wörtlein "alle" nicht, du darfst dir keines seiner Gebote schenken. Bei einem halben oder Dreiviertel-Gehorsam haben wir stets damit zu rechnen, dass wir für das, was wir vernachlässigt haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Und wenn einer auch tausend Tugenden und Vorzüge besitzt, so kann doch ein einziger Fehltritt ihn gründlich zu Schanden werden lassen.
  Einem armen Sünder, der schon ganz an sich und allem verzweifelt, mag es unglaublich erscheinen, dass er je das Gefühl bitterer Scham loswerden könne, das ihn niederdrückt, so dass er glaubt, nie wieder seine Augen frei erheben zu können. Zeigt ihm diese Stelle: Ich werde nicht zu Schanden werden. David schreibt hier mit vollem Bewusstsein, er träumt nicht, auch schildert er nicht einen unmöglichen Fall. Glaube nur fest, lieber Christ, dass der Heilige Geist in dir das Ebenbild Gottes wiederherstellen kann, so dass du wieder furchtlos dein Haupt erheben kannst. O es ist etwas Köstliches um die Heiligung, die uns lehrt, auf des HERRN Wegen zu wandeln; denn diese verleiht uns auch das Gefühl der Sicherheit Gott und den Menschen gegenüber, so dass wir keine Schamröte mehr zu fürchten haben.

7. Ich danke dir. Es ist kein weiter Weg vom Bitten zum Danken, und gewiss wird der, der heute noch um Heiligung betet, eines Tages für Seligkeit zu danken haben. Wenn das Gefühl der Schande geschwunden ist, dann wird der bis dahin schweigende Mund geöffnet und ruft aus: Ich danke dir. Und er weiß ganz genau, wem er seinen Dank darzubringen hat. Er spricht: Ich danke dir. Denn Gott, und ihm allein, gebührt Dank und Preis. An seiner Schuld misst er Gottes Huld; sein Schmerz, die Schmach seiner Sünde zeigt ihm, was er dem HERRN verdankt, der ihn aus dem elendesten zu einem glücklichen Menschen gemacht und ihn erst die rechte Lebenskunst gelehrt hat.
  Von rechtem Herzen. Das Herz wird recht, wird in Ordnung sein, wenn der HERR es lehrt, und dann wird dies Herz seinen Lehrer preisen. Es gibt auch ein falsches, heuchlerisches Preisen, und das ist dem HERRN ein Gräuel; aber nichts ist wohllautender als die Lobgesänge aus einem reinen Herzen, das in Gottes Gerechtigkeit steht. Ein rechtes Herz wird nie den Dank gegen Gott vergessen, denn die dankende Anbetung ist ein Teil seiner Gerechtigkeit. Kein Mensch ist rechtschaffen, wenn er es nicht vor Gott ist, und dazu gehört auch, dass er Gott den schuldigen Dank bezahle.
  Dass du mich lehrest die Rechte deiner Gerechtigkeit. Wenn wir etwas Rechtes lernen sollen, so muss der HERR selbst unser Lehrer sein, besonders aber, wenn es sich um etwas so Tiefes, schwer zu Ergründendes handelt wie die göttliche Gerechtigkeit und ihre Entscheidungen und Rechtssprüche. Wenn mir diese vor Augen gestellt werden, wenn ich einen Blick dahinein tun darf, wird mein Herz zum Lobe und Preise Gottes angeregt. Ich will dein Schüler, ich will dein Sänger sein; mein aufrichtiges Herz soll deine Gerechtigkeit lobpreisen, mein geläutertes Urteil deine Urteile bewundern. Die göttliche Vorsehung ist ein Buch voller Weisheit, und für die Gottesfürchtigen, die rechten Herzens sind, ist sie ein Liederbuch voll herrlicher Weisen zum Lobe Jehovahs. Gottes Wort zeigt uns auf jeder Seite Beispiele seiner guten und rechten Führungen; müssen wir darüber nicht in heiliger Freude erschauern, in lautes Loben und Danken ausbrechen? Wenn uns Gottes Gerechtigkeit kund wird und wir uns daran erfreuen, so ist das für uns ein doppelter Anlass zum Lobsingen, einem Singen, in dem nichts Gezwungenes, nichts Unwahres, nichts Mattes und Laues zu finden ist, denn es kommt aus einem aufrichtigen Herzen.

8. Deine Rechte will ich halten. Ein ruhiger, besonnener Entschluss. Wenn die laute Begeisterung des Lobens und Preisens sich zu stillen, aber gediegenen Entschlüssen besänftigt, dann steht es wohl. Ein Eifer, der nicht über das Lobsingen hinauskommt, der es zu keinem ernstlichen Wollen und Tun bringt, hat wenig Wert. Zu dem "Ich danke dir, ich lobsinge dir" gehört durchaus das: Ich will halten. Solch ein fester Entschluss ist noch lange keine Selbstüberhebung wie des Petrus rasches Wort: "Wenn ich mit dir sterben müsste, will ich dich nicht verleugnen"; folgt doch sofort ein demütiges Gebet um Gottes Hilfe: Verlass mich nimmermehr (oder: nicht gar). Der Psalmist fühlt sein gänzliches Unvermögen, er zittert bei dem Gedanken, auf sich und seine Kraft angewiesen zu sein, denn das kann nur zu Rückfällen in das alte Sündenleben führen. In Verbindung mit diesem Hilferuf aus der Tiefe bekommt sein Gelübde "Ich will deine Rechte halten" einen ganz anderen Klang. Solche Entschlossenheit und solche Empfindung der Abhängigkeit von Gottes Gnadenbeistand geben miteinander verschmolzen das beste Glockenmetall von reinstem Tone. Wir finden in unseren Gemeinden manchmal Leute, die wohl recht demütig beten, aber nicht mit frischen Entschlüssen, mit kräftigem Wollen und Handeln aus dem Gebetskämmerlein heraus ins Leben treten; daneben gibt es aber noch viel mehr Menschen mit den besten Entschlüssen, dem festesten Wollen, die aber von der Notwendigkeit des göttlichen Beistandes nichts wissen. Das eine ist ebenso kläglich wie das andere. Der HERR wolle in uns das rechte Gemisch von Mut und Demut herstellen, auf dass wir seien vollkommen und ganz und keinen Mangel haben.
  Und sicherlich ist die Bitte unseres Verses ein Gebet, das Erhörung findet. Denn sollte es nicht Gott wohlgefallen,wenn jemand sich vornimmt, seinen Willen zu tun? Mit einem solchen wird er gerne sein und ihm helfen, dass er sein Vornehmen auch ausführe. Wie könnte er einen verlassen, der seine Gebote nicht verlässt?
  Die Furcht, von Gott verlassen zu werden, wirft einen dunklen Schatten auf dieses letzte Gebet. Und wohl mag eine Seele aufschreien, wenn sie sich solchem unseligen Schicksale gegenüber sieht. Eine Zeit lang sich selbst überlassen zu sein, um sich seiner eigenen Schwachheit bewusst zu werden, ist schon eine schwere Heimsuchung; aber gänzliches Verlassensein wäre gleichbedeutend mit Verderben. Schwer genug ist es schon zu ertragen, wenn der HERR sein Angesicht im Augenblicke des Zornes auch nur ein wenig vor uns verbirgt; sich völlig von ihm aufgegeben zu wissen, wäre die Hölle für alle Ewigkeit. Aber der HERR hat die Seinen noch nie ganz verlassen, und er wird sie nie verlassen, gelobt sei sein heiliger Name. Wenn wir danach begehren, seine Rechte zu halten, wird er uns halten, ja, seine Gnade wird uns festhalten auf dem Wege des Gehorsams gegen seine Gebote.
  Aus der Höhe in die Tiefe führen uns die ersten acht Verse, von dem Berge der Seligpreisungen im Anfange hinab zu dem Angstruf am Schlusse. Aber solches Hinabsteigen ist ein geistliches Wachsen; denn vom bewundernden Betrachten eines gottesfürchtigen Wandels erhebt sich die Seele zur heißen Sehnsucht nach Gott und der Gemeinschaft mit ihm und kennt nun keine andere Furcht, als dass ihr Sehnen nicht in Erfüllung gehen möchte. Der Seufzer des fünften Verses wird zu einem inbrünstigen Gebet aus der Tiefe des Herzens, das sich der Abhängigkeit von der Gnade des HERRN wohl bewusst ist. Das "Ich will" musste als Zugabe das Eingeständnis der eigenen Schwäche erhalten, sonst könnte es scheinen, dass, der so sprach, sich allzu sehr auf seinen eigenen Entschluss verließ. So bringt er seine Vorsätze als Opfer dar, erfleht aber Feuer vom Himmel, seine Opfergabe zu entzünden.


Erläuterungen und Kernworte

V. 1-8. Das achtfache ) (A): Selig, die sich nach Gottes Wort halten. Der Dichter wünscht, einer derselben zu sein.

1. All Heil denen, deren Wege unsträflich,
Die einhergehen im Gesetze Jahves!
2. All Heil denen, die seine Zeugnisse wahrnehmen,
Die mit ganzem Herzen sich sein befleißen,
3. Auch nicht verüben Ungerechtigkeit -
Auf seinen Wegen gehen sie einher.
4. Anbefohlen hast du deine Ordnungen,
Sie zu beobachten ernstlich.
5. Ach dass doch meine Wege gerichtet wären
Zu beobachten deine Satzungen!
6. Alsdann werd’ ich nicht zu Schanden werden,
Wenn ich hinblicke auf all deine Gebote.
7. Aufrichtigen Herzens will ich dir danken,
Wenn ich lerne die Rechte deiner Gerechtigkeit.
8. An deine Satzungen werd’ ich mich halten,
Mögst du mich nur nicht gar verlassen.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.

  Diese acht Vers wollen uns lehren, dass die wahre Frömmigkeit aufrichtig, folgerichtig, lebendig, herzlich, vernünftig, eifrig, tätig, unternehmend, emsig, demütig, misstrauisch gegen sich selbst, klug und ohne Falsch, unbefleckt von der Welt, selbstverleugnend, gottvertrauend, dankfreudig, willig im Gehorsam ist und stets bereit, anzuerkennen, dass sie ohne göttliche Gnade nichts vermag. Sie zeigen uns weiter, wie groß die Sünde des Unglaubens gegen Gottes Wort ist. Es ist ein Gesetz, und der Unglaube versagt ihm den Gehorsam; es ist ein Zeugnis, der Unglaube verweigert seinem Urheber den Glauben. Es gebietet gerechten Lebenswandel, er weigert sich, dem nachzukommen, es gibt Vorschriften, der Unglaube befolgt sie nicht, es stellt Gebote auf, er lehnt sich dagegen auf, es ist überreich an frommen Aussprüchen, an trefflichen Geboten, er will nichts davon wissen. Er will nicht bitten, er will nicht danken, er fühlt nicht seine Hilfsbedürftigkeit, seine Schwäche, seine Ohnmacht, er blickt nicht nach oben, zu dem Vater des Lichtes, von dem alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt. William Swan Plumer † 1880.


V. 1. Wohl denen. Glückseligkeit ist es ja, was wir alle erstreben; nur sind wir leider unwissend oder gleichgültig hinsichtlich des einzuschlagenden Weges. Deswegen will uns der heilige Psalmist vor allem klar machen, was eigentlich unter einem glückseligen Menschen zu verstehen sei. Glückselig sind die unbefleckten Wandels, die im Gesetz des HERRN wandeln. Thomas Manton † 1677.
  Wohl denen. Glücklich sein ist ein so hohes Gut, dass sowohl die Guten als die Bösen es erstreben. Und es ist nicht zu verwundern, dass die Guten um deswillen gut sind, aber das ist verwunderlich, dass die Bösen um deswillen böse sind, weil sie glücklich sein wollen. Denn jeder, der den Lüsten ergeben, in Wollust und Lastern verdorben ist, der sucht in diesem Schlechten sein Glück und hält sich für unglücklich, wenn er nicht zum Genuss und zur Freude an seinen Gelüsten gelangt. Diese Irregehenden, die eine falsche Glückseligkeit durch wirkliches Unglück zu erlangen suchen, ruft diese Gottesstimme, wenn sie sie nur hören wollten, auf den rechten Weg zurück. Aurelelius Augustinus † 430.
  Hier zeigt uns der Herr, der am Jüngsten Tage das "Wohl" und das "Wehe", das "Selig" und das "Verflucht" über alle einzelnen Menschen ausspricht, wer die Seligen, wer die Verfluchten sind. Was für einen Trost gibt es noch für die, zu denen der Herr sagen wird: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten? Wohin sollen sie gehen, wenn der Herr ihnen solches zuruft? Und welch größeres Glück kann einem Menschen widerfahren, als aus dem Munde des Weltenrichters das Wort zu vernehmen: Komm her, du Gesegneter? O möchten wir doch so weise sein, dies zu bedenken, solange es noch Zeit ist, so dass wir danach trachten, zu denen zu gehören, die Gott in seinem Worte gesegnet hat. William Cowper † 1619.
  Die ohne Tadel leben, deren Weg unsträflich ist, wie es wörtlich heißt. Wie können wir unsere Kleider unbefleckt erhalten? Wir können uns nicht selbst führen, ohne Führung straucheln wir und stolpern in jede Pfütze der Unreinheit. Aber wir haben alle Hilfe, die wir brauchen, in der Nähe. Jesus ist da, uns zu halten mit seiner Kraft. Stützen wir uns auf seinen starken Arm bei jedem Schritt, und wenn wir gefallen sind, so wollen wir wieder aufstehen und unsere Kleider in der reinigenden Flut seines Blutes waschen. So können wir immer unter der Zahl der unbefleckt Wandelnden sein, und dieser Weg, auf dem wir wandeln, sei das Gesetz des HERRN in seiner lieblichen Reinheit, in seiner herrlichen Heiligkeit, in seiner vollkommenen Liebe. Jesus ist unser Vorbild, unser Ein und Alles. Gottes Gesetz war in seinem Herzen. Henry Law 1878.
  Man spricht viel vom Wege zum Glück, man fragt: Welcher ist der rechte Weg? Die einen geben diesen, die anderen jenen an. Willst du sicher gehen, so frage nach dem alten Wege, dem Wege der Heiligkeit, den verfolge, so wirst du nicht verloren gehen. Manche möchten einen kürzeren Weg einschlagen, manche einen neuen, manche einen bequemeren, du aber wähle den heiligen Weg. John Sheffield 1660.
  Die im Gesetze des HERRN wandeln, die nicht stehen bleiben, nicht ausruhen, nicht zurückschauen, sondern immer weitergehen, vorwärts in gleichmäßigem Schritte der Vollkommenheit zu. Mart. Geier † 1681.


V. 2. Im ersten Vers wird ein Mensch als glückselig bezeichnet infolge seines Handelns, in diesem zweiten Vers infolge seines Herzenszustandes. Thomas Manton † 1677.
  Das Wort Gottes wird an dieser Stelle Gottes Zeugnisse genannt. Darunter ist die ganze Offenbarung von Gottes Willen in Lehren, Geboten, Exempeln, Drohungen und Verheißungen zu verstehen. Die ganze Schrift ist das Zeugnis, das Gott zugunsten der Welt von dem Wege zu ihrer Erlösung abgelegt hat. Da nun das Wort Gottes sich in zwei Teile verzweigt, das Gesetz und das Evangelium, so kann dieses Wort Zeugnis auch für beide angewendet werden. Das Gesetz war dem Menschen ins Herz geschrieben, aber das Evangelium ist etwas Neues, Fremdes. Der Vernunft ist das Gesetz begreiflich, sie erfasst die Dinge, die ins sittliche oder Verstandes-Gebiet gehören; aber die Wahrheiten des Evangeliums sind ihr ein Geheimnis, sie hängen einzig von dem Zeugnisse ab, das Gott von seinem Sohn abgelegt hat. Thomas Manton † 1677.
  Wohl denen, die ihn von ganzem Herzen suchen. Nicht die sich selbst weise dünken oder sich eine eigene Art von Heiligkeit ausdenken, sondern die sich dem Bunde mit Gott weihen und den Geboten seines Gesetzes Gehorsam zollen. Und weiter will er uns mit diesen Worten sagen, dass Gott durchaus nicht mit einem bloß äußerlichen Dienste zufrieden ist; er verlangt aufrichtige, ungeteilte Hingabe des ganzen Herzens. Und sicherlich, wenn Gott der einzige Richter und Herr unseres Lebens ist, so muss die Wahrheit die Hauptstelle in unseren Herzen einnehmen; es genügt nicht, bloß die Füße und Hände in seinen Dienst begeben zu haben. Jean Calvin † 1564.
  Von ganzem Herzen. Wer ganze, volle Glückseligkeit besitzen will, muss ein ganzes, ein ungeteiltes Herz besitzen, dessen Denken und Empfinden nach einer bestimmten Seite gerichtet ist. Und so viel Aufrichtigkeit da zu finden ist, so viel Glückseligkeit wird auch da sein; und wiederum, nach dem Maße unserer Unaufrichtigkeit wird sich auch unsere Unglückseligkeit bemessen. R. Greenham † 1591.
  Das Suchen Jehovahs geht hier auf die Erforschung seines Willens, der im Gesetz seinen Ausdruck gefunden hat. Prof. Friedrich Baethgen 1904.


V. 3. Die tun kein Übel. Zum Übeltun (Verüben der Ungerechtigkeit) gehört dreierlei: erstens die Absicht, es zu tun, zweitens die Freude daran, drittens das Wiederholen. Bei den Gottesfürchtigen trifft dies nie zusammen. Sie erleiden mehr die Sünde wider ihren Willen, sind unglücklich darüber, als dass sie mit Willen Sünde tun. William Cowper † 1619.
  Sie tun kein Übel, nämlich die durch die Gnade erneuert, mit Gott versöhnt sind; ihnen rechnet Gott die Sunde nicht zu, in diesem Sinne tun sie kein Übel. Merkwürdig ist in dieser Beziehung, was die Schrift von David sagt (1. Könige 14,8): Der meine Gebote hielt und wandelte mir nach von ganzem Herzen, dass er tat, was mir nur wohlgefiel. Wie kann dies richtig sein? Wir finden David auf mancherlei Abwegen, überall in der Schrift wird davon berichtet, und hier wird ein Schleier darüber gedeckt: Gott rechnet sie ihm nicht zu. Wie kommt das, dass den Gerechten ihre Versündigungen nicht angerechnet werden? Weil sie in Christo sind und in solchen keine Verdammnis ist. Ihr ganzes Sinnen und Denken ist darauf gerichtet, Gottes Willen zu tun. Der Gottlose aber sündigt mit Überlegung, mit Vorbedacht, dient den Begierden und mancherlei Wollüsten. Nicht so der Wiedergeborene. Er mag von der Sünde überrascht, übermannt werden, aber es ist gegen seinen Willen und kommt nur mehr gelegentlich vor, so wie gutes, fruchtbares Ackerland wohl einmal vom Hochwasser überschwemmt werden kann, aber Sumpfland steht immer unter Wasser. Und wenn der Fromme gesündigt hat, so bereut er, sein Gewissen straft ihn, er geht hinaus und weint bitterlich. Thomas Manton † 1677.
  Sie tun kein Übel, (sondern) wandeln auf seinen Wegen. (Wörtl.) Das Letztere straft die, die sich beim bloßen Nichttun beruhigen. Über einen Fürsten hat sein Geschichtsschreiber das Urteil abgegeben: Er war nicht eigentlich lasterhaft. Viele Menschen bringen es in ihrer Religion nie über solches Nicht hinaus: Ich bin nicht wie dieser Zöllner. Nicht bloß der ungetreue Knecht, der seine Mitknechte schlug und schwelgte und prasste, wird in die Hölle geworfen, sondern auch der träge, der zwar nichts Böses tat, aber sein Pfund im Schweißtuche vergrub. Der reiche Mann hat dem armen Lazarus und anderen Armen nichts zuleide getan. Du hast keine anderen Götter neben dem HERRN, wie du sagst; aber liebst du Gott, deinen HERRN, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte? Du fluchst nicht und missbrauchst nicht Gottes Namen, aber rufst du auch seinen Namen in allen Nöten an, lobsingst und dankst du ihm? Du entheiligst den Sabbat nicht, aber heiligst du ihn? Du verrichtest da keine grobe Arbeit, du machst vielleicht keine rauschenden Vergnügungen mit; aber verbringst du etwa den Tag des Herrn in trägem Nichtstun? Du behandelst deine Eltern nicht unfreundlich oder gar schlecht, aber ehrst du sie wirklich? Gemordet hast du noch nicht, aber hilfst du deinem Nächsten wirklich in allen Leibesnöten? Gehe alle Gebote durch, hast du sie wirklich so befolgt, wie der HERR sie befolgt haben will? Thomas Manton † 1677.
  Auf seinen Wegen, nicht auf denen seiner Feinde, aber auch nicht auf ihren eigenen, selbst erwählten. Joseph Addison Alexander † 1860.


V. 4. Du hast geboten, fleißig zu halten deine Befehle. Es sind keine Adiaphora, keine ins Belieben der Menschen gestellten Mitteldinge, gute Predigten hören, wahrhaft geistliche Schriften, Bibelerklärungen und Ähnliches lesen. Gott hat geboten, nicht so gelegentlich, nebenbei, sondern ernstlich, fleißig seine Befehle zu halten. Wir müssen stets des Wortes eingedenk sein, das 5. Mose 6,6 stellt: Diese Worte sollst du zu Herzen nehmen, oder wie es Mt. 17,5 heißt: Den sollt ihr hören, oder Joh. 5,39: Sucht in der Schrift. Vor allem sollten die jungen Theologen an die Mahnung des Apostels Paulus gedenken: Halt an mit Lesen. (1. Tim. 4,13.) Salomon Geßner † 1605.


V. 4.5. Es ist beachtenswert, dass Davids Sehnen nach völligem Gehorsam (V. 5) in der tiefen Erkenntnis der göttlichen Hoheit des Gesetzes (V. 4) begründet ist. Und in der Tat ist nur das ein rechter, wahrer Gehorsam, was im bestimmten Hinblick auf den Willen Gottes geschieht. Wie nur das ein wahrer Glaube ist, der eine Wahrheit glaubt, nicht weil sie der menschlichen Vernunft annehmbar erscheint, sondern weil sie von Gott geoffenbart ist, so ist auch nur der Gehorsam ein wirklicher, der das Gebot befolgt, nicht weil es sich mit allerlei persönlichen Rücksichten verträgt, sondern weil es den Stempel göttlicher Autorität an sich trägt. Nath. Hardy † 1670.
  Wenn wir den 4. und 5. Vers im Zusammenhang betrachten, so kann es uns nicht entgehen zu bemerken, wie sorgfältig hier die Mittelstraße eingehalten wird, gleich weit entfernt von Selbstgenügsamkeit über das Halten und von Selbstrechtfertigung wegen des Nichthaltens der Befehle des HERRN. Versuchen wir nur erst einmal, geistlichen Gehorsam zu üben, wir werden sofort unsere völlige Hilflosigkeit erkennen. Ebenso leicht vermöchten wir eine Welt aus dem Nichts hervorzubringen wie in unseren Herzen einen einzigen Pulsschlag geistlichen Lebens zu erwecken. Aber dies unser Unvermögen hebt keineswegs unsere Verpflichtung auf; denn die Schwachheit kommt daher, dass unser Herz dem Gesetz Gottes nicht untertan ist, weil es fleischlich gesinnt ist, und das ist eine Feindschaft wider Gott. (Röm. 8,7.) Unser Unvermögen ist unsere Sünde, unsere Schuld, unsere Verdammnis; statt einen Milderungsgrund zu bilden, lässt es uns verstummen vor dem Angesicht Gottes, gänzlich unfähig, etwas zu unserer Verteidigung vorzubringen. Also unsere Pflichten Gott gegenüber bleiben in unveränderter Kraft bestehen; wir sind gehalten, seine Gebote zu erfüllen, einerlei ob wir können oder nicht. Was bleibt uns dann, als dieses Gebot wieder in den Himmel zurückzusenden, begleitet von dem dringenden Gebete, dass der HERR die Befehle in unser Herz schreibe, deren Befolgung er von uns verlangt! Du hast geboten, fleißig zu halten deine Befehle. Wir wissen, wir geben zu, dass das unsere Pflicht ist, aber wir fühlen unsere Ohnmacht. Darum hilf du uns, HERR, dazu, wir schauen auf dich. O dass mein Leben deine Rechte mit ganzem Ernst hielte! Charles Bridges † 1869.
  Die Menschen sollen Gottes Gebot in Gebet verwandeln, und das tun seine Kinder auch. Gott hat geboten, dass der Mensch sich bekehre und lebe, darum bitten wir: Bekehre du mich, HERR, so werde ich bekehrt. (Jer. 31,18.) Und Augustinus betete: Da quod judes, et jube quod vis, Gib nur selbst, was du verlangst, dann magst du verlangen, was du nur willst. Thomas Manton † 1677.


V. 6. Wenn ich schaue allein auf deine Gebote, wörtlich: wenn ich schaue auf alle deine Gebote. Es gibt Menschen genug, die ein wenig Gutes tun, die aber gerade da, wo es am nötigsten wäre, darin versagen. Sie pflücken sich die leichtesten und bequemsten ihrer religiösen Pflichten heraus, solche, die ihrem Behagen und ihrem Vorteile nicht zuwider laufen. Wir werden aber nie zu einem völligen Frieden kommen, solange wir nicht alle Gebote gleicherweise beachten. Erst dann, wenn ich alle deine Gebote beachtet habe, werde ich nicht zu Schanden. Zu Schanden werden, d.h. sich schämen müssen, das kommt aus Furcht vor gerechtem, verdientem Tadel. Der höchste Richter über alle unsere Handlungen ist Gott, und es sollte unsere Hauptsorge sein, dass wir nicht vor ihm zu Schanden werden in seiner Zukunft, und nicht verworfen werden, wenn er richten wird. Aber es gibt auch noch einen Stellvertreter dieses Richters, den jedermann in seiner Brust trägt. Unser Gewissen spricht uns los oder verdammt uns, je nachdem wir wählerisch oder gewissenhaft in der Erfüllung unserer Pflichten gegen Gott gewesen sind, und darauf kommt sehr viel an. Damit uns unser Herz nicht verdamme (vergl. 1. Joh. 3,20.21), müssen wir völlig sein im Gehorsam gegen den Willen Gottes. Sonst werden wir kein Zeugnis unserer Aufrichtigkeit im Gewissen haben. Thomas Manton † 1677.
  Wenn ich schaue allein auf deine Gebote, wenn mein Auge darauf gerichtet ist, werde ich nicht zu Schanden. Wie der Wanderer sein Angesicht stracks seinem Ziele zu gerichtet hat, mag er auch noch weit entfernt davon sein; dorthin will er, und er setzt alles daran, auch dorthin zu gelangen: so ist das Herz des Frommen auf die Gebote Gottes gerichtet. Er strebt vorwärts, um dem völligen Gehorsam immer näher zu kommen, und solche Seele wird nie zu Schanden werden. William Gurnall † 1679.
  Es gibt zweierlei Scham: die Scham eines schlechten Gewissens und die Scham eines zarten Gewissens. Erstere ist die Frucht der Sünde, Letztere eine Wirkung der Gnade. Hier ist nicht des Frommen Geringschätzung seines eigenen Selbst gemeint, sondern das vernichtende Schuldbewusstsein des Sünders. Thomas Manton † 1677.
  Weshalb werde ich nicht zu Schanden, habe ich keinen Grund zum Schämen, wenn ich auf Gottes Gebot schaue? Der Psalmist will hier sagen: Die Gebote Gottes sind so rein und so vollkommen, dass du, ob du sie nun in ihrer Gesamtheit oder jedes einzeln aufs genaueste betrachtest, doch nie irgendetwas finden könntet, was dich erröten macht. Die Gesetze Lykurgs, Platos Vorschriften werden hoch gerühmt; jene gestatteten den Diebstahl, diese empfahlen die Weibergemeinschaft. Aber das Gesetz des HERRN ist vollkommen und erquickt die Seele. (Ps. 19,8) Thom. Le Blanc † 1669.
  Die Verheißung knüpft sich an die Bedingung, alle Gebote zu beachten. Viele Menschen können sich wohl des einen oder anderen Gebotes ohne Beschämung erinnern. Der Rechtschaffene fühlt sich nicht durch das achte Gebot betroffen, der sittlich Reine nicht durch das siebente, der gute Sohn hat ein freies Gewissen beim Lesen des fünften. So werden die meisten Menschen einzelnen der Gebote gegenüberstehen. Aber allen in ihrer Gesamtheit? Und doch ist dies das Ziel, das dem Gottesfürchtigen vorschwebt. In diesem Vers sehen wir den Psalmisten eine Wahrheit aussprechen, die in dem Neuen Testamente wiederholt wird: So jemand sündigt an einem, der ist es (das Gesetz) ganz schuldig. (Jak. 2,10) Fred. G. Marchant 1882.


V. 7. Wofür will der Psalmist dem HERRN danken? Weil er etwas von ihm und über ihn hat lernen dürfen. Fühlen wir uns nicht zum Danke verpflichtet den gelehrten Männern, zu deren Füßen wir als Jünglinge sitzen durften, um von ihnen in das Heiligtum der Wissenschaft eingeführt zu werden? Wir haben sogar ein Lob für den, der einen Hund, ein Pferd wohl abgerichtet hat. Und nun, dass wir, die wir in den göttlichen Dingen so störrig und unwissend sind, wie es nur sein kann, dass wir den Willen Gottes erkennen und lernen dürfen, ist das nicht die größte Gnade und Huld Gottes, wofür ihm Preis und Dank gebührt? Paul Bayne † 1617.
  Der Psalmist spricht hier nicht bloß von verstandesmäßiger Erkenntnis des Wortes, sondern von einer lebendigen Erkenntnis, die zur Anwendung desselben in unserm Leben führt. "Wer es nun hört vom Vater und lernt’s, der kommt zu mir." (Joh. 6,45.) Das ist ein Lernen, dessen Erfolg nicht ausbleibt, ein Licht, das die Seele durchleuchtet und ganz neu macht, das unser Herz und unser Wollen und Tun nach Gottes Willen formt und bildet. Wir mögen Gottes Wort begreifen, wir mögen aufs genaueste mit ihm bekannt und vertraut sein, wenn wir nicht danach tun, so ist’s uns nichts nütze. Die treuesten, tüchtigsten Diener Gottes kommen nie über das Lernen hinaus, sie bleiben Schüler, die in Erkenntnis und Gehorsam der Wahrheit von Stufe zu Stufe geführt werden. So ein David. Und die ersten Bekenner der Lehre Christi wurden bezeichnenderweise Jünger oder Schüler, Lernende, genannt. (Apg. 6,2.) Thomas Manton † 1677.
  Die Rechte deiner Gerechtigkeit sind die Gottes Gerechtigkeit zum Ausdruck und Vollzuge bringenden Entscheidungen über Recht und Unrecht. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Wir sehen hier, was David das Wichtigste zu lernen dünkt, nämlich Gottes Wort und Willen. In dieser Schule möchte er immer ein Schüler sein; sein höchster Ehrgeiz ist es, hier einen Ehrenplatz zu erringen. Er möchte lernen um zu wissen, wissen um zu glauben, glauben um sich zu freuen, sich freuen um zu bewundern, bewundern um anzubeten, anbeten um danach zu handeln und weiter zu wandeln auf dem Wege von Gottes Geboten. Solches Lernen ist das rechte, wahre Lernen, und der ist da der Gelehrteste, der Gottes Wort und Lehren in gute Werke umsetzt. Rich. Greenham † 1591.


V. 8. Deine Rechte will ich halten. Dieser Vorsatz ist die natürliche Folge des Lernens von Gottes Rechten. Hierin ist uns David ein Beispiel für die unlösliche Verbindung der rechten Einfältigkeit und der göttlichen Lauterkeit (2. Kor. 1,12) im Gehorsam. Er spricht seinen Entschluss aus, alsbald aber erinnert er sich, dass die Ausführung über menschliche Kraft geht, und darum schließt er sofort das Gebet an: Verlass mich nimmermehr. Charles Bridges † 1869.
  David gibt hier persönlich ein heiliges Beispiel. Wenn der König von Israel Gottes Rechte hielt, so musste sich doch das Volk schämen, wenn es sie verletzte. Cäsar pflegte zu sagen: Fürsten dürfen nicht sprechen: Ite, sondern nur: Venite, nicht: Geht hin, ohne mich, sondern: Kommt mit mir. Wie Gideon zu den Seinen sprach: Wie ich tue, so tut ihr auch. (Richter 7,17.) R. Greenham † 1591.
  Verlass mich nicht gar. (Wörtl.) Es gibt ein doppeltes von Gott Verlassensein, ein teilweises, vorübergehendes, und ein völliges, endgültiges. Die danach trachten, Gott gehorsam zu sein, mögen wohl eine kleine Weile, bis zu einem gewissen Grade sich selbst überlassen werden; aber so viel ist uns gewiss, ein völliges, endgültiges Verlassen wird es nie werden. Stets werden wir’s erfahren dürfen: Der HERR verlässt sein Volk nicht (1. Samuel 12,22), und: Ich will dich nicht verlassen noch versäumen (Hebr. 13,5; vergl. Jes. 54,8). Elia fühlte sich von Gott verlassen, aber nicht so wie Ahab; Petrus war von Gott verlassen, eine Weile, nicht wie Judas, der ganz verlassen war und eine Beute des Teufels wurde. David wurde von Gott verlassen zu seiner Demütigung und Besserung, Saul zu seinem Verderben. Theophylakt († 1107) sagt: Gott mag wohl die Seinen verlassen, soweit selbst, dass er sein Ohr ihrem Flehen verschließt, dass der Friede und die Ruhe des Herzens dahin sind, dass alle ihre frühere Kraft geschwunden ist und sogar ihr geistliches Leben auf dem Spiele zu stehen scheint, dass die Sünde über ihnen triumphiert, dass sie schmählich zu Falle kommen, aber ein völliges, endgültiges Verlassensein ist dies doch nicht. Irgendwo, irgendwie ist Gott doch in ihrer Nähe. Ist nicht ihr banges Sehnen nach ihm, auch wenn es zur Zeit ungestillt bleibt, ein Zeichen seines Naheseins? Solange noch einer nach Gott fragt, ist er nicht als aufgegeben zu betrachten. Thomas Manton † 1677.
 


Fußnoten

1. Die Auslegungen der Psalmen, Enarrationes in psalmos, bilden eine der umfangreichsten Schriften Augustins; in der bis jetzt noch gangbarsten Ausgabe seiner Werke, der Mauriner oder Benedictiner, nehmen sie den ganzen IV. Band ein. - E. R.

2. i. Großes Werk, genauer Anspielung auf Opus majus, Titel eines Werkes des berühmten englischen Gelehrten Roger Bacon, † 1294, in welchem fast das ganze Wissen der damaligen Zeit niedergelegt ist. E. R.

3. Der Ausdruck zu Schanden werden, wie er heute im Gebrauch ist, entspricht nicht dem Sinne, in welchem Luther ihn gebraucht, ebenso wenig dem Sinne des hebräischen Wortes $ObI. Der Grundbegriff im hebräischen Worte ist "Scham, Schande"; das Wort heißt hier: enttäuscht werden, dabei aber auch von anderen Spott, Tadel, Verachtung erfahren.


9. Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen?
Wenn er sich hält nach deinen Worten.
10. Ich suche dich von ganzem Herzen;
lass mich nicht abirren von deinen Geboten.
11. Ich behalte dein Wort in meinem Herzen,
auf dass ich nicht wider dich sündige.
12. Gelobet seist du, HERR!
Lehre mich deine Rechte!
13. Ich will mit meinen Lippen erzählen
alle Rechte deines Mundes.
14. Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse
wie über allerlei Reichtum.
15. Ich rede von dem, was du befohlen hast,
und schaue auf deine Wege.
16. Ich habe Lust zu deinen Rechten
und vergesse deiner Worte nicht.


9. Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? Wie soll er zu einem heiligen Wandel gelangen und wie dabei bleiben? Er ist noch jung, heißblütig und unerfahren; wie kann er da den rechten Weg finden und einhalten? Das ist doch von allen Fragen die wichtigste, und welcher Zeitpunkt wäre geeigneter, sich dieselbe zur Beantwortung vorzulegen, als gerade der Eintritt ins Leben? Und es ist keine leichte Aufgabe, vor die sich der verständige Jüngling gestellt sieht. Er möchte für sich einen reinen Weg erwählen, um sich auf demselben rein, unbefleckt, unsträflich zu erhalten; er möchte seinen Weg auch weiterhin rein erhalten, um am Ende auf einen unsträflichen Wandel blicken zu können. Ach, aber sein Weg ist schon von Anfang an unrein durch Sünden, die er bereits begangen, und seine natürliche Anlage führt ihn beständig abwärts in den Schlamm und Morast. Da ist es sehr schwer, das Richtige zu treffen, zu Anfang wie im weiteren Verlaufe, so dass das schließliche Ziel, die Vollkommenheit, erreicht werde. Für einen gereiften Mann ist das eine schwere Aufgabe; wie mag sie ein Jüngling vollbringen? Der Lebensweg des Menschen muss, damit er unsträflich, rein sei, von den dahinten liegenden Jugendsünden gereinigt werden, und er muss rein gehalten werden von den vor ihm liegenden Sünden, zu denen ihn das Leben verführen könnte. Darum handelt es sich.
  Fürwahr, keine kleine, keine leichte Aufgabe, aber eine solche, die des Ehrgeizes eines Jünglings würdig ist. Zum Höchsten, aber zum Schwersten auch beruft sie ihn. Denn gibt es eine höhere, herrlichere Aufgabe als ein reines, unbeflecktes, unsträfliches Leben? Lass dich durch nichts davon zurückschrecken, sie zu der deinigen zu machen, trachte vielmehr danach, wie du alle Hindernisse beseitigen oder überwinden mögest. Denke nicht, dass du den Weg schon finden, den Sieg leicht erringen werdest, dass es genug sei, deiner eigenen Kraft und Klugheit zu vertrauen. Folge dem Beispiel des Psalmisten, der ernstlich danach fragt, wie er seinen Weg unsträflich gehen möge. Werde du ein folgsamer Schüler des heiligen Lehrers, der allein dich unterweisen kann, wie du Welt, Fleisch und Satan überwinden magst, diese Dreiheit von Verderben, denen schon so manches hoffnungsvolle Leben zum Opfer gefallen ist. Du bist noch jung und unerfahren, du kennst den Weg nicht. Frage nicht bloß einmal, frage immer wieder; du brauchst dich nicht zu schämen, den zu fragen, der am liebsten und am besten Auskunft gibt.
  Der Weg, den wir zu gehen haben, das ist eine Frage, die uns persönlich aufs ernsteste angeht, und es ist uns viel nützlicher, über diese praktische Lebensfrage zu forschen und an der rechten Stelle Auskunft zu suchen, als allerlei geheimnisvollen Fragen nachzugrübeln, die uns vielmehr irreführen als aufklären. Viele Fragen drängen sich dem Jüngling auf, aber die erste und wichtigste sollte doch stets die sein: Wie kann ich meinen Weg unsträflich gehen? Der gesunde Verstand führt auf diese Frage, und die tägliche Erfahrung bringt sie uns immer wieder nahe. Aber der gesunde Verstand allein vermag nicht die rechte Antwort darauf zu erteilen, geschweige denn dieselbe zur Ausführung zu bringen. Dazu braucht es andere als menschliche Kraft.
  Wenn er sich hält nach deinen Worten. Deine Richtschnur, Jüngling, muss die Schrift sein, und du hast alle Sorgfalt daran zu wenden, deinen Weg ihren Weisungen gemäß zu wählen. Du musst auf dein tägliches Leben genau achtgeben, und damit du dies in der rechten Weise und erfolgreich tun kannst, musst du täglich in der Schrift forschen. Selbst bei der größten Aufmerksamkeit wird ein Mensch irregehen, wenn die Karte, nach der er sich richtet, falsche Angaben macht; aber auch mit der besten Karte wird er seinen Weg verlieren, wenn er sie nicht zu Rate zieht. Noch nie ist jemand auf den schmalen Weg durch Zufall, auf gut Glück hin, geraten, noch nie hat ein anderer als der, der ernstlich danach trachtete, einen unsträflichen Wandel geführt. Aus Gedankenlosigkeit können wir wohl sündigen, und es bedarf, um ewig verloren zu gehen, nicht mehr, als dass wir das so große uns dargebotene Heil vernachlässigen (Hebr. 2,3); aber in Gehorsam gegen Gott und seine Gebote wandeln, ohne dass man mit ganzem Herzen, mit ganzem Gemüte, mit allen Kräften dabei ist, das hat noch niemand fertiggebracht. Das bedenket wohl, ihr Sorglosen.
  Aber die Sorgfalt allein genügt nicht, das "Wort" ist ganz unentbehrlich. Ohne seine Leitung würde auch das gewissenhafteste Sinnen und Sorgen sich bald in die Finsternis unfruchtbarer, krankhafter Selbstquälerei und törichten Aberglaubens verlieren. Ob der Kapitän auch die ganze Nacht in treuer Wachsamkeit auf seinem Posten ausharrt, wenn er das Fahrwasser nicht kennt und keinen kundigen Lotsen zur Seite hat, so mag er mit aller seiner Aufmerksamkeit und Sorgsamkeit geradeswegs auf die Klippen losfahren, in den Schiffbruch hinein. Es genügt nicht, dass wir den guten Willen haben, Recht zu tun. Unsere Unwissenheit kann uns dahin führen, zu meinen, wir täten Gott einen Dienst, während wir doch ihn beleidigen und erzürnen, und die Tatsache unserer Unwissenheit ändert nichts an der Verwerflichkeit unseres Tuns, wenn sie auch als Milderungsgrund in Betracht gezogen werden kann. Lass einen Menschen die größte Sorgfalt bei dem Abmessen einer Arznei anwenden, er wird sterben, wenn er in der Meinung, einen heilkräftigen Stoff zu verwenden, aus Versehen ein tödliches Gift genommen hat. Seine Unkenntnis wird ihn nicht vor dem schlimmen Ausgang schützen. Selbstverschuldete Unwissenheit ist an sich schon sträfliche Sünde und bildet keine Entschuldigung für das Böse, das daraus entstanden ist. Jung und Alt, wer nach der Heiligkeit trachtet, muss erfüllt sein von heiliger Wachsamkeit und zugleich die Augen offen haben für die Weisungen der Heiligen Schrift. Da findet er seinen Weg genau vorgezeichnet mit allen seinen Krümmungen und Windungen, jeder Sumpf, jeder Tümpel ist angegeben mit der Furt, die hindurch, oder dem Stege, der darüber führt; hier auch findet er Licht für seine Finsternis, Erquickung, wenn er müde wird, Gesellschaft, wenn er sich einsam fühlt.
  So wird er also mit Hilfe des Wortes Gottes der Seligpreisung des ersten Verses teilhaftig werden, die zu der Frage dieses 9. Verses führte. Beachten wir, wie diese Anfangsverse der beiden Abschnitte einander entsprechen. Die Verheißung, die jener 1. Vers in sich birgt, kann nur erlangt werden, wenn sie ernstlich und auf dem vorgeschriebenen Wege erstrebt wird.

10. Ich suche dich von ganzem Herzen. Nach dem HERRN selbst verlangt sein Innerstes; er begehrt nicht bloß seine Gebote zu erfüllen, sondern er sucht die Gemeinschaft mit seiner Person. Solches ist ein edles, fürstliches Begehren und wohl wert, dass man sein ganzes Herz daran wende. Die sicherste Weise, zu einem unsträflichen Wandel zu gelangen, ist, Gott selbst von ganzem Herzen zu suchen und danach zu trachten, in steter Gemeinschaft mit ihm zu bleiben. Bis zu dem Augenblicke, da es dem Psalmisten vergönnt war, zu seinem HERRN selber zu sprechen, war er ein Suchender, ein eifrig Suchender gewesen, und wenn auch Augenblicke der Schwäche kamen, sein Suchen hat er nie aufgegeben. Ohne dieses würde er nie soviel danach gefragt haben, wie er seinen Weg unsträflich gehen könne.
  Es ist eine Freude zu sehen, wie das Herz des Psalmisten sich so bestimmt und bewusst Gott zuwendet. Im vorhergehenden Vers hatte er eine wichtige Wahrheit erwogen; hier aber empfindet er die Gegenwart seines Gottes so gewaltig, dass er zu ihm spricht, zu ihm betet, als zu dem Allnahen. Ein aufrichtiges Herz kann nicht lange ohne Gemeinschaft mit Gott leben.
  Die nun folgende Bitte beruht eben darauf, dass es seines Lebens Vorsatz ist, den HERRN zu suchen. Es ist ihm ein heißes Anliegen, dass er nie von dieser Grundrichtung abkommen möge. Durch Gehorsam folgen wir den Fußspuren Gottes nach, darum das Gebet: Lass mich nicht abirren von deinen Geboten. Denn wenn wir die Wege, die uns Gott vorgezeichnet hat, verlassen, dann werden wir auch sicherlich nicht den finden, der sie uns gewiesen hat. Je mehr ein Mensch sein ganzes Sinnen und Wollen auf Heiligung richtet, desto mehr Angst hat er auch davor, in Sünde zu fallen. Er sorgt sich nicht so sehr vor absichtlichem, mutwilligem Übertreten; viel mehr sorgt er sich, dass er aus Unachtsamkeit abirren könnte. Er verabscheut selbst einen unbewachten Blick, einen Gedanken, der über die vom Gebot gezogenen Schranken hinausschweift. Wir sollen mit solch völligem Herzen den HERRN suchen und ihm nachfolgen, dass uns weder Zeit noch Lust zum Abschweifen bleibt. Aber wenn wir es noch so treu meinen, müssen wir doch Furcht - nicht Unglauben, wohl aber Misstrauen gegen uns selbst - haben, dass wir selbst dann von dem Wege der Heiligkeit abirren könnten.
  Zwei Dinge mögen einander sehr ähnlich sein und doch grundverschieden. Gottes Kinder pilgern als Fremdlinge hienieden, wie der Psalmist V. 19 sagt: "Ich bin ein Gast auf Erden", aber sie wandern nicht ziellos umher, sondern pilgern der Heimat zu. Ja, sie sind "arme Reisende", aber echte, keine Landstreicher. Sie streifen durch Feindesland, aber auf geradem Wege, mit bestimmtem Ziel: sie suchen ihren Herrn, indem sie das fremde Land durchziehen. Mag ihre Marschroute den Menschen dieser Welt auch verborgen sein, sie gehen dennoch auf dem rechten Wege, der ihnen von ihrem Herrn vorgezeichnet ist.
  Der Gottesmann unseres Psalms setzt wohl allen seinen Eifer in Tätigkeit, aber er gründet sein Vertrauen nicht auf sich; sein Herz will nichts wissen als auf Gottes Wegen zu gehen, aber er weiß auch, dass er selbst bei Anspannung aller seiner Kräfte nicht imstande ist, auf dem rechten Wege zu bleiben, wenn sein König nicht selbst sein Wächter und Führer ist. Der das Gebot gegeben hat, muss ihm auch Beständigkeit und Treue im Gehorsam verleihen. Darum die Bitte: Lass mich nicht abirren. Aber er macht dieses Bewusstsein der Hilfsbedürftigkeit, der eigenen Unzulänglichkeit nie zu einem Entschuldigungsgrund der Trägheit; denn während er den HERRN bittet, ihn auf dem rechten Wege zu erhalten, ist er wohl darauf bedacht, diesen Weg zu wandern, indem er den HERRN sucht von ganzem Herzen.
  Auch hier ist wieder bemerkenswert, wie dieser zweite Abschnitt des Psalmes mit dem ersten gleichen Schritt hält. Im zweiten Vers wird der Mann selig gepriesen, der den HERRN von ganzem Herzen sucht, und in diesem Vers, dem zweiten des zweiten Abschnitts, erhebt der Psalmist selbst Anspruch auf diese Seligkeit, indem er erklärt: Ich suche dich von ganzem Herzen.

11. Wenn der Gottesfürchtige eine Gnade vom HERRN zu erlangen trachtet, so muss er alles daran setzen, derselben teilhaftig zu werden. So zeigt uns denn auch in diesem Vers der Psalmist, nachdem er gebeten hat, vor dem Abirren bewahrt zu bleiben, welche Vorkehrungen er getroffen hat, um nicht in die Sünde zu fallen. Ich behalte dein Wort in meinem Herzen. Sein Herz wird durch das Wort in sicherer Hut bewahrt, weil er das Wort in seinem Herzen bewahrt. Was ihm das geschriebene Wort, was ihm die Stimme Gottes in seinem Herzen geoffenbart hatte, das alles ohne Ausnahme hatte er wohl bei sich geborgen, wie man einen köstlichen Schatz in sicherer Truhe einschließt, den kostbaren Samen dem fruchtbaren Schoß der Erde anvertraut. Und welcher Boden verheißt mehr Fruchtbarkeit als ein erneuertes Herz, das ganz von dem Verlangen erfüllt ist, den HERRN zu suchen, seinen Willen zu erkennen und zu tun? Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist Gottes Wort, darum war es Gottes Knecht so teuer. Er trug nicht ein Bibelwort auf dem Herzen, als ein Amulett, das ihn gegen allerlei Übel schützen sollte, sondern er barg das Wort, das ganze Wort, in seinem Herzen, als seines Lebens Richtschnur. Da, im Mittelpunkt aller Liebe und alles Lebens, gab er ihm seinen Platz; so erfüllte es nun den ganzen Raum mit Licht und Duft. Folgen wir Davids Beispiel, in der geheimen Arbeit seines Herzens wie in seinem daraus hervorgehenden äußeren Tun und Handeln. Lassen wir es unsere erste Sorge sein, dass das, was wir glauben, auch wirklich Gottes Wort und nicht Menschenlehre sei; ist das festgestellt, dann lasst uns die Wahrheit ein jeglicher bei sich selbst, in seinem Herzen, bergen, als köstlichen Schatz bewahren, und sehen wir wohl zu, dass dieses Bewahren der reinen Lehre nicht nur eine Kraftleistung unseres Gedächtnisses sei, sondern die freudige Tat unseres Willens, der der Wahrheit sich zum Gehorsam hingibt.
  Auf dass ich nicht wider dich sündige. Das ist das vorgesteckte Ziel. Treffend hat einer hierzu bemerkt: Da haben wir das beste Ding: dein Wort, geborgen am besten Platze: in meinem Herzen, zu dem besten Zwecke: auf dass ich nicht wider dich sündige. Der Psalmist ging mit großer Sorgfalt vor, wie jemand, der ängstlich sein Geld verwahrt, wenn er Diebe befürchtet. In diesem Falle war der gefürchtete Dieb die Sünde. Wider Gott sündigen, das ist nach des Frommen Urteil das Wesen des sittlich Bösen. Andere Menschen hingegen kümmern sich nur um das, was sie gegen Menschen fehlen. Der beste Schutz gegen die Sünde wider Gott ist Gottes Wort, denn es zeigt uns seinen Willen und wirkt mit seiner Geistesmacht darauf hin, unseren Willen mit dem göttlichen Willen in Übereinstimmung zu bringen. Es gibt kein Heilmittel, das das Gift der Sünde so kräftig aus unseren Adern treiben könnte, als das Wort unseres Gottes, wenn es vom Herzen als dem Sitz des Lebens aus seine Kraft entfalten kann. Wir werden uns nie vor der Sünde hüten können, wenn wir nicht das Wort der Wahrheit in unserem Herzen hüten.
  Eine Betonung der Worte dein und dich in diesen Versen gibt Anlass zu einer Reihe schöner Gedanken. Der Dichter redet mit Gott, er liebt das Wort, weil es sein Wort ist, er hasst die Sünde, weil sie Sünde wider ihn ist. Wenn er andere ärgert, so geht ihm das nicht so nahe, solange er damit nicht seinen Gott beleidigt. Wenn wir Gott nicht erzürnen wollen, so müssen wir sein eigenes Wort in unserem Herzen behalten.
  Beachtung verdient auch die persönliche Weise, in welcher der Mann Gottes dies tut. "Ich suche dich von ganzem Herzen". Was immer andere zu tun erwählen mögen, er hat bereits seine Wahl getroffen; er hat das Wort ins tiefste Innere aufgenommen, da wohnt es als die Freude seines Herzens. Mögen andere Gottes Vorschriften übertreten, sein Ziel ist die Heiligung: "Auf dass ich nicht wider dich sündige." Und dies soll nicht etwa einen erst für die Zukunft gefassten Vorsatz ausdrücken, sondern ist schon längst die Richtschnur für sein Handeln gewesen. Viele Menschen sind groß im Versprechen; der Psalmist aber hat schon seine Zuverlässigkeit im Handeln bewiesen, darum darf er sicher auf Erfolg hoffen. Wenn das Wort im Herzen sicher geborgen ist, wird auch das Leben vor der Sünde sicher geborgen sein.
  Auch in dem dritten Vers jedes der beiden Abschnitte, in Vers 3 und Vers 11, tritt die Übereinstimmung der Gedanken zutage. Während in V. 3 von denen die Rede ist, die kein Übel tun, spricht unser 11. Vers davon, wie man zum Nichtsündigen kommen könne. Haben wir uns das Bild eines in seiner Heiligkeit glückseligen Menschen vergegenwärtigt, wie dies in V. 3 geschehen, nun, dann müssen wir doch auch etwas daran setzen, gleichfalls solchen Stand heiliger Unschuld und göttlicher Glückseligkeit zu erlangen; das kann aber nur geschehen durch wahre Herzensfrömmigkeit, die sich auf das Wort gründet.

12. Gelobet seist du, HERR. In diesen Worten verleiht der Sänger der anbetenden Bewunderung der Heiligkeit Gottes, seines HERRN, Ausdruck, einer Heiligkeit, der er in aller Demut nachzueifern bestrebt ist. Er lobt Gott für alles, was dieser ihm geoffenbart und in ihm gewirkt hat; er preist ihn mit der ganzen Wärme ehrfürchtiger Liebe und bewundernder Anbetung.
  Sobald nur das Wort ins Herz gedrungen ist, stellt sich auch das Begehren ein, dasselbe zu erfassen, es sich zu eigen zu machen. Wenn der Leib Speise zu sich genommen hat, muss die Speise verdaut, in Lebenskraft verwandelt werden; wenn die Seele das Wort aufgenommen hat, ist das Nächste das Gebet: HERR, lehre du mich seinen Inhalt, seinen Sinn verstehen. Lehre mich deine Rechte, denn nur so lerne ich den Weg kennen, der zur Seligkeit führt. Du selbst, HERR, bist so voll Seligkeit, dass du sicherlich nur Freude daran haben kannst, auch andere selig zu sehen, und ich flehe dich um die Gnade an, unterwiesen zu werden in deinen Geboten, deinen Rechten. Glückliche Menschen freuen sich, wenn sie auch andere glücklich machen können, und Gott, der wahrhaft Selige, wird auch nur mit Freuden die Heiligkeit verleihen, die die Quelle wahrer Glückseligkeit ist. Der Glaube gründet seine Hoffnung, erhört zu werden, nie auf irgendetwas, das im Menschen ist, sondern stets auf die Vollkommenheit Gottes. Darum bereitet das Lob Gottes im ersten Teil des Verses die Bitte des zweiten Teiles vor.
  Wir haben es so nötig, Schüler, Lernende zu sein. Welche hohe Ehre aber ist es, Gott selbst zum Lehrer zu haben, wie kühn daher die Bitte Davids: Lehre du mich! Aber der HERR selbst war es, der ihm dieses Verlangen ins Herz gab, als das heilige Wort daselbst eine Stätte fand; so mögen wir gewiss sein, dass der Psalmist nicht die Grenzen überschritt, als er diese Bitte aussprach. Wer möchte nicht wünschen, in eine solche Schule zu gehen, zu einem solchen Meister, um von ihm die Kunst zu lernen, wie man zur Heiligung gelangt? Diesem Lehrer müssen wir uns völlig unterstellen, wenn wir in unserm Tun und Wandel die Gebote der Gerechtigkeit erfüllen wollen. Der König, der diese Gesetze erließ, weiß auch am besten sie auszulegen, und da sie nur ein Ausfluss seines eigensten Wesens sind, vermag er auch am besten uns mit ihrem Geiste zu erfüllen. Diese Bitte empfiehlt sich allen, die ihren Weg unsträflich gehen wollen; handelt es sich bei ihr doch nicht um Einführung in Tiefen verborgener Wissenschaft, sondern um Kenntnisse, die wir für das tägliche Leben bedürfen, um Unterweisung in dem geltenden Gesetz. Kennen wir die Gesetze des HERRN, dann haben wir das wichtigste Stück Bildung erlangt.
  So sollte denn ein jeder sprechen: Lehre mich deine Rechte. Welch ein köstliches Gebet für den täglichen Gebrauch! Von den drei Bitten in V. 8.10.12: Verlass mich nimmermehr, lass mich nicht abirren, lehre mich deine Rechte, bedeutet jede folgende einen Fortschritt gegen die vorhergehende. Und noch ein zweites und drittes Mal kommt der Psalmist auf diese Bitte zurück, siehe V. 33 f. u. V. 66. Und die Erhörung ist in V. 98-100 ausgesprochen: Du machst mich weiser als meine Feinde, ich bin gelehrter als meine Lehrer, ich bin klüger denn die Alten, denn ich halte deine Befehle. Aber selbst dann noch kann David nicht von dieser Bitte loskommen; beständig kehrt sie wieder, so in V. 108.124.135.144.169, und es ist dieselbe Sehnsucht, die fast am Schlusse des Psalms in den Worten des 171. Verses ihren Ausdruck findet: Meine Lippen sollen loben, wenn du mich deine Rechte lehrst.

13. Ich will mit meinen Lippen erzählen alle Rechte deines Mundes. Der ein Lernender war, will nun selbst zum Lehrer werden. Ja, er ist es bereits. (Vergl. das Perf. praes. des Grundtext) Was wir hören ins Ohr, das sollen wir auf den Dächern predigen. (Mt. 10,27.) Danach handelt auch der Psalmist. Soviel er selber gelernt hat, das verkündigt er anderen. Gott hat viele seiner Rechte mit seinem Munde geoffenbart, das will sagen, in klarer, verständlicher Offenbarung, und diese weiter zu geben ist unsere Pflicht. Wir sollen ein jeder sozusagen ein Echo dieser einen untrüglichen Stimme werden. Es gibt Rechtsordnungen Gottes, die für uns unergründlich sind wie die brausende Tiefe des Meeres, Geheimnisse, die er nicht geoffenbart hat (5. Mose 29,28), und wir tun wohl, wenn wir uns nicht mit solchen abmühen. Was der HERR verhüllt hat, das enthüllen zu wollen wäre Vermessenheit. Aber auf der anderen Seite wäre es unverantwortlich, wollten wir verheimlichen, was der HERR geoffenbart hat. Es liegt für einen Christenmenschen in Zeiten der Heimsuchung ein großer Trost darin, wenn er sich beim Rückblick auf sein Leben sagen kann, er habe diese Pflicht dem Worte Gottes gegenüber erfüllt. Es verleiht ein Gefühl freudiger Sicherheit, wie Noah ein Prediger der Gerechtigkeit gewesen zu sein, wenn die Fluten hoch und immer höher steigen und die gottlose Welt unterzugehen im Begriff ist. Und Lippen, die sich dazu haben brauchen lassen, Gottes Rechte rühmend zu erzählen, die werden auch Gehör finden, wenn sie Gott seine Verheißungen vorhalten. Haben wir solche Ehrfurcht vor dem, was aus Gottes Munde geht, dass wir es weit und breit verkündigen, dann dürfen wir auch sicher sein, dass Gott die Bitten, die aus unserem Munde gehen, nicht unbeachtet lassen wird.
  Es kann für einen jungen Mann ein sehr wirksames Mittel sein, um seinen Weg unsträflich zu gehen, wenn er sich beständig der Aufgabe hingibt, die ihm von Gott gegebenen Gelegenheiten zu ergreifen, um auf allerlei Weise das Evangelium kund zu machen. Der wird nicht leicht Gefahr laufen, von dem, was recht ist, abzuirren, dessen Seele ganz davon erfüllt ist, die Rechte des HERRN zu verkündigen. Docendo discimus, beim Lehren lernen wir. Üben wir unsere Zunge, sich dem Heiligen zu Dienst zu stellen, so halten wir damit den ganzen Leib im Zaum, und Vertrautheit mit den Wegen des HERRN schafft, dass wir mehr und mehr am Tun des Guten unsere Freude haben. So werden wir also in dreifacher Beziehung auf dem Wege des HERRN voranschreiten, indem wir seine Rechte verkündigen.

14. Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse. Freude an Gottes Wort ist ein sicheres Zeichen, dass dasselbe am Herzen hat seine Kraft erweisen können, dass es uns reinigt zu unsträflichem Wandel. Schon längst (vergl. den Grundtext) war es Davids Wonne, sich dem Wort des HERRN hinzugeben, daher er auch so ganz davon erfüllt war, es zu verkündigen (V. 13). Seine Freude an Gottes Wort war nicht nur hervorgegangen aus Bewunderung seiner Schönheit oder seiner tiefen Gedanken, sondern aus Erkenntnis seines Wertes für den täglichen Wandel. Er freute sich des Weges, den die Zeugnisse des HERRN gebieten. Er suchte sich nicht das eine oder andere aus der Bibel heraus, oder wenn er doch eine Auswahl traf, so nahm er das für seinen Wandel Wichtigste zuerst. Wie über allerlei Reichtum. Der Psalmist vergleicht die volle Befriedigung, die ihm Gottes Wort und Wille gewähren, mit der Zufriedenheit eines Mannes, der großen, mannigfaltigen Besitz sein eigen nennt und zugleich die Fähigkeit hat, sich daran zu erfreuen. David kannte den Glanz des Herrschers, die Fülle von Schätzen, die dem Eroberer zufallen; er wusste den Wert erworbenen oder ererbten Vermögens zu schätzen, er kannte sehr wohl "allerlei Reichtum". Der so reich gesegnete König sah mit stolzer Freude das Gold und Silber sich in seinen Schatzkammern häufen, um dann fast unzählbare Mengen davon dem Lieblingsplan seines Lebens widmen zu dürfen, dass auf dem Zionsberge Jehovah ein Tempel gebaut werde. Gewiss eine heilige Freude an irdischem Reichtum, der zu heiligen Zwecken gesammelt war, und doch freut sich David dessen, was er in Gottes Wort gefunden, mehr als über allerlei Reichtum. Kein Wunder, dass er (V. 13) mit seinen Lippen redete von dem, was seine höchste Freude war.

15. Ich rede von dem, was du befohlen hast, Grundtext: Ich will sinnen (vergl. zu Ps. 1,2) über deine Befehle. Wer an etwas seine Herzensfreude hat, wird seine Gedanken nicht lange davon fernhalten können. Wie der Geizhals immer wieder zu seinen Schätzen schleicht, um sich an ihrem Anblick zu weiden, so kehrt der Liebhaber der göttlichen Wahrheit stets aufs Neue zurück zu dem unermesslichen Reichtum, den er in dem Buch der Bücher entdeckt hat. Für viele Menschen ist es ein saures Stück Arbeit, wenn sie in der Bibel lesen und über Gottes Wort nachsinnen sollen; dem geheiligten Menschen ist es eine Wonne. Wer einmal damit angefangen hat, Gottes Gedanken nachzudenken, der wird davon so gefesselt, dass er es nicht mehr lassen kann. Wer die Freude geschmeckt hat, die es bereitet, den Weg zu gehen, den Gottes Zeugnisse uns weisen, der wird von selbst über diese Zeugnisse immer tiefer nachdenken. Solch frommes Sinnen ist die heilsamste Übung, das beste geistliche Exerzitium für die Seele. Warum sind wohl viele so lässig darin? Es ist beachtenswert, dass es gerade die Befehle Gottes sind, die David als Gegenstand seiner Betrachtung erwähnt; natürlich, denn noch lag ihm die Frage im Sinne, wie ein Jüngling zu unsträflichem Wandel gelange (V. 9). Gehorsam ist ein Lebensnerv der Frömmigkeit.
  Und schaue (Grundtext: will schauen) auf deine Wege. Darin liegt wohl zweierlei: Ich will sie genau betrachten, um recht zu erkennen, was deine Wege sind, und ich will mit ganzer Ehrfurcht auf sie mein Auge richten, um sie einzuhalten. Ich will die Wege beschauen, die du mit mir gehst, damit mein Herz durch ihre Wunder mit Ehrerbietung, Dank und Liebe erfüllt werde; und sodann will ich auch genau beachten, welches die Pfade sind, die du mir vorschreibst, deine Wege, auf denen ich dir nachfolgen soll. Auf diese will ich mit ganzer Sorgfalt Acht haben, damit ich in allen Stücken gehorsam werde und mich als treuer Knecht eines so herrlichen Herrn bewähre.
  Beachten wir den Fortschritt an Verinnerlichung in den Versen. Wir schreiten gleichsam an dem Fluss aufwärts zu seiner Quelle hin. Von dem lauten, rühmenden Verkündigen in V. 13 zu der innigen, aber noch für andere wahrnehmbaren Freude in V. 14, und von da zu dem stillen Sinnen des in Gott seligen Gemütes, V. 15. Die reichsten Gnaden sind die tiefstinnerlichen.

16. Ich habe Lust zu deinen Rechten. Dieses Ergötzen der Seele ist eine Folge des sinnenden Betrachtens, woraus es so natürlich wie die Blume aus der Pflanze hervorsprosst. Man kann auch übersetzen: An deinen Satzungen will ich mich ergötzen, sie seien meine Lieblingslust. Wenn alle Erquickung von außen her uns fehlt und wir ganz auf uns selbst und unser einsames Kämmerlein angewiesen sind, wie köstlich ist es dann, wenn das Herz so bei sich selber einkehren und sich zuflüstern kann: Ich will mich dennoch ergötzen! Ob auch niemand mit Gesang und Saitenspiel mich erheitert, ich will mich dennoch freuen. Ist auch der Lenz mit seinen Blumen noch nicht herbeigekommen und ist es noch nicht Zeit, dass die Turteltaube sich hören lasse
(Hohelied 2,12), so habe ich doch meine Lust. Ja, das ist die auserlesenste, edelste Freude; dies ist das gute Teil, das nicht von uns genommen werden kann. Aber so uns selbst zu ergötzen vermögen wir an nichts Geringerem als dem, was der HERR dazu bestimmt hat, zu der ewigen Befriedigung unserer Seele zu dienen. Das Gesetzbuch des Königreichs Gottes soll die Freude jedes treuen Bürgers dieses Reiches sein. Indem der Gläubige diese heiligen Blätter durchliest, entbrennt ihm das Herz, wenn er bald das eine, bald das andere der königlichen Worte seines Herrn betrachtet in ihrer unwandelbaren Herrlichkeit und beseligenden Gotteskraft.
  Und vergesse deiner Worte nicht (oder: will nicht vergessen). Was man als kostbaren Schatz geborgen und verwahrt (V. 11), worüber man viel nachgedacht (V. 15) und wovon man oft gesprochen hat (V. 13), das wird man so leicht nicht vergessen. Weil aber unser Gedächtnis an unserer verderbten Natur teilhat und sich daher vielfach als untreu erweist, tun wir gut, uns immer wieder dazu zu ermuntern: Ich will deiner Worte nicht vergessen.
  Vergleichen wir diesen Schlussvers des zweiten Abschnittes mit dem des ersten, so ergibt sich wiederum, dass sie in beiden Gliedern einander entsprechen, bei aller Ähnlichkeit aber doch wieder ganz neue Gedanken enthalten. Dasselbe ist im ganzen Psalm der Fall; nie wird, bei aller Ähnlichkeit der Worte, der ganz gleiche Gedanke wiederholt. Und wenn die Worte eines Verses oder Versgliedes denen eines andern fast aufs Haar gleichen, so ergibt die Stellung des Verses im Zusammenhang eine liebliche Abwechslung des Sinnes. Es geht uns da wie in der Natur: sehen wir die feinen Abtönungen der Farben und reiche Mannigfaltigkeit der Verschiedenheit ganz ähnlicher Formen nicht, so liegt es an unserem Auge; hören wir Eintönigkeit statt lieblicher Harmonien, so werden wir auf die wahre Ursache kommen, wenn wir an der Feinhörigkeit und Kunstgeübtheit unseres Ohres zweifeln lernen.


V. 9-16. Das achtfache b (B): Nach Gottes Wort sich haltend wandelt ein Jüngling unsträflich; der Dichter will das und erbittet sich dazu Gottes Gnadenbeistand.

9. Bestehn in reinem Wandel wie wird’s dem Jüngling möglich?
Wenn er sich hält nach deinem Worte.
10. Bemüht um dich bin ich mit ganzem Herzen,
Lass mich nicht abirren von deinen Geboten.
11. Bewahrt halt ich im Herzen deine Aussage,
Auf dass ich nicht sündige an dir.
12. Benedeiet seiest du, Jahve,
Lehre mich deine Satzungen.
13. Bericht tu’ ich mit meinen Lippen
Von allen Rechten deines Mundes.
14. Bei deiner Zeugnisse Weg empfind’ ich Wonne,
Wie über irgendein Besitztum.
15. Bei deinen Ordnungen soll mein Sinnen weilen
Und mein Blick bei deinen Pfaden.
16. Bei deinen Satzungen sei meine Lieblingslust,
Nicht will ich vergessen deines Wortes.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 9. Dieser Vers enthält eine Frage und ihre Beantwortung. Merke: Von einem Jünglinge ist die Rede; wir können nicht frühzeitig genug an diese Frage herantreten, wie ein unsträflicher Wandel zu führen sei, denn schon von klein auf werden wir durch die Sünde auf falschen Weg geführt. Also: Welches Mittel gibt es, dass ein Mensch, der doch unrein, von der Sünde befleckt ist, instand gesetzt werde, ein reines fleckenloses Leben zu führen, wenn er in die Jahre kommt, da er sich seinem Weg selbst zu erwählen hat. Die Antwort lautet: Halte dich nach Gottes Wort. Hier ist uns das Mittel und die Gebrauchsanweisung dazu gegeben. Das Mittel ist das Wort Gottes; ohne dieses ständen wir dieser Frage ratlos gegenüber. Und die Anwendung? Halte dich danach. Es genügt nicht, dass du es liest und darin forschst, du musst dich danach richten und so dein Leben in Einklang mit dem heiligen Gotteswillen bringen. Thomas Manton † 1677.
  Aristoteles, ein Fürst unter den Weisen aller Zeiten, verzweifelte an der Aufgabe, einen Jüngling fähig zu machen, die ernsten, strengen Forderungen der Sittlichkeit, wie er sie selbst aufgestellt hatte, zu erfüllen; denn dieses Alter sei leichtsinnig und töricht, und dabei eigensinnig und schwer zu beeinflussen. Und nun: Nimm einen Jüngling in aller Glut seines heißen Blutes, seiner Leidenschaften, und führe ihn in diese Schule des Heiligen Geistes, in die Heilige Schrift ein, lass ihn sich der Führung dieses göttlichen Ratgebers überlassen, so wird er an sich selbst die Unübertrefflichkeit, die unwiderstehliche Kraft des göttlichen Wortes erfahren; es wird seine Kunst an ihm erweisen, und täglich wird er die Fortschritte in himmlischer Weisheit an sich merken. J. Gibbon 1660.
  Ein ganzer von den zweiundzwanzig Abschnitten des Psalmes ist den Jünglingen gewidmet. Und es ist ganz angemessen, dass dies so ist. Die Jugendzeit ist die Zeit des Wachstums, da der Geist noch bildungsfähig, fremden Einflüssen zugänglich ist. Die Jugend ist die Zukunft der Gesellschaft, und die Furcht des HERRN, die der Anfang aller Weisheit ist, muss schon in der Jugend eingepflanzt werden. Die Kraft, die Bestrebungen, die noch durch keine Enttäuschungen getrübten Hoffnungen und Erwartungen der Jugend harren des Feldes, da sie sich entfalten, betätigen sollen. Möchten sie dem HERRN geheiligt sein und bleiben. John Stephen 1861.
  Was soll ein Jüngling tun, um einen reinen Weg zu finden, eine vorwurfsfreie Lebensregel durch diese befleckende Welt? Ganz gewiss ist das eine Frage, die dem Neubekehrten, dessen Gewissen für das Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit wach geworden ist, viel Sorge bereitet. Wie soll er sich von der Sünde frei erhalten, böse Gesellschaft meiden, von den schlimmen Freuden und Gepflogenheiten der Welt loskommen, die ihn bisher gefangen hielten? Und in dem Maße als er fortschreitet auf dem Pfade der Heiligung und den tausend Verführungen begegnet, die sich von außen und in seinem Herzen gegen ihn erheben, wie oft wird da nicht die angstvolle Frage des Apostels Paulus in ihm laut werden: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Nur wer in eitler Selbstüberschätzung und Überhebung befangen ist, vermöchte anders zu suhlen. Solcher Geist falscher Eigengerechtigkeit muss gedemütigt, muss ganz klein werden. Wie steht es bei dir, mein junger Leser? All dieses Bangen und Fragen findet eine Antwort an dieser Stelle. Wenn er sich hält nach deinen Worten. Nicht an Unterweisung fehlt es den jungen Leuten von heute, sondern am Wollen. Bei einem frommen Jüngling ist beides vorhanden. Das Wort hat in seinem Herzen Wurzel gefasst, es stärkt und kräftigt ihn in seinen Vorsätzen, mit süßen Liebesworten, mit dräuendem Ernst lockt, treibt es ihn an auf der rechten Straße. Und die Antwort auf diese ernste Frage ist so einfach und treffend. Was du nur an Leitung, an Weisung, an Unterstützung, an Hilfe nötig hast, du findest alles im Worte Gottes. John Stephen 1861.
  Wenn er sich hält nach deinem Worte, wenn er das beobachtet, was deinem heiligen Worte gemäß ist. Dieses Wort zeigt, wie ein Sünder unsträflich wird, rein von seinen Sünden durch das Blut Christi, gerechtfertigt durch seine Gerechtigkeit, und auch wie und durch wen das Werk der Heiligung im Herzen gewirkt wird, nämlich durch den Geist Gottes mittelst des Wortes; ferner, was die Regel für den Wandel und Umgang eines Menschen ist. Das Wort Gottes erweist seine Brauchbarkeit als Lehrer in allem, was die Rechtfertigung und Sündenvergebung, die Sinnesänderung, die Änderung des Handels, der Lebensgewohnheiten betrifft. Vergl. 2. Tim. 3,16. John Gill † 1771.
  Die Jugend hat einen Halt auf dem Wege sehr nötig, denn sie neigt zur Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit, zum Selbstvertrauen. Sie hat den Halt aber auch nötig um des schwierigen Weges willen. Achte auf deine Schritte, es ist ein schmaler Weg. Achte auf deine Schritte, es ist ein neuer Weg. Achte auf deine Schritte, es ist ein schlüpfriger Weg. Achte auf deine Schritte, es ist ein Weg voll unerwarteter Begegnungen. J. H. Evans † 1849.
  Nach deinem Worte. Ich sage nicht, dass es nicht auch noch andere Stützen, andere Führer gebe. Ich behaupte nicht, dass das Gewissen keinen Wert als solcher habe, und das Gewissen ist gerade in der Jugend besonders zart und empfindlich. Ich leugne nicht, dass das Gebet eine wertvolle Stütze und Schutzwehr ist; aber Gebet ohne Festhalten am Worte ist unberechtigte Anmaßung. Darum, meine ich, gibt es keine so wirksame Schutzwehr, die jeden Feind abhält, als das Lesen des Wortes Gottes unter ernstlichem Gebete, da jede Versuchung von der Welt oder den Gefährten, jede Regung unseres eigenen Herzens und seiner Wünsche und Begierden in das Licht dieses Wortes gebracht wird, da bei allem gefragt wird: Was sagt die Bibel dazu? Und ihre Antwort, durchleuchtet und geweiht vom Heiligen Geiste, wird uns in allen Schwierigkeiten eine Leuchte unseres Fußes, ein Licht auf unserem Wege sein. B. Bouchier † 1865.


V. 10. Ich suche dich von ganzem Herzen. Wohl mögen nur sehr wenige mit gutem Gewissen wie der königliche Prophet David von sich sagen, dass sie von ganzem Herzen, d. h. ohne alle Nebengedanken, in voller Reinheit und Unschuld ihres Herzens den HERRN gesucht haben; aber dieser Jüngling hier kann so vor dem Herzenskündiger sprechen, jedes Wort trägt den Stempel der Wahrheit. Wie unumwunden spricht er sich seinem Gott gegenüber aus. Wir pflegen uns in solchem Falle anders auszudrücken; wir vermeiden solche bestimmte Ausdrucksweise, wir würden sagen: Ich möchte dich suchen, o dass ich dich doch suchte! Aber der Jüngling hier spricht gerade heraus, ohne Umschweife, voll herzlichen Vertrauens öffnet er dem HERRN sein Herz, und durch den ganzen Psalm hindurch begegnen wir überall diesem Zeichen eines frommen, gotterfüllten Gemütes. - Nach J. Calvin † 1564 und J. Stephen 1861.
  Lass mich nicht abirren von deinen Geboten. Je reicher unsere Erfahrung in geistlichen Dingen ist, desto mehr kommt es uns zum Bewusstsein, wie schnell wir bereit sind, aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit von Gottes Wegen abzuirren. Der junge unerfahrene Krieger aber wagt in jugendlichem Übermut, den Gefahren Trotz zu bieten; tollkühn reitet er bis ins Lager der Feinde, er spielt mit der Versuchung, als ob es mit ihm keine Gefahr hätte. Er kennt nicht die Furcht Davids, die ihn in den Hilfeschrei ausbrechen lässt: O lass mich nicht abirren! Dickson † 1662.


V. 11. Ich behalte dein Wort in meinem Herzen, auf dass ich nicht wider dich sündige. Das ins Herz aufgenommene und dort bewahrte Wort bringt Frucht. Wenn ein Jüngling nur mit den Augen die Buchstaben und Wörter des heiligen Buches aufnimmt, so verliert das Wort der Verheißung und Unterweisung seine Kraft. Auch das bloße Behalten im Gedächtnis tut es nicht. Wir müssen das Wort in seinem vollen Werte erkennen und schätzen und ihm in unseren Herzen einen Raum gewähren; es muss eine Sache des Herzens sowohl als des Verstandes werden. Dein Inneres muss ganz von ihm durchdrungen werden. Wenn Gottes Wort mit seinen Verheißungen, seinen Warnungen, mit seinen göttlichen Wahrheiten, kurz, wenn Gott selbst so im Herzen des Jünglings zu einer Wirklichkeit geworden ist, dann wird auch sein ganzer Geist von Gottes Kraft erfüllt, von Gottes Weisheit erleuchtet, sein Gewissen wird geschärft werden, er wird nicht mehr gegen Gott sündigen wollen. J. Stephen 1861.
  Ich behalte dein Wort in meinem Herzen. Die Kinder dieser Welt tragen ihre Juwelen und ihre Kleinode äußerlich sichtbar mit sich umher, des Christmenschen Schatz ist in seinem Inneren geborgen. Es gibt ja auch keinen Schrein, der imstande und geeignet wäre, das Wort des Trostes aufzunehmen und zu bewahren, als eben das Herz. Wenn du es nur im Munde führst, so wird es von dir genommen; besitzest du es nur im Buche, so wird es dich im Stiche lassen, wenn du es eben am nötigsten brauchst. Wenn du es aber in deinem Herzen behältst und bewegst, wie Maria tat mit den Worten des Engels, so wird kein Feind es dir je rauben können, und du wirst dich in der Zeit der Not seiner als eines köstlichen Schatzes erfreuen dürfen. William Cowper † 1619.
  Auf dass ich nicht wider dich sündige. Wenn wir das Wort in unserem Herzen bewahren, so bewahrt es uns vor dem Sündigen, sowohl gegen Gott als gegen uns selbst. Die Erfahrung zeigt, dass uns zuerst die Erinnerung an das Wort oder wenigstens die Liebe zum Worte genommen werden muss, so dass die Scheu davor geschwunden ist, ehe es zur Begehung einer Sünde kommt. Solange Eva das Wort Gottes im Glauben festhielt, vermochte sie dem Satan zu widerstehen; mit dem Augenblicke aber, da sie das fahren ließ, was Gott mit seinem Worte aufs festeste bestimmt hatte, und dem Zweifel Raum gab, war sie verloren. William Cowper † 1619.


V. 12. Lehre mich. David hatte den Propheten Nathan, er hatte Priester, die ihn lehren konnten, aber alle ihre Unterweisung war nichts nütze ohne Gottes Gnadenbeistand, darum bittet er: Lehre du mich. W. Nicholson † 1671.
  Das Wort lehren bedeutet dem Psalmisten hier doch mehr als eine bloße Mitteilung von Kenntnissen; denn diese besaß er schon, wie er selbst vorher gesagt hatte: Ich behalte dein Wort in meinem Herzen, und im siebenten Vers hieß es auch schon: Du lehrst mich. Hier wird auch um die Gnadengabe gebeten, den empfangenen Lehren zu gehorchen. Kard. Rob. Bellarmin † 1621.
  Wer den 119. Psalm mit Aufmerksamkeit liest, dem kann nicht entgehen, mit welcher Bestimmtheit an der Tatsache festgehalten wird, dass menschliche Kraft nicht ausreicht, wo es sich um das Befolgen der Gebote Gottes handelt. Er selbst muss in uns das Wollen zum Erfüllen dieser Pflichten wirken. Der Psalmist fleht den HERRN an, ihm die Augen aufzutun, damit er die Wunder an seinem Gesetz schaue (V. 18), er fleht ihn an, ihn zu lehren seine Rechte (V. 26), von ihm abzuwenden den falschen Weg der Lüge (V. 29), sein Herz zu seinen Zeugnissen zu neigen und nicht zum Geize (V. 36), seine Augen abzuwenden, dass sie nicht sehen nach unnützer Lehre (V. 37), und nicht von seinem Munde zu nehmen das Wort der Wahrheit (V. 43). Jede einzelne dieser Bitten zeigt, dass er zum vollen Bewusstsein seiner gänzlichen Hilflosigkeit, seiner völligen Abhängigkeit von Gott gekommen war, wo es sich um ein Fortschreiten auf dem Wege der Erkenntnis der Wahrheit handelte. All sein Forschen im Gesetz, all sein Streben nach Heiligkeit, das fühlt er genau, hatte keine Aussicht auf Erfolg, wenn nicht Gottes Gnade schützend und fördernd eingriff, wenn sie ihn nicht mit dem rechten Eifer, der rechten Lust erfüllte, ihm als Führer zur Seite stand, um ihn zu einem rechten Verständnis der Schrift und zu einem klaren Bewusstsein seiner Pflichten gegen Gott und Menschen zu leiten. G. Phillipps 1846.


V. 13. Ich will mit meinen Lippen erzählen alle Rechte deines Mundes. Nachdem der Psalmist das reinigende Wort in sein Herz aufgenommen (V. 11), um es da zu bewahren, will er es nun auch mit seinen Lippen verkünden. Er will es alles erzählen, denn es ist alles gut und rein. Wenn das Herz gereinigt ist, dann wird das, was aus dem Herzen quillend über die Lippen strömt, auch rein sein. Fr. G. Marchant 1882.
  Ich will erzählen alle Rechte usw. Aber an einer anderen Stelle (Ps. 36,7) heißt es: Dein Recht ist wie eine große Tiefe. Und der Apostel spricht (Röm. 11,33-34) von der Tiefe der Weisheit und Erkenntnis Gottes und der Unbegreiflichkeit seiner Gerichte, der Unerforschlichkeit seiner Wege. Wenn seine Gerichte, seine Rechte unerforschlich, unbegreiflich sind, wie sagt dann hier der Psalmist, er wolle sie erzählen, verkünden, auslegen? Denn das liegt alles in dem Worte erzählen. Es gibt eben noch andere "Gerichte" Gottes, die nicht Gerichte, Aussprüche seines Mundes sind, sondern seines Herzens, seiner Hand. In der Heiligen Schrift finden sich keine Widersprüche, die ihr Ansehen schwächen. In der angeführten Psalmstelle heißt es nicht: Die Gerichte deines Mundes sind eine große Tiefe, sondern: Dein Recht ist eine große Tiefe, und der Apostel spricht nicht von der Unerforschlichkeit der Gerichte seines Mundes, also seiner Worte, sondern von der Unerforschlichkeit seiner Gerichte, seiner Wege überhaupt. Es sind hier die verborgenen Ratschläge des HERRN gemeint, die er uns nicht enthüllt hat; die Rechte seines Mundes aber sind die, die er uns verkündet hat durch den Mund seiner Propheten. Ambrosius † 397.


V. 14. Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse wie über allerlei Reichtum. Gottes Willensbezeugungen in seinem Worte sollen unser Führer sein auf dem Wege. David freut sich nicht am tiefsinnigen Grübeln, an schönen Reden über Gottes Gesetz, sondern am Gehorsam in seinem Tun und Handeln. Und er bezeichnet auch den Grad seiner Freude: wie über allerlei Reichtum. Das heißt nicht, dass er diese Dinge für gleichwertig ansieht, als ob wir dieselbe Freude an den Dingen dieser Welt, wie an Gottes Wort haben dürften. Das ist das Höchste für Weltmenschen, und wie sie sich an irdischen Gütern ergötzen, so freue ich mich des Weges deiner Zeugnisse. David will hier nicht seine Freude am Wort mit seiner eigenen Freude an Geld und Gut vergleichen, sondern seine Freude, seine Lust mit der Freude und Lust anderer. Thomas Manton † 1677.
  Ich freue mich des Weges, den deine Zeugnisse gebieten. Eine Hauptursache, weshalb wir so oft im Worte nicht den Trost finden, der doch darin enthalten ist, ist darin zu suchen, dass wir es nicht zur Richtschnur unseres Handelns machen. William Cowper † 1619.


V. 15. Ich will sinnen über deine Befehle. (Grundtext) Wieviel größer und reiner würde unsere Freude an Gottes Wort sein, wenn wir es zu unserer täglichen Gewohnheit machten, darüber fleißig zu sinnen; aber dazu entschließt sich der fleischliche Sinn niemals, und selbst der erneuerte Sinn hat noch so viel vom alten Adam in sich, dass es oft ihm sehr schwerfällt. Charles Bridges † 1869.
  Ich schaue auf deine Wege. Welchen Genuss gewährt es doch auf einer Reise, die Schönheiten des Weges zu betrachten, herrliche Bauwerke, schöne Anlagen, Kunstwerke aller Art. Aber was wollen alle diese Dinge besagen gegenüber einer Betrachtung der Wege des HERRN, der Wege, die er selbst gegangen und auf die er die Menschen gewiesen hat. Wie nötig haben wir es, den Weg recht ins Auge zu fassen! Sonst geht es uns wie einem verschlafenen Kutscher, der sein Fuhrwerk mitsamt den Insassen umwirft. Martin Geier † 1681.


V. 16. Ich habe Lust zu deinen Rechten. Schon in V. 14 hat er es ausgesprochen, dass er sich des Weges seiner Zeugnisse freue, und hier wiederholt er es, dass er seine Lust, seine Freude an Gottes Rechten habe. Der Gottesfürchtige wird umso eifriger im Gutestun, je mehr er dasselbe übt. Wie schnell dagegen werden die Trägen, die weltlich Gesinnten müde, Gutes zu wirken; sie meinen, wenn sie irgendeine kleine äußere Forderung der Religion erfüllt haben, nun aller weiteren Pflichten enthoben zu sein. Aber die rechte Frömmigkeit kennt man am Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit, an der Beharrlichkeit und ernsten Ausdauer im Gutestun. Und der Psalmist fügt hinzu: Ich vergesse deiner Worte nicht. Die geistlichen Gaben stärken und mehren sich gegenseitig. Das Nachsinnen über etwas fördert die Betrachtung. Wer kann etwas im Geiste betrachten, worüber er nicht zugleich nachsinnt? Die Betrachtung wiederum erzeugt die Freude am Gegenstande, und diese Freude stärkt die Erinnerung, denn wer sich am Worte freut, wird es nicht vergessen, und die Erinnerung führt wieder zum Nachdenken. So erzeugt eine geistliche Gabe die andere; hinwieder erzeugt die Vernachlässigung einer einzigen den Zusammenbruch aller übrigen. William Cowper † 1619.
  Ich habe Lust. Wenn wir erst angefangen haben, die Übung der Gerechtigkeit nicht mehr als eine lästige Pflicht anzusehen, wenn sie uns eine Lust geworden ist, dann gewinnt sie auch einen ganz anderen, einen viel höheren sittlichen Wert. Wir stehen nicht mehr unter einem unerbittlichen Zuchtmeister. Der Gehorsam wird aus einem Zwang ein Tun freier Wahl, und so gewinnt er einen höheren sittlichen Wert als früher. Wir werden nicht mehr dazu getrieben durch den Gott des Gesetzes, sondern gezogen in unseren Herzen durch die Liebe zu ihm und zu allem, was ehrbar, was gerecht, was lieblich ist. Th. Chalmers † 1847.
  Wer seine Lust und Freude an etwas hat, vergisst es nicht. Wo dein Schatz ist, da ist dein Herz. Irdisch gesinnte Menschen, die bloß am Irdischen ihre Freude haben, vergessen das Wort Gottes. Wenn uns etwas missfällt, so sind wir froh, es vergessen zu können; wenn wir aber Freude an etwas haben, so wird diese durch den Gedanken daran nur vermehrt. Wenn ein Schüler aus eigener Unlust am Lernen oder durch Schuld des Lehrers keine Freude an seinen Büchern hat, so ist alles, was er lernt, umsonst und verlorene Mühe, es geht zum einen Ohr hinein und zum andern hinaus. Die wahre Gedächtniskunst besteht darin, das zu Lernende angenehm zu machen, die Lust dazu zu erwecken. So spricht David hier: Ich habe Lust zu deinen Rechten und vergesse (darum) deiner Worte nicht. Thomas Manton † 1677.


17. Tue wohl deinem Knecht, dass ich lebe
und dein Wort halte.
18. Öffne mir die Augen, dass ich sehe
die Wunder an deinem Gesetz.
19. Ich bin ein Gast auf Erden;
verbirg deine Gebote nicht vor mir.
20. Meine Seele ist zermalmt vor Verlangen
nach deinen Rechten allezeit.
21. Du schiltst die Stolzen;
verflucht sind, die von deinen Geboten abirren.
22. Wende von mir Schmach und Verachtung;
denn ich halte deine Zeugnisse.
23. Es sitzen auch die Fürsten und reden wider mich;
aber dein Knecht redet von deinen Rechten.
24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen,
die sind meine Ratsleute.

In diesem Abschnitte stehen dem Psalmisten die Anfechtungen und Prüfungen vor der Seele, die dem, der unsträflich wandeln will, auf dem Wege begegnen, und er bittet daher um die Hilfe von oben, deren er in seiner Lage bedarf. Während er in den vorigen acht Versen von dem Standpunkt eines Jünglings aus redete, der eben erst in die Welt hinausgetreten ist, spricht und fleht er hier als ein Knecht und als ein Pilger, der sich je länger je mehr als Fremdling in Feindesland fühlt. Er wendet sich an Gott allein, aber an ihn auch mit großer Zuversicht des Glaubens. Er redet mit dem HERRN, wie ein Freund mit seinem Freunde redet.

17. Tue wohl deinem Knecht. Freudig bekennt er sich zu der Pflichtstellung, die er dem HERRN gegenüber hat; es ist seines Herzens Lust, im Dienst seines Gottes zu stehen. Eben diese seine Stellung aber macht er alsbald zum Stützgrund der Bitte, die sein Herz bewegt; ist doch ein Knecht auch zu gewissen Erwartungen seinem Herrn gegenüber berechtigt. In diesem Falle schließt allerdings der Wortlaut der Bitte den Gedanken an gesetzlich begründete Ansprüche aus. Er begehrt eine Wohltat, nicht etwas, das ihm von Rechts wegen zukäme. Miss mir meinen Lohn zu nach dem Reichtum deiner Freigebigkeit, nicht nach meinem dürftigen Verdienste. Unseres Vaters Tagelöhner haben Brot die Fülle, er lässt niemand von seinem Gesinde im Hunger verderben. Wenn uns der HERR nur halten will als einen seiner geringen Knechte, so können wir es wohl zufrieden sein; denn wer bei ihm ein rechter Knecht ist, der ist auch sein Sohn, ein Prinz von Geblüt, ein Erbe des ewigen Lebens. Der Psalmdichter war sich wohl bewusst, dass er mit seinen großen Bedürfnissen große Ansprüche an die Güte Gottes stellen müsse und er sich mit seinen geringen Diensten niemals soviel werde erwerben können. Darum blieb ihm als einzige Zuflucht Gottes Güte; allein von seiner Freigebigkeit konnte er all das Große erwarten, dessen er bedurfte.
  Dass ich lebe. Ohne überreiche Gnade konnte er nicht leben. Es bedarf in der Tat eines großen Maßes von Gnade, wenn ein Gläubiger am Leben erhalten bleiben soll. Schon das irdische Leben ist für solch Unwürdige, wie wir es sind, ein Gnadengeschenk. Nur der HERR kann uns den Odem bewahren, und die übermächtige Gnade allein ist es, die uns das Leben erhält, das wir durch die Sünde verwirkt haben. Das Verlangen zu leben, das im Menschen ist, ist recht, es ziemt sich uns auch, dass wir die Erhaltung unseres Lebens zu einem Gegenstand des Gebets machen, und wir erfüllen nur unsere Schuldigkeit, wenn wir die Verlängerung unseres Lebens der Güte Gottes zuschreiben. Ebenso haben wir auch das geistliche Leben, ohne welches das leibliche nur ein Dasein, ein bloßes Vegetieren ist, als eine Gabe der milden Hand Gottes anzusehen und zu erbitten; denn es ist das herrlichste Werk seiner Gnade, und in ihm enthüllt sich die Freigebigkeit Gottes besonders ruhmvoll. Die Knechte des HERRN vermögen ihm nicht in ihrer eigenen Kraft zu dienen, können sie doch nicht einmal leben, es sei denn, dass seine Gnade sich an ihnen mächtig erweise.
  Und dein Wort halte. Das sollte die Richtschnur, der Zweck und die Freude unseres Lebens sein. Wir dürfen nicht zu leben begehren, um weiter zu sündigen; wohl aber dürfen wir um das Leben bitten zu dem Zwecke, Gottes Wort zu halten. Das Dasein ist etwas gar Armseliges, wenn es kein Wohlsein ist; nur dieses ist wahres Leben. Erst das Leben im Lichte des Wortes Gottes hat einen Wert; ja, getrennt von Heiligkeit gibt es gar kein Leben in dem höheren Sinn, in dem die Schrift dies Wort fast immer, und so auch hier, gebraucht. Solange wir das Gesetz Gottes brechen, sind wir lebendig tot.
  Die Bitte dieses Verses zeigt uns, dass wir nur durch Gottes Gnade als treue Knechte des HERRN leben und seinen Geboten gehorsam sein können. Tun wir Gott Dienst, so geschieht dies nur, weil er uns dazu Gnade schenkt. Wir wirken für ihn, weil er in uns wirkt. So können wir denn aus den Eingangsversen der drei ersten Abschnitte unseres Psalms eine Kette bilden: V. 1 preist den Menschen selig, der in unsträflichem Wandel lebt, V. 9 fragt, wie man zu solcher Heiligkeit gelange und V. 17 führt diese auf ihre oberste Quelle zurück und weist uns ins Gebet als das Mittel, des seligen Standes von V. 1 teilhaftig zu werden. Je höher ein Mensch die Heiligkeit schätzt und je eifriger er nach ihr trachtet, umso mehr wird er dahin geführt, bei Gott Beistand zu suchen; denn er wird immer tiefer inne, wie unzulänglich die eigene Kraft ist, da er ja nicht einmal leben kann ohne die freigebige Gnade seines Gottes.

18. Öffne mir die Augen. Auch eine Wohltat (V. 17), und zwar der größten eine, die uns widerfahren kann; ist doch das Auge - das leibliche und das geistige - ein so wichtiges Organ. Es ist von höherem Werte, dass uns die Augen aufgetan werden, als wenn wir mitten in die herrlichsten Aussichten hineingestellt würden und doch blind blieben für ihre Schönheit. Dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. Manche Menschen können selbst am Evangelium nichts Wunderbares erblicken; der Psalmist hingegen war davon durchdrungen, dass schon im Gesetz eine Fülle herrlicher Dinge verborgen sei. Er hatte nicht einmal die halbe Bibel; aber den kleinen Teil, den er besaß, schätzte er höher als heutzutage viele das ganze Wort Gottes, wie wir es haben. Er war dessen gewiss, dass Gott in seinem Worte köstliche Schätze niedergelegt hatte, und er bittet um die Fähigkeit, diese zu erkennen, recht zu würdigen und sich freudig anzueignen. Wir bedürfen nicht so sehr neue Gaben von Gott als vielmehr die Gabe, zu sehen, was er bereits gegeben hat.
  Die Bitte "Decke meine Augen auf, enthülle sie" (wörtl.) setzt voraus, dass der Psalmist sich schmerzlich bewusst war, dass es ihm an Licht fehlte, dass seine geistliche Sehkraft gleichsam verschleiert war und er sich ohnmächtig fühlte, diesem Gebrechen abzuhelfen, dass er aber auch die volle Gewissheit hatte, Gott könne das tun. Die Bitte zeigt ferner, dass der Psalmist überzeugt war, im Worte Gottes seien noch viele Schätze, die er noch nicht völlig ersehen, Wunder, die er noch nicht geschaut, Geheimnisse, von denen er noch kaum etwas ahnte. Ja, die Heilige Schrift strotzt in der Tat von wunderbaren Dingen; sie ist das reine Wunderland. Sie erzählt nicht nur von Wundertaten und erstaunlichen Ereignissen, sondern ist selber eine Welt von Wundern. Doch was nützt das alles verschlossenen Augen? Und welcher Mensch kann sich selbst die Augen auftun, da wir alle blind geboren sind? Gott selbst muss seine Offenbarung jedem einzelnen Herzen neu offenbaren, muss uns zum Schauen dessen, was er in seinem Wort geoffenbart hat, verhelfen. Wohl bedarf die Schrift, dass sie geöffnet werde, aber viel mehr noch bedürfen dies unsere Augen. Die Decke liegt nicht auf dem Buch, sondern auf unseren Herzen. Welch vollkommene Gebote, welch köstliche Verheißungen, welch unschätzbare Vorrechte werden von uns vernachlässigt und versäumt, weil wir achtlos an ihnen vorübergehen, wie der Blinde an den Schönheiten der Natur; sie sind für unsere Augen verdeckt wie eine Landschaft, die in Nacht und Nebel gehüllt ist.
  Der Psalmdichter besaß aber doch ein gewisses Maß geistiger Sehkraft, sonst würde er nie gewusst haben, dass es in dem Worte Gottes Wunder zu schauen gibt. Er hatte schon einiges davon sehen dürfen, und was er geschaut, das erweckte in ihm die Sehnsucht nach klarerer, vollkommenerer Einsicht in diese göttliche Wunderwelt. Diese Sehnsucht ist ein Beweis, dass das, was er besaß, wirkliche, echte Gotteserkenntnis war; denn ein untrügliches Merkmal dieser ist es, dass sie den, der sie besitzt, mit einem dürstenden Verlangen nach immer tieferer Erkenntnis beseelt.
  Die Bitte dieses 18. Verses schließt sich trefflich mit dem in der Stellung innerhalb des Abschnitts gleichlaufenden 10. Vers zusammen. Dort bat er. "Lass mich nicht irregehen"; wer aber ist so der Gefahr ausgesetzt, vom Wege abzuirren, wie ein Blinder? Dort bezeugte er auch, dass er den HERRN von ganzem Herzen suche; wie natürlich da die Sehnsucht, das Gesuchte mit hellen Augen zu schauen! Es ist gar interessant, wie die Zweige des mächtigen Baumes dieses Psalms sich durcheinander flechten. An ihm selber sind der Wunder genug zu schauen, wenn wir geöffnete Augen haben, um sie wahrzunehmen.

19. Ich bin ein Gast auf Erden, bin hienieden nicht daheim, sondern ein Fremdling, der da keine bleibende Stätte hat. Mit diesem Hinweis auf die Flüchtigkeit seines Seins will der Dichter Gottes Mitleid bewegen. Durch vielerlei Vorschriften hatte Gott den Israeliten Freundlichkeit und Barmherzigkeit gegenüber den Fremdlingen eingeschärft; und was Gott von den Menschen verlangt, darin geht er uns selber mit seinem Vorbild voran. Der Psalmist war um des HERRN willen ein Fremdling auf Erden; sonst würde er sich hienieden ebenso gut daheim gefühlt haben, wie es die Weltmenschen tun. Nicht Gott war er fremd, sondern der Welt; eben weil er Gott von ganzem Herzen suchte, fühlte er sich in der Fremde, solange er nicht im Himmel, bei Gott, war, sondern noch auf Erden pilgern musste. Darum fleht er auch zum HERRN: Verbirg deine Gebote nicht vor mir. Wenn mir diese entschwinden, was bleibt mir dann noch? Da nichts von allem um mich her mir gehört, was soll ich machen, wenn ich dein Wort verliere? Da keiner von denen, die mich umgeben, den Weg zu dir kennt oder auch nur zu wissen begehrt, was soll ich anfangen, wenn ich deine Gebote nicht mehr vor Augen habe, mit deren Hilfe allein ich meine Schritte zu dem Lande lenken kann, da du wohnst? Es liegt in diesen Worten auch, dass Gottes Gebote sein Trost waren in seiner Verbannung; sie waren ihm Heimatglocken, die ihm mit ihren süßen Klängen den Weg dorthin wiesen. Darum fleht er, dass Gottes Gebote nie vor ihm verborgen werden möchten, dass ihm nie die Fähigkeit entzogen werde, sie zu verstehen und ihnen zu folgen. Wenn uns das geistliche Licht genommen wird, dann ist das Gebot verborgen, und um Abwendung solchen Unglücks bittet das begnadigte Herz mit allem Ernste. Was nützten uns die schärfsten Augen, wenn das Beste, zu dessen Schauen sie bestimmt sind, vor ihnen verhüllt würde? Wir können alle die Beschwerden und Unannehmlichkeiten, die uns hier in der Fremde begegnen, geduldig ertragen, solange das Wort Gottes durch den Heiligen Geist unseren Herzen zugeeignet wird; wenn aber die himmlischen Dinge, auf denen unser Friede beruht, unseren Augen verhüllt würden, dann wären wir in einer üblen Lage. Wir wären in der Tat wie auf sturmbewegter See ohne Kompass, in weiter Wüste ohne Führer, in Feindesland ohne auch nur einen Freund.
  Diese Bitte ist eine Ergänzung zu der vorhergehenden: Öffne mir die Augen. Bittet diese um die Fähigkeit zu sehen, so die andere um Abwendung des Gegenteils, des Nichtsehenkönnens,weil das zu Schauende den Augen verborgen wird. Es ist gut, wenn wir den Segen, den wir für uns begehren, von beiden Seiten ins Auge fassen, auch die Kehrseite in unserem Gebet berücksichtigen. Die Bitten entsprechen ferner den verschiedenen Benennungen, die sich der Psalmist zur Bezeichnung seiner persönlichen Stellung beigelegt hat. Als Knecht des HERRN bittet er um geöffnete Augen, damit dieselben stets auf ihren Herrn gerichtet seien, wie es einem Knecht geziemt (Ps. 123,2); und als Fremdling bittet er, dass er nicht fremd sei auf dem Wege, der ihn nach Hause führen soll. In beiden Beziehungen setzt er sein ganzes Vertrauen allein auf den HERRN.
  Einen schönen Gegensatz können wir auch in V. 11 und V. 19 finden. Er hatte Gottes Wort in seinem Herzen geborgen und bittet nun, Gott wolle seine Gebote nicht vor ihm verbergen.

20. Meine Seele ist zermalmt vor Verlangen nach deinen Rechten allezeit. Die wahre Gottseligkeit besteht hienieden zum guten Teil im Verlangen, in Sehnsucht des Herzens. Denn wie wir nicht sind, was wir sein sollten, so sind wir auch nicht, was wir sein möchten. Die Sehnsucht des begnadigten Menschen nach völligerer Heiligung ist brennend und wird immer brennender; dies Verlangen wirkt auf das Herz aufreibend und spannt die Saiten des Gemütes so an, dass diese unter der Gewalt des himmlischen Zuges wohl gar zu zerreißen drohen. Schätzen wir die Rechtsordnungen Gottes hoch, so wird das Begehren, sie tiefer zu erkennen und völliger nach ihnen zu handeln, immer stärker, und dies Begehren lastet so schwer auf der Seele, dass sie unter dem Druck ihrer Sehnsucht zermalmt zu werden in Gefahr kommt. Aber welch ein Glück ist es, wenn all unser Verlangen und Sehnen so nach dem Göttlichen geht; nach solcher Sehnsucht mögen wir uns wohl sehnen!
  Gottes Rechte sind seine Rechtsentscheidungen in den Dingen, über welche die Menschen sonst im Zweifel sein könnten. Jedes Gebot Gottes ist ein Rechtsspruch des höchsten Gerichtshofes über eine Frage des Handelns, eine unfehlbare und unabänderliche Entscheidung über eine sittliche oder geistliche Frage. Gottes Wort ist ein Gesetzbuch, von dem es keine Berufung gibt. Wo es spricht, hat jedes "Ich meine, ich denke" des Menschen ein Ende; vor ihm soll aller Streit, aber auch jeder Zweifel verstummen.
  Der Psalmist hatte solche Ehrfurcht vor dem Worte Gottes, solch ein Verlangen, es recht kennen zu lernen und ihm ähnlich zu werden, dass seine Sehnsucht ihm schier das Herz brach, und das macht er hier vor Gott geltend in heißem Flehen. Inbrunst des Verlangens ist die Seele des Gebetslebens, und wenn das Verlangen so stark wird, dass die Seele fast davon aufgerieben wird, dann kann der ersehnte Segen nicht lange ausbleiben. Die allerinnigste Gemeinschaft zwischen der Seele und ihrem Gott wird eben durch den in unserem Vers geschilderten Vorgang herbeigeführt: Gott offenbart seinen Willen, und unser Herz sehnt sich, sich damit in Übereinstimmung zu sehen. Gott gibt seinen Richterspruch ab, und unser Herz freut sich seiner Entscheidung. Das ist die allerwirklichste und vollkommenste Herzens-Gemeinschaft.
  Beachten wir, dass unser Verlangen nach Gottes Rechten ein dauerndes sein soll; wir sollen nach ihnen verlangen allezeit. Begehrnisse,die man wie ein Kleid an- oder ablegen kann, sind im besten Fall bloße Wünsche und verdienen vielleicht selbst diesen Namen kaum; sie sind zeitweilige Gefühlsbewegungen, aus der Aufregung geboren und ihrer Natur nach dazu bestimmt, zu ersterben, wenn die Hitze, die sie erzeugt hat, sich abkühlt. Nur wer zu jeder Zeit sich sehnt, das, was recht ist, zu erkennen und zu tun, ist ein wahrhaft rechtschaffener Mann. Sein Urteil ist gesund, denn er liebt alle Rechtsurteile Gottes und befolgt sie mit Beständigkeit. Seine Zeit wird stets gute Zeit sein, da er allezeit gut zu sein und gut zu handeln verlangt.
  An diesen vierten Vers des dritten Abschnittes klingt der vierte Vers des vierten Abschnittes (V. 28) auffallend an: Meine Seele ist zermalmt - mein Herz (meine Seele, Grundt) verschmachtet. Es unterliegt für uns keinem Zweifel, dass der Dichter mit Absicht die Verse vielfach so kunstvoll verkettet hat, und wir dürfen nicht achtlos an etwas vorübergehen, worauf der Psalmist so viel Sorgfalt verwendete.

21. Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Dies ist eine von Gottes Rechtsordnungen: er lässt sicher schreckliche Gerichte ergehen über die Hochmütigen. Den stolzen Pharao strafte er mit schweren Plagen, und am Schilfmeer "ward des Erdbodens Grund aufgedeckt von deinem Schelten, HERR" (Ps. 18,16). An den übermütigen Ägyptern stellte er für alle Stolzen ein warnendes Beispiel auf, dass er sie erniedrigen werde. Verfluchte Übermütige nennt sie der Psalmist (nach den masoretischen Satzzeichen, während Luther die Versglieder hier nach der LXX abteilt). Ja, die Stolzen stehen unter einem Fluch; niemand segnet sie, und sich selbst werden sie auch bald zur Last, denn der Hochmut ist an sich schon eine Plage und Qual. Selbst wenn Gottes Gesetz keinen ausdrücklichen Fluch auf den Stolz legte, so scheint es schon ein Naturgesetz zu sein, dass die Hochmütigen unglückliche Menschen sind. Darum verabscheut David den Stolz; er fürchtet das Schelten Gottes und den Fluch des Gesetzes. Die stolzen Sünder seiner Zeit waren zugleich auch seine Feinde; da war er froh, dass Gott ebenso wie er mit ihnen im Streit lag.
  Die von deinen Geboten abirren: das sind eben die Stolzen. Nur demütige Herzen sind gehorsam; denn nur sie unterwerfen sich der Ordnung und Autorität. Der Stolze trägt die Augen viel zu hoch, als dass er auf seine Füße achten und des HERRN Weg einhalten könnte. Der Hochmut liegt am Grunde jeder Sünde verborgen; wären die Menschen nicht vermessen, so würden sie es auch nicht wagen, ungehorsam zu sein.
  Gott schilt die Hoffart, wenn auch die Menge ihr huldigt; denn er sieht darin Auflehnung gegen seine göttliche Majestät und erkennt darin zugleich den bösen Samen, aus dem immer mehr Empörung und Ungehorsam hervorkeimen werden. Der Hochmut ist in der Tat der Gipfel der Sünde. Man spricht wohl auch von einem rechten, ehrenhaften Stolz; wenn die Leute aber nicht voreingenommen wären, würden sie bald einsehen, dass der Stolz von allen Sünden die am wenigsten ehrenhafte ist und diejenige, die dem Geschöpfe, zumal dem gefallenen Geschöpfe, am schlechtesten ansteht. Aber so wenig Ahnung haben die Hochmütigen davon, wie es wirklich um sie steht, dass nämlich der Fluch Gottes über ihnen hängt, dass sie sich sogar anmaßen, die Frommen zu tadeln und ihrer Verachtung gegen sie höhnend Ausdruck zu geben, wie wir im nächsten Vers sehen. Sie sind selber verächtlich, und doch benehmen sie sich verachtungsvoll gegen die, die besser sind als sie. Wir mögen die Rechte Gottes wohl lieb gewinnen, wenn wir sehen, wie entschieden sie sich gegen die eingebildeten Emporkömmlinge wenden, die so gerne über die Gottesfürchtigen die Nase rümpfen und den Herren spielen. Und wir dürfen bei dem Schelten der Gottlosen getrosten Mutes sein, da ihre Macht, uns zu kränken und zu schaden, durch den HERRN vereitelt werden wird. "Der HERR schelte dich!" (Judas V. 9), das genügt als Antwort auf alle die Anklagen, die Menschen oder Teufel gegen Gottes Knechte vorbringen mögen.
  In dem fünften Vers der vorhergehenden Gruppe (V. 13) hatte der Psalmist gesagt: Ich will mit meinen Lippen erzählen alle Rechte deines Mundes. Hier, V. 21, führt er ein besonderes Beispiel von den Rechten oder Gerichten Gottes an, nämlich das Recht, das Gott an den Hoffärtigen ausübt. In den entsprechenden Versen der nächsten beiden Gruppen (V. 29.37) wird er vom Weg der Lüge und von dem Sehen nach dem Eitlen handeln, zwei Übel, die mit dem Hochmut des Menschenherzen aufs innigste zusammenhängen.

22. Wende (oder wälze ab) von mir Schmach und Verachtung. Das sind gar peinliche Dinge für empfindsame Gemüter. Der Psalmist konnte sie ertragen um der Gerechtigkeit willen, aber ein schweres Joch, eine drückende Last waren sie, und er sehnte sich sehr, davon befreit zu werden. Verleumdet zu werden und dann um der üblen Nachrede willen Verachtung erdulden zu müssen ist eine schwere Prüfung. Niemand wird gerne das Opfer von Schmähungen, nicht einmal stille Verachtung können wir ohne Seelenqual erdulden. Wer spricht: "Ich kümmere mich nicht darum, was die Leute von mir denken oder sagen", ist kein kluger Mann, denn der weise Salomo sagt: Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe (Pred. 7,1). Es ist die beste Art und Weise, gegen die Verleumdung vorzugehen, wenn wir darüber beten; dann wird Gott uns entweder von den Schmähungen befreien, indem er sie verstummen lässt, oder aber ihnen den Stachel nehmen. Unsere eigenen Versuche, uns von ihnen zu reinigen, misslingen meistens; es geht uns da wie dem Schulknaben, der den Tintenfleck aus seinem Hefte entfernen will und damit, dass er darin herumpfuscht, die Sache zehnmal schlimmer macht. Haben wir unter unverdienter Schmähung zu leiden, so ist es besser, die Sache im Gebet vor den HERRN zu bringen, als dass wir damit vor Gericht gehen oder von dem Erdichter der Lügen auch nur eine Entschuldigung und Rechtfertigung unserer Ehre verlangen. O ihr, die ihr gekränkt und verlästert werdet, bringt eure Klagen doch vor dem allerhöchsten Gerichtshof vor und lasst sie dort in den Händen des Richters aller Welt. Gott wird eure hochmütigen Verkläger schelten; seid ihr nur stille und überlasst es eurem Verteidiger, eure Sache zu verfechten.
  Denn ich halte deine Zeugnisse. Die Unschuld kann mit Recht begehren, dass sie von der Schmach gerechtfertigt, die Verachtung von ihr genommen werde. Wenn in den Anklagen, die man gegen uns schleudert, Wahrheit ist, freilich, womit könnten wir dann Gott bestürmen, uns zu rechtfertigen? Werden wir aber ungerecht geschmäht, so steht unsere Berufung auf unerschütterlichem Grunde und kann nicht abgewiesen werden. Wenn wir aus Furcht, der Schmach bei Menschen zu verfallen, Gottes Zeugnisse verleugnen, dann verdienen wir es, dem Verdammungsurteil zu verfallen, das den Feiglingen droht (Off. 21,8); unsere Bewahrung liegt darin, dass wir mit ganzer Treue festhalten an dem, was recht und wahr ist. Gott bewahrt die, die seine Zeugnisse bewahren. Ein gutes Gewissen bietet die beste Gewähr für einen guten Namen. Keine Schmach wird an denen haften bleiben, die mit Christo verbunden sind, und alle Verachtung der Menschen wird sich in Ehre bei Gott verwandeln für die, die Gottes Wort und Willen ehren.
  Dieser Vers entspricht nach Inhalt und Stellung dem sechsten und klingt mit seinem Stichwort "Zeugnisse" an V. 14 an.

23. Es sitzen auch (die) Fürsten und reden wider mich. David war ein edles Wild, darum waren es auch vornehme Jäger, die auf ihn Jagd machten. Fürsten erkannten an ihm eine Größe, die sie mit Neid erfüllte; deshalb suchten sie ihn durch Schmähreden zu verkleinern. Sie hätten auf ihren Thronen wohl an Besseres denken, über Besseres reden können; aber sie verwandelten den königlichen Richtstuhl in einen Sitz der Spötter (Ps. 1,1). Die meisten Menschen bemühen sich eifrig um ein freundliches Wort eines Fürsten, und von einem der Großen auf Erden geschmäht zu werden ist ihnen ein bitterer Kummer; aber der Psalmist trug diese Prüfung mit heiliger Gelassenheit. Viele der Vornehmen waren ihm feind und machten es sich zur Aufgabe, ihn zu stürzen. Sie hielten ein Femegericht über ihn, veranstalteten regelrechte Verleumdungssitzungen und Lügenverschwörungen gegen ihn; aber er überlebte alle ihre Angriffe.
  Aber dein Knecht sinnt über deine Rechte. (Grundtext, vergl. V. 15) Das war tapfer und treu! Er ist Gottes Knecht, darum kümmert er sich um die Angelegenheiten seines Herrn; deshalb ist er aber auch gewiss, dass sein Herr für ihn eintreten wird. So kehrte er sich nicht an seine Verleumder, ob sie auch Fürsten waren, und blieb bei all ihren feindlichen Anschlägen ruhig. Lass sie zusammensitzen und Ränke schmieden - er erlaubt nicht einmal seinen Gedanken, sich dadurch stören zu lassen. Wer sind denn diese Bösewichter, dass sie es fertig bringen sollten, einen treuen Knecht von seiner Pflicht, auf seinen Herrn und dessen Willen alle Gedanken zu richten, abwendig zu machen, oder den Auserkorenen Jehovahs auch nur für einen Augenblick in seiner trauten Gemeinschaft mit seinem Gott zu stören? All das pöbelhafte Lärmen seiner fürstlichen Feinde war es nicht wert, dass er auch nur fünf Minuten darüber nachgrübelte, wenn er diese fünf Minuten dem Sinnen über Gottes Rechte entziehen musste. Ein schönes Doppelbild fürwahr: dort die Versammlung der Fürsten, die sich zusammengesetzt haben, um sich wider den Psalmisten zu bereden, wie sie ihn stürzen können, und hier die traute Zusammenkunft des also Geschmähten und Angefeindeten mit seinem Gott. Still sitzt er über seiner Bibel, und seine ganze Antwort an seine Widersacher ist eben die, dass er ihnen keine Antwort gibt. Er denkt nur über die Rechte seines Herrn, sein Wort stärkt ihn, macht ihn friedfertig, und Gottes Gnade birgt ihn vor dem Hader der Zungen (Ps. 31,21).

  Der aus dem Wort gezeuget
  Und durch das Wort sich nährt
  Und vor dem Wort ich beuget
  Und mit dem Wort ich wehrt.

  In dem entsprechenden Vers der vorigen Gruppe hatte er den Vorsatz ausgesprochen: Ich will sinnen über deine Befehle. Hier zeigt er, wie er diesen Vorsatz ausführt, selbst unter Umständen, die ihn in schwere Versuchung bringen müssen, ihn zu verlassen. Es ist ein trefflich Ding, wenn wir Entschlüsse, die in frohen Stunden gefasst sind, auch in Zeiten der Trübsal getreulich halten.

24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen, die sind meine Ratsleute. Sie waren ihm also nicht nur Gegenstand des Nachdenkens, sondern auch eine Quelle des Ergötzens und ein Mittel sicherer Führung in seinen schweren Verlegenheiten. Während seine Feinde miteinander ratschlagten, suchte der Gottesmann Rat in dem Worte Gottes, das ihm den Willen seines Herrn bezeugte. Mit all ihrem Lärmen brachten die Vogler es doch nicht fertig, den Vogel aus seinem Nest zu vertreiben. Sie hatten ihre Lust daran, ihn zu verlästern und anzufeinden, er aber am Sinnen über Gottes Willenserklärungen. Die Worte des HERRN dienen uns auf vielerlei Weise: Sind wir bekümmert, so bereiten sie uns Ergötzung, und bringen Schwierigkeiten uns in Verlegenheit, so finden wir in ihnen Rat; sie bieten uns Lust der edelsten Art und zugleich die höchste Weisheit. Wollen wir aber Trost und Freude in der Schrift finden, so müssen wir uns ihren Weisungen, ihrem Rat unterwerfen, und wenn wir tun, was sie uns anrät, so soll das nicht widerwillig, sondern mit Lust geschehen. Das ist die sicherste Art sich zu verhalten, wenn wir es mit Leuten zu tun haben, die sich uns zu verderben verschwören. Lasst uns den wahren Zeugnissen des HERRN mehr Beachtung zuwenden als den falschen Zeugnissen unserer Widersacher. Die beste Antwort auf die Anklagen der Fürsten, die sich wider uns setzen, ist doch das Wort des Königs, wenn dies Wort uns rechtfertigt.
  Im 16. Vers sagte der Psalmist. Ich will an deinen Rechten meine Lust haben, und hier spricht er: Ich habe meine Lust an deinen Zeugnissen. So kommen Entschlüsse, die in Gottes Kraft gefasst werden, zum Fruchttragen, und was zunächst nur ein durch den Geist gewirktes Sehnen war, wird zum tatsächlichen Besitz und zur eingewurzelten Eigenschaft. Mögen das alle Leser dieser Zeilen an sich selbst erfahren.


V. 17-24. Das achtfache g (G): Gottes Wort zu halten, das ist sein Lebenszweck; er will es in Furcht vor dem Fluch des Abfalls, will es, auch wenn er deshalb verfolgt wird.

17. Gütig zeig dich deinem Knechte, dass ich lebe,
So will ich beobachten dein Wort.
18. Gib offene Augen, damit ich erblicke
Wunderdinge aus deinem Gesetze.
19. Gast bin ich auf dieser Erde,
Verbirg nicht vor mir deine Gebote.
20. Ganz zermalmt ist meine Seele in Sehnsucht
Nach deinen Rechten allezeit.
21. Gedroht hast du den Übermütigen,
Verflucht sind, die von deinen Geboten abirren.
22. Gehöhn und Schimpf ziehe hinweg von mir,
Denn deine Zeugnisse beachte ich.
23. Ggleichviel ob Fürsten sitzen, sich wider mich bereden,
Dein Knecht sinnt über deine Satzungen.
24. Gleichwohl sind deine Zeugnisse mein Ergötzen,
Die sind meine Ratsleute.
  Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 17. Deinem Knecht. Dass er sich so häufig als einen Knecht Gottes bezeichnet, zeigt die Ehrfurcht, die er Gott gegenüber empfindet; er sieht es für ehrenvoller an, ein Knecht Gottes zu heißen, als der König eines mächtigen, alten, berühmten Volkes. Und wenn sogar die Engel Gottes Diener genannt werden, sollten Menschen es für eine Erniedrigung halten, Gott zu dienen? Zumal da er in seiner unerschöpflichen Güte jene in unseren Dienst gestellt hat, als dienstbare Geister für uns arme Menschen, sollten wir ihm da nicht unserseits freudig dienen, der alle Geschöpfe zu unserem Dienst bestimmt hat, und uns allein von der Verpflichtung ausgenommen hat, anderen Wesen dienstbar zu sein und allein für sich unsere Dienste verlangt? William Cowper † 1619.
  Ein treuer Knecht hält sich für seine früheren Dienste reichlich belohnt, wenn ihn sein Herr noch weiter in einem Dienste verwenden will; in diesem Sinne bittet auch der Psalmist, dass er leben möge, um Gottes Wort ferner zu halten. David Dickson † 1662.
  Auf dass ich lebe und dein Wort halte. Dies beides gehört zusammen. Dem Menschen, der in Empörung gegen seinen Herrn und Schöpfer lebt, wäre es besser, dass er nie geboren wäre. Je kürzer sein Leben, umso weniger Gelegenheit für ihn zu sündigen. Für den Erwählten Gottes aber ist das Leben eine große Gnadenerweisung. Je länger er lebt, umso mehr Gutes wirkt er, zur Ehre Gottes, zur Erbauung seiner Mitmenschen, wie zur Befestigung seiner eigenen Heiligung durch fortwährendes Ringen und Überwinden in allen Versuchungen, durch Beharren bis ans Ende. William Cowper † 1619.


V. 18. Öffne mir die Augen. Wer mag die Geheimnisse der Schrift erforschen und in ihre verborgenen Tiefen eindringen, wenn ihm nicht Christus die Augen öffnet? Sicherlich niemand, denn niemand kennt den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Darum nahen wir zu ihm mit der Bitte: Öffne du mir die Augen. Wir können Gottes Wort nicht halten (V. 17), wenn wir es nicht kennen, und wir können es nicht kennen, wenn uns nicht die Augen geöffnet sind. Paulus Palanterius 1600.
  Öffne mir die Augen. "Was willst du, dass ich dir tun soll," das war die Frage voll erbarmender Liebe, die der Herr an jenen Unglücklichen richtete. "Herr, dass ich sehen möge," war die sofort bereite Antwort. An denselben barmherzigen, liebenden Herrn wendet sich hier der Psalmist und fleht: Öffne mir die Augen. Und wir fühlen bei dieser wie der vorhergehenden Bitte sofort, welcher Geist sie eingegeben hat. Barton Bouchier † 1865.
  Gottes Heilige beklagen sich nicht über die Dunkelheit des Gesetzes, sondern über ihre eigene Blindheit. So sagt auch der Psalmist nicht: HERR, gib uns ein klareres Gesetz, sondern: HERR, öffne mir die Augen. Oder dürften etwa die Blinden Gott anklagen, dass er nicht eine Sonne geschaffen, in deren Licht sie auch sehen könnten? Gottes Wort ist ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort (2. Petr. 1,19). In der Schrift fehlt es nicht an Licht, auf unseren Herzen aber liegt ein dichter Schleier; wenn wir trotz dieses hellen Lichtes nicht zu sehen vermögen, so liegt der Fehler nicht am Wort, sondern an uns selbst. Das Licht, das die Gottseligen begehren, ist nicht etwas neben dem Worte. Die Leute, die ihre eigenen Träume als Offenbarungen des Geistes ausgeben, bieten uns nicht Mysterien, sondern Monstrositäten, zeigen uns nicht die Wunderdinge Gottes, sondern Wunderlichkeiten ihres eigenen Hirns, unglückliche Fehlgeburten, die sterben, sobald sie ans Licht kommen. "Zur Gotteslehre und zum Zeugnis! Wenn sie nicht in dieses Wort einstimmen, sind sie solche ohne Morgenrot." (Jes. 8,20.) - Die wörtliche Übersetzung der Bitte würde lauten: Entschleiere meine Augen, nimm die Hülle von ihnen weg. Die Art, wie der blinde Saulus wieder sehend wurde, ist ein treffendes Bild unserer eigenen Heilung von der geistlichen Blindheit: Alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend (Apg. 9,18). Thomas Manton † 1677.
  Der HERR hat den Gläubigen des Alten Bundes ja auch je und je neue Offenbarungen gegeben, je nachdem es nötig und seinen Ratschlüssen gemäß war. Der Psalmist aber bittet hier nicht um ein Mehreres, sondern dass er das recht verstehe und verwenden könne, was er bereits in Gottes Wort besitzt. Und uns, den Christen des Neuen Bundes, geziemt diese Bitte noch viel mehr. Es ist für uns von der größten Wichtigkeit, dass uns diese Wahrheit so recht zum Bewusstsein komme, dass es noch so vieles in der Bibel zu erforschen gibt, und dass uns, wenn wir im rechten Geiste an sie herantreten, manches davon erschlossen werden mag. Um diese verborgenen Schätze zu heben, bedarf es aber nicht sowohl besonderer Gelehrsamkeit, obwohl diese keineswegs zu verachten ist, als vielmehr geistliches Sehvermögen, ein demütiges, liebeerfülltes Herz. Soviel wenigstens ist gewiss, dass wir stets Dinge finden werden, die uns neu sind. Mögen wir auch noch so oft diese Gefilde durchstreifen, immer werden wir auf einen neuen Schatz stoßen, der uns entgegen leuchtet, und werden erstaunt sein, wahrzunehmen, wie unsere Augen früher gehalten waren, dies nicht zu sehen, und doch war es immer da und wartete auf uns, und wir ahnen, dass da noch viel mehr unserer Entdeckung harrt. - Auch das ist der Beachtung wert, dass der Psalmdichter nicht um eine neue Fähigkeit bittet. Die Augen sind da, sie bedürfen nur, dass sie geöffnet, dass sie von der auf ihnen liegenden Hülle befreit werden. Nicht die Verleihung einer neuen, übernatürlichen Macht ist nötig, um einen Menschen zu befähigen, die Bibel mit Nutzen zu lesen, sondern die Belebung und Entbindung einer Fähigkeit, die er bereits besitzt. Von einem Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Kraft allerdings übernatürlich, da Gott der Urheber der Erleuchtung ist und diese unmittelbar durch seinen Geist wirkt; in anderer Hinsicht jedoch ist sie natürlich, da sie durch die Fähigkeiten wirkt, die der Mensch schon hat. Darin liegt auch unsere Verantwortlichkeit. Niemand wächst in die Erkenntnis des göttlichen Wortes hinein, indem er müßig auf eine neue Gabe wartet, sondern indem er das, was Gott ihm bereits verliehen hat, fleißig benutzt und zugleich alle Hilfsmittel, die er erreichen kann, anwendet. Es gibt Menschen und Bücher, die vor andern Kraft haben, uns in geistlicher Einsicht zu fördern. Wir alle haben diese Kraft gefühlt durch geheimnisvolle Berührung mit einer gewissen Naturverwandtschaft, die sie zu unseren besten Helfern machte. Lasst uns solche Mittel brauchen, ohne uns von ihnen abhängig zu machen. Vor allem aber lasst uns unser ganzes Gemüt in geduldigem, liebendem Forschen dem Buche selber hingeben, und wo wir in irgendeinem wesentlichen Stück ratlos dastehen, wird Gott uns entweder einen Philippus zu Hilfe senden (Apg. 8) oder selbst uns unterweisen. Doch nur dem, der sich mit Hingebung und Ausdauer ins Wort versenkt, wird Hilfe von oben gegeben. Gott könnte uns ja alle Erkenntnis durch bequeme Inspiration eingießen; aber nur durch ernstes Forschen wird die Erkenntnis wirkliches Eigentum der Seele. - Die Hauptursache, warum die Menschen die Kraft und Schönheit der Heiligen Schrift nicht empfinden, ist geistlicher Art. Sie sind nicht durchdrungen von der Wirklichkeit des einen großen Übels, das zu heilen die Bibel in die Welt gesandt ist, und haben keinen Geschmack für die Segnungen, die sie uns als Gabe darbietet. Das Starfell der Naturverderbnis ist auf ihren Augen, während sie lesen. Sie wandeln in Verfinsterung ihrer Gesinnung, in Entfremdung von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, so in ihnen ist, durch die Blindheit ihres Herzens. (Eph. 4,18) Alle Fähigkeiten unserer Natur werden nie den rechten Schlüssel zur Bibel finden, bis die Gedanken der Sünde und der Erlösung ins Herz eingehen und als der Kern, als die Zentralgedanken der Heiligen Schrift erkannt werden. Das wirkt der Heilige Geist in unserem Herzen, und dann lesen wir das Buch im Sinne seines Urhebers. John Ker 1877.
  Wunder. Das hebräische Wort wird häufig von den Wundertaten Gottes gebraucht. Warum begriffen die Israeliten die Wunder nicht, deren ihre Geschichte voll war? Mose erklärt es: Der HERR hat euch bis auf diesen heutigen Tag noch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre, und Augen, die da sehen, und Ohren, die da hören. (5. Mose 29,3) An den natürlichen Sinnen und Verstand gebrach es ihnen nicht; aber sie waren noch unwiedergeborene Menschen. Wunder ohne göttliche Gnade vermögen nicht die Augen zu öffnen; wohl aber Gnade ohne Wunder. - Wenn aber, laut Davids Bitte, die Wunder am Gesetz nicht geschaut werden können, ehe Gott die Augen dazu öffnet, wieviel weniger die Wunder am Evangelium. Das natürliche Licht lässt uns doch einiges am Gesetze schauen, aber nichts am Evangelium. Und viele, die einen Blick hatten für die Vorzüge des Gesetzes, haben für die Vorzüge des Evangeliums kein Auge gehabt, und sie deshalb verachtet und geleugnet, so lange bis Gott ihre Herzen öffnete, dass sie verstanden. Joseph Caryl † 1673.
  Nicht das Fernrohr ist es, was das Funkeln und Schimmern der Sterne, die dem bloßen Auge nur als ferne Lichtpunkte erscheinen, in den fernen Himmelsräumen hervorruft; es ist nicht das Vergrößerungsglas, das eine ganze Welt von geschäftigen Kleinwesen in den engen Raum eines Wassertropfens einschließt oder den kaum sichtbaren Flügel eines zarten Kleinfalters mit leuchtenden Farben bemalt. Die Sterne leuchten seit Jahrtausenden in gleicher Pracht, und die winzigen Geschöpfe, die den Wassertropfen bevölkern, treiben ihr altgewohntes Wesen, und der reichste Schmuck leuchtet nach wie vor auf dem winzigen Schmetterlingsflügel, ob wir nun die Werkzeuge besitzen oder nicht, die unser Auge befähigen, den Weltraum zu durchdringen oder das Kleinste im kleinsten Raum zu erkennen. Ebenso ist es mit unserer Bibel, in ihr sind alle Wunder eingeschlossen, und der Geist, der sie zuerst verfasste, bringt sie dem einzelnen nicht als neue Offenbarungen entgegen, sondern indem er die Nebel menschlicher Vorurteile zerstreut, die Schuppen des Stolzes und der Selbstgerechtigkeit von den Augen fallen lässt, indem er den Willen zurechtbringt, der so oft dem Urteil verzerrte Bilder der Wahrheit vorgaukelt, indem er auch auf das Herz einwirkt, so dass seine Neigungen und Begierden nicht mehr das Verständnis trüben und blenden, - so und noch auf mancherlei Weise befähigt der Heilige Geist die Menschen, zu erkennen, was verborgen ist, leuchtende Schönheit, strahlende Herrlichkeit da zu schauen, wo vorher alles ohne Gestalt und Schöne erschienen war: die Augen sind geöffnet, dass sie sehen die Wunder an Gottes Gesetz. Henry Melvill † 1871.
  Der Zweck der Heiligen Schrift ist in erster Linie ein hervorragend praktischer. Aber wie wir hier sehen, kommt sie dem angeborenen Sinn des Menschen für das Wunderbare, unserer Fähigkeit, uns zu wundern, entgegen, die wir schon bei unseren Kindern und bei allen Menschen, deren Empfinden noch frisch und ungekünstelt ist, wahrnehmen und die die Vorstufe der Wissbegierde ist. Es ist ein Beweis für die Göttlichkeit des Ursprungs der Heiligen Schrift, dass unser Schöpfer sie allen Seiten unserer Natur so genau angepasst hat. John Ker 1877.


V. 19. Ich bin ein Gast auf Erden. David hatte viel erfahren und erlebt, Krieg und Frieden, Reichtum und Armut, Freude und Leid. Er war ein einfacher Hirtenknabe gewesen und ein Krieger und Höfling und schließlich selbst ein mächtiger König; ein friedliches Gewerbe, ein blutiger Beruf, eine ehrenvolle, aber zugleich sehr, sehr abhängige Stellung, und zum Schlusse Ruhm und Macht unter den Völkern, aber welche Sorgen, welche Last und Unruhe! Dies alles hatte er durchgemacht, und wenn er auf sein Leben zurückblickte, so musste er gestehen, dass es am friedlichsten, am sorgenfreiesten gewesen war, als er noch mit dem Schäferstab seiner Herde voranschritt. Und aus diesen Erfahrungen heraus kommt er zu dem Bekenntnisse: Ich bin hienieden nicht zu Hause, bin auf Erden nur ein Gast, ein Fremdling. Mit diesen Worten gibt er ein Bild seines Lebenslaufes. Was er gesehen und erfahren, an Freudigem und Trübem, das alles hatte ihn nur in der Gewissheit immer mehr befestigen können, dass es hienieden nichts Gewisses, nichts Bleibendes gibt. Dies Bekenntnis aus dem Munde eines Mannes, der im Besitze alles dessen war, was das Leben nach den Begriffen der Menschen lebenswert macht, welch beredtes Zeugnis legt es ab von der Eitelkeit alles Irdischen, aber auch von dem Zug nach oben, der den Grundton aller biblischen Frömmigkeit bildet! Anth. Farindon † 1658.
  Auf Erden. Der Psalmist spricht hier ganz allgemein. Die ganze Erde ist ihm die Fremde, die Stätte seiner Pilgerschaft. Nicht nur in den Tagen seiner Verbannung unter den Moabitern und Philistern fühlte David sich als Gast und Fremdling, sondern selbst dann, da er friedlich in der Heimat, in Kanaan, lebte. Ihn erfüllte dasselbe Empfinden wie Basilius, der den Gesandten des Kaisers Valens, die ihm mit Landesverweisung drohten, erwiderte: "Furcht vor Verbannung habe ich keine, denn ich kenne nur ein Vaterland des Menschen, das Paradies; die ganze Erde ist nur ein großer Verbannungsort für uns." Und das Bewusstsein, dass wir hier nur Gäste und Fremdlinge sind und binnen kurzem unseren Platz in unserem Hause, an unseren Tische, in unserem Bette anderen überlassen müssen, muss uns zu besonnenem Maßhalten in unseren Freuden mahnen. William Cowper † 1619.


V. 20. Meine Seele ist zermalmt usw. Es ist dies eine Beteuerung seines aufrichtigen Verlangens, dem Worte Gottes gehorsam zu sein. Was den Psalmisten bewegt, ist einmal kein leichtes, oberflächliches Gefühl; es wurzelt so tief in seinem Herzen, dass das Bewusstsein seines Unvermögens, sein Vollbringen mit seinem Wollen in Einklang zu bringen, ihm "die Seele zermalmt". Weiter aber ist es auch kein vorübergehendes, nur flüchtiges Gefühl, nicht wie ein Tau, der frühmorgens vergeht (Hos. 6,4), sondern ein dauerndes: allezeit. William Cowper † 1619.
  Das Verlangen, die verborgenen Wunder am Gesetze zu erkennen, den Rechten des HERRN zu folgen, war fast bis zur Unerträglichkeit gestiegen, und es erfüllt ihn Tag und Nacht, allezeit, in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, in frohen und in traurigen Stunden, im Kreise der Freunde, im Drang der Berufsgeschäfte oder in stiller Einsamkeit, nichts vermochte es zu ersticken oder zu übertäuben. Wer mit rechtem Eifer die Wunder am Gesetze des HERRN verfolgt, wird nie in seinem Verlangen befriedigt werden, solange er ein Gast auf Erden ist. Erst wenn wir Ihm gleich sind und ihn sehen, wie er ist, wenn wir schauen sein Angesicht in Gerechtigkeit, werden wir ausrufen dürfen: Es ist genug, HERR. Wir werden erst satt werden, wenn wir erwachen, an deinem Bilde (Ps. 17,15). F. G. Marchant 1882.
  Allezeit. Auch schlechte Menschen haben ihre frommen Augenblicke und Stimmungen, wie gute ihre schlimmen Augenblicke haben. Ein Gottloser mag auch einmal, wenn er die Gedanken nicht los werden kann, die sich untereinander anklagen und verfolgen, wenn er sich unter der göttlichen Zuchtrute krümmt, wenn er die Schrecken des Todes und der Hölle vor Augen hat, zum HERRN schreien um Gnade; aber nur der ist der wahrhaft Fromme, vom HERRN Gesegnete, nur dem gilt die Seligpreisung, der da allezeit hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit. Thomas Brooks † 1680.
  Manche lernen das Wort erst lieb haben und schätzen, wenn sie im Unglück sind, wenn sie keinen anderen Trost haben, auf den sie sich verlassen können. Dann sind sie froh, dass sie das Wort haben, um sie in ihrer Not zu trösten. Wenn es ihnen aber gut geht, so missachten sie es. David aber hielt sich daran allezeit, im Glücke, um demütig zu bleiben, im Unglück, um den Mut nicht zu verlieren, dort, um ihn vor Übermut, hier, um ihn vor Verzweiflung zu bewahren. In den Zeiten der Anfechtung diente das Wort ihm als Herzstärkung, in Zeiten des irdischen Wohlbefindens als Beruhigungsmittel, und so wurde sein Herz um des einen oder anderen Bedürfnisses willen stets wieder zum Worte hingeführt. Thomas Manton † 1677.
  Wie gering ist, selbst unter den aufrichtigen Knechten des HERRN, die Zahl derjenigen, die den vollen Umfang, die ganze Stärke der Inbrunst kennen, wie sie hier ihren Ausdruck findet. O HERR, mache du doch die toten, trägen Geister lebensvoll, zünde an die heilige Flamme deiner Gnade, damit wir erfasst und verzehrt werden von Sehnsucht und Verlangen nach deinen Rechten allezeit. Wie unbeständig, wie stoßweise treten selbst unsere besten Gefühle auf. Heute stehen wir, allem Irdischen entrückt, auf dem Berge der Verklärung in innigster Gemeinschaft mit unserem Herrn und Heiland, morgen sind wir in Gefahr, durch die Sorgen dieser Welt und den Betrug des Reichtums erstickt zu werden. Selig sind die, deren Herzen allezeit von Verlangen nach Vereinigung mit dem hohen, herrlichen Gegenstande der Liebe erfüllt sind. J. Morison 1829.


V. 21. Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Schon die Heiden kannten eine Sage von den übermütigen Riesen, die Gottes Blitz vom Himmel zurück schleuderte. Und wenn Gott die Engel nicht verschonte, die er doch bis in den Himmel erhoben hatte, sondern sie um ihres Stolzes willen bis in die Hölle hinab stieß, wieviel weniger wird er die Hoffart des Staubgeborenen, den Stolz der Menschenkinder schonen, sondern sie von der Höhe ihrer eingebildeten Größe hinabschleudern in den tiefsten Pfuhl jenes Abgrundes. Demut macht die Menschen zu Engeln, aber Stolz macht Engel zu Teufeln.
)Alazonei/aj ou}tij e)kfeu/gei dikhn, sagt ein heidnischer Dichter (Keiner entgeht der Strafe des Stolzes).1 So gewiss es einen gerechten Gott gibt, so gewiss wird der Stolz nicht ungestraft bleiben. Ich weiß ja, dass wir alle jetzt am liebsten uns ein Becken kommen ließen, um uns die Hände zu waschen, und so unsere Schuldlosigkeit hinsichtlich dieser argen Sünde darzutun. Aber, meine Brüder, die Hoffart ist ein gar zähes Laster, sie bleibt fest an euch haften, so fest, dass ihr sie kaum werdet von eurem eigentlichsten Wesen trennen können, und dies eben macht sie so besonders gefährlich. Sehr treffend sagt Thomas von Aquino: Einige Sünden sind gefährlicher wegen der Heftigkeit ihrer Anfälle, wie die Sünde des Jähzorns, andere, weil sie unserer Natur so ganz besonders entsprechen, wie die Sünden der Lüste; andere wegen der Heimlichkeit ihres Auftretens in unseren Herzen, so die Sünde des Stolzes. Blicken wir doch einmal recht genau und gewissenhaft in alle Winkel und Falten unseres Herzens, das sich nur allzu gerne allerlei Täuschung und Betrug hingibt, durchleuchten wir es mit dem Lichte des göttlichen Gesetzes, und wir werden sicher diesen heimlichen bösen Geist entdecken; dann wollen wir aber auch nicht ruhen, bis wir ihn hinausgeworfen haben. Fort mit eurem stolzen Gefieder, ihr prahlerischen Pfauen, seht doch eure hässlichen schwarzen Füße und euer schlangenähnliches Haupt an, schämt euch eurer vielen Mängel und Schwachheiten, eurer nutzlosen Flügel, eurer hässlichen Stimme; sonst wird Gott euch demütigen mit schrecklicher Heimsuchung. Und auch der Heiligste ist nicht frei vom Stolz; demütigen wir uns selbst in ernstlicher Reue und Buße, damit wir nicht der ewigen Verdammnis anheimfallen, werfen wir uns auf unsere Knie, damit wir nicht ganz in den Staub geworfen werden, denn noch immer hat Gott sein Wort wahr gemacht: Die Hoffart des Menschen wird ihn stürzen. (Spr. 29,23). Bischof J. Hall † 1656.
  Das Schicksal Kains, Pharaos, Hamans, Nebukadnezars, Herodes’ zeigt uns, wie der HERR mit den Stolzen verfährt, wie er sie schilt, sie verflucht. Ihre Personen, ihre Opfer sind ihm verhasst, er kennt sie von ferne (Ps. 138,6), er widersteht ihnen (Jak. 4,6), er zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn (Lk. 1,51). Ganz besonders aber sind sie ein Gräuel in seinen Augen, wenn sie im Gewande der Frömmigkeit auftreten, wenn sie sprechen: Halte dich fern und rühre mich nicht an, denn ich bin heilig (d. h. unnahbar) für dich. Solche sollen ein Rauch werden in meinem Zorn, ein Feuer, das den ganzen Tag brenne. (Jes. 65,5) David und Hiskia sind lehrreiche Beispiele der Geschichte, dass selbst Gottes Knechte, wenn sie den Regungen ihres stolzen Herzens nachgeben, nicht meinen dürfen, dem Zorne des HERRN zu entrinnen. Du, Gott, vergabst ihnen, doch du straftest ihr Tun (Ps. 99,8). Charles Bridges † 1869.
  David gibt hier noch einen anderen Grund an, weshalb er mehr entbrannt ist, Gott zu suchen und sich an ihn zu wenden, um in seinem Worte unterwiesen zu werden, nämlich wenn er sieht, wie er die Stolzen gescholten hat; denn die Züchtigungen, die Gott über die Ungläubigen und Widerspenstigen verhängt, sollen uns als ebenso viele Unterweisungen und Lehren dienen, wie geschrieben steht: Wo des HERRN Gerichte im Lande gehen, da lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit (Jes. 26,9). Der Prophet hat nicht ohne guten Grund so geredet, denn er will uns damit bedeuten, dass Gott uns durch viele Mittel zu sich zieht, besonders wenn er uns lehrt, seine Majestät zu fürchten. Denn ohne dies, ach, würden wir alsbald zu wilden Tieren werden, wenn Gott uns die Zügel auf dem Halse liegen ließe. Welche Ungebundenheit würde jeder von uns für sich in Anspruch nehmen, wie wir es in unserer Erfahrung sehen. Nun aber, da Gott sieht, dass die Menschen so leicht zu verführen sind, so schickt er ihnen Beispiele, damit sie veranlasst werden, in Furcht und sorgfältig zu wandeln. Jean Calvin † 1564.
  Petrus entwirft von den Stolzen ein Bild als von Aufrührern, die wider Gott streiten, ihn zum Kampfe herausfordern und ihn seiner Herrschaft berauben möchten, wie Korah, Dathan und Abiram sich wider Mose auflehnten. Denn so gedachtest du in deinem Herzen: Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen, ich will gleich sein dem Allerhöchsten (Jes. 14,13.14), ja, wenn es möglich wäre, noch über dem Allerhöchsten. Das ist das aus Staub und Erde gebildete Geschöpf, das, sobald es geschaffen war, sich gegen die Majestät Gottes auflehnte, vor der doch die Engel anbetend im Staube liegen, die die Throne und Fürstentümer verehren, vor dem die Teufel zittern, dem die Himmel gehorsam sind. Vom Stolze kann man sagen: Viele Sünden halten sich schändlich, aber du übertriffst sie alle. Der seinen Bruder hasst, der Verschwender, der Wollüstige, der Schlemmer und Prasser, der Faule, diese alle sind vielmehr ihre eigenen Feinde, der Stolze aber lehnt sich wider den HERRN auf, er setzt sich Gott gleich, denn er tut alles ohne ihn, er bittet ihn nicht um seinen Beistand; er erhebt sich über Gott, indem er seinen eigenen Willen, auch wenn er mit dem Willen Gottes in Widerspruch steht, durchsetzen will. Der Stolze spricht: Nicht deinem Namen, sondern uns gib Ehre. Und es geht ihm wie dem Herodes, der sich einen Gott nennen ließ und dem göttliche Ehren von allen erwiesen wurden, von allen, nur von den Würmern nicht; diese zeigten, dass er eben doch kein Gott, sondern nur ein armseliges Menschenkind war. Darum können die Stolzen in ganz besonderem Sinne Gottes Feinde genannt werden; denn wie der Habgierige die Menschen ihrer Güter beraubt, so der Stolze Gott seiner Ehre. Die anderen Sünder haben wenigstens noch einen Grund für ihre Sünde; beim Habgierigen sind es die Reichtümer, beim Ehrgeizigen sind es die irdischen Ehren, beim Lüsternen die Freuden aller Art, beim Trägen die Bequemlichkeit. Der Stolze aber hat keine solche Ursache, die außer ihm liegt, es ist eben einfach sein Stolz, der da spricht, wie Pharao sprach: Ich will nichts vom HERRN wissen und will nicht gehorchen. Henry Smith † 1591.
  Die Stolzen haben unter besonderem Fluche zu leiden, dem Fluche, ganz ohne Freunde zu sein, sowohl im Glück, denn dann kennen sie niemand, als im Unglück, denn dann kennt niemand sie. J. Whitecroß 1858.


V. 23. Es sitzen auch Fürsten und reden wider mich. Das war eine harte Prüfung für David, dass man ihn nicht nur in Schenken verspottete und verhöhnte, dass er nicht nur dort durch die schlechten Scherze von Wüstlingen lächerlich gemacht wurde und man auf den Märkten und in den Gassen davon sprach, sondern dass er noch dazu am Sitze der Gerechtigkeit, der doch heilig sein sollte, von Grund auf verunehrt wurde, dass man ihn wie einen bösartigen und verfluchten Menschen verdammte. Da nun David sieht, dass er so ungerecht behandelt wird, bringt er seine Klage vor den HERRN, indem er sagt: HERR, selbst die Fürsten und Obersten haben sich zusammengesetzt, um gegen mich Pläne zu schmieden; aber doch habe ich nicht nachgelassen, mich mit deinen Rechten zu beschäftigen. So haben wir in Summa aus dieser Stelle zu lernen, dass wir, wenn wir auf geradem Wege, in gutem Gewissen gewandelt sind und wir fälschlich verleumdet werden, wenn wir dieser oder jener Sache beschuldigt werden, an die wir niemals gedacht haben, dann das alles geduldig ertragen sollen; denn wir sind nicht besser als David, wir mögen noch so sehr unsere Unschuld beteuern. Jean Calvin † 1564.
  Es ist schon schwer genug, wenn der Gottesfürchtige von Gottlosen geplagt wird, aber noch viel schwerer, wenn er von angesehenen, vornehmen Leuten bedrängt ist. Einmal so wegen ihrer Stellung. Je einflussreicher sie sind, desto größere Gefahr bringt es, ihr Missvergnügen zu erregen. Darum sagt auch Salomo: Des Königs Grimm ist ein Bote des Todes (Spr. 16,14). Dann, weil Obrigkeiten und Gewaltige von Gott verordnet sind, nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten (Röm. 13,3), darum bereitet es den Frommen keinen geringen Schmerz, wenn sie sehen müssen, wie deren Macht zu bösem Zwecke missbraucht wird dass, wo ein Gewalthaber für die Guten sein sollte, wie der Regen auf die Aue, wie die Tropfen, die das Land feuchten (Ps. 72,6), er zu einem Gönner der Bösen, zu einem Verfolger der Frommen wird. Dann wird da Recht in Wermut verkehrt, und das, was den Gottesfürchtigen ein Trost sein soll, wird dazu missbraucht, sie zu bedrücken. Darum muss es als eine besondere Gnade von Gott angesehen werden, wenn er einem Volke gute und fromme Obrigkeit gibt. William Cowper † 1619.
  Aber dein Knecht redet von deinen Rechten. Wie der Landmann, dessen Land überflutet wird, Gräben zieht, Teiche gräbt, um das Wasser abzuleiten, so ist es, wenn unser Gemüt von Anfechtungen und Trübsalen überwältigt wird, gut, ihm Ablenkung zu anderen Gegenständen zu verschaffen. Aber nicht jede Ablenkung ziemt Gottes Heiligen, es muss eine heilige Ablenkung sein. Ich hatte viel Kümmernisse in meinem Herzen, aber deine Tröstungen ergötzten meine Seele (Ps. 94,19). Das ist ganz derselbe Fall wie in unserem Texte, wo der schädliche Stuhl das Gesetz übel deutet (Ps. 94,20), da hatte er viel Bekümmernisse wegen des Missbrauchs der Gewalt gegen sich. Wo aber fand er Trost? Hätte jede Ablenkung seinen Zwecken entsprochen? Nein. Deine Tröstungen, Tröstungen mit göttlicher Genehmigung, aus göttlicher Veranlassung, das sind die rechten Tröstungen für Gottesfürchtige. Thomas Manton † 1677.
  Die Waffen, mit denen David seinen Feind bekämpft, die einzigen Waffen des Frommen, mit denen er alle Anläufe des Widersachers abwehrt, sind das Wort und das Gebet. Er gibt nicht Vorwurf gegen Vorwurf, Scheltwort gegen Scheltwort. Es ist sehr gefährlich, Satan und seine Helfer mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, denn da werden sie uns leicht überwinden. Lasst uns mit den Waffen Gottes kämpfen, Wort und Gebet fleißig handhaben; denn man kann getrost in seinem Kämmerlein bleiben und im Vertrauen auf diese beiden den kläglichen Ausgang aller derer erwarten, welche um des HERRN willen Widersacher seiner Kinder sind. William Cowper † 1619.


V. 24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen, die sind meine Ratsleute. Wir alle wissen, wie herrlich es ist, in den verschiedenen Verlegenheiten und Schwierigkeiten, die das Leben bringt, den Segen eines treuen Ratgebers genießen zu dürfen. Das Herz freut sich an Salbe und Räucherwerk, aber ein Freund ist lieblich um Rats willen der Seele, sagt Salomo
(Spr. 27,9). Hier aber ist noch mehr, hier ist die Süßigkeit der Freundschaft, der Gemeinschaft mit Gott, der Versenkung in sein Wort. Hier findet der Mensch stets den jeder Lage angemessenen Rat, und das ist eine große Erquickung für uns. Th. Horton † 1673.
  Meine Ratsleute, buchstäblich: Die Männer meines Rates. Eine sehr passende Bezeichnung, da er vorher von Fürsten gesprochen, die zusammen saßen im Rate wider ihn. Fürsten unternehmen nichts, ohne vorher die Ansicht ihres geheimen Rates gehört zu haben. Ein Kind Gottes aber hat auch seinen geheimen Rat, nämlich Gottes Zeugnisse. Auf der einen Seite stand Saul mit seinen Vornehmen und Räten, auf der anderen Seite David und Gottes Zeugnisse. Wer, meint ihr, war wohl besser beraten, jene zum Verfolgen und Beunruhigen oder David, um ihren Anschlägen zu begegnen? Der König Alphons von Arragonien meinte, die besten Ratgeber seien die Toten (damit meinte er die Bücher), da sie nicht schmeichelten, sondern unparteiisch die Wahrheit sagten. Ein Gottesfürchtiger, mag er noch so arm, noch so verlassen sein, ohne menschlichen Beistand in seinen Bedrängnissen, hat doch sein Ratskollegium, seinen Staatsrat um sich, die Propheten und Apostel und die anderen heiligen Männer Gottes, die da geredet haben, getrieben von dem Heiligen Geiste. Ein so ausgerüsteter Mensch ist niemals weniger verlassen als wenn er allein ist, denn dann vernimmt er die Stimmen seiner Ratsleute, die ihm sagen, was er glauben, was er tun soll. Und sie sind unfehlbare Ratsleute, unerbittlich aufrichtig, sie schmeicheln nicht, wo er im Unrecht ist, sie entmutigen nicht, machen nicht bedenklich, wo er auf rechtem Wege ist, auch wenn dabei allerlei Gefahren drohen. Wahrlich, wenn wir klug sein wollen, so wählen wir uns die Ratsleute, von denen in unserem Vers gesagt ist. Thomas Manton † 1677.
 


1. Menander. Und welche Rolle spielt nicht die gottlose u{brij, die im Grunde nichts anderes als Übermut, Selbstüberhebung ist, bei den alten griechischen Dichtern. Es hätte vielleicht noch näher gelegen, diese statt des weniger bekannten Wortes und Namens anzuführen. E. R.


25. Meine Seele liegt im Staube;
erquicke mich nach deinem Wort.
26. Ich erzähle meine Wege, und du erhörst mich;
lehre mich deine Rechte.
27. Unterweise mich den Weg deiner Befehle,
so will ich reden von deinen Wundern.
28. Ich gräme mich, da mir das Herz verschmachtet;
stärke mich nach deinem Wort.
29. Wende von mir den falschen Weg
und gönne mir dein Gesetz.
30. Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt;
deine Rechte hab ich vor mich gestellt.
31. Ich hange an deinen Zeugnissen;
HERR, lass mich nicht zu Schanden werden!
32. Wenn du mein Herz tröstest,
so laufe ich den Weg deiner Gebote.

In diesen Versen finden wir den Psalmisten in tiefer Bekümmernis. Was er beklagt, ist, so dünkt uns, sein Gebundensein an die Dinge dieser Erde, die sein Gemüt gefangen halten. Seine Seele liegt im Staube, sie verschmachtet vor Kummer und schreit nach Befreiung aus ihrem geistlichen Gefängnis. Wir werden in diesen Versen aber auch wahrnehmen, welchen Einfluss das göttliche Wort auf ein Herz ausübt, das seine Neigung, am Niederen zu haften, beklagt und von Trauer erfüllt ist über die abstumpfende, ertötende Wirkung der Erdenwelt, von der es umgeben ist. Das Wort des HERRN erweckt den Psalmisten zu ernstem Flehen (V. 25-29), bestärkt ihn in der entscheidenden Wahl, die er getroffen (V. 30) und haucht ihm freudigen Mut ein zu erneuertem Entschluss (V. 32). Es bewährt sich in allen Nöten, des Leibes wie der Seele, als die sicherste Hilfe.

25. Meine Seele liegt im Staube, wörtlich (Luther 1524) klebt am Staube. Zum Teil will er damit wohl sagen, dass er voll Kummers sei; im Morgenlande pflegten die Trauernden ja Asche auf ihr Haupt zu streuen und im Staub und Schutt zu sitzen. Der Psalmist hatte die Empfindung, als hingen diese Stoffe, die Zeichen des Leides, ihm unlöslich an, als müsste seine Seele immer am Staube kleben bleiben, weil er sich ganz ohnmächtig fühlte, sich über seinen Kummer zu erheben. Liegt in den Worten nicht auch, dass er sich sterbensmatt fühlte, ganz dem Tode nahe? War ihm nicht, als werde sein Leben schon von dem Grabe angezogen und festgehalten, als sei er schon halb erstickt in des Todes Staub? Vielleicht tun wir den Worten nicht Gewalt an, wenn uns dünkt, dass er auch seine irdische Gesinnung und seine geistliche an Erstorbenheit grenzende Stumpfheit hier beklage. Er spürte in seiner Seele einen fast unwiderstehlichen Zug nach unten, zur Erde und ihrem Staube, und das ist ihm ein schweres Leid. Was immer die Veranlassung zu seinen Klagen gewesen sein mag, es war jedenfalls kein oberflächliches, geringfügiges Übel, sondern etwas, das sein Innerstes schwer angriff - seine Seele lag im Staube; und es handelte sich nicht um ein zufälliges, gelegentliches Straucheln und Fallen, von dem man alsbald wieder aufsteht, sondern um eine beständige und mächtige Neigung, um ein Kleben am irdischen Staube. Doch wie gut, dass der hier Redende das Böse, das in solchem Hang zum Niederen liegt, so tief empfinden und aufrichtig beklagen konnte. Der Same der Schlange mag im Staube seine Nahrung finden, nie aber wird des Weibes Same sich so tief erniedrigen. Viele sind von der Erde und irdisch (1. Kor. 15,47), ohne dass es ihnen je in den Sinn kommt, darüber zu klagen; nur der himmlisch Geborene und darum auch himmelan Strebende seufzt unter dem niederdrückenden Bewusstsein, an diese Erdenwelt gefesselt zu sein und gleich einem armen Vögelein an den Leimruten irdischer Sorgen oder Lüste zu kleben.
  Erquicke mich nach deinem Wort. Erquicken bedeutet ursprünglich neu beleben, und in diesem noch nicht abgeschwächten Sinne gebraucht Luther das Wort. Neue Lebenskraft ist die beste Arznei für alles, was uns fehlt und quält; diese Arznei aber vermag der HERR allein zu geben. Doch er kann es, kann es jetzt, sofort, und er braucht dazu nicht von dem gewöhnlichen Wege seiner Gnadenerweisungen abzuweichen, den wir in der Heiligen Schrift vorgezeichnet finden, sondern braucht nur nach seinem Wort zu handeln. Es ist gut, wenn wir wissen, worum wir zu beten haben. Man könnte meinen, David würde vor allem um Trost oder um Aufrichtung gefleht haben; aber er wusste, dass die ganz von selbst aus erfrischter Lebenskraft kommen würden, darum suchte er diejenige Segnung, die die Wurzel aller anderen ist. Ist jemand im Gemüt gedrückt, schwach und tief zum Erdboden niedergebeugt, so ist die Hauptsache, dass ihm das Lebensmark gestärkt werde; sobald vermehrte Lebenskraft ihn durchströmt, wird auch sein Mut wieder angefacht und seine Körperhaltung aufrecht. Durch Neubelebung wird der ganze Mensch alsbald ein anderer. Den Staub von sich abschütteln, das ist an sich eine geringfügige Sache; geschieht es aber von einem, der vordem wie tot am Boden lag, nun aber neu belebt sich aus dem Staub erhebt, so ist es etwas unschätzbar Großes. Wer achtete es nicht schon als eine kostbare Wohltat, wenn als Folge der Genesung nach schwerem Siechtum eine fröhliche, heitere Stimmung über ihn kommt? Wenn der Psalmdichter bittet: Belebe mich nach deinem Wort, so will er damit wohl sagen: nach der in deinem Wort geoffenbarten Weise, wie du deine Auserwählten mit neuem Lebensgeiste zu erfüllen pflegst. Das Wort Gottes zeigt uns, dass der, der uns geschaffen hat, uns auch am Leben erhalten muss, und es redet uns von dem Geiste Gottes, der durch die Gnadenmittel neues Leben in unsere Seelen einströmen lässt. So bitten wir denn den HERRN, dass er nach dieser seiner gewohnten Weise, seine Gnade zu erzeigen, an uns handle. Vielleicht dachte der Psalmdichter auch an des HERRN Wort 5. Mose 32,39, wo Jehovah für sich allein die Macht in Anspruch nimmt, sowohl zu töten als lebendig zu machen, und fleht er darum zu Gott, seine Leben spendende Kraft an ihm, seinem fast in den letzten Zügen liegenden Knechte, zu erweisen. Gewiss ist, dass der Mann Gottes, der hier redet, lange nicht so viele reiche Verheißungen hatte, auf die er sich berufen konnte, wie wir sie haben; aber schon ein einziges Wort genügte ihm, mit ganzer Inbrunst in den HERRN zu dringen: Tue nach deinem Wort! Wahrlich, es ist etwas Großes, was wir hier sehen - ein Gläubiger, der im Staube liegt und dennoch dem HERRN seine Verheißungen vorhält, ein Mann, der schon fast im Rachen des Grabes ist und doch ruft: "HERR, mache mich lebendig!" und fest glaubt, dass es geschehen werde!
  Beachten wir, wie dieser erste Vers der vierten Gruppe zu dem ersten der dritten Gruppe passt. "Tue wohl deinem Knechte, dass ich lebe", bat er dort, und hier: "Belebe mich." In jenem Abschnitt befand er sich in froherer Stimmung, in glücklicheren Umständen; doch wusste er sein Leben ganz von Gottes freigebiger Güte abhängig. Hier, wo er tief am Boden liegt, fleht er um Erquickung, um Neubelebung. Leben aber ist in beiden Lagen sein Begehren, Leben überhaupt und neue Lebenskraft und Lebensfreudigkeit.

26. Ich erzählte (Grundtext) meine Wege. Ein offenes Bekenntnis ist der Seele heilsam. Nichts gibt einem Menschen größere Erleichterung und ist so geeignet, zu neuem Lebensmut und frischer Kraft zu führen, als das freimütige Anerkennen des Bösen, das die Ursache des Kummers und der todesähnlichen Betäubung ist, in die wir geraten waren. Solche offene Darlegung beweist, dass der Betreffende seinen wahren Zustand kennt und nicht mehr vom Hochmut verblendet ist. Unsere Geständnisse haben nicht den Zweck, Gott, sondern uns selbst über unsere Sünden aufzuklären. Und du erhörtest mich. (Grundtext) Sein Bekenntnis ward gnädig angenommen. Es war, so viel Schmerz es ihm bereitet haben mochte, nicht vergeblich; Gott war ihm dadurch nahe gekommen. Wir sollten uns nie von unseren Knien erheben, bis wir die Gewissheit haben, dass unser Flehen zu Gottes Ohr gedrungen ist. Auf bußfertiges Bekennen folgt Vergebung, und der Psalmist wusste, dass sie ihm zuteil geworden.
  Lehre mich deine Rechte. Da ihm seine Vergehungen aufrichtig Leid tun und er volle Vergebung erhalten hat, liegt es ihm nun am Herzen, ferneres Übertreten zu vermeiden; darum bittet er, dass Gott ihn Gehorsam lehre. Er scheute davor zurück, aus Unwissenheit zu sündigen; er begehrte in allen Stücken Gottes Sinn und Willen zu wissen, und wünschte darin von dem besten Lehrmeister unterwiesen zu werden. Er sehnte sich nach Heiligkeit. Wer wirklich die Rechtfertigung aus Gnaden erlangt hat, der hat auch das Verlangen, geheiligt zu werden. Wenn Gott uns unsere Sünden vergibt, so fürchten wir uns umso mehr davor, aufs Neue zu sündigen. Die vergebende Gnade, die unsere Schuld tilgt, wirkt in uns das Begehren nach der bewahrenden Gnade, die vor neuer Schuld behütet. Hat Gott uns so viel gegeben, so dürfen wir kühn um mehr bitten; der die vorigen Befleckungen abgewaschen hat, wird die größere Gnade nicht verweigern, die uns vor gegenwärtiger und zukünftiger Verunreinigung schützt. Diese Bitte um Belehrung ist in unserem Psalm häufig. In V. 12 war sie durch den Blick auf Gott veranlasst, hier geht sie aus dem Blick auf das eigene Selbst hervor. So können und sollen gar verschiedenerlei Erfahrungen zu einer und derselben Bitte führen.

27. Unterweise mich den Weg deiner Befehle. Verleihe mir eine tiefe Einsicht in die Lebensordnung, die dein Wort mir vorschreibt, ein klares Verständnis für den Sinn und den wesentlichen Inhalt deines Gesetzes. Ein blinder Gehorsam hat wenig sittliche Schönheit; Gottes Wille ist, dass wir mit offenen Augen ihm nachfolgen. Dem Buchstaben des Gesetzes Genüge zu leisten ist das Höchste, was der Unwissende fertig zu bringen hoffen kann; ist es unser Wunsch, die Aussagen der Schrift über des Menschen Obliegenheiten auch ihrem Geiste nach zu erfüllen, so müssen wir vor allem zum Verständnis derselben gelangen, und dieses können wir nur durch Gottes Gnade empfangen. Unser Verstand bedarf der Erleuchtung und der Leitung. Derselbe, der uns den Verstand gegeben hat, muss uns auch lehren, ihn richtig zu gebrauchen. Die vor uns liegende Bitte um Unterweisung ist eine lehrreiche Erweiterung und Erläuterung der unmittelbar vorhergehenden: "Lehre mich deine Rechte"; wir müssen auf solche Art unterwiesen werden, dass wir auch verstehen, was wir lernen. Es ist beachtenswert, dass des Psalmdichters vornehmste Sorge nicht ist, die Weissagungen, sondern die Befehle der Heiligen Schrift zu verstehen, und dass das, worin unterwiesen zu werden ihm vor allem am Herzen liegt, nicht die Feinheiten des Gesetzes sind, von menschlichen Spitzfindigkeiten ganz zu schweigen, sondern die ganz gewöhnlichen Alltagswahrheiten desselben; denn diese sind doch mit dem Ausdruck "der Weg, den deine Befehle gebieten" gemeint.
  So will ich reden von deinen Wundern. Es ist eine missliche Sache, von solchem zu reden, was man nicht versteht. Erst müssen wir uns von Gott lehren lassen, bis wir selber recht verstehen; dann dürfen wir hoffen, unser Wissen andern so mitteilen zu können, dass sie Nutzen davon haben. Reden ohne Verstand sind nur fruchtloses Geschwätz; aber die Worte eines Wohlunterrichteten sind wie Perlen, die die Ohren des Hörenden schmücken. Ist unser Herz dem Verständnisse aufgeschlossen worden, dann sollen auch unsere Lippen sich auftun, um andern das empfangene Wissen kundzutun. Und wir dürfen hoffen, selber vom HERRN unterwiesen zu werden, wenn wir in unseren Herzen eine Willigkeit spüren, diejenigen, die um uns her sind, in den Wegen des HERRN zu unterweisen.
  Von den Wundern des HERRN will der Psalmist reden. Beachten wir, dass demnach auch die klarste Einsicht uns nicht darüber erhebt, über die Wege und Werke Gottes zu staunen. Tatsache ist vielmehr, dass wir Gottes Walten umso mehr bewundern, je mehr wir davon kennen und wissen, und umso stärkeren Drang fühlen wir dann in uns, von diesen Wundern zu reden. Wohl ist es wahr, dass die Hälfte all des Wunderglaubens der Leute in der Welt aus der Unwissenheit entspringt; aber ebenso wahr ist, dass es eine heilige Verwunderung gibt, die ein Kind des Wissens ist. Gilt es schon von der Natur, dass sie, je mehr wir in sie eindringen, desto mehr uns eine Welt der Wunder wird - denn alles Dasein ist ein Wunder und unser gesamtes Wissen ruht auf lauter Wundern1 - so ist dies in noch höherem Grad bei der sittlichen Weltordnung Gottes der Fall. Da tun sich dem heiligen Wissen heilige Wunder ohne Zahl auf. - Wenn ein Mensch die Wege verstehen lernt, die Gottes Vorschriften uns weisen, so spricht er nicht mehr von seinen eigenen Werken, und seine Zunge, die doch etwas haben muss, wovon sie redet, hebt nun an, die Werke und Taten des allein vollkommenen Gottes zu preisen.
  Die meisten Ausleger übersetzen jedoch hier: so will ich sinnen über deine Befehle. (Vergl. V. 15.23 sowie V. 48.78 und endlich V. 148, wo Luther selber so übersetzt hat.) Mag es uns zunächst eigentümlich erscheinen, dass die Begriffe reden und sinnen so verwandt sein sollen, so ist das doch ganz in der Ordnung. Nur Toren reden ohne zu denken; das Nachsinnen ist ein innerliches Sprechen. Lesen wir die Stelle in diesem Sinn, so verstehen wir sie so, dass der Psalmdichter eben in dem Maße, wie er das Wort Gottes besser verstand, mehr und mehr darüber nachzusinnen begehrte. So geht es gewöhnlich: Die Gedankenlosen mögen nicht über den tieferen Sinn der Schrift nachdenken, während die Leute, die Gottes in seinem Wort geoffenbarte Gedanken am besten kennen, gerade auch diejenigen sind, die immer völliger in sie einzudringen, immer besser mit ihnen vertraut zu werden streben und sich deshalb immer mehr darein sinnend versenken.
  Schauen wir auf den entsprechenden dritten Vers des vorigen Abschnittes zurück, so wird uns die Verwandtschaft des Sinnes beider nicht entgehen. Dort (V. 19) nannte der Dichter sich einen Fremdling; hier bittet er, dass ihm sein Weg gezeigt werde. Flehte er dort, dass Gott seine Gebote nicht vor ihm verbergen möge, so verspricht er hier, dass er sie nicht vor andern verbergen wolle.

28. Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet. Seine Seele zerschmolz in Tränen vor Kummer. (Wörtl.) Wie selbst Erz im Schmelzofen flüssig wird, so löste sich alle seine Kraft auf vor der Gluthitze seiner Leiden. Der Gram ist ein tödliches Übel. Wo er die Überhand gewinnt, da vermag er wohl auch das frischeste Leben in ein langes langsames Sterben zu verwandeln. Tropfen um Tropfen zerrinnt alle Lebenskraft und Lebensfreudigkeit bei dem beständigen Triefen der Kummertränen, wie Luther 1521 übersetzt: Meine Seele hat sich vertröpfelt vor Gram. Ja, Tränen sind Herzwasser; wenn ein starker Mann weint, so zergeht ihm das Herz. Manche von uns wissen aus Erfahrung, was es heißt, sich zu grämen, dass einem das Herz verschmachtet, denn wir sind mehr als einmal unter der furchtbaren Macht des Kummers gewesen, und haben oft das Gefühl gehabt, als würde unser Inneres ausgegossen wie Wasser, ja als wären wir schon fast wie Wasser, das am Boden verschüttet ist und nie wieder zusammengebracht werden kann. Aber ein Gutes kann doch noch an diesem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit sein: es ist besser, vor Kummer zu zerschmelzen, als in Unbußfertigkeit versteinert zu werden.
  Stärke mich oder richte mich auf (L. 1521) nach deinem Wort. Der Psalmdichter hatte eine alte Verheißung entdeckt, dass die, welche dem HERRN angehören, gestärkt werden sollen, und er beruft sich nun darauf. Seine Hoffnung in seinem Zustande tiefster Niedergeschlagenheit ruht nicht auf irgendetwas in ihm selber, sondern allein auf seinem Gott. Soll er Stärkung von oben erfahren, dann mag er doch noch die Last seines Kummers von sich abschütteln und fröhlich wieder aufstehen können. Beachten wir, wie er sich auf die Verheißung des Wortes stützt und nichts weiter begehrt, als dass mit ihm verfahren werde nach der alten Weise des HERRN, von der schon die Väter rühmen konnten. Ist David der Beter, so mochte er sich des Wortes der Hanna erinnern: Der HERR wird Stärke verleihen seinem König und erhöhen das Horn seines Gesalbten. (1. Samuel 2,10) Ist’s ein anderer, späterer Beter, so mochte das Wort des HERRN durch Jesaia in seinem Herzen erklingen: Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. (Jes. 41,10.) Gott stärkt uns, indem er durch sein Wort seine Gnade in uns einströmen lässt; das Wort, das schafft, kann sicher auch erhalten. Die Gnade vermag uns instand zu setzen, das Nagen und Zehren eines andauernden Kummers zu ertragen; sie kann dem Kräfteverfall siegreich entgegenwirken, den das beständige Rinnen der Tränen bewirkt, ja sie gibt den Traurigen zu Zion Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit. Lasst uns, wenn wir in unseren Kummernächten am Verzagen sind, stets zum Gebet unsre Zuflucht nehmen; es ist der sicherste und kürzeste Weg, aus den Tiefen der Verzweiflung herauszukommen. Lasst uns dann aber auf nichts als auf das Wort Gottes uns stützen bei unserem Flehen; denn wahrlich, es geht nichts über die Kraft einer Gottesverheißung, und von diesem Schwert des Wortes mögen wir wohl sagen: Es ist seinesgleichen nicht! (1. Samuel 21,10.)
  Welche Blicke lässt uns der Psalmist in sein innerstes Seelenleben tun! In V. 20 sagt er: Meine Seele ist zermalmt, sie reibt sich auf vor Verlangen, in V. 25: Meine Seele klebt am Staube, und hier: Meine Seele schmilzt hin vor Kummer. Und weiterhin, V. 81, ruft er aus: Meine Seele schmachtet nach deinem Heil, in V. 109: Ich trage meine Seele immer in meinen Händen, in V. 167: Meine Seele hält deine Zeugnisse, und endlich in V. 175: Lass meine Seele leben. Manche Menschen wissen kaum, dass sie eine Seele haben, der Psalmist hier ist, wie wir so sagen, ganz Seele! Welch ein Unterschied ist doch zwischen den geistlich Lebendigen und den geistlich Toten!

29. Wende von mir den falschen Weg, oder: Halte fern von mir den Weg der Lüge, des Treubruchs. Das ist der Weg der Sünde, die ein Treubruch an Gott ist, der Weg des Irrtums, der Abgötterei, der Torheit, der Selbstgerechtigkeit, des Lippen- und Augendienstes, der Heuchelei. David bittet aber nicht nur, dass er von diesem Wege, sondern auch, dass dieser Weg von ihm fern gehalten werde. Weit weg soll er von ihm sein, ganz aus seinen Augen wünscht er ihn. Er begehrt von Herzen, rechtschaffen und gerade, wahr und treu zu sein; doch fürchtet er, es möchte ihm noch ein gewisses Maß von Falschheit anhaften, wenn der HERR es nicht ganz wegnähme. Darum bittet er den HERRN dringend: Rotte es alles aus. Es können zu Zeiten unlautere Beweggründe in uns wirksam sein, und wir mögen zu falschen Urteilen über unseren Stand gegenüber Gott kommen, worin wir durch unsere Voreingenommenheit für unser Ich bestärkt werden, und auf diese Weise können wir in der heillosen Selbsttäuschung befestigt und von der Macht des Irrtums ganz gefangen genommen werden, wenn nicht die Gnade sich zu unserer Rettung aufmacht. Kein aufrichtiges Herz kann bei einer falschen Selbstbeurteilung Ruhe finden; es findet da keinen Ankergrund, sondern wird hin und her geworfen, bis es in die Wahrheit und die Wahrheit in das Herz kommt. Das echte Kind der himmlischen Wahrheit wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Lüge, es seufzt und fleht wider alles falsche, treulose Wesen und begehrt, dass es fern von ihm weggetan werde, gerade wie ein Mensch eine giftige Schlange fürchtet und flieht.
  Und gönne mir dein Gesetz, begnade mich damit. Der ist fürwahr im Gnadenstande, wer das Gesetz als ein Gnadengeschenk ansieht. Vergegenwärtigen wir uns hierbei, dass das hebräische Wort für Gesetz ursprünglich die Unterweisung bedeutet. Der Dichter wünscht, dass das Gesetz seinem Verständnisse erschlossen, seinem Herzen eingegraben und in seinem Leben zur Erfüllung gebracht werde; darum wendet er sich an den HERRN und erfleht dies von ihm als eine Gnade. Ohne Zweifel sah er das als die einzige Weise an, von der Macht der Lüge frei zu werden. Wo das Gesetz nicht im Herzen wohnt, wird die Lüge Eingang finden. Vielleicht gedachte David dabei auch an die früheren Zeiten, da er, in den Anschauungen der Zeit und der Volkssitte befangen, zu Lüge und Verstellung gegriffen, um sein Leben zu retten, und erkannte, dass er in diesem Stücke schwach gewesen und gefehlt hatte, was ihn beugte und zu der Bitte führte, dass der HERR ihn vor solcher Übertretung in Zukunft bewahren wolle. Die Gottesfürchtigen können an ihre Sünden nicht ohne Tränen zurückdenken, können aber auch nicht fruchtlos über sie weinen, sondern werden getrieben, zugleich zum HERRN zu flehen, dass er sie vor ferneren Fehltritten behüte.
  Augenscheinlich sind hier die Lüge und die gnadenreiche Macht des Gesetzes Gottes in Gegensatz gestellt. Das einzige Mittel, die Lüge auszutreiben, ist, dass wir die Wahrheit aufnehmen. Andererseits besteht eine offenbare Verwandtschaft zwischen der Gnade und der Wahrheit: kaum haben wir den Ton von der Gnade vernommen in der Bitte: "Begnade mich mit deinem Gesetz", so hören wir auch schon den Fußtritt der Wahrheit: Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Gnade und Wahrheit sind stets unzertrennlich verbunden, und der Herzensglaube an die Lehre von der freien Gnade ist ein vorzügliches Schutzmittel gegen verderblichen Irrtum.
  In dem entsprechenden Vers der vorhergehenden Gruppe (V. 21) fleht der Psalmist wider den Stolz, hier wider die Lüge. Ist der Hochmut nicht die größte aller Lügen?

30. Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Wie er den Weg der Lüge verabscheute, so erkor er den Weg der Wahrheit; für einen von beiden muss sich der Mensch ja entscheiden, denn einen Mittelweg zwischen beiden gibt es nicht. Auch gerät man nicht durch Zufall auf den rechten Weg; es gilt ihn zu wählen und immer wieder diese Wahl festzuhalten, heute und morgen und alle Tage, sonst ist man, ehe man sich’s versieht, auf Abwegen. Diejenigen, welche Gott erwählt hat, erwählen auch im entscheidenden Augenblicke seinen Weg. Es gibt einen Weg der Wahrheit in Bezug auf die Lehre; den müssen wir erwählen und jede Menschensatzung und -lehre verwerfen. Es gibt einen Weg der Wahrheit in Bezug auf die Weise, wie wir Gott verehren sollen; diesen sollen wir einhalten und alle gottesdienstlichen Formen, die mit den Verordnungen des HERRN nicht im Einklang sind, abweisen. Und es gibt endlich einen Weg der Wahrheit in Bezug auf das tägliche Leben; auf diesem heiligen Wege sollen wir bleiben, sosehr wir versucht werden mögen, ihn zu verlassen. Unsere Wahl sei eine entschiedene und unwiderrufliche. Lasst uns allen Verführungen gegenüber nur die eine Antwort haben: "Ich habe gewählt, und bei dem, was ich gewählt habe, bleibe ich." O HERR, leite du uns durch deine Gnade dazu, dass wir aus freier Herzensentschließung erwählen, deinen Willen zu tun; so wird deine ewige Erwählung uns zu dem Ziele führen, das du bei ihr im Auge gehabt hast.
  Deine Rechte hab ich vor mich gestellt. Was er erkoren hatte, das behielt er fest im Sinn, indem er es immerdar vor das Auge seines Geistes stellte. Zu heiligem Wesen und Wandel gelangt man nicht durch einen oberflächlichen Wunsch; es gehört dazu emsiges Streben, ein fester Wille, ernstliches Erwägen und Fragen, sonst verfehlt man den Weg der Wahrheit. Die Anordnungen Gottes müssen uns allezeit vor Augen stehen als Ziel unseres Strebens, als Vorbild unseres Tuns, als Wegweiser für unseren Wandel. Lassen wir Gottes Rechte in den Hintergrund treten, so werden wir uns bald auf Irrwegen finden.
  Der sechste Vers des vorigen und dieses Absatzes klingen in einem ähnlichen Gedanken aus: Ich halte deine Zeugnisse (V. 22), und: Deine Rechte hab ich vor mich gestellt (V. 30). Glücklich, wer solches von sich sagen darf; es wundert uns nicht, dass der Psalmist dies fröhliche Bekenntnis wiederholt.

31. Ich hange an deinen Zeugnissen. Im Grundtext steht hier dasselbe Zeitwort wie V. 25, wie denn auch Luther 1521 übersetzt hat: An deinen Zeugnissen klebe ich. Wiewohl seine Seele am Staube klebte, unfähig, sich aus ihrem Kummer aufzurichten, so hielt er dennoch unverbrüchlich fest an Gottes Wort. Dies war sein Trost, darum klammerte sich sein Glaube daran, seine ganze Liebe hing an ihm, sein Gehorsam wich nicht davon und sein Geist ließ nicht ab, darüber nachzusinnen. Er hatte seine Wahl (V. 30) so entschieden, so von ganzem Herzen und wohlbedacht getroffen, dass er für sein ganzes Leben daran festhielt und keine Schmähungen von denen, die den Weg des HERRN verachteten, ihn davon abbringen konnten. Was für einen Gewinn hätte es ihm auch bringen können, wenn er die heiligen Zeugnisse des HERRN verlassen hätte? Sagen wir lieber: Was hätte er nicht alles verloren, wenn er aufgehört hätte, an dem Worte Gottes zu hangen! Es ist eine Freude, wenn das Gewissen einem Zeugnis gibt, dass man in frohen und in trüben Tagen treu an Gottes Wort festgehalten hat, und der Glaube gewiss sein darf, dass wir in der Kraft der Gnade mit gleicher zäher Beharrlichkeit in Zukunft an ihm haften werden.
  HERR, lass mich nicht zu Schanden werden. Das würde geschehen, wenn Gott seine Verheißungen nicht hielte und demnach der Glaube seines Knechtes in Enttäuschung enden müsste. Aber das haben wir nicht zu befürchten, der HERR steht zu seinem Worte. Doch könnte es auf andere Weise eintreten, dass wir zu Schanden würden, wenn wir nämlich nicht fest an Gottes Ordnungen hielten, sondern uns zu einem mit seinem Wort unvereinbaren Handeln fortreißen ließen, wie David selbst es einst getan, da er auf den Weg der Lüge geriet und sich unsinnig stellte (1. Samuel 21,13-16). Wenn wir unserem Bekenntnis nicht treu sind, so kann es uns wohl widerfahren, dass wir die Frucht unserer Torheit zu ernten haben, und das wird eben die bittere Erfahrung sein, die sich beschämt oder zu Schanden werden nennt. Der Gläubige sollte nie Grund haben, sich zu schämen. Seines Glaubens braucht er sich jedenfalls nicht zu schämen, sondern er darf als ein Mann auftreten, der keine Furcht kennt und nicht gesinnt ist, den Feinden seines Gottes gegenüber einen furchtsamen, gedämpften Ton anzunehmen. Bitten wir den HERRN, uns nicht beschämt werden zu lassen, so sollten wir wahrlich selber nicht uns schämen ohne Ursache.
  Die Bitte dieses Verses findet ihr Seitenstück in dem entsprechenden Vers der nächsten Gruppe, V. 39: Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Es ist das offenbar eine Bitte, die sich dem Psalmisten oft aufdrängte. Ein wackeres Herz wird durch Schmach tiefer verwundet als durch irgendeine stählerne Waffe, die die Hand eines Kriegers schwingen kann.

32. Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote. Er möchte den Willen Gottes mit Tatkraft, mit ganzem Eifer und ohne Zögern erfüllen; das kann er aber nur, wenn und weil Gott ihn mit Kraft und Freudigkeit dazu ausrüstet. Wörtlich heißt der Vers: Ich will laufen, d. h. frisch und fröhlich wandeln, den Weg deiner Gebote, denn du machst mir das Herz weit, d. h. wie Luther es erklärt, du machst es lustig, tröstlich und fröhlich. Zum Ausdruck vergleiche man Jes. 60,5 und 2. Kor. 6,11.13. Ja, das Herz ist der Meister, das hat die Führung; die Füße werden schon laufen, wenn das Herz freudig und tatkräftig ist. Ist’s uns im Herzen erst warm geworden, brennt es da für heilige Dinge, für das, was Gott gefällt, dann wird auch unser Tun voll Kraft, Feuer und heiliger Freude sein. Erst muss Gott in uns wirken, dann wollen und vollbringen wir das Gute nach seinem Wohlgefallen. (Phil. 2,13.) Er muss das Herz ändern, es auf eins richten, mutig, stark und weit machen, dann wird auch unser Leben ein begnadetes, wahrhaftiges, glückliches und zielbewusstes sein, und wir werden mit Lobpreisen bekennen müssen: von den ersten schwachen Anfängen bis zu den höchsten Stufen des geistlichen Lebens verdanken wir alles der freien Gnade Gottes. Freilich, wir müssen laufen; die Gnade ist nicht eine unwiderstehliche Gewalt, die auch den Widerstrebenden zwingt, sich in der seinem Willen entgegengesetzten Richtung fortzubewegen. Unser Laufen ist vielmehr das fröhliche Vorwärtseilen eines Herzens, das durch Gottes Gnade von drückendem Zwang befreit ist und nun keine größere Wonne kennt, als diese seine Freiheit anzuwenden, indem es mit fliegender Eile dem herrlichen ihm vorgesteckten Ziele zustrebt.
  Welch ein Wechsel von dem ersten zu dem letzten Vers dieser Gruppe! Dort lag die Seele des Psalmisten im Staube, unfähig, sich aus ihrem Kummer zu erheben; hier läuft er frei und fröhlich seinen Weg. Das ist die segensreiche Wirkung der göttlichen Traurigkeit, dass sie zu der Neubelebung führt, nach der wir schmachten (V. 25 b), und ist dies Wunder der Gnade an uns geschehen, dann beweisen wir die Aufrichtigkeit unserer Trauer und zugleich die Wirklichkeit unserer Neubelebung durch den Eifer, mit dem wir auf des HERRN Wegen wandeln.
  Beachten wir, wieviel der Psalmist in den bisher betrachteten Versen vom Herzen spricht: V. 2 von ganzem Herzen, V. 7 von rechtem Herzen, V. 11 ich behalte im Herzen, V. 32 du machst mir das Herz weit. Und auch weiterhin ist noch oft von dem Herzen die Rede. Wir sehen daraus, wie sehr dem Psalmisten die Religion Herzenssache war. Unser Zeitalter leidet schwer unter der Tatsache, dass dem Kopfe viel größere Rechte und größerer Einfluss eingeräumt werden als dem Herzen. Die Menschen geben heutzutage mehr auf das Wissen als auf die Liebe, womit noch nicht gesagt sein soll, dass sie in jenem so erstaunlich viel leisten.


V. 25-32. Das achtfache d (D): Er ist in tiefer Bekümmernis und bittet um Tröstung und Befestigung durch Gottes Wort, dem er sich ergeben. Prof. Franz Delitzsch † 1890.

25. Dem Staube klebt meine Seele an;
Belebe mich nach deinem Wort!
26. Die Wege mein erzählte ich, und du erhörtest mich;
Lehre mich deine Satzungen!
27. Den Weg deiner Ordnungen lass mich verstehen,
So will ich sinnen über deine Wunder.
28. Dahinschmilzt meine Seele vor Kummer,
Richte mich auf nach deinem Wort!
29. Den Weg der Lüge halte fern von mir
Und begnade mich mit deiner Unterweisung.
30. Den Weg der Wahrheit habe ich erwählt,
Deine Richtsprüche zum Augenmerk gemacht.
31. Deinen Zeugnissen hange ich an;
Jahve, lass mich nicht zu Schanden werden!
32. Den Weg deiner Gebote will ich laufen,
Denn du machst mir das Herz weit. - James Millard


V. 25. Meine Seele liegt im Staube oder klebt am Staube. Es handelt sich hier schwerlich, wie manche gemeint haben, um leibliches Siechtum, sondern um schweren seelischen Druck. Statt dass seine Seele sich zum Himmel erhob, ward sie in den Staub niedergedrückt; sie war so belastet mit irdischen Gedanken, Neigungen und Sorgen, dass sie am Boden klebte. Worin gerade seine besondere Anfechtung bestand, sagt der Psalmist nicht. Gottes Kinder sind oft in einem solchen Zustande, dass sie von ihrem Kummer nicht genau Rechenschaft geben können, und manchmal in solcher Verwirrung, dass es nicht einmal gut wäre, selbst wenn sie es vermöchten, zu andern davon zu sprechen. - Wir lernen daraus auch, wie das, was die Weltmenschen für Klugheit achten, dem Christen Torheit ist; was dem einen eine Freude, das ist dem anderen ein Kummer. Dem Weltkind ist es Freude, am Irdischen zu hangen; wenn er das recht fest gefasst hat, so fühlt er sich glücklich, denn es ist sein Teil und Erbe. Sich um seine irdischen Angelegenheiten kümmern, auf sie all seine Sinne und Gedanken richten, ist nach seiner Ansicht die einzige Weisheit. Ach, der Schlange Fluch liegt auf ihm, er kriecht auf der Erde dahin und isst Erde sein Leben lang. Seine Seele selber wird irdisch. Aber der Christ, dessen Seele durch den Geist von oben her bewegt wird, richtet seine Wünsche und Neigungen auf das, was droben ist; seine Lust ist es, seinen Wandel im Himmel zu haben, und er empfindet bitteren Schmerz, wenn er merkt, dass sein Herz herabgezogen und sein Sinnen und Trachten dem Irdischen zugekehrt wird. Für ihn bedeutet es Leben, am HERRN zu hangen, und Tod, wenn seine Seele unter das Joch des Irdischen gebeugt wird. William Cowper † 1619.
  Man vergleiche das Lied "O Jesu, sieh darein" von Joh. Konrad Dippel † 1734.
  "Siehe gen Himmel", sprach einst der HERR zu Abraham (1. Mose 15,5) und spricht er noch heute zu uns. Aber ach, warum muss es stets der Fall sein, dass wir, wenn wir ein wenig zur Erkenntnis unser selbst gekommen sind, auf jene Aufforderung mit einem Seufzer antworten: Meine Seele klebt am Staube! Ja fürwahr, das ist der tiefste Schmerz für eine Seele, die schon geschmeckt und gesehen hat, wie freundlich der HERR ist, wenn sie bei all ihrem Sehnen, sich hinauf zu schwingen, immer wieder empfinden muss, wie unmöglich es ist, sich zu erheben. Es gibt vielen verborgenen Kummer im Menschenherzen, auch im geistlichen Leben; aber nichts kann uns tiefer schmerzen als die Wahrnehmung, dass wir wie mit Bleigewichten an Dinge gekettet sind, von denen wir genau wissen, dass sie uns nur ermüden, nimmer befriedigen können. Wir wären, als wir zum ersten Male den 23. Psalm vom guten Hirten lasen, nie auf den Gedanken gekommen, dass der aus einem Herzen stamme, das so oft mit so sehnsüchtigen Schmerzen nach Gott seufzte. Wir hätten es nie für möglich gehalten, dass es so kalt und dürr und dunkel in einem Herzen werden könne, das schon so viel von den Kräften des zukünftigen Lebens hatte schmecken dürfen. Aber haben wir nicht auch mit diesem 119. Psalm rühmen dürfen: Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse als über allerlei Reichtum? Jawohl, aber hernach, wie war es da? Oder jetzt vielleicht? O die schweren Trübsalsstunden, wenn die Sonne in unserem Inneren erloschen scheint und nur eine trübe rote Scheibe am Himmel sichtbar ist. Das Feuer der ersten Liebe ist niedergebrannt, irdische Sorgen und Sünden haben sich wie ein Bleigewicht an die Schwingen der Seele gehängt, die doch, Gott weiß es, wie gerne auswärts fliegen möchte. Wir möchten lobpreisen und können kaum beten, wir möchten beten und können kaum seufzen. Unser Schatz ist im Himmel, aber unsere Seele liegt im Staube der Erde und klebt daran, wenigstens klebt ihr auf allen Seiten der irdische Staub an, und das zieht sie herab, so dass das Auge statt des klaren Himmels nur Wolken sieht, die Zunge nur schmerzliche Klagen hervorbringt. Ja, so vollständig vermag uns die Erde in ihre Fesseln zu schlagen, dass uns selbst Himmel und Ewigkeit in Frage stehen; und unser alter Mensch ist wie der Riese der alten Sage, der im heißen Ringen zu Boden geworfen durch die Berührung mit der Mutter Erde stets neue Kräfte erhält. Ach, wird das nicht endlich, endlich einmal anders werden? Begehrst du das wirklich, der du so schmerzliche Klagen aus der Tiefe deiner Seele aufsteigen lässest und kaum noch Tränen findest für den Schmerz und Kummer deines Herzens? Wohl dir, wenn deine Leiden dich lehren, zu Gott zu schreien: Erquicke, belebe mich nach deinem Wort! Ja, das ist der beste Trost für den, der erfahren hat, was das heißt, tief hinab in Gram und Leid getaucht zu sein; das ist die einzige Hoffnung für ein Herz, das in seinem Inneren der Verzweiflung nahe ist. Über dem erstickenden Staube weht frische reine Lebensluft, die uns von allen Seiten her zuströmt und selbst in unser dunkelstes Gefängnis dringt. Da ist eine lebendige Quelle, an der sich die ermattete, verschmachtende Seele erquicken kann, und der Zugang zu dieser Quelle steht jedem offen, trotz aller Staubwolken, die dieses Tal der Schatten verdüstern. Da ist eine Lebenskraft, die unserem inneren Tode so vollständig ein Ende machen kann, dass wir wieder vor dem HERRN im Lande der Lebendigen wandeln, und dass unser Mund, anstatt von Wehklagen, von Lobgesängen erklingt. Lebt er denn nicht noch, der Fürst des Lebens, um uns wieder und wieder zu sagen: Ich lebe, und ihr sollt auch leben? Und der Geist, der da bläst, wo er will, kann, will, wird er nicht auch zu seiner Zeit mit seinem lebendigen Odem von unseren Flügeln den Staub abblasen, der ihnen anklebt? Aber selbst der nagende Schmerz der Seele über solch ungeistlichen, toten Seelenzustand ist doch ein gutes, tröstliches Zeichen, dass das gute Werk in uns angefangen ist; was wirklich ganz erstorben ist, das schauert doch nicht zusammen über seine eigene Kälte. Meine Seele liegt im Staube, so sprichst du tränenden Auges. So würdest du aber nicht reden, wenn nicht bereits eine höhere Hand, dir unbemerkt, eine Kluft befestigt hätte zwischen deiner Seele und diesem Staube. Und niemand hat weniger Grund zu verzweifeln als der, der alle Hoffnung auf sich selbst aufgegeben hat und nun erst wirklich lernt, das beim HERRN zu suchen, was er, das fühlt er nur zu wohl, sich selbst am allerwenigsten geben kann. Ja, dies ist der Weg, der von dem tiefsten Grame zum besten Troste führt: das demütige, ernstliche, anhaltende Gebet, dass der, der selbst lebt, auch unserer Seele Leben geben möge, fort und fort, bis wir befreit von aller Starrheit und Dürre unseres Geistes, losgelöst vom Irdischen, zu dem ewigen Berge des Lichtes emporsteigen und alle Wolken tief unter uns liegen sehen. Aber das vermag allein der HERR des Lebens zu wirken; doch er will es tun, wir haben sein eigenes Wort als Unterpfand, dass er uns wahres Leben verleihen wird. Nur lasset uns nicht vergessen, dass, der uns nach seinem Worte erquicken will, dies auch durch sein Wort vollbringt. Darum so lasst uns aus dieser unversiegbaren Quelle schöpfen und es ihm bedingungslos überlassen, wie er unser Rufen erhören will, selbst wenn er uns auf dunklem Pfade führt. Selbst des Todes kann er sich als Mittel bedienen, um uns lebendig zu machen und zu erhalten. Siehe, hier sind wir, o HERR, tue mit uns, wie es dir gefällt. Nur lass unsere Seelen leben, damit sie dich preisen mögen hier und in alle Ewigkeit. Prof. J. J. von Osterzee 1874.
  Erquicke mich, belebe mich. Aber, wenn er doch lebendig ist, was bittet er, dass Gott ihn lebendig machen möge? Darauf antworte ich: Der Gottesfürchtige schätzt sein Leben nicht nach dem, was er in seinem Fleische, sondern nach dem, was er in seiner Seele davon spürt. Wenn seiner Seele das Bewusstsein der Gnade und der Sinn für himmlische Dinge abhanden gekommen ist, so klagt er darüber als über eine erstorbene Seele; denn sich von Gott, wenn auch nur eine Zeit lang, verlassen zu fühlen, ist für ihn schwerer zu ertragen als der zeitliche Tod. Nach deinem Worte. Das beweist einen großen Glauben, dass er trotz seines augenblicklichen Seelenzustandes, in dem er sich für erstorben hält, neues Leben von Gott nach seinem Worte erhofft. Solcher Art war der Glaube Abrahams, der wider Hoffnung auf Hoffnung hin glaubte (Röm. 4,18). Und in der Tat, oft widerfährt es den Kindern Gottes, dass sie in einen solchen Zustand kommen, in welchem sie nichts haben, woran sie sich aufrichten können, als Gottes Wort; alles andere ist ihnen geschwunden, das Bewusstsein der Gnade, die Freude am Himmlischen, da ist nur schwarze Finsternis, Angst und Schrecken. Was sie aufrecht erhält ist allein der Blick auf Gottes Verheißungen und eine ferne Hoffnung, dass er sie wieder zum Leben erwecken werde, weil es sein Ruhm ist, das angefangene Werk zu vollenden. William Cowper † 1619.
  Wohin anders sollen die Gottesfürchtigen fliehen, wenn das Leben in ihnen zu versiegen droht, als zu dem Brunnquell alles Lebens? Wie der kürzeste Weg, sich die Kälte zu vertreiben, der ist, dass man ans Kaminfeuer tritt, so ist das beste Mittel, um den Tod zu überwinden, dass wir zu dem uns wenden, der der Urquell alles unseres Lebens, des natürlichen wie des geistlichen, ist. Alle Kräftigungs- und Heilmittel sind nichts im Vergleich zu ihm selber. Er kann sie benutzen, aber die Kraft ist von ihm. Und wie ein Mensch ein Feuer fast verlöschen lassen kann, das er entzündet hatte, und es dann durch Zuführen von Brennstoff zu neuer Glut entfacht, so kann auch Gott die Flamme des Lebens, die er in uns entzündet hat, wieder neu beleben. Paul Bayne † 1617.
  Das Wort macht das verhärtete Gewissen weich und erweckt das erstorbene zu neuem Leben. Ist dies Wort nicht ein Hammer, der Felsen zerschlägt, und ist es nicht der unvergängliche Same, durch den wir wiedergeboren sind? Darum bittet der Psalmist, da er sein Gewissen in Todesmacht gebunden fühlt: Meine Seele liegt im (Todes-) Staube; belebe mich nach deinem Wort. Das Wort ist das vornehmste Mittel, wodurch unser Gewissen gereinigt und zurecht gebracht wird. John Sheffield 1650.
  Nach deinem Wort, sagt David, und nicht: nach meinem Verdienste. (Augustinus) Unsere Hoffnung ruht einzig auf der Gewissheit, dass Gott seine Verheißungen erfüllen wird. - Obwohl damals noch so wenig von der Heiligen Schrift geschrieben war, konnte David darin doch ein Wort des Trostes für sich finden. Uns aber kommt in unseren Nöten und Anfechtungen oft keine Verheißung in den Sinn! Wie es im äußern Leben so oft geht, dass viele, die weniger besitzen, besser leben als manche, die alles im Überfluss haben, so ist es auch hier. Jetzt, wo die Heilige Schrift in ihrem ganzen Reichtum vor uns liegt, sind wir viel weniger eifrig und aufmerksam in ihrer Benutzung und verzagen darum, trotzdem wir so viele Verheißungen haben, und finden kein Wort, das uns aufrichtet. Aber merke: Das Wort kam David erst zustatten, als er so lange in seinem traurigen Zustand dagelegen hatte, dass er sich dem Tode nahe fühlte. Viele meinen, sie könnten, wenn sie eine Verheißung haben, deren Trost ohne weiteres alsbald genießen. Nein, so geht es nicht, erst muss geharrt, gebangt, geseufzt, gefleht werden. Wir kommen zum vollen Genuss des Trostes der Verheißungen nicht eher, als bis die in der Kreatur sprudelnden Quellen des Trostes uns versiegt sind und wir unser hinreichendes Maß von Prüfung überstanden haben. Gott wird sein Wort halten; dennoch müssen wir uns darauf gefasst machen, dass wir zunächst in Prüfungen geführt werden. - Als Davids Seele im Staube lag, erhielt ihn der Glaube an Gottes Wort am Leben. Wenn wir am wenigsten von Lebenskraft spüren, wenn uns scheinbar nichts mehr geblieben ist, so wird das Wort uns dennoch erhalten und stärken. Vergleiche Abrahams Glauben Röm. 4,19.20. Eine treffliche Weise, Trost zu finden, besteht darin, dass wir wie David Gott seine Verheißung im Glauben vorhalten. Zeige dem HERRN eine eigene Handschrift; er steht dir gut für das, was er verbrieft hat, und ist für seine Ehre sehr empfindlich. Dass du so bei Gott auf Erfüllung seines Wortes dringen sollst, hat nicht den Zweck, Gott zur Treue zu bewegen, sondern dich selbst für den Empfang der Segnungen zuzubereiten. Thomas Manton † 1677.


V. 26. Ich erzählte meine Wege, und du erhörtest mich (Grundtext); lehre mich deine Rechte. O HERR, ich habe dir schon oft den ganzen Zustand und Verlauf meines Lebens bis ins Einzelne dargelegt, meine Irrwege, meine Mängel, meine Zweifel, meine Kümmernisse; ich verberge nichts vor dir, und du hast mich immer erhört, wie ich es bedurfte. So bitte ich dich denn: Lehre mich auch ferner, erleuchte mich mit deinem Lichte, damit ich deine Rechte erkenne, und durch deine Gnade die Kraft finde, in ihnen zu wandeln. Das ist eine treffliche Begründung in unseren Verhandlungen mit dem HERRN: Ich habe schon so viele Gnadenbeweise und günstige Antworten von dir empfangen, darum, o HERR, bitte ich dich, gewähre mir noch mehr davon. Denn wen der HERR liebt, den liebt er bis ans Ende (Joh. 13,1), und wo er einmal angefangen hat, gnädig zu sein, da hört er nicht auf, bis er sein Kind mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt hat. Und so gnädig ist der HERR, dass er es als eine Ehrenbezeugung ansieht, sooft wir ihn dafür preisen, dass wir Trost in ihm gefunden haben, und darum abermals zu ihm kommen, um neue Gnade zu erfahren. Es gibt viele, die nicht rühmen können: "Gott hat mich erhört", und zwar, weil sie Gott nicht einfältig und aufrichtig ihre Wege, d. h. ihre Angelegenheiten, kundtun. William Cowper † 1619.
  Wie ein Kranker dem Arzte genau berichtet, wie es ihm geht, so sollten wir es auch mit Gott machen, wenn wir Gnade bei ihm finden wollen. Solches Erzählen seiner Wege kann man betrachten 1) als eine Handlung des Glaubens und Gehorsams; 2) als eine Handlung heiliger Freundschaft; 3) als eine Handlung geistlicher Zerknirschung und Zebrochenheit des Herzens. Diese drei Gesichtspunkte ergeben sich aus dem, was David unter dem Ausdrucke "meine Wege" alles verstanden haben kann. Ersten sein Tun und Treiben, seine Angelegenheiten und Unternehmungen. Die habe ich dir bekannt gegeben und sie den Weisungen, der Leitung deiner Vorsehung unterstellt. So ist es eine Tat des Glaubens und Gehorsams, der sich mit allen seinen Anliegen an Gott wendet und ihn um seinen Rat fragt. Zweitens: Seine Wege, kann auch verstanden werden als alle seine Sorgen, Kümmernisse und Gefahren; und in diesem Sinne ist dieser Ausspruch eine Handlung heiliger Freundschaft, da ein Mensch, wie ein Freund zum anderen, zu Gott kommt und ihm seinen ganzen Zustand offenbart, alles ihm offen darlegt in der Hoffnung, hier Mitgefühl und Erleichterung zu finden. Drittens: Unter den Wegen mögen wir die Versuchungen und Sünden verstehen; dann zeugt der Ausspruch auch von geistlicher Zerknirschung und einem zerbrochenen Herzen. Denn die Sünden, das sind so ganz eigentlich "unsere Wege" (Jes. 53,6). Thomas Manton † 1677.
  Du erhörtest mich. (Grundtext) Erfahrene Gebetserhörungen sollen uns ermutigen, desto kühner zum Gnadenthron zu nahen. Jakob hat die Nacht von Bethel nie vergessen. D. William Swan Plumer † 1880.


V. 26.27. Lehre mich, unterweise mich. Wie habgierige Menschen immer meinen, sie hätten noch nicht Geld genug, so sollten Christen denken, sie könnten nie Unterweisung und heilige Erkenntnis genug bekommen. R. Greenham † 1591.
  Angeborene Blindheit ist ein schwer zu heilendes Leiden; deshalb haben wir es immer wieder nötig zu bitten: Öffne mir die Augen - lehre mich - unterweise mich. Unsere Unwissenheit ist, selbst wenn sie zum Teil schon gehoben ist, noch immer sehr groß. Die Trübungen, die durch Versuchungen, Zweifel und fleischliche Neigungen bewirkt werden, machen, dass die Unwissenheit immer wieder bei uns einkehrt, so dass wir, selbst was wir wissen, nicht wirklich wissen. Ja, je mehr wir wissen, desto mehr enthüllt sich uns unsere Unwissenheit. "Denn ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir. Ich habe Weisheit nicht gelernt, dass ich den Heiligen erkennte". (Spr. 30,2.3) "Ich hatte von dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche." (Hiob 42,5.6) Ach ja, ein bisschen spärliches Wissen von Hörensagen nützt nichts; man verabscheut sich selbst, wenn man genauere Kenntnis erhält. Niemand ist so selbstbewusst wie ein junger Anfänger auf den Gebieten der Wissenschaft, der einige wenige Wahrheiten, und diese in einem unsicheren, unvollkommenen Grad kennen gelernt hat. Je mehr wir wissen, umso mehr merken wir unsere Unwissenheit und wie sehr wir allerlei Irrtum unterworfen sind, so dass wir nicht eine Stunde unser selbst gewiss sein können. Thomas Manton † 1677.


V. 27. So will ich reden von deinen Wundern. Wer empfänglich ist für die Wunder in Gottes Wort, wird auch davon reden. 1) Das wird so sein. Wenn das Herz tief ergriffen ist, kann die Zunge nicht stille halten, sie wird überfließen von Verkündigung dessen, was das Herz erfüllt; denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Wenn die Heiligen Trost und Erquickung in ihrer Betrübnis erfahren haben, so werden sie ganz hingenommen vom Gedanken an die Vollkommenheit Gottes. "Kommet her, ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat." 2) Es soll so sein, und zwar in dreifacher Hinsicht: zur Ehre Gottes, zur Erbauung der anderen und zu unserem eigenen Nutzen. a) Zur Ehre Gottes, dem wir so vieles schuldig sind; damit wir ihn auch den anderen in unserer Umgebung bekannt machen. Erfahrung verlangt Lobpreisen, und wenn du den Messias gefunden hast, so führe andere zu ihm, wie Andreas den Petrus, Philippus den Nathanael. b) Zur Erbauung der anderen. "Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder." (Lk. 22,32.) c) Zu unserem eigenen Nutzen. Wer von seiner Kenntnis rechten Gebrauch macht, wird mehr empfangen. Die Mutterbrust, an der kein Kind saugt, vertrocknet. Die Brote vermehrten sich, als sie verteilt wurden. Alle Gaben, vorab die geistlichen, welche die köstlichsten sind, vermehren sich durch Übung und Gebrauch. Thomas Manton † 1677.


V. 28. Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet. Die ältesten Übersetzungen haben hier schlummern, nusta/zein, dormitare; 2 was eine merkwürdige Übereinstimmung mit Lk. 22,45 ergeben würde. Joseph Addison Alexander † 1860.
  Es gibt nichts, was einen natürlichen Menschen erfreuen kann, was David nicht besessen hätte. Aber das alles vermag ihn nicht vor der Traurigkeit zu bewahren, der, wie auch Petrus schreibt (1. Petr. 1,6), alle Kinder Gottes in diesem Leben durch ihre mannigfaltigen Anfechtungen ausgesetzt sind. Die Weltkinder sind ja weit von solcher Gemütsstimmung entfernt; wenn sie nur gesund sind und irdisch Geld und Gut besitzen, so können sie nicht begreifen, was einem Menschen das Herz schwer machen könnte. Sie kennen nicht die Mängel im geistlichen Leben und grämen sich nicht darüber; tot in ihren Sünden, fühlen sie nicht, dass sie Leben bedürfen; alle ihre Sorge ist auf Essen und Trinken und Fröhlichsein gerichtet. Das ist ein jämmerliches Dasein, denn im günstigsten Falle sind sie wie Ochsen, die für den Schlächter gemästet werden. Wehe denen, die jetzt lachen, denn sie sollen wehklagen, selig aber, die jetzt trauern, denn sie sollen getröstet werden. William Cowper † 1619.
  Stärke mich nach deinem Wort. Stärke mich, meine Pflichten zu erfüllen, den Versuchungen zu widerstehen, standhaft zu bleiben unter der Last eines bekümmerten Herzens, damit der Geist nicht erliege. Matthew Henry † 1714.


V. 29. Halte fern von mir den falschen Weg. David erkennt hier an, wie sehr er auch bereits in der Lehre des HERRN und in seiner Erkenntnis erfahren ist, wenngleich er ein Prophet ist, berufen, die anderen zu lehren, dass er trotzdem vielen schlechten Neigungen unterworfen sei, die ihn immerfort vom rechten Weg verführe könnten, wenn ihm nicht Gott seine starke Hand gereicht hätte. Das ist eine Stelle, die wir uns wohl merken müssen, denn wir sehen, wie sehr die Menschen sich über sich selber täuschen. Wenn jemand einen guten Anfang gemacht hat, so meint er, dass er schon am Ziel angelangt sei; wir denken nicht mehr daran, zu Gott zu beten, wenn er uns die Gnade erwiesen hat, uns in seinen Dienst zu nehmen. Wenn wir erst eine Tat vollbracht haben, dann spreizen wir unsere Flügel aus und bespiegeln uns in unseren Tugenden. Kurz, es dünkt uns, dass der Teufel nichts mehr gegen uns ausrichten könne. Diese törichte Selbstüberhebung ist die Ursache, dass Gott uns auf Abwege geraten lässt, dass wir so manchen schweren Fall tun, so schwer, dass wir dabei Arm und Bein brechen, ja sehr in Gefahr stehen, den Hals zu brechen, ich meine nicht leiblich, sondern an der Seele. Sehen wir nur David selbst an, er hat die Erfahrung gemacht. Es ist ihm geschehen, sich auf abscheuliche und hinterlistige Weise zu vergehen, da er Bathseba, das Weib des Uria, seines Untertanen, nahm und mit ihr Unzucht trieb, und da er die Veranlassung zu einem so verdammungswürdigen Morde gewesen war, noch dazu von mehreren Personen, dass es nicht an ihm gelegen hat, dass das Heer Gottes und das ganze Israel keine Niederlage erlitt. Das war die allzu große Sorglosigkeit Davids, und darum sagt er: Ach HERR, führe mich so, dass ich entfernt bleibe vom Wege der Lüge. Jean Calvin † 1564.
  Der Prophet begehrt von Gott stark gemacht zu werden gegen alle Verderbnisse in Lehre und Wandel, die Satan mit seinen klugen und verschlagenen Werkzeugen in der Welt zu verbreiten sucht. Diese Verführungen werden der Weg der Lüge genannt, 1) weil sie von Satan, dem Vater der Lüge, erfunden sind; 2) weil sie begünstigt und unterstützt werden von dem menschlichen Verstande, diesem Sammelplatze von Lügen; 3) weil sie zu sein scheinen, was sie nicht sind, was ein Kennzeichen der Lüge ist; 4) weil sie Gott und seiner Wahrheit, den Offenbarern aller Lüge, widerstreiten. R. Greenham † 1591.


V. 30. Hier sehen wir in das innere Leben einer begnadigten Seele. Den Weg der Wahrheit erwählen, das ist mehr, als bloß dasitzen und dem Worte zuhören und keine Einwendungen dagegen machen. Und doch ist dies Letztere alles, was man im besten Fall von der Mehrheit der Hörer des Evangeliums behaupten kann. Wir könnten nur hinzufügen, dass niemand sich so leicht wie diese gewohnheitsmäßigen Hörer durch Verkündigung eines falschen, bequemen Weges des Heils betören lässt; sie stimmen eben unterschiedslos allem zu, was ihnen vorgepredigt wird. Ganz anders, wer von Gott sich lehren lässt. Bei ihm kommt es zu bestimmter Wahl, er entscheidet sich für den Weg der Wahrheit und kann nicht anders, er folgt dem Zuge, der in seiner Seele mächtig ist. John Stephen 1861.
  Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt. Ja, erwählt. Die Gottseligkeit ist nicht eine Sache des Zufalls, sondern wohlüberlegter entschiedener Wahl. Haben wir das Für und Wider genau erwogen und dann nach reiflicher Überlegung die Entscheidung getroffen, dass wir Gott zu unserem Teil erwählen, auf jede Gefahr hin? Haben wir uns hingesetzt und die Kosten überschlagen - was uns die Gottseligkeit kosten muss, das Darangeben der sündlichen Lüste, und was sie uns kosten kann, das Darangeben unseres Lebens? Haben wir uns entschlossen, in Kraft der Gnade uns zu Christo zu bekennen, wenn man mit Schwertern und mit Stangen über uns kommt, und mit ihm als Steuermann zu segeln, nicht nur in der Vergnügungsjacht, sondern auch im Kriegsschiff? Wenn ja, dann dürfen wir auch gewiss sein, dass er unser ist, dass nicht nur wir ihn, sondern er uns erwählt hat. Thomas Watson † 1690.
  Als Mose sich vor solche Wahl gestellt sah, die Freuden Ägyptens auf der einen, Gott und sein Volk mit ihren Leiden auf der anderen Seite, da erwählte er viel lieber dieses als jenes (Hebr. 11,25). So sagt David von sich: Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt, deine Rechte habe ich vor mich gestellt; denn das heißt doch wählen, wenn etwas vor dir steht und du es betrachtest und ergreifst. Und so sagt Josua: Ich und mein Hans wollen dem HERRN dienen. John Preston † 1628.


V. 31. Ich hange an deinen Zeugnissen. Es ist beachtenswert, dass der Psalmist hier und in V. 25 (im Grundtext) dasselbe Wort gebraucht: Meine Seele klebt am Staube, ich klebe an deinen Zeugnissen. Dieser scheinbare Widerspruch aber verträgt sich durchaus mit den Erfahrungen des Gläubigen. Im Innern streiten zwei Mächte, die angeborene sündhafte Natur und die unsterbliche Gnade Gottes. Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch
(Gal. 5,17), und der Mensch bricht in den Klageruf aus: Ich elender Mensch (Röm. 7,24). So liegt die Sache, und alle Gläubigen machen diese Erfahrung. Während die Seele sich nur zu häufig im Staube liegend, am Staube klebend weiß, ringt der Geist danach, an Gottes Zeugnissen zu hangen, und er fleht zum HERRN: Lass mich in diesem Kampfe nicht zu Schanden werden. Und wenn ihr euch nur fest an Christum haltet, meine Brüder, werdet ihr nicht zu Schanden werden. J. Stephen 1861.


V. 32. Wenn du mein Herz weit machst. (Wörtl.) Von Salomo heißt es 1. Kön. 5,9, dass Gott ihm ein weites Herz gab, so weit wie der Sand am Meere (es ist dort dasselbe Wort gebraucht, wie an unserer Psalmstelle); also einen weit umfassenden Geist, der tief in das Wesen der Dinge, der größten wie der kleinsten, einzudringen vermochte. Denn so verstehe ich den Ausdruck vom Weitmachen des Herzens, das eine Erleuchtung des Verstandes mit einbegreift. Dann strahlt dort ein helleres Licht auf, bei dessen Schein man geistliche Dinge geistlicher als zuvor ansieht und richtet und den weiten Unterschied zwischen den Eitelkeiten dieser Welt und der echten, dauernden Freude erkennt, die auf dem Wege der Gebote Gottes zu finden ist. Man erkennt das gleißnerische Lächeln der Sünde und ihrer Freuden und welche Hässlichkeit unter der glänzenden Maske verborgen ist, so dass man sich dadurch nicht mehr verführen lässt. Man dringt immer tiefer in die Erkenntnis Gottes, seiner Größe, Güte und Vollkommenheit ein, und dass er allein würdig ist, dass man ihm gehorche und diene. Das ist ein weites Aufgehen des Herzens und Verstandes, so dass die Reinheit und Schönheit des Gesetzes erkannt wird, seine Gerechtigkeit und Weisheit, ja auch seine Lieblichkeit und Milde, dass seine Gebote nicht einen finsteren, mürrischen Geist atmen, sondern wie lieblich duftende Gewürzgärtlein sind; je länger wir in ihnen umherwandeln, umso mehr werden wir von ihrem süßen Dufte erfreut. Erzbischof Rob. Leighton † 1684.
  Mein Herz. Der große Arzt weiß sofort, wo er die Ursache zu suchen hat, wenn er sieht, dass etwas im äußeren Leben der Seinen nicht in Ordnung ist. Er weiß ganz genau, dass jedes geistliche Leiden ein Herzleiden ist und dass er darum Arzneien anwenden muss, die aufs Herz wirken. Das eine Mal beobachtet unser Arzt heftige, stürmische Krankheitserscheinungen, ein andermal solche, die große Schwäche und Hinfälligkeit verraten; aber beides, das weiß er, kommt vom Herzen, darum nimmt er auch das Herz in Angriff, wenn er eine Heilung bewirken will.
  Es gibt viele Kinder Gottes, die, weil es ihnen an einem weiten, getrosten Herzen fehlt, zu keiner rechten Stellung in der Kirche Christi kommen können. Sie setzen ihre Hoffnung auf ein zukünftiges Leben in Jesum, und er wird sie auch gewiss nicht enttäuschen; er wird seinem Worte getreu sein, dass wer da glaubt, der selig werden wird. Aber leider sind sie noch in bedauerlichem Grade beschränkt, sie haben enge Herzen, keine weit gemachten, erfüllt mit dem Troste Gottes und darum getrost; ihre Vorstellungen von Gott und seinen Verheißungen, ihren eigenen Rechten und Ansprüchen und der Stellung, die sie in der Welt einnehmen sollen, sind sehr kleinlich und dürftig. Und wenn man ihnen das Zeugnis auch nicht versagen kann, dass sie auf den Wegen der Gebote Gottes stehen oder sitzen oder auch wandeln, dass sie darauf laufen, das kann man nicht von ihnen behaupten. Denn diese starke, kraftvolle Bewegung erfordert Willenskraft und ein gesundes Herz. Wirklich laufende Christen sind etwas so Ungewöhnliches, dass man sie für unsinnig hält. Ph. B. Power 1862.
  Laufen bedeutet ein fröhliches, williges, eifriges Befolgen der Gebote Gottes; nicht ein gemächliches Gehen, sondern ein rasches Dahineilen. Wer das Ziel seiner Reise erreichen will, muss auf den Wegen von Gottes Geboten laufen. Es bedeutet einen augenblicklichen freudigen Gehorsam, ohne jedes Zögern. Wir müssen beizeiten mit Gott anfangen. Ach, wie viele von uns, die schon fast am Ziele angelangt sein sollten, haben sich kaum erst auf den Weg gemacht! Es bedeutet auch ein ernstliches Wollen; wenn einer sein Herz auf etwas gerichtet hat, so meint er, nicht früh genug damit anfangen zu können. Das heißt laufen, wenn wir es uns mit stürmischem Eifer angelegen sein lassen, auf dem Pfade des Gehorsams uns unseres Gottes und Jesu Christi zu erfreuen. - Solches Laufen ist die Folge der wirksamen Berufung. "Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen" (Jes. 55,5), und: "Zieh mich dir nach, so laufen wir" (Hohelied 1,4). Wenn Gott zieht, so kommt es zu einem unverzüglichen und unaufhaltsamen Dahineilen der Seele. - Solches Laufen ist aber auch sehr notwendig. Bewegungen ohne Feuer und Kraft erlahmen bald vor Schwierigkeiten und Versuchungen. Lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist (Hebr. 12,1). Wenn ein Mensch sich fest vorgenommen hat, etwas auszuführen, so wappnet er sich mit Geduld, wenn er gehindert und geärgert wird, er geht seinen Weg weiter und lässt sich nicht auf Verhandlungen ein. Langsame Bewegung wird leicht zum Stillstand gebracht, während rasche, kräftige das Hindernis, das sich in den Weg stellt, leicht überwindet. Ebenso ist es auch mit den Menschen, wenn sie laufen und nicht müde werden im Dienste Gottes. Und schließlich: dem Laufenden winkt ein Preis. Laufet nun also, dass ihr das Kleinod ergreifet. (1. Kor. 9,24). Thomas Manton † 1677.
 


1. "Kein vorurteilsfreier Forscher", schreibt selbst der an Gott zweifelnde große Physiker Tyndall, "wird die Augen dagegen verschließen, dass die lange Kette seiner Untersuchungen in Wirklichkeit eine Kette von Wundern ist, während es so genannte Freigeister gibt, die sich einbilden, mit ihrem Garnknäuel die unermesslichen Tiefen des Weltalls ergründen zu können." F. Bettex: Das Wunder, 1899.

2. Die Lesarten der Hexapla haben, soweit sie erhalten sind, zumeist sta/zein oder katasta/zein träufeln. Das nusta/zein der Septuagintaausgaben, aus dem das dormitare der Vulgata und wohl auch der Itala genommen ist, denn schon Augustin hat dieses Wort, beruht augenscheinlich auf einem Lesefehler eines Septuagintaabschreibers. E. R.


33. Zeige mir, HERR, den Weg deiner Rechte,
dass ich sie bewahre bis ans Ende.
34. Unterweise mich, dass ich bewahre dein Gesetz
und halte es von ganzem Herzen.
35. Führe mich auf dem Steige deiner Gebote;
denn ich habe Lust dazu.
36. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen
und nicht zum Geiz.
37. Wende meine Augen ab, dass sie nicht sehen nach unnützer Lehre,
sondern erquicke mich auf deinen Wegen.
38. Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten,
dass ich dich fürchte.
39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue;
denn deine Rechte sind lieblich.
40. Siehe, ich begehre deiner Befehle;
erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit.

Ein tiefes Gefühl der Abhängigkeit von Gott und das Bewusstsein äußerster Hilfsbedürftigkeit macht sich in diesem Abschnitt geltend, der ganz aus Bitten und deren Begründungen besteht. In den vorhergehenden acht Versen fanden wir den Psalmdichter von dem Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit bewegt, er erzitterte unter einem kindlichen Gefühl der Schwäche und Unerfahrenheit. Dies veranlasste den Mann Gottes, sich Hilfe suchend an den zu wenden, der allein seine Seele vor dem Rückfallen in die Sünde bewahren konnte.

33. Zeige mir (oder unterweise mich, Luther 1521), HERR, den Weg deiner Rechte. Welch kindlich einfältige, selige Worte aus dem Munde eines alten, erfahrenen Gläubigen, der dazu ein König und ein vom Heiligen Geiste erfüllter Gottesmann war. O über die Unglücklichen, die sich nie wollen lehren lassen! Sie sind vernarrt in ihre eigene Weisheit; aber ihre Torheit ist offenkundig für alle, die ein richtiges Urteil haben. Der Psalmist wünscht vom HERRN selbst unterwiesen zu werden; er fühlt, dass sein Herz sich von einem weniger erfolgreichen Lehrer nicht werde belehren lassen. Das Bewusstsein, dass wir so schwerfällig und ungelehrig sind, treibt uns an, den besten Lehrer zu suchen. Welche Güte von unserem großen Gott, dass er sich herablässt, die zu unterweisen, die sich Erleuchtung suchend an ihn wenden. Der Unterricht, der hier begehrt wird, ist durchaus praktischer Art; der Gottesmann will nicht bloß die Rechte oder Gebote des HERRN lernen, sondern den Weg derselben, ihre Richtung und Absicht, den Sinn, worauf sie zielen, und die Weise, wie er sie im täglichen Leben erfüllen soll. Er begehrt den heiligen Weg zu wissen, der durch das göttliche Gesetz eingezäunt ist und an dessen Rand die Gebote des HERRN stehen, sowohl als Merksteine der Richtung, die uns zeigen, wie wir weiterkommen können, wie auch als Meilensteine, an denen wir sehen können, ob und wie weit wir vorangeschritten. Das ernstliche Begehren, auf diesem Wege geleite zu werden, bietet uns in sich schon die Gewähr, dass uns Unterweisung zuteilwerden wird; denn der in uns das Verlangen nach Belehrung gewirkt hat, wird es sicher auch befriedigen.
  Und ich will ihn (den Weg, Grundtext) bewahren bis ans Ende. Wer von Gott gelehrt wird, vergisst das Gelernte nicht wieder. Wenn die Gnade Gottes einen Menschen auf den rechten Weg gebracht hat, wird er diesem Wege auch treu bleiben. Menschenwitz und Menschenwille freilich haben keinen solchen ausdauernden Einfluss. Von allem irdischen Vollkommenen gibt es ein Ende (V. 96 Grundtext), eine Grenze, auf die es beschränkt ist, die himmlische Gnade aber hat kein Ende außer dem Endziel, das sie sich selbst gesteckt hat, nämlich die Vollendung der Heiligung in der Furcht Gottes (2. Kor. 7,1). Dass sie bis ans Ende in der Gnade beharren werden, darf man denen mit voller Gewissheit voraussagen, deren Anfang in Gott, mit Gott und durch Gott ist. Die aber ohne göttliche Belehrung beginnen, vergessen bald wieder, was sie lernen, und weichen von dem Wege ab, den eingeschlagen zu haben sie einst bekannten. Keiner darf sich rühmen, dass er aus eigener Kraft auf dem rechten Wege bleiben werde, denn wir sind darin ganz von dem fortwährenden Lehren des HERRN abhängig. Wir werden fallen wie Petrus, wenn wir gleich ihm uns auf unsere Festigkeit verlassen. Wenn Gott uns hält, dann werden wir auch seinen Weg einhalten können, und es ist ein großer Trost, zu wissen, dass es unseres Gottes Lust und Ehre ist, die Füße seiner Heiligen zu behüten (1. Samuel 2,9). Dennoch gilt es für uns, achtsam zu sein, als ob es ganz von uns abhinge, dass wir den Weg einhalten; denn nach dem vorliegenden Vers beruht unser Beharren nicht auf zwingender Gewalt, sondern auf der Unterweisung des HERRN. Zur Unterweisung aber gehört auf der anderen Seite das Lernen, mag der Lehrer sein, wer er wolle; niemand kann einen belehren, der sich weigert zu lernen. Darum so lasst uns die göttliche Unterweisung mit Begier ins Herz aufnehmen, damit wir festhalten an unserer Frömmigkeit
(Hiob 2,3) und bis zum letzten Augenblicke unseres Lebens auf dem Pfad der Gerechtigkeit wandeln! Nehmen wir den lebendigen und unvergänglichen Samen des Wortes Gottes in uns auf, so kann es nicht anders sein, wir werden leben; ohne dieses aber haben wir kein ewiges Leben, höchstens den Namen, dass wir leben.
  Bis ans Ende, bis zuletzt, also immerdar möchte der Psalmist gehorsam sein. Er vertraut der Gnade, dass sie ihn ganz getreu machen werde, so dass er niemals dem Gehorsam eine Schranke ziehen und sprechen werde: Bis dahin und nicht weiter! Erst mit unserem letzten Atemzuge soll unser Bewahren des Gesetzes ein Ende haben; kein gottesfürchtiger Mensch wird auf den Gedanken kommen, eines Tages zu sagen: "Nun ist’s genug, jetzt kann ich in meiner Wachsamkeit nachlassen und leben wie andere Leute!" Wie Christus uns liebt bis ans Ende (Joh. 13,1), so müssen wir ihm dienen bis ans Ende. Das ist das Endziel der göttlichen Unterweisung, dass wir beharren bis ans Ende.
  Die Abschnitte des Psalms zeigen noch immer einen gewissen inneren Zusammenhang. Die dritte Gruppe begann mit der Bitte des Knechtes Gottes um Leben, damit er Gottes Wort halte (V. 17), in der vierten flehte er im Anfangsverse um Neubelebung nach dem Wort des HERRN (V. 25), und die vorliegende hebt an mit der Bitte um Unterweisung, damit er den Weg der Gebote Gottes bis ans Ende bewahre. Wer mit scharfem Auge diese Verse betrachtet, dem wird die innige Zusammengehörigkeit nicht entgehen.

34. Unterweise mich (oder, wie L. 1521 übersetzt, verständige mich, d. h., wie Delitzsch es frei umschreibt, gib mir hellen Verstand), dass ich bewahre dein Gesetz. Das ist die nämliche Bitte wie im vorigen Vers, nur vertieft. Er bedarf nicht nur eines Lehrers, sondern auch der Fähigkeit zu lernen. Es ist weit mit uns gekommen unter dem Fluch der Sünde; wir sind ganz unfähig, geistliche Dinge zu erfassen, bis uns das Vermögen dazu von oben her verliehen wird. Will Gott uns wirklich geistlich gesunden Verstand geben? Das ist ein Wunder der Gnade. Dieses Wunder wird aber nicht eher an uns gewirkt werden, als wenn uns selbst zum Bewusstsein gekommen ist, wie sehr wir desselben bedürfen. Und nicht einmal diese Bedürftigkeit entdecken wir aus uns selbst, Gott muss uns erst wieder ein gewisses Maß von Verständnis dafür aufgehen lassen. Unser Naturverderben ist ein ganz verwickelter Krankheitszustand, aus dem nur die Gnade mit der Mannigfaltigkeit ihrer heilenden Kräfte uns retten kann. Alle, die ihre Unverständigkeit fühlen, dürfen aus dem Beispiel des Psalmisten Mut fassen, um Erleuchtung zu bitten. Möge ein jeder im Glauben bitten: Hellen Verstand gib mir! Haben doch andere diese geistliche Gabe bekommen, warum sollte nicht auch ich sie empfangen von dem HERRN, der so gerne gibt?
  Diese Gnadengabe sollen wir nicht suchen, um an Weisheit berühmt zu werden, sondern damit unsere Liebe zu Gottes Gesetz reichlich wachse und zunehme. Wer geistliches Verständnis hat, der wird die Gebote des HERRN lernen, sie sich einprägen und als einen Schatz bewahren und ihnen gehorchen. Das Evangelium verleiht uns die Kraft, das Gesetz zu halten; die freie Gnade wirbt uns zu heiligem Dienst. Es gibt kein Mittel, zur Heiligkeit zu gelangen, als indem wir die Gabe Gottes annehmen. Wenn Gott uns Gnade gibt, dann halten wir das Gesetz, nicht aber halten wir das Gesetz, um Gnade zu erlangen. Die Wiedergeburt, in der auch die Erneuerung unseres Verständnisses eingeschlossen ist, hat zur sicheren Folge, dass wir mit Ehrfurcht vor dem Gesetz des HERRN erfüllt werden und es mit ganzer Entschlossenheit im Herzen bewahren. Der Geist Gottes lehrt uns den HERRN erkennen, dass wir wenigstens etwas von seiner Liebe, seiner Weisheit, seiner Heiligkeit und Herrlichkeit begreifen, und da können wir nicht anders, als seinen Willen in Ehren halten und unsere Herzen dem Gehorsam des Glaubens hingeben.
  Und halte es von ganzem Herzen. Die Einsicht wirkt auf den Willen, auf die Neigungen. Das erleuchtete geistliche Verständnis überführt das Herz von der Schönheit des Gesetzes und erfüllt die Seele mit brennender Liebe zu demselben; sodann enthüllt es die Hoheit und Herrlichkeit des Gesetzgebers, so dass unser ganzes Wesen sich vor seinem erhabenen Willen neigt. Ein erleuchtetes Urteil heilt das Herz von seiner Zwiespältigkeit und richtet die Kräfte des Gemütes alle miteinander in die eine Bahn der gewissenhaften Beobachtung der einen Lebensregel. Der allein ist Gott gehorsam, der sagen kann: "Mein Herr und Gott, dir will ich dienen, und das von ganzem Herzen." Niemand aber vermag dies in Wahrheit zu sagen, es sei denn, er habe als freie Gabe die innere Erleuchtung durch den Heiligen Geist empfangen. Gottes Gesetz von ganzem Herzen und zu allen Zeiten zu halten ist eine große Gnade, und wenige sind ihrer, die sie finden; doch ist sie zu haben, wenn wir darein willigen, uns von dem HERRN unterweisen zu lassen.
  Beachten wir, dass schon V. 2 und V. 10 der Ausdruck "von ganzem Herzen" gebraucht ist, und zwar in Beziehung auf das Suchen des HERRN, und ebenso wieder V. 58 in Beziehung auf das Flehen um Gnade. Diese Verse sind, wie unser V. 34, jeweils der zweite in ihrer Gruppe. Die Wiederholung des Ausdrucks mag uns zeigen, welch ein wichtig Ding es um ungeteilte Liebe ist. Es gibt keine Heiligkeit, wo das Herz noch geteilt ist. Unser Herz kann nicht mit Gott eins sein, solange es in sich selber noch nicht eins ist.

35. Führe mich auf dem Steige (oder: lass mich treten auf den Steig) deiner Gebote; denn ich habe Lust dazu. "Wollen habe ich wohl; aber vollbringen das Gute finde ich nicht." (Röm. 7,18.) Du hast mich dahin gebracht, dass ich an dem Wege, den deine Gebote vorschreiben, Gefallen habe; nun mach auch, dass ich darauf wandele. Der Weg ist gut, andere wandeln ihn durch deine Gnade, ich sehe ihn vor mir liegen und habe Lust dazu; so lass auch mich darauf einherschreiten dem Ziele zu. Das ist der Ruf eines Kindes, das so gerne gehen möchte, aber zu schwach dazu ist, eines Pilgers, der sich ganz erschöpft fühlt und doch danach brennt, vorwärts zu eilen, eines Lahmen, der sich sehnt, laufen zu können. Wohl dem, der zu der Heiligkeit Lust hat; gewiss wird der, der in uns dies Wohlgefallen am Göttlichen gewirkt hat, uns auch die noch höhere Freude geben, diese Heiligkeit zu erlangen und zu betätigen. Das ist unsere einzige Hoffnung; denn wir werden nie auf dem schmalen Wege wandeln, es sei denn, dass die Kraft unseres Schöpfers selbst uns dahin bringt. O HERR, der du mich einst geschaffen hast, ich bitte dich, schaffe du mich neu; du hast mir den Weg zu wissen gegeben, nun mache mich auch darauf wandeln! Ich werde ja nie glücklich sein, ehe ich soweit bin; ist doch das einzige, was mein Herz wirklich erfreuen kann, dass ich wandele nach deinem Willen.
  Der Psalmdichter bittet den HERRN nicht, für ihn zu tun, was er selber tun soll. Er verlangt nicht, getragen zu werden, wobei er selber in bequemer Untätigkeit verharren würde, sondern er bittet: Bewirke du, dass ich gehe. Gehen will er selber. Die Gnade behandelt uns nicht als Holzklötze oder Blöcke von Stein, die mit Pferden oder Dampfmaschinen fortgeschleppt werden müssen, sondern als lebendige, mit Vernunft, Willen und Kraft des Handelns begabte Geschöpfe, die bereit und fähig sind, selber zu gehen, wenn nur die in ihnen vorhandenen Kräfte entbunden sind. Gott wirkt in uns, jawohl, aber er wirkt in uns das Wollen und das Vollbringen zu seinem Wohlgefallen. Die Heiligkeit, nach der wir trachten, ist nicht ein erzwungenes Halten des Gebotes, sondern die Befriedigung einer leidenschaftlichen, das ganze Herz erfüllenden Sehnsucht nach dem Guten, deren Ziel ist, dass unser Leben in allen Stücken nach dem Willen des HERRN gestaltet wird. Kannst du, lieber Leser, sagen: Ich habe Lust dazu? Ist tatsächlich in Gesinnung und Wandel ausgeübte Gottseligkeit das Kleinod, nach dem deine Seele trachtet, der Kampfpreis, dem all dein Dichten und Trachten gilt? Wenn ja, dann wird dein Lebensweg, so rauh er sein mag, dennoch unsträflich sein und dich aufwärts führen zu unaussprechlichen Freuden. Wer am Gesetz des HERRN seine Lust hat, der zweifle nicht, dass er auch in den Stand gesetzt werden wird, auf dessen Wegen zu wandeln; denn wo das Herz schon seine Freude findet, da werden die Füße bald folgen.
  In dem entsprechenden dritten Vers der vorigen Gruppe (V. 27) bat der Dichter: "Lehre mich den Weg deiner Befehle verstehen", und hier heißt es: "Lass mich gehen auf dem Steig deiner Gebote." Beachten wir die Ordnung: erst verstehen, dann gehen. Klare Einsicht ist von großem Wert für das praktische Handeln.
  Der vierte Vers, zu dem wir nun kommen, erinnert an die vorhergehenden vierten durch seine Innigkeit.

36. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Erscheint diese Bitte nicht überflüssig, da es dem Psalmisten doch augenscheinlich schon sehr um Gehorsam zu tun war? Wir sind aber gewiss, dass niemals in der Schrift ein Wort zu viel ist. Nachdem der Gottesmann gebeten, dass Gott ihm einen frommen Wandel geben möge, ist es ganz angemessen, dass er nun auch darum bittet, dass in allem seinem Tun sein Herz dabei sei. Wie würde sich sein Gang gestalten, wenn sein Herz nicht mitginge? Es mag sein, dass David in sich eine Neigung verspürte, vom schmalen Steige auf allerlei Abwege abzuweichen, vor allem auch einen ungeziemenden Hang zu irdischen Gütern; vielleicht drängten sich solche Gelüste selbst in den heiligsten Stunden der Andacht in seine Seele ein. Da fleht er sofort um mehr Gnade. Das einzige Mittel, eine falsche Neigung des Herzens zu heilen, ist, dass man die Seele nach der entgegengesetzten Richtung wendet. Heiligkeit des Herzens ist die beste Kur gegen die Habsucht und alle Lüsternheit. Wie gut, dass wir den HERRN selbst um die Neigung zu etwas bitten dürfen! Unser Wille ist frei; doch vermag die Gnade es, ohne diese Freiheit zu vergewaltigen, uns in die rechte Richtung zu bringen. Dies kann geschehen, indem sie unser Verständnis erleuchtet, dass es die Vortrefflichkeit des Gehorsams erkennt, ferner indem sie uns in der Gewöhnung zur Tugend kräftigt, dadurch dass wir zu erfahren bekommen, wie lieblich die Gottseligkeit ist, und auf vielerlei andere Weise. Wenn wir je fühlen, dass eine Pflicht uns eine Last ist, ziemt es uns, diese Bitte mit besonderer Beziehung darauf an den HERRN zu richten. Wir sollen alle Zeugnisse des HERRN lieb haben, und wenn wir in irgendeinem Stück zurückbleiben, so müssen wir darauf unsere besondere Aufmerksamkeit und Mühe wenden. Wohin sich unser Herz neigt, dahin wird auch die Richtung unseres Lebens gehen; daher die Wichtigkeit der Bitte: Neige mein Herz. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir uns von einer ständigen Neigung zu allem Guten beseelt fühlen! Das ist nicht die Richtung, in der je ein fleischliches Herz geneigt ist; seine Neigungen laufen vielmehr alle den Zeugnissen Gottes zuwider.
  Und nicht zum Geiz, zur Gewinnsucht. Dahin geht die Neigung des Herzens von Natur, und die Gnade muss mit ganzer Kraft ihr entgegenwirken. Das Laster der Habsucht ist ebenso verderblich, wie es allgemein verbreitet ist, ebenso niederträchtig, wie es armselig ist. Der Geiz ist Götzendienst, er setzt den Mammon an Stelle Gottes auf den Thron; die Habsucht ist ein Stück der Selbstsucht und ist daher grausam gegen jedermann, wo sie die Macht dazu hat; es ist eine schmutzige Gier, die schließlich selbst den Herrn um etliche Silberlinge verkauft. Der Geiz ist eine entwürdigende, niederträchtig einherschleichende, das Herz verhärtende, mörderische Sünde, unter deren Hauch alles, was lieblich und christusähnlich ist, verwelkt und erstirbt. Der Habsüchtige ist von dem Geschlecht des Judas und wird höchst wahrscheinlich selber auch sich schließlich als ein Kind des Verderbens (Joh. 17,12) erweisen. Das Laster des Geizes ist ungemein häufig, aber sehr wenige nur gestehen es von sich ein; denn wenn jemand in seinem Herzen Gold aufhäuft, so fliegt ihm der Staub davon in die Augen, dass er seinen eigenen Fehler nicht sehen kann. Unser Herz muss etwas haben, woran es hängt, und das einzige Mittel, zu verhindern, dass die irdische Gewinnsucht eindringe, ist, dass wir die Zeugnisse des HERRN an die Stelle setzen. Sind wir nach einer Richtung hingeneigt, so sind wir der anderen abgeneigt; das sicherste Mittel, einer Untugend zu entgehen und sie zu überwinden, ist, dass wir uns der Gnade hingeben, die die jener entgegengesetzte Tugend unfehlbar in uns wirken wird.

37. Wende meine Augen ab, dass sie nicht sehen nach dem Eitlen. (Grundtext) Der Psalmist hatte in Betreff seines Herzens zu Gott gebetet, und man sollte meinen, seine Augen hätten doch gewiss so unter dem Einfluss seines Herzens gestanden, dass keine Veranlassung vorlag, sie noch besonders zu einem Gebetsgegenstand zu machen. Aber der Psalmist will ganz sicher gehen und darum lieber doppelte Gewissheit haben. Wenn die Augen das Eitle nicht sehen, dann kommt auch in dem Herzen vielleicht kein Begehren auf; auf jeden Fall ist der Versuchung eine Haupttür verschlossen, wenn wir nach dem bunten Tand nicht einmal hinblicken. Durch das Auge fand die Sünde zuerst ihren Eingang in das Menschenherz, und bis heute noch ist das Auge des Satans Lieblingstür, durch die er sich mit seinen Verlockungen einschleicht; daher die Notwendigkeit, an diesem Tor die Wache zu verdoppeln. Unser Vers bittet aber nicht so sehr um geschlossene als vielmehr um abgewendete Augen; denn offene Augen müssen wir haben, nur müssen sie auf die richtigen Gegenstände gerichtet sein. Vielleicht blicken wir eben jetzt auf Törichtes und bedürfen einer energischen Abkehr; und auch wenn wir himmlische Dinge betrachten, werden wir gut tun, zu bitten, dass unsere Augen vom Eitlen abgehalten werden mögen. Weshalb sollten wir auch nach dem Eitlen schauen? Es schwindet wie ein Rauch. Warum nicht lieber nach dem Ewigen blicken? Des Fleisches Lust, der Augen Lust, hoffärtiges Leben, unrecht Gut, Eigendünkel, kurzum alles, was nicht von Gott ist, fällt unter diese Bezeichnung. Von dem allem müssen wir uns abkehren. Es ist ein Beweis, wie schwach der Psalmist sich selber fühlte und wie völlig von Gott abhängig, wenn er sogar darum bittet, dass die Augen ihm abgewendet werden; nicht dass er etwa vorhätte, das in träger Untätigkeit an sich geschehen zu lassen, er will nur hervorheben, wie völlig hilflos er ohne den Beistand der Gnade Gottes ist. Befürchtend, er könnte sich vergessen und mit zögerndem Verlangen nach dem Verbotenen zurückschauen, fleht er zum HERRN, er möge geben, dass er schnell seine Augen abwende, möge eilend ihn von solch gefährlichem Unterhandeln mit der Ungerechtigkeit abbringen. Wenn wir davor bewahrt bleiben, nach dem Unnützen hinzuschauen, so werden wir auch davor behütet werden, das Sündige zu lieben.
  Sondern erquicke mich, d. h. belebe mich (siehe zu V. 25), auf deinem Wege. Erfülle mich so mit Leben, dass die tote Eitelkeit keine Macht mehr über mich hat. Gib mir Kraft, so munter und hurtig auf dem Wege zum Himmel voranzuschreiten, dass ich das Eitle nicht lange genug in Sicht behalte, um davon gefesselt zu werden. Die Bitte weist uns hin auf eines unserer größten Bedürfnisse: mehr muntere Beweglichkeit und Tatkraft in unserem Gehorsam. Sie zeigt uns die behütende Macht eines frischeren Geisteslebens gegenüber dem Bösen, das uns umgibt. Sie sagt uns aber auch, woher solche Neubelebung und Kräftigung kommen muss: vom HERRN allein. Eitelkeit ist Tod, und gegen den Tod gibt es kein besseres Mittel als Lebenskraft von oben. Erfüllt die Gnade das Herz, so werden auch die Augen von der Unreinigkeit erlöst. Und wiederum, wollen wir voll Eifer und Tatkraft für das Göttliche sein, so müssen wir uns von aller Sünde und Torheit fernhalten, sonst werden unsere Augen nur zu bald unseren Sinn gefangen nehmen, und gleich Simson, der doch tausend zu schlagen vermochte, können wir selber zu Überwundenen werden durch die Lüste, die durch das Auge ihren Eingang finden.
  Dieser Vers steht in naher Beziehung zu V. 29, dem fünften des vorigen Abschnitts.

38. 1Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten. Mache dein so gewisses Wort auch mir gewiss. Wenn wir von Willigkeit zu gehorchen erfüllt sind, dabei aber dennoch von zweifelnden Gedanken angefochten werden, können wir nichts Besseres tun, als um Befestigung in der Wahrheit flehen. Es kommen Zeiten, da uns jede Lehre und jede Verheißung erschüttert scheint und unser Gemüt keine Ruhe finden kann. Da müssen wir zum HERRN rufen, dass er uns im Glauben stärke; will er doch, dass alle seine Knechte in seinem Worte wohl bewandert und wohl gefestigt seien. Aber sehen wir zu, dass wir auch wirklich des HERRN Knechte seien, sonst werden wir nicht lange in der Lehre gesund sein. Ein gottseliger Wandel hilft sehr viel zu Gewissheit in der Wahrheit; sind wir Gottes Knechte, so wird er sein Wort in unserer Erfahrung bestätigen. So jemand will Gottes Willen tun, der wird auch in Betreff der Lehre zu einer rechten, festen Erkenntnis kommen (vergl. Joh. 7,17). Ungläubige, gottesleugnerische Gedanken, die im Herzen aufsteigen, sind für einen Mann, der wirklich Gott fürchtet, eine Plage, ja eine kaum beschreibbare Qual, und nur eine Gnadenheimsuchung von oben kann die Seele wieder zur Ruhe und Festigkeit bringen, wenn sie heftigen Angriffen solcher Art ausgesetzt gewesen ist. Eitelkeit und Trug sind den Augen gefährlich; aber noch schlimmer ist es, wenn das Verständnis dadurch angegriffen und Zweifel an dem Wort des lebendigen Gottes im Herzen erregt werden.
  Dass ich (oder man) dich fürchte. Ein festes Vertrauen auf Gottes Wort ist Quelle und Grundlage der wahren Gottesfurcht. Nie werden Menschen einen Gott wirklich verehren, an den sie nicht glauben. Mehr Glaube bewirkt mehr Gottesfurcht. Wir können nicht erwarten, die Erfüllung der göttlichen Verheißungen in unserem Leben zu erfahren, wenn wir nicht unter dem Einfluss der Furcht des HERRN leben. Befestigung in der Gnade ist die Folge heiliger Wachsamkeit und gebetseifriger Tatkraft. Wir werden nie im Glauben fest eingewurzelt und gegründet werden, wenn wir nicht täglich üben, was wir zu glauben bekennen. Völlige Gewissheit ist der Lohn des Gehorsams. Gebetserhörungen werden denen zuteil, deren Herzen hören, wenn Gott gebietet. Fürchten wir Gott, so werden wir von aller andern Furcht befreit. So gibt es keine Furcht, ob das Wort sich wohl als wahr erweisen werde, für den, der von heiliger Ehrfurcht vor dem Urheber des Wortes erfüllt ist. Der zweifelsüchtige Unglaube ist sowohl Vater als Kind der Gottlosigkeit; wiederum erzeugt der feste, starke Glaube die Gottesfurcht und entspringt aus ihr. Der ganze Vers empfiehlt sich für alle die Frommen, die etwa zur Zweifelsucht neigen; er ist ein treffliches Gebet in Zeiten, wo besonders heftige Anfechtungen des Misstrauens uns zu schaffen machen.

39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Ihm graut vor der Schmach, sei es dass ihm bangt, er könnte den Feinden Anlass zur Lästerung geben durch irgendeinen auffallenden Widerspruch zwischen seinem Bekenntnis und seinem Wandel - und wie sehr sollten wir in der Tat vor solcher Schmach uns scheuen und wachen, dass wir ihr nicht verfallen - oder aber betet er wider solche, die ihn gerade wegen seiner Treue gegen Gottes Wort mit Lästerungen überhäufen. Das ist eine schwere Prüfung, vielleicht die schwerste für Menschen von feinem Empfinden. Es gibt manchen Mann, der lieber noch die Flammen des Scheiterhaufens erdulden würde als den höhnischen Spott grausamer Zungen. David war heißblütig, wie wir aus 1. Samuel 25 ersehen können, und er scheute die Verleumdung vielleicht umso mehr, weil sie ihn zum Zorn reizte und er selber nicht sagen konnte, zu was allem er nicht schließlich fähig wäre, wenn er schwer gereizt würde. Wenn Gott unsere Augen vom Trügerischen abwendet (V. 37), so dürfen wir auch erwarten, dass er trügerische Reden so weit von uns abwenden wird, dass sie unseren guten Namen nicht beflecken können. Wir werden vor Lügen behütet bleiben, wenn wir uns vor Lügen hüten.
  Denn deine Rechte sind lieblich. (Im Hebräischen steht geradezu: gut.) Eben deshalb lag dem Psalmisten so viel daran, dass niemand von Gottes Rechten etwa darum übel rede, weil er über den Knecht Gottes allerlei Übles hört. Wir sind betrübt, wenn wir verleumdet werden, weil die Schande viel mehr auf die Wahrheit fällt, die wir bekennen, als auf uns selber. Wenn die Menschen sich damit begnügen wollten, uns allerlei Schlimmes anzuhängen, dann könnten wir es noch ertragen, denn wir sind böse; aber unser Kummer ist, dass sie einen Makel werfen auf Wort und Wesen unseres Gottes, der doch so gut ist, dass im Vergleich mit ihm niemand gut genannt werden kann. Wenn Menschenkinder die Weltregierung Gottes schmähen und lästern, so ist es unsere Pflicht und unser Vorrecht, für ihn einzutreten und es öffentlich vor ihm zu bezeugen: "Deine Rechte sind gut." Und die gleiche Pflicht haben wir, wenn man unsere Bibel, das Evangelium oder das Gesetz, oder gar den Namen unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus angreift. Aber hüten wir uns, dass man keine berechtigten Anklagen gegen uns vorbringen könne, sonst wird unser Zeugnis in den Wind geredet sein.
  Diese Bitte um Abwendung von Schmach entspricht der in V. 31 ausgesprochenen. In den vorletzten Versen der Gruppen ist überhaupt häufig von Anfeindung von außen her und heiliger Befriedigung im Inneren die Rede.

40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Wenigstens Aufrichtigkeit darf er für sich in Anspruch nehmen. Wohl fühlt er sich tief gedemütigt in dem Bewusstsein, wie schwach und der göttlichen Gnade bedürftig er ist; aber er hat doch ein tiefes Verlangen, in allen Stücken dem Willen Gottes gleichgestaltet zu werden. Wo unser Herz, unser Begehren ist, da sind wir selber in Gottes Augen. Haben wir die Vollkommenheit auch noch nicht erlangt, so ist es doch schon etwas, wenn wir danach hungern und dürsten. Und der uns das Verlangen gegeben hat, der wird uns auch das Vollbringen gewähren. Den Gottlosen sind Gottes Befehle eine Last; ist also eine solche Wandlung mit uns vorgegangen, dass sie uns eine Lust sind, dass wir ihrer herzlich begehren, so ist uns dies ein deutlicher Beweis unserer Bekehrung, und wir dürfen dann getrost den Schluss ziehen, dass der, der in uns das gute Werk angefangen hat, es auch vollführen wird.
  Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit. Stärke mich, gib mir neue Lebenskraft! Du hast es ja verheißen, und es entspricht deiner Gerechtigkeit, dein Wort zu halten. Wie oft fleht der Psalmist doch um Erquickung, um Neubelebung! - und doch kein einziges Mal zu oft. Wir bedürfen der Erquickung und Kräftigung Tag für Tag und Stunde um Stunde, denn wir sind, ach, so leicht geneigt, matt und träge zu werden. Der Heilige Geist allein vermag es, uns neues Leben einzuflößen; darum so lasst uns nicht aufhören, ihn darum anzurufen. Möge das Leben, das wir schon besitzen, sich darin erweisen, dass wir nach mehr verlangen.
  Der letzte Vers der Abschnitte enthält gewöhnlich einen Ausblick in die Zukunft, in Vorsätzen, in Hoffnung, in Gebet. Auch aus unserem Vers erklingt der Ton: Weiter, immer weiter voran und höher hinan auf dem Wege des Lebens!


V. 33-40. Das achtfache h (H): Er bittet weiter um Unterweisung und Leitung, um den Abwegen der Selbstsucht und der Verleugnung zu entgehen.

33. HErr, leite mich den Weg deiner Satzungen,
Dass ich ihn einhalte bis aufs Letzte.
34. Hellen Verstand gib mir, dass ich wahre dein Gesetz
Und es beobachte von ganzem Herzen.
35. Hinführe mich auf dem Steige deiner Gebote,
Denn an dem hab’ ich Lust.
36. Herzliche Neigung gib mir zu deinen Zeugnissen,
Und nicht zum Eigennutze.
37. Halte ab meine Augen, zu schauen auf Eitles,
Auf deinen Wegen belebe mich.
38. Heiße sich erfüllen deinem Knechte deine Zusage,
Welche wirkt, dass man dich fürchte.
39. Hinweg nimm meine Schmach, vor der mir graut,
Denn deine Rechte sind gut.
40. Herzlich begehre ich deine Ordnungen,
Kraft deiner Gerechtigkeit belebe mich.
  Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.

V. 33-40. Inhalt: Das Gesetz Jehovahs soll aufgerichtet werden, vor den Augen, vor dem Geist, vor den Füßen, vor dem Herzen.

V. 33. Das Wort aufgerichtet vor den Augen. Zeige mir usw. Das hebräische Wort hat die Bedeutung: die Hand ausstrecken, um auf etwas zu deuten, also: weisen, zeigen, lehren. Der Psalmist bittet hier um Unterweisung von mehr allgemeiner Natur. Vor ihm lagen viele Wege, die zum Tode führten, aber nur ein einziger, der zum Leben führt. Hier verlangt er nun, dass ihm gezeigt werde, welches Jehovahs Weg ist. Wenn ja der HERR seinen Augen zeigen will, welches der richtige Weg ist, dann will er bis ans Ende sich an diesen halten. Da bedarf es des Lichtes für die Augen. Wie der Indianer der Spur folgt, so unbeirrt und wachsam sollen wir den Weg verfolgen, der uns zum Leben führt.

V. 34. Das Wort aufgerichtet vor unserem Geiste. Unterweise mich. Das hier gebrauchte Wort geht auf die Erschließung des geistigen Verständnisses, im Gegensatz zu dem im vorigen Vers erbetenen mehr äußerlichen Zeigen. Mache mich begreifen, d. h. mit dem Verständnisse. Die äußeren Sinne müssen zuerst den Weg erkennen, dann muss der Verstand ihn begreifen und dann soll das Herz in Glauben und Liebe ihm folgen. Und so will denn auch der Psalmist, wenn Gott ihn unterweisen will, dass er das Gesetz verstehe, dasselbe von ganzem Herzen halten und bewahren. Aber das Herz ist geneigt, sich abzukehren zu irdischen und sündigen Dingen, deshalb muss alsbald die göttliche Hilfe auch hierfür angerufen werden.

V. 35. Das Wort aufgerichtet vor unseren Füßen. Wir übersetzen nicht: Führe mich, sondern: Mache mich gehen, lass mich wandeln. Die Bitte bezieht sich gerade auf das Gehen auf dem Wege Gottes im Gegensatz zum bloßen Erkennen des Weges mit den Augen und dem Verstande. Erst beim wirklichen Begehen des Weges machen sich die tatsächlichen Schwierigkeiten desselben so recht bemerkbar. Darum heißt es auch: auf dem Steige deiner Gebote. Wenn erst deine Füße darauf wandeln, wirst du den Weg der Wahrheit stets als den schmalen Weg erfinden.

V. 36. Das Wort, aufgerichtet vor unserem Herzen. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Wenn auch meine Augen sehen, mein Verstand begreift, ja wenn auch meine Füße den Weg der Wahrheit wandeln, so ist das alles doch nichts, wenn das Herz nicht ebenfalls dazu geneigt ist. Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht. Und wer die Liebe nicht hat, der hat nichts. - So ist denn der Sinn dieser vier in aufsteigender Ordnung angeführten Bitten folgender: Mache, dass ich sehe, mache, dass ich verstehe, mache, dass ich wandele, und mache, dass ich mit Freuden wandele auf dem schmalen Wege deiner Zeugnisse.

V. 37. Lenke meine Augen ab vom Anschauen des Eitlen, lass mich am Nichtigen vorüberblicken, ohne es zu sehen. Der Gedanke erinnert an die Bitte im Gebet des Herrn: Führe uns nicht in Versuchung. Nachdem der Psalmist um das gebeten, was er gerne schauen möchte, bittet er hier um das Verbergen dessen, was er nicht sehen will.

V. 38 im Anschluss an die vorhergehenden Verse: Richte dein Wort auf vor deinem Knecht, d. i. halte es mir vor die Augen, vor meinen Sinn, vor meine Füße, vor mein Herz. Mach, dass alles Eitle weiche, so dass ich es nicht sehe, aber lass dein Wort so vor meinem ganzen Ich aufgerichtet sein, dass ich es immer sehen muss, und so durch dasselbige meinen Weg zu dir sehe.

V. 39. Wende von mir die Schmach, die ich scheue. Diese also bittet der Psalmist, gleich dem Eitlen V. 37, nicht sehen zu müssen. Er möchte den Blick seines ganzen Lebens nur auf das Wort gerichtet wissen: Denn deine Rechte sind lieblich.

V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Diese Worte drücken nur noch in stärkerer Form das eben Ausgesprochene aus. Die Rechte Gottes deuchten ihm so lieblich, dass er sehnsüchtig ihrer begehrt. Ja, er begehrt, sich noch stärker nach ihnen zu sehnen; darum bittet er um größere Lebendigkeit und Frische auf dem Wege, den sie weisen: Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit. Wer wirklich der göttlichen Wahrheit begehrt, ist betrübt, dass sein Verlangen nicht noch größer ist. Wenn das Herz leer an Liebe ist, ist der Verstand ohne Licht und kann die Gebote nur falsch verstehen. Die reines Herzens sind sehen besser mit ihrem Verstande als die Unreinen. Die Liebe erweitert das Verständnis so sehr, dass der, der wahrhaftig liebt, oft finden wird, dass sein Urteil über die Seligkeit der Wahrheit selbst seine Sehnsucht danach übersteigt. Darum sind es die Lebendigen, die Frischen, die ausrufen: Belebe, erfrische, erquicke mich, und wer ein lebendiges Begehren hat, der bittet um noch mehr Leben auf dem Wege der Gerechtigkeit. Fred. G. Marchant 1882.


V. 33. Zeige mir, HERR, den Weg deiner Rechte. Die Kinder Gottes brauchen Anweisung von oben, solange sie in dieser Welt leben. Je mehr wir wissen, umso mehr begehren wir zu wissen. Wir müssen ebenso wohl um tägliche Gnade als um tägliches Brot bitten. Haben wir erst von der Traube vom Bache Eskol (4. Mose 13,23) schmecken dürfen, so werden wir stets eine Sehnsucht nach den Weinstöcken Kanaans empfinden. Religion ist heilige Lebenskunst, und man lernt sie erst kennen, wenn man sie ausübt. Nicht der ist ein Meister in der Tonkunst, der die Noten kennt, sondern der ein Stück fertig abzulesen und nach den Gedanken seines Urhebers zu spielen versteht, und das Vergnügen, das er dabei empfindet, wird Grund genug für ihn sein, diese Kunst weiter zu üben. Bischof G. Horne † 1792.
  "Wer sein eigener Schüler ist, hat einen Narren zum Lehrer", sagt der heilige Bernhard. Und Ambrosius: "Ein Soldat auf dem Marsch stellt sich nicht selbst die Marschorder aus, bricht auch nicht nach eigenem Gutdünken auf, wählt auch nicht Nebenwege, sonst möchte er sich von seiner Abteilung und der Fahne verlieren; nein, er bekommt seinen Weg vom Führer angewiesen und bleibt auf demselben, er rückt in bestimmter Ordnung vor, die Waffen in der Hand, gerade auf das Ziel zu, wo sein Marsch enden soll, und dort findet er Vorräte, die das Verpflegungsamt hat hinschaffen lassen. Wenn er einen andern Weg einschlägt, findet er kein Quartier, keine Vorräte bereit, denn der Führer hat befohlen, dass alles derartige nur für die in Bereitschaft sei, die ihm gefolgt und weder zur Rechten noch zur Linken abgewichen sind. So wird denn der, der dem Feldherrn folgt, nicht zusammenbrechen, und zwar aus gutem Grunde: der Feldherr sorgt nicht für sein eigenes Behagen, sondern für die Tüchtigkeit des ganzen Heeres. Und das ist auch die Marschordnung Christi, da er seine großen Heerscharen aus dem geistlichen Ägypten ins ewige Land des Paradieses führt." James Millard Neale † 1866.


V. 34. Unterweise mich. Der Psalmist geht gründlich vor; das hat ihn der Heilige Geist, der Geist aller Unterweisung und Lehre, gelehrt. Was er begehrt, ist nicht die gewöhnliche Unterweisung, wie sie ein Lehrer zu bieten pflegt; er will eine Umbildung und Ausbildung seines Geistes, wie sie nur der Schöpfer zu leisten vermag. Unterweise mich, lehre mich erkennen, verstehen, gib mir den rechten Verstand dazu. Er verlangt nicht bloß, ein Ding kennen zu lernen, seine Beschaffenheit im Allgemeinen; was er braucht, ist die Einsicht in seinen Ursprung, seine Entwicklung, seinen Endzweck. Er will die Fähigkeit erlangen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, geistlichen Scharfsinn, um das Rechte und gleichzeitig alles demselben Feindliche zu erkennen. Er braucht Unterweisung, um die Wahrheit zu erkennen, den wahren Weg der Rechte des HERRN, und sorgsam alles zu vermeiden, was diesem fremd ist. John Stephen 1861.
  Häufig wird in der Schrift die Gottlosigkeit und alles unheilige Wesen auf Rechnung der Unwissenheit gesetzt. Wie körperliche Leiden oft ihren Ursprung haben in Störungen der Gehirntätigkeit, so auch allerlei Ausschreitungen im Handeln in Verirrungen des Urteils. Und in der Tat findet sich am Grunde einer jeden Sünde ebenso wohl Unwissenheit als Irrtum; denn wenn die Sünder wirklich wüssten, was sie eigentlich tun, indem sie sündigen, so könnten wir von jeder Sünde sagen, was der Apostel von jener größten Sünde sagt: Wo sie die (nämlich die verborgene Weisheit Gottes) erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt (1. Kor. 2,8). Wüssten sie in der Tat, dass jede Sünde eine Beleidigung des eifrigen Gottes ist, eine Herausforderung des Himmels, ein abermaliges Kreuzigen des Herrn Jesus, ein Häufen des Zornes, sich selbst auf den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, und dass, wenn sie je Vergebung erlangen sollen, dies um keinen geringeren Preis geschehen kann, als den Preis seines Blutes - wüssten sie all dieses, so wäre es kaum denkbar, dass die Sünde, statt zu verlocken, nicht vielmehr abschreckte, statt in Versuchung zu führen, nicht den stärksten Widerwillen erregte. - Aus der Einleitung zum Westminster-Katechismus 1645.
  Von ganzem Herzen. Der ganze Mensch gehört Gott an, er ist sein Eigentum von Rechts wegen; wenn Gott also das ganze Herz verlangt, so verlangt er nur, was sein Eigentum ist. Gott gab uns das Ganze in der Schöpfung, er erhält das Ganze, er erlöst das Ganze, und verheißt, das Ganze dereinst herrlich zu machen. Wenn etwas Gutes an euch ist, so hat Gott doch das Beste daran getan, er hat das Ganze geheiligt, wie die Schrift sagt: Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesus Christus (1. Thess. 5,23), nicht bloß das Bewusstsein, sondern der Wille, die Triebe, der ganze Leib. Und ihr habt ihm alles gegeben, dass er damit tue nach seinem Wohlgefallen: Ich bin ganz sein Eigentum, ich bin sein nicht bloß teilweise, nein ganz. Ein Ananias, der einen Teil zurückbehielt, war ihm widerwärtig. Wenn Welt, Vergnügen, Ehrgeiz, Stolz, Habsucht, unreine Liebe einen Anteil an uns haben wollen, sollen wir uns daran erinnern, dass wir gar keine Empfindungen und Regungen zu unserer eigenen Verfügung haben; alles ist sein, und es ist ein gotteslästerliches Beginnen, ihm einen Teil des Seinigen rauben oder vorenthalten zu wollen. Sollte ich irgendetwas Gott entwenden, um der Welt, dem Fleisch oder dem Teufel einen Gefallen zu tun? Thomas Manton † 1677.


V. 35. Führe mich auf dem Steige deiner Gebote. Die Aufgabe eines Christen liegt nicht in tiefem Nachsinnen über allerhand geheime Weisheit, sondern im frischen, lebendigen Tun. Und was die Gnade Gottes so köstlich macht, ist ihre Doppelwirkung. Sie lehrt uns erst, was wir tun sollen, und dann hilft sie uns das Gelernte auch tun: sie führt uns auf dem Steige seiner Gebote. Thomas Manton † 1677.
  Der Steig deiner Gebote, nicht ein neuer Weg, sondern der alte, längst betretene, den von Anfang an alle Knechte Gottes gewandelt sind. Mag er aber auch durch zahlreiche Pilger noch so sehr ausgetreten sein, so ist und bleibt er doch immer nur der eine, schmale, schwer zu findende Steig, dessen ist der Psalmist sich wohl bewusst, und darum sucht er einen Führer für denselben. William Cowper † 1619.


V. 35.36. Denn ich habe Lust dazu. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. Selbst bei einem Kinde Gottes ist das Herz nicht mit einer solchen Entschiedenheit Gott zugeneigt, dass es nicht ab und zu in seine alte Richtung und Neigung zurückkehrte. Selbst die Besten müssen die Erfahrung machen, dass sie sich in ihrem Dichten und Trachten lange nicht so frei von der Welt halten können, wenn sie Häuser und Äcker und allerlei Hab und Gut zu ihrer Verfügung haben, als wenn ihnen Niedrigkeit und Dürftigkeit beschieden ist. Selbst die Besten mögen es erfahren, dass ihr Trachten nach dem, was droben ist, abnimmt, je mehr ihr irdischer Besitz zunimmt. Pius V. soll gesagt haben, im Anfange, als er sich dem geistlichen Stande gewidmet, habe er zu hoffen gewagt, dass er werde selig werden; als er Kardinal geworden, habe er angefangen, daran zu zweifeln, aber nun er Papst sei, verzweifle er fast daran. Und viele werden schon an sich selbst eine große Veränderung wahrgenommen haben, vielfaches Nachlassen im Eifer um die Ehre Gottes, in der Liebe zu Gottes Wort und der Freude daran, im Sorgen um das Eine, was Not ist, wenn ihre weltlichen Aussichten und Erfolge sich glänzender gestalteten. Es ist aber gut, dies im Auge zu behalten, ehe das Übel überhandnimmt. Wenn die Dinge dieser Welt allzu viel Raum in unserem Herzen gewinnen, wenn sie uns anlocken und von Gott wegziehen, uns die Freude an seinem Worte verderben, unseren Eifer um seine Ehre erkalten machen, dann haben wir es gar oft nötig, dass uns vorgehalten werde, wie schwerlich doch ein Reicher ins Reich Gottes eingehen mag. Thomas Manton † 1677.


V. 36. Neige mein Herz. Wenn wir von selbst geneigt wären, auf Gottes Steigen zu wandeln, den ganzen Inhalt seines Wortes aufzunehmen und zu bewahren, so würde David nicht zu dieser Bitte gekommen sein, sonst wären seine Worte Verstellung oder Unaufrichtigkeit. Wenn er also Gott bittet, ihm das Herz zum Guten zu neigen, so ist das so gut, als ob er bekennte: HERR, es steht nicht bei mir noch bei irgendeiner sterblichen Natur, zu wandeln, wie du befohlen hast, denn unser Herz ist ganz verkehrt. Es ist nur Auflehnung gegen dich in uns, und niemals werden wir im Gehorsam gegen dich wandeln, wenn du nicht Hand anlegst und unseren Geist dahin richtest. Jean Calvin † 1564.
  Augustinus sagt schön: Natura vera confessione non falsa defensione opus habet - Der Zustand unserer gefallenen Natur bedarf des wahren Bekenntnisses ihrer Schwäche, nicht der falschen Verteidigung ihrer Kraft. Das wird auch, gleich dem Psalmisten hier, jeder demütige Christ tun, und das führt von selbst zum Gebet. Thomas Manton † 1677.
  Und nicht zum Geiz. Wir dürfen nie vergessen, dass der Geiz unter allen Umständen ein Laster ist; denn wir sind nur zu leicht geneigt, ihn bei uns selbst zu entschuldigen unter allerlei Vorwänden, ja sogar aus ihm eine Art Tugend zu machen. Jedenfalls sind wir viel eher bereit, übertriebene Sparsamkeit zu entschuldigen, als den entgegengesetzten Fehler, namentlich wenn wir nicht darunter zu leiden haben. Dann schadet auch so ein bisschen Gewinnsucht, ein bisschen Genauigkeit, wie wir es nennen, nichts. Aber was einmal Sünde ist, bleibt Sünde, auch wenn es sich nur um "ein bisschen" handelt. Hören wir doch, was die Schrift vom Geiz sagt, sie nennt ihn Götzendienst (Eph. 5,5), und Götzendienst ist die erste Sünde auf der ersten Gesetzestafel. Der Geiz ist eine Wurzel alles Übels (1. Tim. 6,10), denn es gibt kein Unrecht, zu dem ein Habsüchtiger oder Geiziger nicht imstande ist, wo sein Geldbeutel ins Spiel kommt. So sagt auch David: Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. Er sagt nicht: zu diesem oder jenem Zeugnisse, sondern er fasst alle Gebote Gottes zusammen, als wollte er damit sagen, dass der Geiz nicht einem, sondern allen Geboten widerstreite. So sagt auch Paulus, 1. Tim. 6,9, dass der Geiz zu vielen törichten und schädlichen Lüsten führe. Und der ehrwürdige Kirchenvater Chrysostomus nennt den Geiz den Fluch der menschlichen Gesellschaft. Der Geizige hasst alle Menschen, die Armen, weil sie etwas von ihm verlangen könnten, die Reichen, weil sie etwas besitzen, was er selbst haben möchte. R. Capel 1655.
  So völlig wird der Mensch von diesem Laster eingenommen, dass er niemals satt werden kann. Es ist wie ein Schlund, den niemand je auszufüllen vermag. Er ist voll Grausamkeit, ohne Mitleid gegen seine Nebenmenschen, er macht sich kein Gewissen daraus, Menschen und Gott zu ärgern und zu kränken; wenn er damit nur etwas erlangen kann, so ist ihm das ganz einerlei. So sehen wir, dass wenn es eine Sünde gibt, die uns hindert, Gott zu dienen, so ist es der Geiz, die Begierde nach irdischem Besitz. Jean Calvin † 1564.


V. 37. Wende meine Augen ab usw. Erst hat er für sein Herz gebeten, jetzt bittet er für seine Augen. Durch die Augen kehrt häufig der Tod ins Herz, deshalb bedarf es, um das Herz in gutem Stande zu erhalten, dreier Dinge. Erstens, einer gewissenhaften Beobachtung der Sinne, namentlich der Augen; denn Gott handelt gerecht, wenn er den, der sein leibliches Auge leichtsinnig gebraucht, an seinem geistigen Auge mit Blindheit straft. Der Kirchenvater Gregor von Nazianz klagt an einer Stelle bitter über all das Unheil, von dem seine Seele schon betroffen worden, und wünscht sich Türen für Augen und Ohren, um sie zusperren zu können, wenn sie auf etwas merken wollten, was nicht gut ist. Zweitens ist es nötig, den Leib in strenger Zucht zu halten. Drittens aber braucht es ein Anhalten am Gebet. William Cowper † 1619.
  Merke, er sagt nicht: Ich will meine Augen abwenden, sondern: Wende du meine Augen ab. Daraus können wir ersehen, dass es für uns unmöglich ist, bei aller Sorgfalt selbst unsere Augen im Zaum zu halten, sie müssen in göttlicher Hut stehen. Denn zum ersten, wohin wir auch uns in dieser Welt wenden, überall stoßen wir auf Anregungen zum Bösen. Zum andern: Bei denen, die nicht auf ihrer Hut sind, und auch noch bei ganz anderen Leuten, wandern die Augen nach dem Eitlen, nach solchem, was unnütz ist. Zum dritten aber schleicht sich das Böse, das durch das Auge hereingekommen ist, ehe du es merkst, bis in die hintersten Winkel deines Herzens, und streut dort den Samen des Verderbens aus. Dies hat der Psalmist an sich selber mit unsäglichen Schmerzen und Nöten äußerer und innerer Art erfahren. Wolfgang Musculus † 1563.
  Ist’s nicht so: was wir gerne haben, das sehen wir auch gerne an? Wie das Sprichwort sagt: Was dem Herzen gefällt, das suchen die Augen. Wenn wir also Gott bitten, dass unsere Augen nicht nach dem Eitlen schauen mögen, so heißt das soviel, als um die Gnade bitten, dass wir das Eitle nicht lieben. Denn allerdings hat das Eitle vielfach ein so liebliches, reizendes Ansehen, dass der natürliche Mensch nicht leicht davon lassen kann, es anzuschauen. Da muss erst der schönere Anblick der göttlichen Gnade unsere Augen, die natürlich stets nach dem schauen, was ihnen das Lieblichste deucht, von den eitlen Dingen ab und auf sich lenken. Der Psalmist richtet hier sein Gebet vorzüglich gegen die Versuchungen des Wohllebens. Glück und Unglück, Wohlergehen und Trübsal haben beide ihre besonderen Versuchungen, und viele, die die eine Art von Versuchungen sehr wohl ertragen können, werden von der andern gar schnell überwunden. So vermochte David die Verfolgungen ohne Murren zu ertragen; als er aber zu Ruhe und Wohlleben kam, konnte er seine Augen nicht vom Eitlen abkehren (2. Samuel 11,2). Richard Baker † 1645.
  Hässliches verliert sehr viel von seiner Widerwärtigkeit, wenn wir es oft betrachten. Auch für das Sündliche gilt dieses allgemeine Gesetz, und man muss sich völlig davon fern halten, darf es nicht einmal anschauen, wenn man davor sicher sein will. Wir können hienieden nicht dankbar genug sein, dass Gott uns Augenlider gegeben hat, die wir auf- und zumachen können; und von dem Letzteren sollten wir recht oft Gebrauch machen. Albert Barnes † 1870.
  Fragst du: "Was kann meine Augen am sichersten abwenden vom Unnützen?" Nicht die Einsamkeit der Wüste oder des Klosters, nicht das Aufgeben aller natürlichen Verbindung mit der Welt, sondern die überirdische Schönheit Jesu, uns vor Augen gestellt und unsere Herzen erfüllend. Charles Bridges † 1869.


V. 38. Lass deinen Knecht dein Gebot fest für dein Wort halten. Ist das nicht befremdlich? Hier haben wir einen Knecht Gottes, einen treuen, gottesfürchtigen Diener des HERRN, der sich offenbar mit gutem Gewissen und unbedenklich selbst als solchen ansieht, und trotzdem bittet er um etwas, was doch eigentlich ein wesentliches Erfordernis einer solchen Stellung ist. Wenn einer nicht Gottes Gebot fest für sein Wort hält, kann er sich doch nicht seinen Knecht nennen? Und wenn er wirklich sein Knecht ist, wie sollte er dann dazu kommen, zu bitten, wie der Psalmist es hier tut? Dieser scheinbare Widerspruch aber besteht, wie die Erfahrung lehrt, in Wirklichkeit durchaus nicht, sondern findet in ihr eine einfache und die einzig richtige Erklärung. Schildert dies denn nicht den Zustand so manches Frommen, so vieler wirklichen Gotteskinder? Fest und doch schwankend, voll Lust und doch zaudernd, ein treuer Diener und doch voll Sehnsucht nach noch festerer Berufung, nach noch mehr Gnade, nach noch größerer Treue, im Glauben stehend und doch mit dem Notschrei aus tiefstem Herzen: Hilf meinem Unglauben. Alex. Raleigh † 1880.
  Die Bitte dieses Verses kann auf zweierlei Weise erfüllt werden. Einmal durch die innere Gewissheit, die uns von dem Heiligen Geiste wird. Ferner aber durch augenscheinliche Erfüllung einer Verheißung; denn das Eintreten eines jeden Ereignisses, das einem Wort der Schrift entspricht, ist ein sichtbar Beweis für ihre Wahrheit, eine Besiegelung und Bestätigung derselben zur Stärkung unseres Glaubens. Die Erfüllung von Verheißungen stärkt unseren Glauben und lässt uns ein Gleiches für die Zukunft erwarten. Christus tadelt seine Jünger, dass sie nicht an das frühere Speisungswunder dachten, als sie in die gleiche Lage kamen. Der HERR, der einmal Wort gehalten hat, wird es auch ein andermal tun. "Der Herr stand mir bei, und ich ward erlöst von des Löwen Rachen. Der Herr aber wird mich erlösen von allem Übel." (2. Tim. 4,17.18.) Und der HERR wird nicht nur einen Teil seines Wortes wahr werden, sondern das ganze in Erfüllung gehen lassen, denn alle Gottesverheißungen sind Ja in Christo. Thomas Manton † 1677.
  Wir müssen stets daran denken, wenn wir Gott um etwas bitten wollen, dass wir uns auf seine Verheißungen zu stützen haben, dass wir ihn um nichts bitten dürfen, wenn wir nicht schon versichert sind, dass er es uns geben will, dass er es aus freien Stücken und unaufgefordert verheißen hat. Denn es wäre doch törichte Vermessenheit von den Menschen, sich vor Gott hinzustellen und etwas ihnen Genehmes von ihm zu verlangen; nein, Gott muss den ersten Schritt getan, er muss das erste Wort gesprochen haben. Daraufhin also, wenn wir erst dieses Wort haben, dürfen wir dann die Zuversicht haben, ihn zu bitten. Aus demselben Grunde setzt David, nachdem er gebeten hat, so wie wir eben gehört haben, auch hinzu: HERR, mach dein Wort deinem Knechte gewiss; er will damit sagen: HERR, ich verlange nichts, was du mir nicht versprochen hast, und das ist’s, was mir den Mut verleiht, zu dir zu kommen, da ich weiß, dass du getreu bist und tun wirst, wie du verheißen hast. So sollten denn die göttlichen Verheißungen stets den Eingang zu unseren Gebeten bilden, stets vorangeschickt werden, und auch nachdem wir den HERRN gebeten haben, lasset uns eben dieselbigen Verheißungen ins Gedächtnis zurückrufen, um dessen ganz gewiss zu sein, dass wir ihn nicht vergeblich um etwas gebeten haben. Jean Calvin † 1564.
  Dass ich dich fürchte. Der Grundtext hat hier eine Wendung, die verschiedene Übersetzung zulässt. Es kann ebenso wohl heißen, welcher (d. h. Knecht) deiner Furcht ergeben ist, als welches (d. h. dein Wort) zu deiner Furcht führt oder führen soll. Jedenfalls, mag man nun die Stelle so oder so übersetzen, wird die Furcht des HERRN als eine Haupteigenschaft eines Knechtes des HERRN hingestellt, als ein Hauptpunkt aller Religion. Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang (Ps. 111,10). Sie steht zuoberst in der Reihe, sie macht den Anfang, wenn wir beginnen, weise zu werden, an Gott zu denken, mit Ehrfurcht an ihn zu denken, sie ist ein Hauptstück der Weisheit, die uns unterweist zur Seligkeit. Und auf sie wird noch zur Begründung der Bitte hingewiesen, wie es auch Neh. 1,11 heißt: HERR, lass deine Ohren merken aufs Gebet deiner Knechte, die da begehren, deinen Namen zu fürchten. Und je mehr wir dann wieder in der Furcht des HERRN leben, umso fester wird uns die Zuversicht auf seine Liebe, auf seine Bereitwilligkeit, uns zu erhören am angenehmen Tage. Thomas Manton † 1677.


V. 39. Denn deine Rechte sind lieblich. Man hätte hier erwarten sollen: Lass die Schmach, die ich fürchte, an mir vorübergehen, denn du bist gnädig. Aber so sagt der Psalmist nicht; der Grund, den er hier angibt, lautet: Denn deine Rechte, deine Urteile sind lieblich. Wir würden es auch sehr wohl verstehen, wenn da stünde: Wende meine Schmach ab, denn deine Urteile sind schrecklich. So aber, wie die Stelle lautet, sehen wir, dass er sich wirklich hinter Gottes Rechte flüchtet und erwartet, dass sein Herr ihn gegen alle ungerechten Gerichte der Menschen in Schutz nehmen werde. John Stephen 1861
  Die Schmach, die der Dichter fürchtet, ist nicht die Schmach des Bekenntnisses, sondern der Verleugnung; danach sind "deine Rechte" nicht Gottes Gerichte, sondern geoffenbarte Rechte; diese sind gut, indem demjenigen, der sie hält, wohl ist und wohl geschieht. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Oft kommen wir, ohne es recht zu wissen, dazu, mehr nach den Verheißungen als nach den Befehlen Gottes zu verlangen. Wir vergessen dabei ganz, dass es unser köstliches Vorrecht und unser sicherster Schutz ist, beides gleich wert zu halten: seinen Befehlen zu gehoben, in Anlehnung an seine Verheißungen, und die Erfüllung seiner Verheißungen zu erwarten auf dem Wege des Gehorsams gegen seine Vorschriften. Charles Bridges † 1869.
  Deiner Befehle. Das hebräische Wort, das Luther mit Befehle übersetzt hat, bedeutet etwas dem Menschen Anvertrautes, Übergebenes, das was dir vertraut ist, Bestimmungen Gottes, welche an das Gewissen gehen, für welche der Mensch als vernunftbegabtes Wesen verantwortlich ist. J. Jebb 1846.
 


1. Nach dem Grundtext lautet der Vers wohl. Erfülle deinem Knecht dein Wort (nämlich der Verheißung), das der Furcht vor dir gegeben ist, oder aber: das darauf abzielt, dass man dich fürchte.


41. HERR, lass mir deine Gnade widerfahren,
deine Hilfe nach deinem Wort,
42. dass ich antworten möge meinem Lästerer;
denn ich verlasse mich auf dein Wort.
43. Und nimm ja nicht von meinem Munde das Wort der Wahrheit;
denn ich hoffe auf deine Rechte.
44. Ich will dein Gesetz halten allerwege,
immer und ewiglich.
45. Und ich wandele fröhlich;
denn ich suche deine Befehle.
46. Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen
und schäme mich nicht
47. und habe Lust an deinen Geboten,
und sie sind mir lieb,
48. und hebe meine Hände auf zu deinen Geboten, die mir lieb sind,
und rede von deinen Rechten.

In diesen Versen drückt sich vor allem eine heilige Furcht aus. Der Mann Gottes zittert bei dem Gedanken, der HERR könnte ihm seine Huld entziehen. Durch die ganzen acht Vers zieht sich die eine Bitte: Ach bleibe mit deiner Gnade bei mir; und die Gründe, mit denen er seine Bitte stützt, sind solcher Art, wie sie sich nur einem von brennender Gottesliebe erfüllten Herzen darbieten.

41. HERR, lass mir deine Gnade widerfahren, wörtlich: Und mögen über mich kommen deine Gnaden. Er begehrt Gnade geradeso wie Unterweisung, denn er fühlt sich ebenso schuldig wie unwissend. Er braucht viel Gnade und verschiedenartige Gnade, daher (nach dem Grundtext) die Mehrzahl: Gnaden. Und göttliche Gnadenerweisungen hat er nötig, nicht nur menschliche Huld; darum sagt er: deine Gnade. Es war ihm, als sei der Weg für diese manchmal versperrt; darum bittet er, Gott möge selber die Hindernisse hinwegräumen, so dass seine Gnadenerweisungen über ihn kommen können. Der da sprach: Es werde Licht, kann ebenso die Gnade hervor- und durchbrechen lassen. Und diese Gnade, möge sie nicht nur an andern ihren Reichtum erweisen, sondern auch mir widerfahren! HERR, deine Feinde kommen über mich, um mich zu schmähen (V. 42); möge da auch deine Gnade kommen, um mich zu schützen. Anfechtungen und Trübsale mehren sich, und Mühsale und Leiden aller Art dringen auf mich ein; da lass, HERR, deine Gnaden in noch größerer Zahl durch die gleiche Tür und zu der gleichen Stunde eintreten, denn du bist ja doch mein gnadenreicher Gott!
  Deine Hilfe oder dein Heil (Luther 1524). Das ist der Kern und die Krone aller Gnadenerweisungen des HERRN, die Erlösung von allem Übel, dem zeitlichen wie dem ewigen. Beachten wir, dass das Wort hier, wo es zum ersten Mal in unserem Psalm vorkommt, in Verbindung mit dem Wort Gnade steht. Schon die Alten wussten von keinem andern Heil, als aus Gnaden. Indem der Psalmist sagt: dein Heil, schreibt er alle Hilfe dem HERRN allein zu. Welche Fülle von Gnaden ist doch in dem durch Christum uns gewordenen Heile enthalten! Gnade ist es, die uns verschont hat, als wir noch nicht daran dachten, uns zu bekehren, und vorbereitend in uns wirkte. Dann kommt die Gnade, die uns beruft, uns aus dem Todesschlafe weckt, bekehrt, rechtfertigt, die Sünde vergibt. Und wie mannigfaltiger Gnadenerweisungen bedarf es, um den Gläubigen sicher zur Herrlichkeit zu führen. Das Heil des HERRN ist in der Tat eine Anhäufung von an Zahl unberechenbaren, an Wert unschätzbaren, in ihrer Wirksamkeit unaufhörlichen, an Dauer ewigen Gnadenerweisungen. Ehre und Preis ohne Ende sei dafür dem Gott aller Gnade dargebracht.
  Nach deinem Wort. Im Worte ist uns der Weg des Heils dargelegt, das Heil selbst wird uns in dem Wort verheißen, und es wird in unserm Herzen gewirkt durch das Wort, so dass nach jeder Richtung das Heil in Christo Jesu sich mit dem Worte ganz in Übereinstimmung befindet. Der Psalmist hatte das Wort Gottes lieb, er sehnte sich aber danach, das in ihm enthaltene Heil aus persönlicher Erfahrung zu kennen; es genügte ihm nicht, in der Schrift zu forschen, er begehrte ihren Inhalt zu erleben. Der Acker der Heiligen Schrift war ihm ein teurer Besitz um des köstlichen Schatzes willen, den er darin entdeckt hatte. Ihm war es nicht genug, Kapitel und Vers zu wissen; was er bedurfte, waren Gnade und Heil.
  Beachten wir: Im ersten Vers des fünften Abschnittes (V. 33) bat der Psalmdichter, Gott möge ihn sein Wort halten lehren; hier hingegen bittet er GoGott,ein Wort zu halten. Dort verlangte er, zu dem Gott der Gnade zu kommen; hier begehrt er, dass die Gnaden Gottes zu ihm kommen mögen. Dort flehte er um Gnade, um im Glauben beharren zu können; hier trachtet er, das Ende seines Glaubens davonzubringen, nämlich der Seelen Seligkeit.

42. Dass ich antworten möge meinem Lästerer. Und das gibt eine Antwort, auf die nichts zu erwidern ist. Wenn Gott unser Flehen gnadenvoll erhört, indem er uns seine Hilfe, sein Heil zuteil werden lässt, dann sind wir auch alsbald bereit, auf die Einwürfe der Ungläubigen, die Witzeleien der Zweifelsüchtigen und die Hohnreden der Verächter die gebührende Antwort zu geben. Es ist höchst wünschenswert, dass den Lästerern entgegengetreten werde; darum dürfen wir auch erwarten, dass der HERR seinem Volke Hilfe und Erlösung angedeihen lassen werde, um ihm so eine Waffe in die Hand zu geben, womit es seine Widersacher schlagen kann. Wenn diejenigen, die uns schmähen, damit auch Gott schmähen, dann dürfen wir ihn bitten, dass er uns helfe, damit wir sie durch sichere Beweise seiner Gnade und Treue zum Schweigen bringen.
  Denn ich verlasse mich auf dein Wort. Sein Glaube zeigte sich daran, dass er mitten in der Trübsal guter Zuversicht war, und er macht dies als Grund geltend, warum ihm geholfen werden sollte, dass er durch gnädige Erfahrung der Hilfe Gottes die Lästerungen zurückschlagen könne. Der Glaube ist’s, worauf wir uns stützen, wenn wir Gnade und Heil suchen; der Glaube an den HERRN, der in seinem Worte zu uns geredet hat. "Ich verlasse mich auf dein Wort", das ist ein Selbstbekenntnis von hohem Wert; denn wer das in Wahrheit bezeugen kann, der hat Macht empfangen, ein Kind Gottes zu werden (Joh. 1,12) und damit der Erbe unzählbarer Gnaden. Gott sieht das gläubige Vertrauen eines Menschen mehr an als irgendetwas anderes, das in ihm ist; denn es hat dem HERRN gefallen, den Glauben zu erwählen als die offene Hand, die er mit seinen Gnaden und seinem Heile füllen will. Schmäht uns jemand um unseres Gottvertrauens willen, so treten wir ihm mit mächtigen Beweisgründen entgegen, indem wir nachweisen, dass Gott seine Verheißungen gehalten, unsere Gebete erhört und unsere Notdurft erfüllt hat. Selbst die ärgsten Zweifler müssen sich vor der Beweiskraft der Tatsachen beugen.
  In diesem zweiten Vers der Gruppe legt der Psalmist ein Bekenntnis seines Gottvertrauens und seiner Glaubenserfahrung ab. Das Gleiche tut er in den entsprechenden Versen der nächsten Abschnitte, siehe V. 50.58.66.74. Ein selber innerlich herangereifter Diener des Wortes könnte in diesen Versen wohl aus der Erfahrung geschöpften Stoff für eine ganze Reihe von Predigten finden.

43. Und nimm ja nicht von meinem Munde das Wort der Wahrheit. Entziehe mir nicht, indem du mir deine Hilfe versagst, die Möglichkeit, für dich einzutreten gegenüber den Lästerern; denn wie vermöchte ich fernerhin dein Wort zu verkündigen, wenn ich die Erfahrung machte, dass es mich im Stich lässt? Das scheint uns der Gedankengang an dieser Stelle zu sein. Es kann nicht zu einem freudigen Auftun des Mundes kommen, wenn wir das Wort der Wahrheit nicht selber in unserem Leben als Kraft erfahren, und wir werden klüger daran tun zu schweigen, wenn unser Zeugnis nicht durch den Urteilsspruch unserer eigenen inneren Erfahrungsgewissheit bestätigt wird. Bei der Bitte unseres Verses können wir aber auch andere Fälle ins Auge fassen, die uns ebenfalls unfähig machen, in dem Namen des HERRN zu sprechen, so z. B. wenn wir in offenbare Sünden fallen würden oder wenn wir unter starkem seelischen Druck darniederliegen, wenn wir aufs Krankenlager gestreckt sind und wohl gar auch die Gedanken sich umnachten, ferner wenn Gott uns nicht eine Tür des Wortes auftut (Kol. 4,3), wenn wir für unsere Gedanken und Gefühle keinen Ausdruck finden können oder aber für unsere Worte keine offenen Ohren finden. Jeder Prediger, der mit seinem ganzen Herzen das Evangelium verkündigt hat, wird bei dem Gedanken, es könnte ihm dieses Amt genommen werden, von Schrecken erfüllt werden, es wird sein inbrünstiges Flehen sein, dass ihm ein wenn auch noch so bescheidener Anteil an dem heiligen Zeugendienste gelassen werde, und die Sonntage, da er zum Schweigen verurteilt ist, werden ihm als Tage der Verbannung und Züchtigung erscheinen.
  Denn ich hoffe auf deine Rechte oder Gerichte. Er erwartet, dass Gott ins Mittel treten und seine Sache führen werde, so dass er dann zuversichtlich von des HERRN Treue zeugen könne. Gott selber ist der Urheber unserer Hoffnungen, darum dürfen wir ihn unbedenklich anflehen, sie zu erfüllen. Die Gerichte der göttlichen Vorsehung entspringen aus seinem Worte; was er in der Schrift sagt, das führt er in seiner Regierung aus. Wir dürfen daher danach ausschauen, dass er sich in Erfüllung seiner Drohungen und Verheißungen machtvoll erweisen werde, und werden in dieser Zuversicht nicht zu Schanden werden.
  Gottes Diener werden bisweilen um der Sünden ihrer Herde willen von Gott zum Schweigen verurteilt; dann ziemt es ihnen, den HERRN anzuflehen, dass solches Gericht aufgehoben werde. Weit leichter wäre es für sie, Krankheit und Armut erdulden zu müssen, als dass der Leuchter des Evangeliums von seiner Stätte weggestoßen wird und die Schafe rettungslos dem Verderben überlassen werden. Der HERR bewahre uns, die wir seine Diener sind, davor, die Werkzeuge solcher Gerichte sein zu müssen. Lasst uns gleich dem Psalmisten eine hoffnungsfreudige Zuversicht zu Gott hegen, damit wir diese im Gebet ihm vorhalten können, wenn er droht, unsere Lippen zu verschließen.
  Am Ende dieses Verses spricht der Psalmist aus, wie er zu dem Worte Gottes innerlich steht, und das ist eine gemeinsame Eigentümlichkeit vieler dritter Vers der Abschnitte. Vergleiche V. 35.43.51.59.67.83.99 usw. Diese Verse würden eine treffliche Reihe von Betrachtungen darbieten.

44. Ich will dein Gesetz halten allerwege,immer und ewiglich. Nichts bindet einen Menschen innerlich fester an den Gehorsam, als wenn er die Wahrheit des Wortes Gottes in Gestalt von Gnadenerweisungen und heilvoller Hilfe (V. 41) erfahren darf. Nicht nur tut uns die Treue des HERRN den Mund auf gegen seine Feinde (V. 42), sie beugt unsere Herzen auch unter seine Furcht und macht unsere Verbindung mit ihm immer inniger und unlösbarer. Große Gnadenerfahrungen erwecken in uns eine unaussprechliche Dankbarkeit, die, eben weil sie in der Zeit nicht ihren gebührenden Ausdruck zu finden vermag, die ganze Ewigkeit mit ihren Lobgesängen zu erfüllen verspricht. Einem Herzen, das von Dank gegen den HERRN glüht, wird auch das "allerwege immer und ewiglich" unseres Verses nicht überschwänglich erscheinen. Freilich, Gottes Gnade allein kann uns fähig machen, seine Gebote so ohne Unterbrechung und ohne Aufhören zu halten. Die ewige Liebe muss uns ewiges Leben verleihen, daraus wird dann ewiger Gehorsam entspringen. Es gibt kein anderes Mittel, unser Beharren in der Heiligkeit zu verbürgen, als wenn das Wort der Wahrheit in uns bleibt, wie David darum bat.
  Wenn Gott uns seine heilvolle Gnade widerfahren lässt (V. 41), dann werden wir zu beidem befähigt: unseren ärgsten Feind zum Schweigen zu bringen (V. 42) und unseren besten Freund zu verherrlichen (V. 43). Die Gnade ist zu allem dienlich. In ihrer Kraft können wir die Hölle besiegen und mit dem Himmel traute Gemeinschaft pflegen, auf die Lästerungen gebührend antworten und das Gesetz des HERRN halten allerwege,immer und ewiglich.
  Noch ein anderer Gedanke bietet sich uns hier dar. Der Psalmist begehrt sowohl durch öffentliches Zeugnis vom HERRN (V. 43) als auch in seinem persönlichen Wandel (V. 44) Gottes Willen zu erfüllen und dadurch das Band immer fester zu knüpfen, das ihn auf ewig mit dem HERRN verbindet. Es ist ja kein Zweifel, dass gerade das Bekennen des HERRN mit dem Munde uns selber eine große Stärkung ist, wenn es in Kraft der Gnade geschieht; wir erkennen uns gebunden durch das, was unser Mund bezeugt hat, und fühlen, dass ein Zurückweichen unmöglich ist.

45. Und ich wandele fröhlich (wörtlich: und ich will mich ergehen in weitem Raum); denn ich suche deine Befehle. Die Heiligen Gottes erblicken in der Heiligkeit keinen drückenden Zwang. Der Geist des HERRN ist ein freudiger, williger Geist; er macht die Menschen frei und macht sie stark, jedem Versuch, sie wieder unter das Joch der Knechtschaft zu bringen, zu widerstehen. Der Weg der Heiligkeit ist kein mühseliger Sklavenpfad durch afrikanische Todesland, sondern eine wohlgebahnte königliche Heerstraße für freie Leute, die fröhlich aus dem Diensthause Ägyptens nach dem gelobten Land der Ruhe ziehen. Gottes erlösende Gnade lehrt uns die Befehle seines Wortes lieben und bringt uns dadurch zu einer seligen inneren Ruhe; und je mehr wir nach Vollendung unseres Gehorsams streben, um so völligere Befreiung von jeder Art innerer Beengung und geistlicher Knechtschaft werden wir erfahren dürfen. Es hatte in Davids Leben eine Zeit gegeben, wo er in schmähliche Unfreiheit geraten war, weil er aus vermeintlicher Klugheit krumme Wege eingeschlagen hatte. (Siehe 1. Samuel 27 ff.) Er täuschte den Philisterkönig Achis so beharrlich, dass er, um das zu verbergen, zu grausamen Handlungen gezwungen war, und er muss sich in seiner so unnatürlichen Stellung als Verbündeter der Philister und Anführer der Leibwache ihres Königs äußerst unglücklich gefühlt haben. Musste er da nicht fürchten, dass bei diesen krummen Wegen der Falschheit, auf die er geraten war, die Wahrheit nicht mehr auf seiner Zunge sein könne? Da hat er gewiss zu dem HERRN gerufen, ihn irgendwie aus dieser unwürdigen Lage zu befreien, und wenn auch die Weise, wie der HERR ihn dort erhörte, für ihn sehr demütigend war, der Strick war doch zerrissen und er war davon los.
  Der Vers ist mit dem vorhergehenden eng verknüpft. Er beginnt (wie im Grundtext sämtliche Vers dieser Gruppe) mit "und". Dies Wort ist gleichsam ein Haken, um ihn an den 44. Vers anzuhängen. Er enthält eine weitere von den Wohltaten, die der Psalmist von der Bewährung der göttlichen Gnade erhofft. Der Mann Gottes hat schon eine ganze Reihe dieser Gnaden aufgezählt: das Überwinden seiner Feinde (V. 42), die Kraft, Zeugnis abzulegen (V. 43), das Beharren in der Heiligkeit (V. 44), und jetzt spricht er seinen Wunsch und seine Zuversicht aus, unbeengt und fröhlich zu wandeln. Ist Freiheit überhaupt einem wackeren Manne nächst dem Leben das köstlichste Gut, so noch viel mehr die innere Freiheit, die der Psalmist hier meint. Indem er sagt: "Ich will wandeln", weist er damit auf das stetige Voranschreiten hin, und "in weitem Raum ": als einer, der aller Knechtschaft entronnen, der durch keine Furcht vor feindlichen Überfällen behindert, durch keine Bürden bedrückt durch weites, offenes Land seine Straße zieht. Solche Freiheit von allem Zwange wäre gefährlich für einen, der sich selber suchte und nach der Befriedigung seiner Gelüste trachtete; wem aber der Wille Gottes das eine und letzte Endziel seines Strebens ist, der bedarf keiner beengenden Fessel. Einen Mann, der von sich sagen kann: "Ich suche deine Befehle", brauchen wir nicht in enge Schranken einzuzwängen. - Beachten wir, dass er in dem vorigen Vers gesagt hatte, er wolle das Gesetz des HERRN halten, hier aber vom Suchen der Befehle Gottes spricht. Will er damit nicht sagen, dass er gehorsam sein wolle in allen Stücken, soweit er das Gebot schon erkenne, aber auch sich stets bestreben wolle, den Willen Gottes noch besser kennen zu lernen? Ist das nicht der Weg, um zur höchsten Freiheit zu gelangen, wenn wir allezeit danach ringen, Gottes Sinn zu erkennen und ihm gleichgestaltet zu werden? Die das Gesetz halten, gerade sie werden es auch "suchen" und danach trachten, es immer mehr zu halten.

46. Ich rede (oder: will reden) von deinen Zeugnissen vor Königen und schäme mich nicht (oder: und will mich nicht schämen). Darin erweist sich auch seine innere Freiheit. Furchtlos tritt er den Mächtigen, selbst den stolzesten und gewalttätigsten, gegenüber. David musste, als er in der Verbannung war, je und dann vor Königen stehen, und hernach, da er selbst die Krone trug, lernte er die Geneigtheit der Menschen, Gewissen und Glauben dem höfischen Glanz und der Staatsklugheit zu opfern, genügend kennen; sein fester Entschluss aber war es, sich von solchem freizuhalten. Bei ihm sollte auch die Staatskunst geheiligt sein, und was er tun konnte, das sollte geschehen, um die Fürsten der Völker wissen zu lassen, dass der HERR allein der Herrscher ist über die Nationen. Als einer, der selber ein König war, wollte er zu Königen reden von dem König aller Könige. Er sagt: "Ich will reden"; die Klugheit hätte ihm vielleicht Zurückhaltung geboten, sein Wandel und sein ganzes Verhalten seien ja schon Zeugnis genug, und es sei doch besser, nicht auf religiöse Dinge zu sprechen zu kommen in Gegenwart von fürstlichen Personen, die andere Götter verehrten und damit Recht zu tun glaubten. Wohl hatte er in sehr geziemender Weise, ehe er diesen Entschluss kundtat, schon in Betreff seines Wandels Gelübde ausgesprochen (V. 44.45); aber er macht sich seinen frommen Wandel nicht zu einem Entschuldigungsgrund für sündhaftes Schweigen, sondern fügt hinzu: Ich will reden. David nimmt volle religiöse Freiheit in Anspruch und ist darauf bedacht, von diesem Recht gebührend Gebrauch zu machen: er bekennt frei heraus, was er glaubt, selbst in der vornehmsten Gesellschaft. In dem aber, was er redete, war er beflissen, sich streng an Gottes Wort zu halten; er sagt: Ich rede von deinen Zeugnissen. Es gibt keinen Gesprächsgegenstand, der diesem zu vergleichen wäre, und keine bessere Art, ihn zu behandeln, als indem man sich eng an die Schrift anschließt und sich in ihren Gedankengängen und ihrer Sprache bewegt. Das große Hindernis, das uns abhält, von geistlichen Dingen in jedem Kreis zu reden, ist die Scham; aber der Psalmist gelobt: und will mich nicht schämen. Es ist ja wahrlich darin nichts, dessen wir uns zu schämen hätten, und es gibt keine Entschuldigung für solche Scham; dennoch sind viele Menschen stumm wie das Grab, aus Furcht, sie könnten bei irgendjemand anstoßen. Und doch, wer sind sie, vor denen wir so zaghaft sind? Sind sie nicht, selbst wenn sie Kronen tragen, doch nur Geschöpfe unseresgleichen? Wenn Gott aber seine Gnade in uns wirken lässt, dann schwindet bald alle Feigheit. Wer für Gott und in Gottes Kraft redet, der schämt sich nicht und braucht sich nicht zu schämen, weder wenn er zu sprechen anhebt, noch während des Sprechens, noch hernach, und selbst wenn er vor Königen spräche; denn das, wovon er redet, ziemt sich für Könige, ist notwendig für Könige und heilsam für Könige wie für alle Menschen. Und wenn Könige dem Zeugnis widerstreben, so mögen wir uns wohl für sie schämen, niemals aber unseres Herrn, der uns gesandt hat, niemals seiner Botschaft, niemals des Zweckes, zu dem wir von ihm gesandt sind.

47. Und habe Lust an deinen Geboten, und sie sind mir lieb. Auf Freimut folgt Freude. Wenn wir unsere Pflicht erfüllt haben, finden wir darin einen großen Lohn. Hätte der Psalmist vor den Königen nicht für seinen Gebieter geredet, so würde er nur mit Scheu an das Gesetz haben denken können, das er hintangesetzt hatte; nachdem er aber für seinen Herrn aufgetreten war, empfand er in seinem Innern eine wohltuende, fröhliche Befriedigung, wenn er über Gottes Wort nachsann. Sei dem Gebot gehorsam, so wirst du es lieb gewinnen; nimm das Joch auf dich, du wirst im Tragen erfahren, dass es leicht ist, und süße Ruhe wird über deine Seele kommen. Er hatte vom Gesetz geredet, aber dadurch war er desselben nicht müde geworden, sondern er sann auch in stiller Zurückgezogenheit darüber nach. Nachdem er zu andern davon geredet, hatte er für sich selber sein Ergötzen an dem Wort des Lebens; er predigte, und dann ging er in die Einsamkeit seines Kämmerleins, um sich neue Kraft zu holen, indem er sich abermals an der köstlichen Wahrheit labte. Mochte er, wenn er redete, andere vergnügen oder nicht, er hatte jedenfalls seine Lust, wenn er das Wort des HERRN in seinem Herzen bewegte. Er bezeugt es ausdrücklich, dass ihm des HERRN Gebote lieb seien, und dies Bekenntnis erklärt uns, warum sie ihm solche Freude bereiteten; denn wo unsere Liebe ist, da ist auch unsere Lust. Der Psalmist suchte sein Ergötzen nicht an der Könige Höfen, in ihnen sah er vielmehr Orte, wo Versuchung zu falscher Scham drohte; dagegen in der Heiligen Schrift fühlte er sich zu Hause, da war es ihm wohl ums Herz, und sie war ihm eine Quelle der höchsten Freude. Es wundert uns nicht, dass er gelobte, das Gesetz zu halten allerwege (V. 44), da er es so liebte. Wie sagt doch Jesus? "Wer mich liebt, der wird mein Wort halten." (Joh. 14,23.) Und es ist ganz begreiflich, dass der Psalmist von fröhlichem Wandeln und furchtlosem Bekennen sprechen konnte (V. 45.46). Wahre Liebe ist immer fröhlich und freimütig. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Wo die Liebe zum Gesetz Gottes im Herzen regiert, da muss das Leben ein reich gesegnetes sein. HERR, lass deine Gnade mächtig über uns kommen, dass wir dein Wort und deine Wege lieb haben und an ihnen unseres Herzens Lust finden.
  Der ganze 119. Psalm ist durchdrungen von dem Wohlgeruch der Liebe zum göttlichen Wort; doch ist hier zum ersten Mal die Liebe ausdrücklich genannt. Und zwar hier in Verbindung mit Lust, in V. 165 mit großem Frieden. Alle die Verse, in welchen diese Liebe zum Worte bezeugt wird (V. 47.48.97.113.119.127.140.159.163.165.167), sind besonderer Beachtung wert.

48. Und hebe meine Hände auf zu deinen Geboten, die mir lieb sind. Er streckt sich aus nach der Vollkommenheit, so weit er nur kann, in der Hoffnung, sie eines Tages zu erreichen. Und wenn je die Hände ihm ermattet niedersinken, will er sich aus der Erschlaffung aufrichten und ermuntern durch die Aussicht, Gott durch seinen Gehorsam zu verherrlichen, und will es durch seine Gebärde feierlich bezeugen, dass er allem, was sein Gott befohlen hat, von Herzen beistimmt. Der Ausdruck "Ich hebe meine Hände auf" ist vielsinnig, und ohne Zweifel wollte der Dichter alles damit sagen, was wir darin finden können, und noch mehr dazu. Abermals bezeugt er seine Liebe zu Gottes Wort; treue Liebe will sich kundtun, sie ist ein Feuer, dessen Flammen sich nicht verbergen lassen. Es ist nur natürlich, dass er sich nach einem Gesetz ausstreckte, an dem er seine Lust hatte, gerade wie ein Kind die Hand ausstreckt nach einer Gabe, die es sehnlich begehrt. Und wenn uns eine solch liebens- und begehrenswerte Sache, wie es die Heiligkeit ist, vor Augen gehalten wird, so ziemt es uns, uns mit unserem ganzen Wesen ihr entgegenzustrecken, und bis das ganz geschehen, sollten wir wenigstens unsere Hände betend nach ihr ausstrecken. Wo heilige Hände und ein heiliges Herz vorangehen, da folgt ganz gewiss auch einst der ganze Mensch nach.
  Und rede von deinen Rechten, Grundtext: und will sinnen über deine Rechte. Über Gottes Sinn und Gedanken, in seinem Worte geoffenbart, nachzusinnen kann er nie müde werden. Untertanen, die ihren König lieben, wünschen mit den Verordnungen ihres Herrschers vertraut zu sein; denn es ist ihnen ein herzliches Anliegen, ihn nicht etwa aus Unwissenheit zu kränken. Gebet mit aufgehobenen Händen und stilles, hingegebenes Sinnen mit gen Himmel gewandten Augen, daraus muss köstliche Frucht hervorgehen. Bei einem Manne, der also sich nach dem, das droben ist, emporstreckt und sich zugleich so tief ins Wort hinein versenkt, ist schon die Bitte des 41. Verses in Erfüllung gegangen: Gottes heilvolle Gnade ist mächtig über ihn gekommen. Wenn die Gnade auf uns niederströmt, so werden unsere Hände sich nach oben ausstrecken; wenn Gott unser gnädig gedenkt, werden wir gewiss auch sein gedenken. Selig, wer so mit aufgehobenen Händen dasteht, aufgehoben, um den Segen zu empfangen, und aufgehoben, um dem Gebot zu gehorchen; er wird nicht vergeblich auf den HERRN harren.


V. 41-48. Das achtfache w (U): Er bittet um die Gnade rechten und furchtlos freudigen Bekenntnisses.

41. Und überkommen mögen mich deine Gnaden,
Dein Heil gemäß deiner Zusage.
42. Und Rede stehen werd’ ich meinem Schmäher,
Denn ich vertraue auf dein Wort.
43. Und entziehe nicht meinem Munde das Wort der Wahrheit gänzlich,
Denn auf deine Rechte harre ich.
44. Und ich möchte beobachten dein Gesetz beständig,
Auf immer und ewig,
45. Und möchte einhergehen auf weitem Raum,
Denn nach deinen Ordnungen frag ich
46. Und will reden von deinen Zeugnissen vor Königen
Und werde nicht zu Schanden werden.
47. Und ich werde mich ergötzen an deinen Geboten,
Die ich lieb gewonnen,
48. Und aufheben meine Hände zu deinen Geboten
Und über deine Satzungen sinnen.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.

  Dieser ganze Abschnitt ist aus Bitten und Bekenntnissen zusammengesetzt. Die beiden Bitten stehen V. 41.43. Die übrigen sechs Vers enthalten Bekenntnisse oder Gelöbnisse. Beachten wir dies. Einer der Unterschiede zwischen Gottesfürchtigen und Gottfremden ist ja der: Alle Menschen begehren gute Gaben von Gott; die Gottlosen wollen aber nur empfangen, ohne dafür wieder zu geben, ja ohne auch nur eine Verpflichtung hierzu zu fühlen. Ihre Gebete können nicht wirksam sein, weil sie aus der Selbstliebe, nicht aus Gottesliebe entspringen. Wenn aber die Gottesfürchtigen Gutes vom HERRN begehren, danken sie ihm, wenn sie es empfangen haben, und gebrauchen diese Gaben zur Ehre dessen, der sie gespendet. Sie lieben ihr eigenes Selbst nicht um dieses willen, sondern um des HERRN willen, und wenn sie etwas von ihm haben wollen, so geschieht dies zu dem einen Zwecke, dadurch in seinem Dienst umso tüchtiger und geschickter zu werden. Das müssen wir im Auge behalten, denn es ist ein klares Zeichen, an dem man die echte Frömmigkeit von ihren Nachahmungen unterscheiden kann. William Cowper † 1619.


V. 41. HERR, lass mir deine Gnaden widerfahren. Lass sie zu mir kommen. Wohl ist der Weg von dir zu mir durch Sünden und allerlei Schlimmes versperrt, aber die Gnade vermag alles Hindernde zu beseitigen und sich Zugang zu verschaffen oder aber sich einen neuen Weg zu bahnen. Lass sie mir widerfahren, lass sie mir folgen, wie David an anderer Stelle sagt: Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang. Und sie haben ihn gefunden, sie werden auch uns zu finden wissen, trotz der Berge von Sünde, die dazwischen liegen. Thomas Manton † 1677.
  Diener des Wortes und die es werden wollen mögen sich durch dieses Gebet des Psalmisten daran erinnern lassen, dass sie nicht nur andern den wahren Weg zur ewigen Seligkeit zu predigen haben, sondern dass sie mit ernstlichem Gebet zu Gott rufen müssen, auf dass sie selbst der göttlichen Gnaden teilhaftig werden und bleiben. Dem Apostel Paulus war das ein Anliegen von größter Wichtigkeit, dass er nicht den anderen predige und selbst verwerflich werde. Salomon Geßner † 1605.
  Deine Hilfe. Nicht irgendwelche Hilfe ist es, die der Knecht Gottes begehrt, sondern solche Hilfe, die Gott nach seinem Wohlgefallen auf eine heilige Weise wirkt. Und wie das Wort der Verheißung die Richtschnur für unsere Bitten ist, so ist es auch ein Unterpfand für das Verheißene und muss festgehalten werden, bis die Erfüllung kommt. David Dickson † 1662.


V. 42. Dass ich antworten möge. Ja, denn dann werde ich stets eine Antwort bereit haben für meine Lästerer. So beantwortete der Herr Jesus die Vorschläge des Versuchers fast allein mit Worten der Schrift, und in den meisten Fällen wird die beste Erwiderung auf Angriffe auf religiösem Gebiet ein Schriftwort selbst sein. Auch ein Ungelehrter, dessen ganzes Wissen aus der Bibel geschöpft ist, kann sehr wohl die spitzfindigen Einwürfe eines gelehrten Zweiflers zum Schweigen bringen; und wer einfältigen Geistes und reinen Herzens ist, ohne eine andere Waffe als das Wort Gottes, zeigt sich oft besser gerüstet als der, dem alles Rüstzeug der Schulweisheit zu Gebot steht. Vgl. Eph. 6,17. Alb. Barnes † 1870.


V. 43. Auch aus dem Munde des Petrus, der ein Bild der ganzen Kirche ist, ist das Wort der Wahrheit nicht gänzlich genommen worden, denn er hat wohl zur Zeit aus Furcht verleugnet, aber mit Tränen hat er bereut und Buße getan, und als Bekenner ist er später gekrönt worden. [Negavit timore turbatus, flendo est reparatus, confitendo est coronatus, eine der bei Augustin so beliebten assonierenden Antithesen.] So spricht also der ganze Leib Christi, d. i. die gesamte christliche Kirche, und zwar entweder, indem an diesem ganzen Leib, obwohl die meisten verleugnet haben, doch die Starken zurückgeblieben sind, die bis zum Tode für die Wahrheit streiten, oder indem von denen, die verleugnet hatten, viele wieder zu Gnaden angenommen worden sind, und so ist von ihrem, der Kirche, Munde das Wort der Wahrheit nicht gänzlich genommen worden. Aurelius Augustinus † 430.
  Das Wort wird vom Munde genommen, wenn Gott zu dem Gottlosen spricht: "Was verkündigst du meine Rechte"
(Ps. 50,16.) Selbst die Beredsamkeit muss verstummen, wenn das Gewissen nicht rein ist. Die Vögel unter dem Himmel kommen und nehmen das Wort von deinem Munde, wie sie den Samen des Wortes vom Wege weg holten, also dass er nicht aufging und Frucht brachte. Ambrosius † 397.
  Manchmal scheuen wir uns, für den Heiland das Wort zu ergreifen, um uns nicht dem Vorwurfe der Heuchelei auszusetzen. Ein anderes Mal schämen wir uns zu sprechen, weil es an dem einzig dringenden Beweggrund fehlt, der Liebe Christi. Und so geschieht es, dass das Wort von unserem Munde genommen wird. Oft hätten wir gerne ein Wort zugunsten der bedrängten Kinder des HERRN geredet und konnten keines finden, so dass die Erinnerung an solch kostbare verlorene Gelegenheiten uns wohl zu dem Gebete veranlassen mag: Nimm ja nicht von meinem Munde das Wort der Wahrheit. Nimm es nicht bloß nicht aus meinem Herzen, sondern lass es auch bereit sein in meinem Munde, bereit, meinen Herrn und Meister zu bekennen. Mancher von uns kennt den schmerzlichen Zwiespalt, in den uns weltliche Gewohnheiten und weltlicher Umgang bringen können, wenn ein Mangel an geistiger Selbständigkeit uns verhindert hat, kühn für die Sache unseres Gottes aufzutreten. Wir meinen vielleicht, unser Schweigen mit angeborener Schüchternheit oder wohlüberlegter Vorsicht entschuldigen zu können, aber in vielen Fällen ist es doch nur ein Vorwand, mit dem wir uns selbst betrügen, um die wahre Ursache unserer Zurückhaltung zu verdecken: den Mangel an Ergreifung der Gnade Gottes. Charles Bridges † 1869.
  Denn ich hoffe auf deine Rechte. Nicht ohne Ursache spricht David dieses Bekenntnis aus, denn dies lässt uns die Kraft des göttlichen Worten empfinden, wenn wir zugleich mit ihm die Hoffnung haben, welche vom Glauben abhängt. Es ist wahr, dass Gott seinem Volke die Hand gereicht hatte, als er es aus Ägyptenland führte, um es in sein Erbteil zu bringen, das er ihm verheißen hatte. Aber das Volk hält sich nicht zu seinem Gotte; darum muss diese Verheißung zunichte werden, nämlich in Bezug auf sie, die Ungläubigen. Gott aber gibt sie nicht auf; er findet ein neues, wunderbares Mittel, das den Menschen ganz unbekannt war, um das doch durchzuführen, was er gesagt hatte. Aber das gereichte denen nicht zum Vorteile, die ungläubig waren, denn siehe, sie sind ausgeschlossen von solcher Wohltat; sie sind des Erbes beraubt, das ihnen verheißen war. Wenn wir also wollen, dass Gott seine Hand über uns halte, dass er uns seine Kraft spüren lasse und wir die Früchte seiner Verheißungen schmecken, so müssen wir daraus lernen, dass es durchaus nötig ist, dass sie in unsere Herzen gepflanzt seien, dass wir mit David sprechen können: HERR, ich hoffe auf deine Rechte. Aber dieses Wort "Rechte" bedeutet nichts anderes als die Lehre, die im Gesetz Gottes enthalten ist. Und wenn der Psalmist auch noch so verschiedene Wörter gebraucht, er meint doch immer dasselbe. Jean Calvin † 1564.


V. 44. Ich will dein Gesetz halten allerwege, immer und ewiglich. Diese Häufung der Ausdrücke ist nicht bedeutungslos. 1) Sie zeigt, was für eine schwierige Sache die rechte Ausdauer ist. Wenn die Gläubigen nicht fest beharren im Widerstand gegen die Versuchungen, werden sie bald vom rechten Wege abkommen; deshalb bindet David Herz und Willen mit festem Bande. Und wir müssen jetzt und immerdar bis ans Ende ebenso tun. 2) David drückt damit die Stärke, die Gewaltsamkeit seiner Empfindung aus. Wer von einer Sache stark ergriffen ist, der pflegt auch, sich so eindringlich wie möglich darüber auszudrücken. So Paulus, Eph. 1,19. Thomas Manton † 1677.
  Wenn du das Wort der Wahrheit nicht von meinem Munde nimmst, so werde ich dein Gesetz allerwege halten, ja in Ewigkeit und in die Ewigkeit der Ewigkeiten (semper, in saeculum et in saeculum saeculi). Dieses Gesetz sollte man hier verstehen, von welchem der Apostel sagt: So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung (Röm. 13,10). Dieses Gesetz ist es, das von den Heiligen, von deren Munde das Wort der Wahrheit nicht genommen wird, das ist, von der Kirche Christi selbst gehalten wird, nicht nur aus dieser Zeit, d. h. bis diese Zeit vollendet ist, sondern auch auf die andere, welche die Ewigkeit genannt wird. Denn wir werden die Vorschriften des Gesetzes dort nicht erhalten wie hier, um sie zu halten; sondern wir werden die ganze Vollendung, die Fülle des Gesetzes, wie ich gesagt habe, halten, ohne alle Furcht zu sündigen, denn wir werden Gott nur umso völliger lieben, wenn wir ihn gesehen haben; und ebenso unseren Nächsten, weil Gott dann sein wird alles in allen, und es werden keine argwöhnischen Gedanken über unsere Nächsten mehr in uns Platz finden können, wo keiner dem anderen verborgen sein wird. Aurelius Augustinus † 430.


V. 45. Ich wandele fröhlich (wörtlich: im weiten Raume, ungehindert, frei), denn ich suche deine Befehle. Wenn die Schrift sagt, dass ein Mensch, der vom Heiligen Geiste regiert wird, nicht unter dem Gesetz stehe, so meint sie damit nicht eine Freiheit, dass er nun straflos sündigen dürfe, sondern dass er nun fröhlich und frei ist, weil ihn der Geist Gottes gelehrt hat, das zu lieben, was sein Gesetz vorschreibt, und er nicht länger das Bewusstsein hat, unter einem Zwange zu stehen. Das Gesetz treibt ihn nicht mehr, der Geist regiert ihn. Es gibt einen Zustand, meine Brüder, wo wir Gott erkennen, aber nicht Gott in Christo lieben. Das ist der Zustand, wo wir das Gute, das Vollkommene bewundern, aber nicht imstande sind, es zu vollbringen, ein Zustand, in welchem die Liebe zum Guten zu nichts führt, sondern in einem bloßen fruchtlosen Wünschen verläuft. Es ist ein natürlicher Zustand, da wir unter dem Gesetze stehen und noch nicht zur Liebe Christi bekehrt sind. Es gibt aber noch einen anderen Zustand, wenn Gott sein Gesetz in unsere Herzen schreibt, durch Liebe statt durch Furcht. Der eine Zustand ist der: Ich kann, ich darf nicht tun, was ich möchte, der andere aber: Ich wandele fröhlich, denn ich suche deine Befehle. Fr. W. Robertson † 1853.


V. 46. In diesem Vers werden wir vor vier Verfehlungen gewarnt: Erstens vor unzeitgemäßem Schweigen: Ich rede; zweitens vor zwecklosem, unnützem Geschwätz: von deinen Zeugnissen; drittens vor feiger Menschenfurcht: vor Königen; viertens vor falscher Scham: Ich schäme mich nicht. - Nach H. Moller † 1639.
  Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen und schäme mich nicht. Motto zu der von Melanchthon ausgearbeiteten und von "etlichen Fürsten und Städten" dem Kaiser Karl V. am 25. Juni 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg überantworteten Bekenntnisschrift, der Augsburgischen Konfession. -
  Die gottesfürchtigsten Männer sind auch stets die kühnsten und unerschrockensten gewesen. So Nehemia, Daniel und seine drei Freunde und alle heiligen Propheten und Apostel. Der Gottlose flieht, und niemand jagt ihn, der Gerechte aber ist getrost wie ein junger Löwe (Spr. 28,1). Die Gottesfurcht machte Daniel kühn wie einen Löwen, so dass er selbst Löwen zu bändigen vermochte. Luther war ein Mann von großer Heiligkeit und großer Kühnheit, der der ganzen Welt entgegentrat, und als der Kaiser ihn nach Worms vorgeladen hatte und seine Freunde ihm abrieten, erwiderte er: "Ich will hinein ziehen, wenn gleich soviel Teufel darin wären als Ziegel auf den Dächern." Und ein anderes Mal, da ihm und seinen Anhängern große Gefahr von den Gegnern drohte, tat er die beherzte, ja heldenmütige Äußerung. "So kommet und lasset uns miteinander den 46. Psalm singen, und mögen sie ihr Ärgstes an uns tun." Der englische Bischof Latimer war in der Finsternis und Verderbtheit seiner Zeit eine Leuchte der Heiligkeit und dabei ein Mann voll Mut und Unerschrockenheit, denn er wagte es, dem Könige Heinrich VIII. als Neujahrsgabe ein Neues Testament zu übersenden, eingehüllt in ein Tuch, auf welchem die Worte aufgezeichnet standen: Die Hurer und Ehebrecher wird Gott richten. Th. Brooks † 1680.


V. 47. Und habe Lust an deinen Geboten, und sie sind mir lieb. Der berühmte griechische Weise Aristoteles, der Lehrer Alexanders des Großen, befragt, welchen Nutzen er aus der Philosophie gezogen habe, erwiderte: "Ich habe gelernt, ohne Zwang zu tun, was andere aus Furcht vor Strafe tun." Und Aristippus, ein anderer griechischer Philosoph, sagte: "Wenn die Gesetze verloren gingen, so müssten wir doch alle so leben wie jetzt, wo sie noch in Wirksamkeit sind." Zwei Aussprüche, denen auch wir, die wir die höhere Weisheit des Evangeliums kennen, nur beistimmen können. Aber ein größerer Lehrer als diese beiden hat gesagt: "Wer mich liebt, der wird mein Wort halten." (Joh. 14,23.) James Millard Neale † 1866.


V. 48. Und hebe meine Hände auf zu deinen Geboten: ihnen gehorsam zu sein. 1. Mose 14,22. W. Kay 1871.
  Ich will jedes Schlachtopfer und Brandopfer bringen, welches das Gesetz verlangt, ich will Bitte und Gebet vor dich bringen und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel. Adam Clarke † 1832.
  Unter den Geboten, die ihm lieb sind, versteht er ja das Wort Gottes überhaupt, aber der hier gebrauchte Ausdruck ist doch bedeutungsvoll. Es gibt ja Teile des göttlichen Wortes, die auch den weltlich Gesinnten lieb sind. Da sind alle die Verheißungen; da kommen sie alle gern und wollen zugreifen und erklären, dass sie solche lieb haben. Es ist auch ganz klar, warum; denn es ist Lust und Vorteil und Gewinn und Nutzen dabei zu finden. Aber eine fromme Seele sieht nicht allein auf die Verheißungen, sondern auch auf die Gebote. Der rechte Christ sieht in Christo nicht bloß den Heiland und Erlöser, sondern auch den Herrn und Meister. Merke auch: Es heißt "deine Gebote", ganz allgemein, also alle deine Gebote ohne Ausnahme; sonst können ja auch Weltmenschen einzelne Gebote lieb haben, wenn sie sie nach ihrem Belieben aussuchen dürfen. Rich. Holdsworth † 1649.


49. Gedenke deinem Knechte an dein Wort,
auf welches du mich lässest hoffen.
50. Das ist mein Trost in meinem Elende;
denn dein Wort erquickt mich.
51. Die Stolzen haben ihren Spott an mir;
dennoch weiche ich nicht von deinem Gesetz.
52. HERR, wenn ich gedenke, wie du von der Welt her gerichtet hast,
so werde ich getröstet.
53. Ich bin entbrannt über die Gottlosen,
die dein Gesetz verlassen.
54. Deine Rechte sind mein Lied
in dem Hause meiner Wallfahrt.
55. HERR, ich gedenke des Nachts an deinen Namen
und halte dein Gesetz.
56. Das ist mein Schatz,
dass ich deine Befehle halte.

Die nun folgenden acht Vers handeln von dem Trost des göttlichen Wortes. Und zwar erfleht der Psalmist zunächst als erste und wichtigste dieser Tröstungen Gottes Erfüllung seiner Zusage. Dann wird uns gezeigt, wie das Wort uns in Anfechtungen aufrecht erhält und gegen den Hohn der Welt so unempfindlich macht, dass das feindselige Verhalten der Gottlosen, statt uns zur Nachgiebigkeit gegen ihre Ansprüche und Forderungen zu bewegen, vielmehr in uns Entrüstung und Abscheu vor ihrer Sünde hervorruft. Wir sehen sodann, wie die Schrift den Himmelspilgern süße Lieder für ihre Wanderschaft darreicht und herrlichen Stoff zum Nachdenken für schlaflose Stunden. Der Schluss hebt nochmals besonders hervor, dass all diese Glückseligkeit, all dieser Trost nur aus dem Worte Gottes entspringt.

49. Gedenke deinem Knechte an dein Wort. Der Psalmdichter bittet nicht um eine neue Verheißung, sondern um Erfüllung des längst ihm verbrieften Wortes. Er ist dankbar, dass er eine so gnadenreiche und zuverlässige Zusage empfangen hat, er ergreift sie mit seinem ganzen Herzen und bittet den HERRN, nun auch danach an ihm zu handeln. Nicht sagt er: "Gedenke daran, wie ich dir gedient habe", sondern: "Gedenke des Wortes, das du deinem Knecht geredet hast". Die Worte, welche irdische Herren zu ihren Knechten reden, sind nicht immer derart, dass die Knechte wünschen, ihre Herren möchten sich derselben genau erinnern; denn die Herren sehen dann meist vor allem die Mängel und Fehler des getanen Werks, sofern dieses dem gegebenen Befehl nicht ganz entspricht. Wir aber, die wir dem besten aller Meister dienen, haben gar kein Verlangen, dass eines seiner Worte dahinfalle, da der HERR sich der von ihm gegebenen Befehle in so gütiger Weise erinnert, dass er uns die Gnade verleiht, in deren Kraft wir ihnen zu gehorchen vermögen, und damit ein Gedenken an seine Verheißungsworte verbinden wird, also dass unsere Herzen erquickt werden.
  Der Psalmist sorgt sich nicht etwa, das Gedächtnis möchte den HERRN im Stich lassen, sondern er benutzt die Verheißung zur Unterstützung seiner Bitte, und er tut das in der Form, wie der Mensch redet, wenn er einen andern überreden will. Wenn der HERR der Verfehlungen seines Knechtes gedenkt und sie ihm vor Augen stellt, so ruft der Reuige: HERR, gedenke an dein Wort der Vergebung, und gedenke darum nicht mehr meiner Übertretungen und Sünden! Es liegt eine Fülle tiefer Bedeutung in dem Wort "Gedenke", wenn es an Gott gerichtet wird; es wird in der Heiligen Schrift oft in der rührendsten Weise angewendet und eignet sich trefflich für bekümmerte Gotteskinder. Der Psalmist z. B. ruft einmal aus: Gedenke, HERR, dem David an alle seine Leiden.
(Ps. 132,1.) Und Hiob seufzte: Ach, dass du meiner gedächtest. (Hiob 14,13.) In dem uns hier vorliegenden Falle ist das Gebet ebenso persönlich wie die Bitte des Schächers: "Herr, gedenke an mich", denn der Nachdruck liegt hier auf dem Wort: deinem Knechte. Es nützte uns ja nichts, ob der Verheißung auch für alle andern Menschen gedacht würde, wenn sie sich an uns nicht bestätigte; aber das hat keine Not, denn der HERR hat noch niemals einer einzigen Verheißung einem einzigen Gläubigen gegenüber vergessen.
  Auf welches du mich lässest hoffen (oder: dieweil du mir Hoffnung machtest). Der Gedanke ist, dass Gott, der ihm die Gnade verliehen, seine Hoffnung auf die Verheißung zu setzen, diese Hoffnung gewiss nicht täuschen werde. Er kann uns nicht veranlasst haben, grundlose Erwartungen zu hegen. Wenn wir auf sein Wort hin hoffen, so haben wir festen Boden unter den Füßen; es ist unmöglich, dass unser gnadenreicher Herr uns durch Vorspiegelung falscher Hoffnungen zum Besten haben sollte. Die Hoffnung, die sich verzieht, ängstet das Herz, darum die Bitte, der HERR möchte doch sofort seines Versprechens gedenken. Weil wir des HERRN sind und uns bemühen, an sein Wort zu denken, indem wir ihm folgen, dürfen wir sicher sein, dass er seiner Knechte nicht vergessen und seine Verheißungen erfüllen wird.
  Dieser Vers ist ein Gebet der Liebe, die sich nach liebendem Gedenken sehnt, der Demut, die sich ihrer geringen Bedeutung bewusst und die eben darum besorgt ist, sie könnte übersehen werden, der bußfertigen Gesinnung, die bei dem Gedanken zittert, dass ihre Sündenschuld die Verheißung unwirksam machen könnte; er ist ein Gebet des sehnsüchtigen Verlangens nach dem verheißenen Segen, ein Gebet der heiligen Zuversicht, die weiß, dass alles, was das Herz bedarf, in dem Worte Gottes beschlossen ist. Wenn der HERR seiner Verheißung nur gedenkt, so ist das Verheißene schon so gut wie in unseren Händen.

50. Das ist mein Trost in meinem Elende, denn dein Wort erquickt mich, oder: dass dein Wort mich neubelebt hat. Man kann den Sinn verschieden fassen. Entweder: Dein Wort ist mein Trost, oder: Dass dein Wort mich neubelebt hat, ist mein Trost. Oder er will sagen, dass die Hoffnung, die Gott ihm geschenkt hat (V. 49), sein Trost sei, denn Gott habe ihn damit erquickt. Was aber auch der genaue Sinn der Worte sein mag, so viel ist gewiss, dass der Psalmist im Elend war, in großer Not und Betrübnis, und zwar in ganz persönlich ihn betreffender, denn er nennt sie sein Elend. In dieser Prüfung hatte er Trost gefunden, und zwar ebenfalls ganz für ihn selbst bestimmten Trost, denn das Wörtlein mein steht auch bei diesem Wort, und endlich wusste er auch genau, was sein Trost war, woher dieser stammte, denn er spricht: Das ist mein Trost. Der Mammonsdiener klopft auf seinen Geldsack und spricht: "Das ist mein Trost", der Verschwender weist auf seine Lustbarkeiten hin und ruft: "Das ist mein Trost", der Trinker schwingt sein Glas und singt. "Das ist mein Trost"; aber der Mann, dessen Hoffnung auf dem HERRN, seinem Gott, steht, fühlt die Leben spendende Kraft des Wortes Gottes und bezeugt: "Das ist mein Trost". Wie Paulus sagt: Ich weiß, wem ich Glauben geschenkt habe. (2. Tim. 1,12) Trost, Ermutigung und Aufheiterung sind zu allen Zeiten etwas Erwünschtes, aber in Zeiten der Trübsal sind sie wie ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort. Manche Menschen wissen in solchen Zeiten nicht, wo Trost finden, nicht so aber die Gläubigen, denn ihr Herr hat ihnen gesagt: Ich will euch trösten (Jes. 66,13).
  Das Wort tröstet uns oft dadurch, dass es die Kraft unseres inneren Lebens erhöht. Wird das Herz erquickt, so wird der ganze Mensch froh gestimmt und belebt. Oft ist der allerkürzeste Weg, zum Trost zu gelangen, der, dass wir neu uns dem HERRN weihen und unser geistliches Leben dadurch gekräftigt wird. Können wir die Nebel nicht zerstreuen, dann mag es das Beste sein, dass wir in die Höhe steigen, um so über die Nebel zu kommen. Kümmernisse und Leiden, die uns ganz zu Boden drücken, wenn wir todmüde sind, werden zu bloßen Kleinigkeiten, wenn frische Lebenskraft in unseren Adern strömt. Oft ist so unser Gemüt durch die erquickende Gnade des HERRN aufgerichtet: worden, und das wird wieder geschehen, denn der Tröster ist noch bei uns. Er, der der Trost Israels ist, lebt immerdar, und der Gott des Friedens selbst ist unser Vater. Wenn wir auf unser vergangenes Leben zurückblicken, so finden wir wenigstens einen Grund zu trostreicher Zuversicht: Das Wort Gottes hat uns lebendig gemacht und am Leben erhalten. Wir waren tot, aber wir sind es nicht mehr. Und daraus ziehen wir den guten Schluss, dass der HERR, wenn er uns verderben wollte, uns sicher nicht zum Leben gerufen hätte. Wären wir nur verächtliche Heuchler, wie die Gottlosen in ihrer Anmaßung sagen (vergl. V. 51), so würde er uns nicht mit seiner Gnade erquickt, uns durch sein Verheißungswort neubelebt haben. Erfahrungen der Erquickung vom HERRN sind eine Quelle köstlichen Trostes.
  Siehe, wie dieser Vers hernach (V. 107) in ein Gebet verwandelt wird: HERR, erquicke mich nach deinem Wort. Frühere Erfahrungen lehren uns, wie wir zu beten haben, und reichen uns Gründe dar, auf die wir uns in unserem Gebet stützen können.

51. Die Stolzen haben ihren Spott an mir. Hochmütige Menschen mögen Kinder der Gnade nicht leiden; sie scheuen sie und verbergen diese Furcht unter erkünstelter Verachtung. Gegenüber dem Psalmisten äußerte sich ihre Abneigung in Spott, und zwar waren sie darin sehr frech und hartnäckig, denn der Grundtext heißt: Die Übermütigen spotten mein gar sehr. Wenn sie eine Unterhaltung brauchten, so musste David dafür herhalten, weil er Gottes Diener war. Es müssen sonderbare Augen sein, denen der Frommen Glaube als eine Posse, die Gottesfurcht als eine Komödie erscheint; doch kommt es leider immer wieder vor, dass Menschen, die nichts weniger als geistreich sind, einen großen Heiterkeitserfolg erzielen, wenn sie einen Frommen verspötteln. Alberne Sünder machen Gottesfürchtige zum Spielball ihrer blöden Witze. Welch unbändiges Gelächter gibt’s, wenn sie von einem treuen Mitglied des "frommen Vereins" ein Zerrbild entwerfen! Sie amüsieren sich ganz köstlich, wenn sie über die Bemühungen der Jünger Jesu, ein gottseliges Leben zu führen, witzeln können, und der Abscheu der Gotteskinder vor der Sünde liefert ihnen Stoff zu endlosen Ausfällen über die Engherzigkeit und Heuchelei der Mucker und Betschwestern. Musste ein David Spott und Verachtung erfahren, so dürfen wir nicht erwarten, frei auszugehen. Das Geschlecht der Stolzen ist noch sehr zahlreich auf Erden, und wo sie einen Frommen von Not und Trübsal heimgesucht finden, sind sie unedel und unbarmherzig genug, sich über ihn lustig zu machen. Es liegt in der Natur des Sohnes der Magd, den Sohn der Freien zu verspotten und zu verfolgen.
(Gal. 4,29.)
  Dennoch weiche ich nicht von deinem Gesetz. So schossen die Spötter also doch fehl: über ihn lachen konnten sie; aber ihn herumbringen nicht. Auch nicht im kleinsten Stücke ließ sich der Gottesmann von dem, was er für recht erkannt hatte, abbringen, ja er verlangsamte nicht einmal seinen Schritt. Viele würden in solchen Anfechtungen wankend geworden sein, ja gar manche sind tatsächlich abgewichen, nicht aber der Psalmist. Es heißt den Toren zu viel Ehre erweisen, wenn man ihnen auch nur um Haaresbreite nachgibt. Ihr Lachen und Wüten kann uns nichts anhaben, wenn wir ihm nur keine Beachtung schenken, so wenig der Mond unter den Hunden zu leiden hat, die ihn anbellen. Gottes Gesetz ist die wohlgebahnte Straße, auf der wir in Frieden und Sicherheit wandeln, und Leute, die uns durch ihren Spott davon weglocken wollen, meinen es sicher nicht gut mit uns.
  Aus dem 61. Vers ersehen wir, dass der Psalmist sich durch den Raub seiner Güter ebenso wenig vom Rechten abbringen ließ wie durch den hässlichen Spott. Auch V. 157 zeigt uns, dass die vielen Verfolger und Widersacher des Gottesmannes mit all ihren Versuchen, ihn von Gottes Wegen abzuwenden, zu Schanden wurden.

52. HERR, wenn ich gedenke, wie du von der Welt her gerichtet hast, so werde ich getröstet. Vorher hatte er den HERRN gebeten, sein zu gedenken (V. 49); nun gedenkt er selber des HERRN und seiner Gerichte. Wenn wir in der Gegenwart keine Entfaltungen der göttlichen Macht wahrnehmen können, so tun wir wohl, auf das, was aus früheren Zeiten urkundlich berichtet ist, zurückzugehen; denn weil der HERR allezeit derselbe ist, beweisen diese alten Geschichten genauso viel, als wenn sie der letzten Gegenwart angehörten. Wahren Trost können wir nur in Gottes Walten für Wahrheit und Recht finden, und da die Geschichten der alten Zeiten voll sind von Beispielen solchen göttlichen Eingreifens, so ist es uns sehr nützlich, wenn wir dieselben gründlich kennen. Dazu können wir, wenn wir in vorgerückten Jahren stehen, auf die göttlichen Führungen in unserem eigenen früheren Leben zurückschauen, und diese sollten wir wahrlich nie vergessen oder auch nur einen Augenblick uns aus den Gedanken kommen lassen. Es ist eine richtige und unanfechtbare Schlussfolgerung: Er, der sich ehedem seinem Volke, das auf ihn harrte, so mächtig erwiesen hat, ist der unwandelbare Gott; darum dürfen auch wir auf Erlösung von ihm rechnen. Das Hohnlachen der Stolzen wird uns nicht anfechten, wenn wir daran gedenken, wie der HERR mit ihren Vorgängern in längst vergangenen Zeiten verfahren ist. Er vernichtete sie in der Sintflut, machte sie beim Turmbau zu Schanden, ersäufte sie im Schilfmeer, ließ Feuer und Schwefel auf sie regnen und vertrieb sie aus ihrem Kanaan; zu allen Zeiten hat er die Hoffärtigen seinen Arm fühlen lassen und sie wie Töpfergerät zerschmissen. Gern genießen wir selber in aller Stille demütigen Herzens die Gnade Gottes; doch sind wir auch in Zeiten der Verfolgung und Verspottung nicht ohne Trost, denn dann nehmen wir unsere Zuflucht zu Gottes Gerechtigkeit und bringen uns in Erinnerung, wie er der Spötter spottet: Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Allherr spottet ihrer. (Ps. 2,4.)
  Wiewohl der Psalmist gar sehr unter dem Hohn zu leiden hatte, ließ er sich doch nicht dadurch verzagt machen, sondern fasste im Gegenteil frischen Mut. Er wusste, dass zu erfolgreichem Wirken im Dienst des HERRN und zur Ausdauer unter Verfolgung guter Mut nötig ist, darum suchte er Trost. Um diesen zu gewinnen, hielt er sich aber nicht so sehr an die milde, freundliche als vielmehr an die strenge Seite von Gottes Weise, mit den Menschen zu verfahren, und verweilte namentlich bei seinen Gerichten. Wenn wir selbst in Gottes strenger Gerechtigkeit labenden Honig entdecken können, wieviel mehr werden wir in seiner Liebe und Gnade Erquickung finden! Wie völlig muss ein Mensch mit Gott in Frieden leben, der nicht nur aus seinen Verheißungen, sondern auch aus seinen Gerichten Trost zu schöpfen vermag! Selbst die furchtbaren Taten Gottes bergen für die Gläubigen Ermutigung in sich, denn diese wissen, dass nichts so sehr der Allgemeinheit von Gottes Geschöpfen zum Besten dient, als dass sie von einer starken Hand regiert werden, die das Recht walten lässt. Der Gerechte hat das Schwert dieses Herrschers nicht zu fürchten, das nur den Bösen ein Schrecken ist. Wenn dem Gottesfürchtigen von Menschen Unrecht und Kränkung widerfährt, so findet er seinen Trost in der Tatsache, dass es einen Richter über die ganze Welt gibt, der seinen Auserwählten Recht schaffen und alle Unbill dieser verkehrten Zeiten wieder gutmachen wird.

53. Ich bin entbrannt über die Gottlosen, die dein Gesetz verlassen. Zornglut erfasste ihn über ihr Tun und Treiben sowie über den Hochmut und Übermut, der sie dazu verleitete, und Entsetzen über die Strafe, die sie unfehlbar dafür treffen musste. Wenn er der früheren Gerichte Gottes gedachte, ward er von Schauder erfasst über das Schicksal der Gottlosen; und wahrlich, er hatte alle Ursache dazu. Ihr höhnisches Lachen hatte ihm nicht viel Not gemacht, aber die gewisse Voraussicht ihres Verderbens bekümmerte ihn tief. Wahrheiten, über die sie sich lustig machten, waren ihm fürchterlicher Ernst. Er musste sehen, wie sie sich von Gottes Gesetz völlig abwandten wie von einem außer Gebrauch gekommenen Wege, der mit Gras bewachsen ist, weil ihn niemand mehr begeht. Und dieses Verlassen des Gesetzes erweckte in ihm die peinlichsten Empfindungen; er erschrak über ihre Gottfeindlichkeit, entsetzte sich über ihre Vermessenheit, ward beängstigt durch die Erwartung ihres plötzlichen Sturzes, von Schauder erfüllt bei dem Gedanken an ihr ewiges Los.
  Man vergleiche hierzu die Vers 126 und 158 und beachte, wie viel zartes Empfinden sich bei alledem bemerkbar macht. Gerade diejenigen, die am festesten an die Ewigkeit der Höllenstrafen glauben, trauern auch am meisten über das schreckliche Los der Gottlosen. Es ist kein Zeichen eines besonders tiefen Mitgefühls, wenn man seine Augen verschließt gegen die Schrecken, die die unbußfertigen Sünder erwarten. Das echte Mitleid zeigt sich viel mehr in dem Bestreben, Seelen zu retten, als darin, alles augenblicklich Unangenehme beiseite zu lassen. Möchten wir doch alle mehr Bekümmernis empfinden bei dem Gedanken an das Los, das der Gottlosen harrt im unauslöschlichen Feuer. Die beliebte Weise, diese Dinge zu behandeln, ist, dass man sie sich aus dem Sinn schlägt oder sich weiß macht, es werde wohl nicht so schlimm sein; aber das ist nicht der Standpunkt, den ein treuer Knecht des HERRN einnehmen kann.

54. Deine Rechte sind mein Lied in dem Hause meiner Wallfahrt. Gleich den Erzvätern wusste David sehr wohl, dass er hienieden nicht eine bleibende Stätte hatte, sondern nur unterwegs war als ein Pilgrim, der ein besseres Vaterland suchte
(Hebr. 11,13-16). Aber das war ihm ein Grund nicht zum Seufzen, sondern zum Singen. Er sagt hier nichts von seinen Pilgerbeschwerden und -klagen, sondern spricht von frohen Wallfahrtsliedern. Selbst der Palast, in dem er wohnte, war ihm nur das Haus seiner Wallfahrt, die Herberge, in der er zu kurzer Rast weilte. Wenn die Leute nach langer Wanderung zur gastlichen Herberge kommen, dann singen sie gerne; das tat auch dieser fromme Herbergsgast, er stimmte seine Zionslieder an, besang die Rechtsordnungen des großen Königs. Gottes Gebote waren ihm so wohlbekannt wie die Volksgesänge seiner irdischen Heimat, und sie waren seinem Ohre wohllautend und seinem Herzen lieblich. Glücklich die Seele, die ihre Freude an Gottes Befehlen findet, der der Gehorsam eine Erholung, ein Genuss ist. Wenn die Religion in Musik gesetzt wird, dann geht es mit ihr munter voran. Können wir auf den Wegen des HERRN singen, so zeigt das, dass wir mit ganzem Herzen dabei sind. Unsere Lieder sind Wallfahrtslieder, Stufenpsalmen, mit denen wir uns auf dem beschwerlichen Anstieg nach Zion erquicken; doch sind sie solcher Art, dass wir sie noch in der Ewigkeit fortsingen können, denn die Rechte des HERRN sind es, wovon man auch im Himmel noch "im höhern Chore" singt.
  Gottes Heiligen ist die Sünde ein Grauen (V. 53), die Heiligkeit aber lieblicher Wohlklang. Die Gottlosen gehen dem Gesetz scheu aus dem Wege, die Gerechten singen davon. Und da unsere Lieder so gar anders lauten als die, mit denen die Stolzen die Frommen verhöhnen (V. 51), so dürfen wir erwarten, dereinst in einen ganz andern Chor eingereiht zu werden und an einem Orte singen zu dürfen, der von dem ihren weit entfernt ist.

55. HERR, ich gedenke des Nachts an deinen Namen. Zur Zeit, da andere schlafen, wache ich, um, HERR, an dich zu denken, an deine Person, deine Taten, deinen Bund, deinen Namen, das ist, dein geoffenbartes Wesen. So sehr war sein Herz auf den lebendigen Gott gerichtet, dass er selbst mitten in der Nacht aufwachte, um sich in ihn zu versenken. Das waren Davids "Nachtgedanken"1, und wenn sie nicht "Sonnige Erinnerungen" waren, so doch Erinnerungen an die Sonne der Gerechtigkeit. Wohl uns, wenn wir aus der Erinnerung Trost zu schöpfen vermögen, so dass wir mit dem Psalmisten sagen können: Weil ich dich frühe kennen gelernt habe, brauche ich nur an das zu gedenken, was deine Gnade mir bisher gewesen ist, so wird mein Herz getröstet. Wir sollen den Namen Gottes heiligen; wie kann dies aber geschehen, wenn er unserem Gedächtnis entschwindet?
  Und halte dein Gesetz. Sein stilles Sinnen wurde ihm zu einer Kraftquelle der Heiligung; sein nächtliches Gedenken regelte sein Tun am Tage. Denn wie das, was wir am Tage getan, oft unsere nächtlichen Träume erzeugt, so wirken auch wiederum die Gedanken der Nacht häufig auf unsere Handlungen am Tage ein. Wenn wir den Namen Gottes nicht in unserem Gedächtnis bewahren, so werden wir auch nicht das Gesetz Gottes in unserem Tun und Lassen bewahren. Ist das Herz vergesslich, so wird auch das Leben nachlässig sein.
  Wenn wir die lärmenden Gesänge der Zecher durch die Stille der Nacht hallen hören, so ist uns das ein sicheres Zeichen, dass solche Gottes Gesetz nicht halten; ebenso ist das stille nächtliche Sinnen der Frommen ein Kennzeichen, dass ihnen der Name Gottes teuer ist. Aus den Liedern, die es singt, können wir auf den Charakter eines Volkes schließen, ebenso aber auch auf den des einzelnen Menschen. Bei dem Gerechten sind seine Lieder sowie das, worüber er sinnt, womit sich sein Geist in stillen Stunden beschäftigt, ein Merkmal seiner Liebe zu Gott. Mag er singen oder stille sinnen, er ist des HERRN. Selig der Mann, dessen Nachtgedanken vom Licht der Ewigkeit erfüllt sind; sein wird der HERR gedenken, wenn die Nacht des Todes über ihn hereinbricht. Lieber Leser, sind deine Gedanken, wenn Finsternis dich umgibt, dennoch voll Licht, weil sie von Gott erfüllt sind? Ist sein Name der selbstverständliche Gegenstand deiner Abendbetrachtungen? Ist das der Fall, dann wird es auch seinen Schein auf deine Morgen- und Tagesstunden werfen. Oder ist dein Sinn von den eitlen Sorgen und Freuden dieser Welt hingenommen? Dann ist es kein Wunder, dass auch dein Leben nicht so ist, wie es sein sollte. Durch Zufall gelangt niemand zur Heiligung. Wenn wir für den Namen Jehovahs keinen Raum in unserem Sinnen und Denken haben, so werden wir auch seiner Gebote nicht eingedenk sein; denken wir im Verborgenen nicht an ihn, so werden wir ihm auch nicht in unserem öffentlichen Wandel Gehorsam leisten.

56. Dieser Vers wird auf zweierlei Weise aufgefasst. Man kann (mit Kautzsch z. B.) übersetzen: Solches ward mir zuteil, denn ich habe deine Gebote beobachtet. Dann blickt der Vers auf das Vorhergehende zurück. Der Psalmist hatte solchen Trost, solche Gemeinschaft mit Gott auch in seinem nächtlichen Sinnen, solch süße Lieder im Hause seiner Wallfahrt, solchen Mut den Feinden gegenüber, solche Hoffnung auf die Erfüllung der Verheißung, weil er mit Ernst und Eifer die Gebote Gottes bewahrt und sich bestrebt hatte, nach ihnen zu handeln. Wohl haben wir keinen Lohn für unsere Werke zu empfangen, aber doch haben diese einen Lohn in sich. Gar mancher Trost, manche Befriedigung der Seele wird nur durch einen sorgsamen Lebenswandel erlangt, und wir können dann in Wahrheit sagen: Das ist ein Schatz, den ich gewonnen habe, weil ich deine Gebote hielt. Doch mag der Vers (mit vielen Auslegern) auch folgendermaßen übersetzt werden: Dies ist mir zuteil geworden, nämlich dass ich deine Gebote beobachte. Andern ist anders beschieden, sagt Delitzsch, z. B. viel Wein und Korn (Ps. 4,8); ihm das eine Notwendige, welches das gute Teil ist (Lk. 10,42). In diesem Sinn übersetzt ja auch Luther: Das ist mein Schatz, dass ich deine Befehle halte. Selig, wer also sprechen kann!
  Dieser Vers bildet einen passenden Abschluss zu dem ganzen Abschnitt, denn er unterstützt mächtig die Bitte, womit der Abschnitt begonnen. Der Psalmist war sich dessen bewusst, dass sein Herz darauf gerichtet war, Gottes Ordnungen zu wahren; darum konnte er freimütig den HERRN bitten, seine Verheißungen zu halten. Ähnlich entspricht auch das "Ich gedenke" V. 55 der Bitte "Gedenke du".


V. 49-56. Das achtfache z (S). Gottes Wort ist seine Hoffnung und sein Trost bei aller Verhöhnung, und wenn er über die Abtrünnigen sich ereifert, ist Gottes Wort seine Beruhigung.

49. Sei eingedenk des Wortes an deinen Knecht,
Darob dass du mich hoffen heißest.
50. Sei dies mein Trost in meinem Elend,
Dass dein Wort mich neubelebt hat.
51. Spottsüchtig sind Übermütige mir begegnet -
Von deinem Gesetze bin ich nicht abgewichen.
52. Sooft ich dachte deiner Rechte von Ur(zeiten) her, Jahve,
Da tröstete ich mich.
53. Siedheiß ergriff mich Unmut ob der Frevler,
Die dein Gesetz verlassen.
54. Süße Lieder sind mir deine Satzungen
Im Hause meiner Pilgrimschaft.
55. Spät in der Nacht deines Namens, Jahve, gedenkend,
Hielt ich Treue deinem Gesetze.
56. So ist beschieden mir:
Dass ich deine Ordnungen wahre.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 49. Gedenke deinem Knechte an dein Wort. Wenn wir im Worte Gottes auf eine Verheißung stoßen, so sollen wir sie in Gebet verwandeln. Gottes Verheißungen sind Schuldscheine, die wir ihm getrost vorhalten dürfen. Gott freut sich, wenn wir mit ihm ringen um seine Versprechungen. HERR, du hast das und das Versprechen gegeben, du kannst doch nicht dich selbst, deine eigene Wahrheit verleugnen! Du kannst ja nicht aufhören, Gott zu sein; doch könntest du ebenso wohl dies tun, als dein Versprechen, d. i. dich selbst, verleugnen. HERR, ich erinnere dich an dein eigenes Versprechen, auf welches du selbst mich hast hoffen lassen; denn du hast gemacht, dass ich auf dich traue, und keiner wird zu Schanden, der dein harret! Richard Sibbes † 1635.
  Gedenke des Wortes an deinen Knecht. (Wörtl.) Das ist ein Ausdruck, der wohl erwogen zu werden verdient, da es sehr wenige Menschen gibt, die, wenn es sich um das Wort Gottes handelt, erkennen, dass es sich an sie selbst wendet; und doch ist ohne solche Erkenntnis alles wertlos. Wir können hundertmal in der Bibel lesen, aber wir werden doch nie an den Verheißungen Gottes Gefallen finden oder doch ihrer nie gewiss werden, wenn wir nicht erkannt haben, dass Gott gerade zu uns redet, dass wir es sind, die er seine Barmherzigkeit und seine Vaterliebe erfahren lassen will. Wenn wir die göttlichen Verheißungen so als in der Luft schwebend auffassen, als ob Gott geredet habe und wir wüssten nicht, zu wem, was können wir dann daraus für uns entnehmen? Darum so lasset uns wohl beachten, wie in diesem Vers David die erhaltenen Verheißungen auf sich selber bezieht. Er sagt: HERR, du hast nicht zu diesem oder jenem geredet, weiß nicht zu wem; ich zweifle vielmehr nicht, dass du mir hast erklären wollen, dass ich teilhaftig sei aller der Güter, die du deinen Gläubigen verheißen hast. Jean Calvin † 1564.
  Auf welches du mich lässest hoffen. Lasst uns des eingedenk sein, erstlich, dass die uns gewordenen Verheißungen von Gottes freier Gnade kommen; weiter dass der Glaube, der die Bedingung der Erfüllung der Verheißung ist, ebenfalls von ihm kommt, nicht von uns, Gottes Gabe ist er; und zum Dritten, dass die Glaubensgründe, mit denen der HERR uns in der Gewissheit unserer Erlösung befestigt, auch von ihm her genommen sind, nicht aus uns. William Cowper † 1619.


V. 50. Mein Christ, preise Gott, dass er sein Wort nicht nur geschrieben, sondern auch in dein Herz gegraben und wirksam gemacht hat. Kannst du bezeugen, dass es von göttlicher Eingebung ist, weil du seine erquickende, lebendig machende Kraft erfahren hast? O freie Gnade, dass Gott sein Wort ausgesandt hat, um dich zu heilen, ja dich! Dass dieselbe Schrift, die andern ein toter Buchstabe, dir ein Geruch zum Leben ist! Thomas Manton † 1677.


V. 51. Die Stolzen haben ihren Spott an mir. Zu allen Zeiten haben die Heiligen Gottes hierüber klagen müssen. So litt der Psalmist unter dem Hohn der Freigeister. Hiob wurde verlacht von denen, die jünger waren als er, deren Väter er verachtet hätte, sie zu stellen unter seine Schafhunde (Hiob 30,1). Josef ward ein Träumer gescholten, Paulus ein Lotterbube, Christus selbst ein Samariter und in verächtlichem Sinne der Zimmermann genannt. Michal war zwar unfruchtbar, doch hat sie viele Kinder, die das Wesen und Tun der Heiligen verhöhnen. Weltlich gesinnte Leute erblicken in allen Äußerungen der Frömmigkeit nichts als Schwärmerei und Verrücktheit; die Frömmigkeit ist ihnen zuwider. Thomas Adams 1614.


V. 52. HERR, wenn ich gedenke, wie du von der Welt her gerichtet hast, so werde ich getröstet. Er gedachte daran, dass am Anfang Adam wegen seiner Übertretung des göttlichen Gebotes aus dem Paradiese getrieben ward; dass Kain, verdammt durch den göttlichen Urteilsspruch, den Preis für sein brudermörderisches Verbrechen bezahlte; dass Henoch, wegen seiner Gottesfurcht gen Himmel aufgenommen, dem Gifte irdischer Verderbtheit entging; dass Noah, wegen seiner Gerechtigkeit der Überwinder der Sintflut, der einzige Überlebende des Menschengeschlechtes ward; dass Abraham um seines Glaubens willen den Samen seiner Nachkommenschaft über die ganze Erde ausbreitete; dass Israel um seines geduldigen Ertragens von Trübsal willen ein ganzes Volk mit dem Zeichen seines eigenen Namens weihte; dass David selbst um seiner Frömmigkeit willen die königliche Würde übertragen erhielt und seinen älteren Brüdern vorgezogen wurde. Ambrosius † 397.
  Hier drängt sich eine Gewissensfrage auf: Wie konnte David durch die Erinnerung an Gottes Gerichte getröstet werden? Es ist doch ein grausames Vergnügen, sich über das Verderben anderer zu freuen. Steht nicht geschrieben: Wer sich über eines andern Unglück freut, wird nicht ungestraft bleiben? (Spr. 17,5) Darauf lässt sich verschiedenes antworten. Einmal umfassen die Gerichte Gottes beide Seiten seiner vergeltenden Gerechtigkeit, die Erlösung der Frommen sowohl wie die Bestrafung der Gottlosen. Die Freude über das Erstere nun erregt keine Bedenken; aber auch die Strafen, die die Gottlosen befallen, können und dürfen den Frommen freuen, sofern durch die Strafe der Reiz zur Sünde, der in der Straflosigkeit liegt, vermindert wird. Wenn den Gottlosen Gnade widerfährt, so lernen sie nicht Gerechtigkeit (Jes. 26,10). Aber wo dein Recht im Lande geht, so lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit (V. 9). Ferner wird den Anfeindungen der Gottlosen, ihren Verfolgungen, ihrer Verführung, den Schlingen, die sie den Frommen legen, durch ihre Strafe ein Ende gemacht. So hört die Bedrückung der Heiligen auf, und die Kirche Christi, das Reich Gottes kann sich ungehindert ausbreiten. Die Freude, die der Psalmist hier äußert und von der häufig in der Schrift die Rede ist (vergl. Spr. 11,10; Ps. 52,7.8; und im N.T. Lk. 1,47.51.52; Off. 18,20), ist die Freude über Gottes Gerechtigkeit. Wir dürfen uns freuen und Trost und Genugtuung finden in der Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit, die der Gerechtigkeit und Wahrheit den Sieg über das Böse und die Lüge verliehen. Thomas Manton † 1677.


V. 53. Ich bin entbrannt über die Gottlosen, die dein Gesetz verlassen. Wenn wir die Menschen sich so weit von Gott entfernen sehen, dass sie sogar offenen Krieg gegen ihn unternehmen, dann ist es sehr schwer, dass wir nicht ganz grimmig und wild darüber werden. Und was haben wir dabei zu tun? Es genügt keineswegs, dass wir den Gottlosen in ihrer Bosheit nicht folgen, dass wir uns ihnen nicht anschließen, um ihre Mitschuldigen zu sein, sondern wir müssen entbrannt sein über sie in Abscheu, wenn wir sehen, da sie wider Gott streiten. Denn das ist doch etwas ganz Ungeheuerliches, dass sterbliche Menschen sich wider ihren Schöpfer erheben und Krieg führen. Jean Calvin † 1564.
  Ich habe Blicke in die Zukunft tun dürfen, ich habe etwas von der Seligkeit der Frommen geschaut, habe mich gesehnt, an ihrem seligen Stande teilnehmen zu dürfen, und habe die tröstliche Gewissheit, dass mir dies dereinst in Gnaden zuteilwerden wird. Aber, welche Schauer ergreifen mich, wenn ich an die Ewigkeit derer denke, die ohne Christum sind, die im Irrtume leben und ihre falschen Hoffnungen mit ins Grab nehmen. Das Bild war so schrecklich, dass ich es nicht ertragen konnte; mein ganzes Innere sträubte sich dagegen, und ich rief aus (tiefer ergriffen von dem Sinne dieser Worte als je zuvor): Wer ist unter uns, der bei der ewigen Glut wohne? David Brainerd † 1747.


V. 54. Deine Rechte sind mein Lied. Gottes Satzungen sind seine Lieder, die ihn geistig laben, die Beschwerden der Wanderung versüßen und seine Schritte messen und beflügeln. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Warum doch wird alles, was wie Wärme, Begeisterung aussieht, in religiösen Dingen mit dem Namen Schwärmerei gebrandmarkt? Beim Dichter, beim Musiker, beim Gelehrten, beim Liebhaber, ja auch beim Geschäftsmanne findet man solch warmen Eifer am Platze, ja sehr wünschenswert. Warum also wird das auf dem Gebiete der Angelegenheiten unserer Seele vergessen, Angelegenheiten, die vor allen anderen eine völlige Hingabe des Geistes verlangen und verdienen? Soll ein Gefangener in Frohlocken ausbrechen, wenn ihm seine Freiheit verkündet wird, und der losgesprochene Sünder sollte aus seinem Gefängnis treten, ungerührt, ohne Äußerungen des Dankes und der Freude? Nein! Ihr sollt in Freuden ausziehen und in Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Ruhm, und alle Bäume auf dem Felde mit den Händen klatschen (Jes. 55,12). Soll der zum Tode verurteilte Verbrecher aufs tiefste ergriffen werden, wenn an Stelle der Hinrichtung ihm völlige Begnadigung zuteil wird, und der begnadigte Sünder soll in gefühllosem Schweigen verharren? Nein! Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christ, durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darinnen wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale ..., nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes, durch welchen wir nun die Versöhnung empfangen haben (Röm. 5,1-3.11). - Wanderer pflegen sich durch Gesang den langen Weg zu verkürzen. Wenn sie dreimal im Jahre von den äußersten Grenzen ihres Landes nach Jerusalem kamen um anzubeten, hatten die Israeliten eigens für diese Gelegenheiten bestimmte Lieder, die sie unterwegs sangen. Und von den Gerechten heißt es: Also werden die Erlösten des HERRN wiederkehren und gen Zion kommen mit Jauchzen, und ewige Freude wird auf ihrem Haupte sein (Jes. 51,11). W. Jay † 1853.
  In dem Hause meiner Wallfahrt. Damit meint David sein ganzes Erdenleben. So bekannten sich auch Jakob vor Pharao und Abraham und Isaak als Fremdlinge Zeit ihres Lebens. Und die Christen nennt Petrus ebenfalls Fremdlinge und Pilgrime. Ach welche Torheit, seinen Sinn auf das Diesseits zu richten, da uns Gott doch berufen hat, Bürger des Himmels zu sein! Der Gedanke, dass unsere irdischen Häuser doch nur Herbergen sind, kann uns großen Trost gewähren. Die frommen Israeliten ertrugen die Knechtschaft in Ägypten leichter im Gedanken an ihre bevorstehende Erlösung. Welch ein trostloser Zustand, wenn das Haus unserer Knechtschaft ein Haus für die Ewigkeit wäre. Aber Gott sei gepriesen, unser Vaterhaus ist droben im Himmel, und die Wohnungen, die wir hienieden eine nach der andern innehaben, das sind nur Wanderherbergen. Selig sind, die da Heimweh haben, die sich stets als Fremde fühlen in ihrem Hause, ihrem Bette, ja in ihrem Leibe, die daheim sind nur beim Herrn. William Cowper † 1619.


V. 55. Des Nachts gedenke ich an deinen Namen, und darum halte ich auch des Tages dein Gesetz. Matthew Henry † 1714.
  Dieser Vers enthält ein neues Bekenntnis seiner Liebe zum Worte Gottes. Wir sehen darin zuerst die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung. Er war gottesfürchtig nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in seinen vier Wänden. Einsame Andacht ist eines der sichersten Merkmale echter Frömmigkeit. Die Heuchelei veranlasst die Menschen oft, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen, die ihrem Wesen fremd ist; das ist beim Gebet im Kämmerlein nicht der Fall. Entweder wirst du, wenn dir Gebet und Bibellesen keine Gewissenssache ist, sie ganz unterlassen, wo dich kein Menschenauge sehen kann, oder aber, wenn du wirklich fromm bist, wirst du auch, wo dich niemand sieht, dein Herz vor Gott bringen und suchen, dass er sein Wohlgefallen daran habe. Weiter aber zeigt uns dies auch die brennende Glut seiner Frömmigkeit, denn so wie er an anderer Stelle es beteuert, dass er das Wort mehr liebe als alle Speise, so beteuert er hier, dass er eine nächtliche Ruhe aufgebe, um über dem Worte Gottes nachzusinnen. Heute aber ist der Eifer bei denen, die sich nach Christi Namen nennen, so erkaltet, dass selten einer von ihnen seinen Überfluss, geschweige denn seine notwendige Ruhe und Erholung aus Liebe zum Worte Gottes drangeben würde. William Cowper † 1619.
  Wenn du des Abends dein Gebet mit den Deinen gesprochen hast, dann magst du ganz allein für dich dein eigenes Gebet hinzufügen, das soll niemand auf der Welt hören, weil es ein Geheimnis ist; das allergrößte Geheimnis, das man hat, das ist das Geheimnis, das man mit dem lieben Gott hat. James Millard Sick.

  Da nun der Leib sein Tagewerk vollendet,
  Mein Geist sich auch zu seinem Werke wendet,
  Zu beten an, zu lieben inniglich,
  Im stillen Grund, mein Gott, zu schauen dich.
  Die Dunkelheit ist da, und alles schweiget;
  Mein Geist vor dir, o Majestät, sich beuget.
  Ins Heiligtum, ins Dunkle kehr ich ein.
  HERR, rede du, lass mich ganz stille sein.
   Gerhard Tersteegen † 1769.

  Pastor Harms von Hermannsburg pflegte am Tag des Herrn neun Stunden lang seiner Gemeinde zu predigen, zu lehren und zu beten. Und dann, wenn er geistig ganz erschöpft war und er unter körperlichen Schmerzen erbebte und halb tot war vor Verlangen nach Ruhe, dann vermochte er keinen Schlaf zu finden. Aber er pflegte zu sagen, dass er gerne die ganze Nacht in der Dunkelheit und Stille daliege und an Jesum denke. Die Nacht lösche alles andere aus seinen Gedanken und lasse seinen Geist frei für den Verkehr mit dem einen, den seine Seele am innigsten liebe und der seinen müden Jünger während seiner Nachtwachen besuche und stärke. So haben Gottes Kinder oft Stunden seltener Gemeinschaft mit dem HERRN in der Einsamkeit der Verbannung, im Düster der Kerkerzelle, in der lebenslangen Nacht der Blindheit erfahren dürfen, zu Zeiten, da alle Stimmen und Äußerungen von der Welt her völlig abgeschnitten waren, da die Seele ganz allein mit ihrem Gotte gelassen war. March 1880.
  Und halte dein Gesetz, wohl unvollkommen, aber doch aufrichtig, von ganzem Herzen, aus einem Gefühle der Liebe und Dankbarkeit heraus und nur im Gedanken an die Ehre und den Ruhm Gottes, ohne eigennützige, versteckte Zwecke. J. Gill † 1771.


V. 56. Solches ward mir zuteil, weil ich deine Gebote gehalten habe. (And. Übersetzung.) Wie die Sünde selber Strafe der Sünde ist und der Gottlose immer schlimmer wird, so ist die Gottesfurcht Lohn der Gottesfurcht. Der rechte Gebrauch unserer Gaben und Fähigkeiten stärkt und mehrt dieselben, und wer in der Frömmigkeit erst einen Anfang gemacht hat, wird mit fernerem Wachstum in der Frömmigkeit gesegnet. Davids fromme Übungen hielten ihm den HERRN, seinen Gott, im Gedächtnis, und sein Gedenken an Gott machte ihn immer gottesfürchtiger und frömmer. William Cowper † 1619.
  Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei den Rabbinern ausgesprochen: Der Lohn für ein Gebot ist ein Gebot, oder: Ein Gebot zieht ein Gebot nach sich. Das will sagen: Wer das eine Gebot hält, dem gewährt Gott, gleichsam als Belohnung, die Fähigkeit, ein anderes, schwierigeres Gebot zu halten. Und das Gegenteil davon drückt ein anderer Rabbinerausspruch aus: Der Lohn einer Sünde ist eine neue Sünde, oder: Übertretung zieht Übertretung nach sich. Simon de Muis † 1647.
 


1. Night Thoughts, Titel eines Werkes des engl. Dichters Edward Young. Dieses Werk, das gleich bei seinem Erscheinen (1741) Aufsehen erregte, hat in der englischen und deutschen Literatur lange Zeit eine größere Rolle gespielt, als ihm seiner Bedeutung nach wohl zukam. - E. R.


57. Ich habe gesagt HERR, das soll mein Erbe sein,
dass ich deine Worte halte.
58. Ich flehe vor deinem Angesichte von ganzem Herzen;
sei mir gnädig nach deinem Wort.
59. Ich betrachte meine Wege
und kehre meine Fuße zu deinen Zeugnissen.
60. Ich eile und säume mich nicht,
zu halten deine Gebote.
61. Der Gottlosen Rotte beraubt mich;
aber ich vergesse deines Gesetzes nicht.
62. Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken
für die Rechte deiner Gerechtigkeit.
63. Ich halte mich zu denen, die dich fürchten
und deine Befehle halten.
64. HERR, die Erde ist voll deiner Güte;
lehre mich deine Rechte.

In diesem Abschnitt tritt besonders hervor, mit welcher Innigkeit der Psalmist Gott selbst erfasst. Er eignet sich ihn im Glauben an als sein Teil (siehe zu V. 57), erfleht herzinniglich seine Gunst (V. 58), kehrt sich ganz ihm und seinem Worte zu (V. 59), tröstet und erquickt sich an ihm (V. 61.62), sucht Gemeinschaft mit seinem Volke (V. 63) und sehnt sich nach immer tieferer Erfahrung seiner Gnade (V. 64). - Man beachte, wie eng sich der erste Vers dieser Gruppe an den letzten der vorigen anschließt.

57. Wir übersetzen: Mein Teil ist der HERR! oder nach den LXX: Mein Teil bist du, o HERR! Der Dichter steht da, in ehrfürchtiges Staunen versunken, dass der große, herrliche Herr ganz sein eigen ist. Und wahrlich, sein Herz mag wohl anbetend überwallen, denn welcher Schatz reicht an diesen hinan, an Jehovah selbst? David war oft dabei gewesen, wenn die Kriegsbeute verteilt wurde, und hatte die Sieger über ihr jauchzen hören. Hier ist er es selbst, der in Frohlocken ausbricht, da er seinen Anteil ergreift: den HERRN selbst hat er sich erwählt, der soll sein Teil sein, das teure Kleinod, das er sich zu eigen nimmt. Gleich den Leviten erkor er Gott zu seinem Erbteil und ließ um diesen Preis andern gerne die Schätze, nach denen ihr Herz begehrte. Das ist ein reiches und ein dauerndes Erbe; denn es schließt alles andere in sich, ja mehr als alles, was die Kreatur, was Himmel und Erde bieten können, und es überdauert alles. Und doch erwählt kein Mensch es für sich selber, es sei denn, dass Gott ihn zuerst erwählt und ihn erneuert habe. Welcher Mensch, der wahrhaft weise ist, könnte auch nur einen Augenblick zögern, wenn der ewige Gott, der Herr aller Güter und Inbegriff alles Guten, ihm dargeboten wird, dass er ihn als sein eigen erwähle? Der Psalmist griff ohne Besinnen zu und erfasste das unschätzbare Gut. Und er erlaubt sich hier, dem HERRN selbst seine Besitzansprüche vor Augen zu halten, richtet sich sein freudiger Ausruf doch (nach der Auffassung der LXX) unmittelbar an Gott, indem er ihn kühn sein Eigentum nennt. Wiewohl er unter so vielem wählen konnte, da er ja ein König war, dem alles zur Verfügung stand, ist er doch nicht einen Augenblick unschlüssig, sondern wendet allen Schätzen dieser Welt den Rücken und erklärt aufs bestimmteste, dass Jehovah selbst sein Teil sei, das er erwähle.
  Ich habe gesagt (d. h. mir vorgenommen, gelobt), dass ich deine Worte halten will. (Grundtext) Nicht immer können wir mit Freude zurückblicken auf das, was wir gesagt haben; aber in diesem Falle hatte David ein weises und gutes Wort geredet. Er hatte erklärt, was er erwähle; dass er das Wort des HERRN allem Reichtum der Weltkinder vorziehe. Es war sein fester Entschluss, die Worte seines Gottes zu halten, sie als seinen kostbaren Schatz zu bewahren und zu beobachten, und wie er vordem dies feierlich vor dem Angesicht des HERRN selbst erklärt hatte, so bekennt er sich hier durch dies Gelübde gebunden. Jesus sagt: "Wer mich liebt, der wird mein Wort halten" (Joh. 14,23), und er hätte dazu als Beispiel dies Bekenntnis des Psalmisten anführen können; denn eben seine Liebe zu Gott als dem, der sein Teil war, führte den Psalmdichter dazu, Gottes Worte zu halten. David warf sich dem HERRN ebenso als seinem König zu Füßen, wie er ihn als sein Teil und Erbe umschlang. Er war sich seines Anrechts an Gott gewiss, darum war er auch ganz entschieden in seinem Gehorsam gegen ihn. Volle Gewissheit des Heils ist ein mächtiger Antrieb zur Heiligung, eine Quelle, aus der sie kräftig hervorsprudelt. Die ureigenen Worte Gottes sollen wir im Herzen und Leben bewahren; denn ob sie Lehre, Verheißung oder Gebot enthalten, in jedem Falle sind sie vom höchsten Wert. Wenn das Herz entschlossen ist, diese Worte zu halten, und es seinen Entschluss vor Gott beurkundet hat, dann ist es wohlgerüstet gegen alle Versuchungen und Prüfungen, die ihm bevorstehen; denn mit Gott als seinem Teil und Erbe muss es ihm unter allen Umständen wohlgeraten.

58. Ich flehe dich (wörtl. dein Angesicht) an (suche deine Gunst) von ganzem Herzen. (Grundtext) Die volle Gewissheit, den HERRN zu eigen zu besitzen, macht das Gebet nicht überflüssig, sondern drängt uns vielmehr dazu. Wer da weiß, dass Gott sein Gott ist, der wird auch sein Angesicht suchen, voll Verlangens, dass es sich ihm huldvoll zuwende. Gottes Gunst ist das heißeste Begehren frommer Seelen; das Leuchten seines Antlitzes gibt uns einen Vorgeschmack des Himmels. O dass wir uns an ihm immer erfreuten! Wie einer, der um sein Leben fleht, so inbrünstig und herzinniglich bat der Mann Gottes hier um einen Strahl der Freundlichkeit aus dem Angesicht des HERRN. Solches Flehen darf der Erhörung gewiss sein; was uns so aus dem Herzen geht, das findet sicherlich seinen Weg zum Herzen Gottes. Das ganze Füllhorn der göttlichen Huld schüttet sich aus über die, die von ganzem Herzen Gottes Segnungen begehren.
  Sei mir gnädig nach deinem Wort. Gottes Gunst hat er erfleht, und zwar weiß er, dass diese nur als Gnade, aus lauter Erbarmen, ihm zuteilwerden kann; denn was sonst er noch sein mag, vor allem andern ist er ein Sünder. Er begehrt nichts über die Verheißung hinaus; er bittet nur um solche Gnade, wie das Wort sie enthüllt und ihm verbürgt. Und was mehr hätte er auch begehren oder wünschen können? Gott hat in seinem Worte eine so unendliche Fülle von Gnade geoffenbart, dass es uns schlechterdings unmöglich wäre, eine noch reichere Fülle auszudenken. Siehe, wie der Psalmist in den beiden Versteilen so ganz sich an die Gnade klammert; sich auf ein Verdienst zu berufen, fällt ihm nicht im Traume ein. Er verlangt nicht, sondern fleht; denn er fühlt seine Unwürdigkeit. Er verharrt in seiner Stellung als Bittender, wiewohl er weiß, dass er in seinem Gotte alles besitzt. Gott ist sein Teil, und doch bittet er um die huldvolle Zuwendung seines Angesichts. Nicht einen Augenblick kommt ihm der Gedanke in den Sinn, je anders vor Gott treten zu können, denn als ein Unwürdiger, aber ein begnadigter Unwürdiger. Seinem Herzen entquillt das "Gott, sei mir gnädig" ebenso demütig und dringend, wie wenn er noch als zitternder Büßer von ferne stände. Die Glaubensgewissheit macht uns kühn im Bitten, nie aber lehrt sie uns ohne Gebet auskommen, nie gibt sie uns das Recht, anders denn als Bettler an der Tür der Barmherzigkeit zu stehen.

59. Ich betrachte meine Wege und kehre meine Füße zu deinen Zeugnissen. (Man kann V. 59 bis V. 61 auch im Imperfekt übersetzen.) Die Betrachtung des göttlichen Wortes hatte ihn auf die Betrachtung seines eigenen Lebens geführt, und dies rief eine ganz gewaltige Umwälzung bei ihm hervor. Er war zum Wort gegangen, nun ging er in sich und machte sich auf und kam zu seinem Vater. Stille Einkehr ist der Anfang der Bekehrung; erst denken wir, dann lenken wir um. Wenn das Herz erst seine bösen Wege bereut, dann sind die Füße leicht auf den guten Weg gebracht; aber ohne ernstes, tiefes Nachdenken wird es nie zu wahrer Reue kommen. Viele Leute haben eine Abneigung gegen alles Denken, und besonders zuwider ist es ihnen, wenn sie über ihre Wege nachdenken sollen, weil diese das nur schlecht ertragen. Die Wege Davids waren auch nicht immer und überall so gewesen, wie er es hätte wünschen müssen; seine Gedanken über sie wurden somit verdunkelt von schmerzvoller Reue. Aber er blieb nicht bei fruchtlosem Klagen stehen, sondern ging mit Ernst an eine wirkliche Besserung; er wandte sich ab von allem, was vor dem HERRN nicht taugte, und wandte sich hin zu den Zeugnissen seines Gottes, voll Verlangens, wiederum mit voller Gewissheit die Huld seines himmlischen Freundes zu genießen. Ein Tor handelt, ohne zu denken; der Faule begnügt sich mit müßigem Denken, ohne zu handeln. Erst sorgfältig denken und wägen, dann aber auch frisch handeln, das ist das Richtige. Der Psalmdichter hatte um Zuwendung der göttlichen Huld, um neue Erfahrung der seligen Gemeinschaft mit Gott gefleht; nun beweist er die Aufrichtigkeit seines Begehrens durch erneuerten Gehorsam. Wenn wir im Finstern wandeln und uns von Gott verlassen fühlen, dann werden wir am besten tun, nicht so sehr über unsere Trübsale als über unsere Wege nachzudenken. Wenn wir auch den Gang der göttlichen Vorsehung nicht zu ändern vermögen, so können wir doch unseren Gang, unsere Wege ändern, und tun wir das, dann werden die Dinge sich bald zum Guten wenden. Sind unsere Füße erst zurechtgebracht zu heiligem Wandel, dann wird unser Herz auch bald zurechtgebracht sein zu Friede und Freude im Heiligen Geist. Gott kehrt sich eilends zu den Seinen, wenn sie sich zu ihm kehren; ja er hat sein Antlitz ihnen schon huldreich zugewandt, wenn sie anfangen, ihre Wege zu überdenken und ihre Füße heimwärts zu lenken.

60. Ich eile und säume mich nicht, zu halten deine Gebote. Er hat es sehr eilig, auf die königliche Heerstraße zurückzukommen, von der er abgewichen war, und nun im Dienst seines Königs auf diesem Wege voranzuschreiten. Eile in der reuigen Umkehr und Hurtigkeit im Gehorsam sind zwei treffliche Dinge. Wie oft stürzen wir mit Hast in die Sünde; ach, dass wir noch eilfertiger wären, zu gehorchen! In der Sünde zögernd verweilen, heißt tiefer in die Sünde versinken; mit dem Gehorsam zaudern, heißt tatsächlich die Gebote brechen. Es ist ein böses Ding, wenn wir zögernden Schrittes hintennach kommen, wo Gottes Gebot befolgt sein will. Eine heilige muntere Hurtigkeit sollte im Dienste Gottes noch viel mehr von uns geübt werden. Sie wird in uns gewirkt durch den Geist des HERRN, und die vorhergehenden Verse sagen uns, wie es dazu kommt. Wir werden dazu gebracht, unsere Irrwege zu erkennen und zu bereuen, wir finden uns getrieben, auf den rechten Weg zurückzukehren, und dann erfasst uns der Eifer, die verlorene Zeit möglichst wieder einzuholen, indem wir mit höchster Beschleunigung voraneilen in treuer Erfüllung der Gebote.
  So bedauerliche Fehltritte und Irrwege ein Mensch auch machen mag, ist er aufrichtigen Herzens, so wird doch in ihm wahre Lebenskraft genug bleiben, um ihn mit feurigem Eifer zum Gehorsam aus Liebe zu Gott zu erfüllen, wenn sein Herz durch Gottes Gnadenheimsuchungen wieder erquickt und gestärkt wird. Der Psalmist hatte Gottes Huld erfleht, und als die Gnade ihn erreichte, ward er voll Inbrunst und Eifer, in Gottes Wegen zu wandeln. Er hatte diese immer lieb gehabt, daher entfaltete er nun, da die Gnade in ihn einströmte, solch lebhaften, freudigen Gehorsam. Zweifach beschleunigte er seine Schritte; denn erstens eilte er, und zweitens widerstand er jeder Versuchung, sich durch dies oder jenes aufhalten zu lassen: er säumte sich nicht. Auf diese Weise machte er rasche Fortschritte und konnte viel ausrichten in seines Herren Dienst, und also erfüllte er das Gelübde, das er im V. 57. ausgesprochen: Ich habe gesagt, dass ich deine Worte halten will. Die Befehle, denen nachzukommen er es so eilig hatte, waren aber, merken wir es uns wohl, nicht Verordnungen der Menschen, sondern Gebote des Allerhöchsten. Viele beeifern sich, den Vorschriften der Sitte, dem Gebot der Mode, den Ansprüchen der Gesellschaft zu entsprechen, sind aber im Dienste Gottes träge und saumselig. Ist es nicht eine himmelschreiende Schande, dass man im Menschendienst nicht eifrig genug sein kann, Gottes Werk aber ungetan bleibt oder aber mit schläfriger Nachlässigkeit behandelt wird?

61. Der Gottlosen Rotte beraubt mich. Vorhin hatten sie ihn verspottet (V. 51), jetzt plündern sie ihn aus. Menschen, die ohne Gott dahinleben, werden immer schlechter, so dass sie von Hohn zu Gewalttaten übergehen. Dass sie so schamlos frech wurden, kam zum guten Teil daher, dass sie sich miteinander verbunden hatten; die Menschen wagen, wenn sie zu mehreren sind, vieles, was zu unternehmen ihnen einzeln nie in den Sinn kommen würde. Wenn viele Feuerbrände zueinander geworfen werden, so ist nicht zu sagen, welch eine Feuersbrunst es geben mag. - Es scheint demnach, dass dieser eine Knecht Gottes von ganzen Banden böser Menschen angegriffen wurde; feige genug waren sie dazu! Und weil sie ihn leider nicht töten konnten, so beraubten sie ihn wenigstens. Des Satans Hunde ängstigen und quälen die Heiligen, wenn sie sie nicht zerreißen können. Die Feinde Davids taten ihr Äußerstes: erst zischten die Nattern, dann stachen sie. Weil sie mit ihren Worten des Hohnes ihn nicht unterkriegen konnten, so schlugen sie drein. Wie oft haben doch im Laufe der Zeiten die Gottlosen die Frommen ausgeplündert, und wie oft haben die Gerechten den Raub ihrer Güter mit Freuden erduldet!
  Aber ich vergesse deines Gesetzes nicht. Recht so! Weder das Gefühl erlittenen Unrechts, noch der Kummer über seine Verluste, noch auch seine Versuche, sich zu verteidigen, vermochten ihn von Gottes Wegen abzubringen. Er tat nicht Unrecht, um Unrecht abzuwenden, nicht Böses, um Böses zu vergelten. Er trug Gottes Gesetz im Herzen, darum konnte keine noch so starke Gemütsbewegung ihn von der Befolgung desselben abwendig machen. Er hätte sich wohl vergessen, sich zur Leidenschaft hinreißen lassen können, wenn er des Gesetzes vergessen hätte; so aber war er bereit, zu vergeben und das erlittene Unrecht zu vergessen, denn sein Herz war ganz vom Worte Gottes hingenommen. Seinen köstlichsten Schatz hatte die Rotte der Gottlosen ihm doch nicht rauben können; seine Gottseligkeit und seinen Frieden mussten sie ihm lassen.
  Der Sinn des Grundtextes ist übrigens wohl etwas anders: Die Stricke1 der Gottlosen umgeben mich. Das Bild ist vom Jäger entnommen, der das Wild mit seinem Netz umgarnt, dass kein Entrinnen möglich ist. Man vergleiche das ähnliche Bild Ps. 18,6. Aber ob sie ihn auch mit Verlockungen und Drohungen zu fangen suchten, ihn von allen Seiten einengten und ihm jeden Ausweg verschlossen, der Gottesmann blieb dennoch innerlich frei, sein reines Gewissen durfte sich der Verheißungen getrösten, und wacker blieb er bei seinem Entschlusse, an den Geboten seines Gottes festzuhalten. Alle ihre Stricke konnten Gott nicht von ihm und ihn nicht von Gott fernhalten. Das ist echte Gottseligkeit, die die Probe besteht. Manch einer ist wohl fromm in guten Tagen und wenn er in einem frommen Kreis lebt; dieser Mann war und blieb ein Heiliger, auch als er von den Gottlosen und ihren Ränken umringt war.

62. Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken für die Rechte deiner Gerechtigkeit (oder: für deine gerechten Rechtssprüche). Nicht Furcht vor der räuberischen Rotte weckte ihn aus dem Schlummer; nicht um sein Haus zu bewachen, erhob er sich von seinem Lager, sondern um seinen Gott zu loben. Die Mitternacht ist ja die Stunde für Diebe und Einbrecher, und Banden von Räubern waren in der Tat um den Psalmisten her; aber nicht mit ihnen beschäftigten sich seine Gedanken, diese waren vielmehr weit weg und hoch über dem allem, bei seinem Herrn und Gott. Nicht die Sorge um das, was jene ihm stehlen könnten, sondern der Gedanke an das, was er seinem Gott geben sollte und wollte, erfüllte sein Herz. Ist die Dankbarkeit nicht ein köstlich Ding, da sie sogar die Furcht aus dem Herzen treibt und für das Lobpreisen Raum schafft? Danksagung verwandelt die Nacht in Tag und heiligt alle Stunden der Anbetung Gottes. Dem wahrhaft Geweihten läuten die Betglocken allezeit.
  Der Psalmist achtete dabei auch auf die äußere Haltung. Er blieb nicht im Bette liegen, da er sein Dankgebet vor Gott bringen wollte. Welche Stellung der Körper beim Beten einnimmt, daran liegt ja an sich nicht viel, aber immerhin ist es nicht bedeutungslos, und du tust darum wohl, auch auf dies Äußerliche zu achten, soweit es deine Andacht unterstützt und es der geziemende Ausdruck deines Eifers und deiner Demut ist. Viele knien, ohne zu beten, andere beten, ohne zu knien; das Beste bleibt doch: knien und beten. So auch hier: es wäre kein Verdienst dabei gewesen, aufzustehen, ohne zu danken, und es wäre keine Sünde gewesen, wenn der Psalmist Gott gedankt hätte, ohne dabei sein Lager zu verlassen; aber aufstehen und danken, das war eine glückliche Verbindung. Und die Zeit, die er wählte, war ausnehmend geeignet, war sie doch so ruhig und einsam, und zugleich bewies sie, wie ernst er es nahm, welcher Eifer, Gott zu loben, sein Herz erfüllte. Um Mitternacht war er ungesehen und ungestört, und diese Stunde gehörte ihm ganz, denn er brach die Zeit an seinem Schlafe ab; so konnte ihm niemand den Vorwurf machen, dass er um seiner privaten Andachtsübungen willen seine öffentlichen Pflichten versäume. Zu Mitternacht endet der alte Tag und beginnt ein neuer; somit war es sehr geziemend, diese ernsten Augenblicke dem Verkehr mit dem HERRN zu weihen. Um die Wende der Nacht wandte er sich zu seinem Gott. Er hatte für so viele Gnadenerweisungen zu danken, die der HERR ihm verliehen. Auch lag ihm ohne Zweifel das Bekenntnis des 57. Verses in dem Sinn: "Der HERR ist mein Teil", und wenn etwas einen Menschen mitten in der Nacht zum Singen bringen kann, dann ist es gewiss dieses selige Bewusstsein.
  An der Gerechtigkeit der Rechtsordnungen des Königs aller Könige erfreute sich das Herz dieses gottseligen Mannes. Manchem ist schon der bloße Gedanke an Gottes Gerechtigkeit verhasst; solche Gesinnung ist so weit entfernt wie ein Pol vom andern von der Denkungsart des Psalmdichters, der die Gerechtigkeit Gottes bewunderte und anbetete und bei dem Gedanken an die Rechtssprüche des Richters aller Welt von Dank und Freude erfasst wurde. Man könnte unter den "Rechten" auch die Gerichte Gottes verstehen. Siehe V. 52. Auch diese sind dem Freunde Gottes ein Gegenstand der dankenden Anbetung. Ohne Zweifel denkt der Psalmist aber, nach dem ganzen Zusammenhang des Psalms, vor allem an die geschriebenen Rechte Gottes, die auf die mancherlei Seiten unseres sittlichen Verhaltens Bezug haben. In der Tat können sämtliche Gebote Gottes in diesem Lichte betrachtet werden; sie alle sind Entscheidungen des obersten Schiedsrichters über Recht und Unrecht. Der Psalmist war von diesen begeistert. Mit Paulus konnte er sagen: Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. (Röm. 7,22) Und weil er am Tage nicht genügend Zeit finden konnte, um sich nach Herzenslust in die Worte göttlicher Weisheit zu vertiefen und Gott dafür gebührend zu preisen, so opferte er einen Teil seines Schlafes, um seiner Dankbarkeit für solch ein Gesetz und einen solchen Gesetzgeber Ausdruck zu verleihen.
  Dieser Vers stellt gegenüber dem 52. einen Fortschritt dar und enthält überdies den Hauptgedanken von V. 55. Wiewohl unser Dichter sich in der gleichen Tonleiter bewegt, ist seine Musik doch von unendlicher Mannigfaltigkeit. Zahllos sind die Gebilde, die man aus nur wenigen Haupt- und Lebens-Wahrheiten zusammenstellen kann.

63. Ich halte mich zu denen, die dich fürchten. Seine Nächte verbrachte dieser heilige Mann mit seinem Gott, und seine Tage mit Gottes Volk. Menschen, die selber Gott fürchten, lieben auch die andern, die Gott fürchten, und sind nicht wählerisch in ihrer Gesellschaft, sofern die Gefährten nur wirklich Gottesfürchtige sind. David war ein König, doch war er ein Genosse aller derer (wie hier wörtlich steht), die den HERRN fürchteten, mochten sie gering oder vornehm, arm oder reich sein. Er bewies es im täglichen Leben, dass er an die Gemeinschaft der Heiligen glaubte. Und wie er um der Gemeinsamkeit der Herzensgesinnung willen die äußeren Unterschiede von Stand und Bildung nicht zu trennenden Schranken werden ließ, so erwählte er auch nicht nur etliche hervorragende Heilige zu seinen Gefährten, die nicht so weit fortgeschrittenen Gläubigen gewöhnlichen Schlages links liegen lassend. Nein, er freute sich, auch mit denen Gemeinschaft pflegen zu dürfen, die erst den Anfang der Weisheit in Gestalt der Furcht des HERRN erfasst hatten; er setzte sich gerne mit ihnen auf die untersten Bänke in der Schule des Glaubens. Sein Blick war auf die innere Stellung der Menschenkinder, auf die Gottesfurcht gerichtet; aber allerdings erwartete er dann auch bei denen, die er zu seinem Verkehr zuließ, als Frucht dieser verborgenen Richtung des Herzens Frömmigkeit des Wandels zu sehen; darum fügt er hinzu: und (die) deine Befehle halten. Wenn sie des HERRN Gebote halten wollten, so wollte auch der Knecht des HERRN mit ihnen Gemeinschaft halten. Der Psalmist war dafür bekannt, dass er es allezeit mit den wahrhaft Frommen hielt, er war ein Puritaner von echtem Schrot und Korn; die losen Leute hassten ihn darum, und die Freigeister verachteten ihn ohne Zweifel, weil er solche so gar nicht standesgemäße Gesellschaft pflegte mit ganz geringen Männern und Frauen, mit solch unmodischen, strenggläubigen Leuten. Aber der Mann Gottes war weit davon entfernt, sich seiner Genossen zu schämen; im Gegenteil, er macht sich einen Ruhm daraus, seine innige Verbindung mit ihnen öffentlich zu bekennen, mögen die Feinde darüber sagen was sie wollen. Er fand beides, Freude und Nutzen, Vergnügen und Segen, in heiligem Umgang; er wurde selber besser, indem er sich zu den Guten gesellte, und fand sich geehrt durch solch ehrenvolle Gesellschaft. Wie denkst du darüber, mein Leser? Hast du Freude an der Gemeinschaft der Heiligen? Fühlst du dich zu Hause unter den Gottesfürchtigen? Wenn ja, dann magst du aus dieser Tatsache Schlüsse sehr tröstlicher Art ziehen. Vögel vom gleichen Gefieder scharen sich zusammen, denn gleich und gleich gesellt sich gern. Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist. Leute, die Gott nicht vor Augen haben, suchen selten die Gesellschaft der Frommen; sie ist ihnen zu langweilig und zu streng. Trösten wir uns dessen, dass wir, wenn der Tod uns von hinnen scheiden lässt, zu der Gesellschaft gehen werden, zu der wir gehören, und dass diejenigen, die auf Erden Gottes Heilige lieb gehabt haben, auch im Himmel ihnen werden zugezählt werden.
  In dem siebenten Vers der I-Gruppe (V. 79) findet sich eine Parallele zu dem vorliegenden. Aber im Ganzen werden die Ähnlichkeiten, die in den früheren Versen manchmal so auffällig waren, nun allmählich unmerklicher. Vielleicht darf man sagen, dass je mehr sich der Gedankeninhalt vertieft, desto weniger auf die künstliche äußere Form Gewicht gelegt wird.

64. HERR, die Erde ist voll deiner Güte. David hatte oft in die Verbannung gehen müssen, aber aus dem Reich der Gnade hatte man ihn nicht treiben können, denn er fand die Welt überall von der Güte und Gnade Gottes erfüllt. In Wüsten hatte er umherwandern und sich in Höhlen und Klüften verbergen müssen, aber auch dort hatte er die Freundlichkeit seines Gottes schmecken und sehen dürfen. Er hatte erkennen gelernt, dass die Liebe Jehovahs weit hinaus reichte über die Grenzen des Landes der Verheißung und das Volk des Bundes; und in diesem Vers gibt er einem weitherzigen Gottesbegriff Ausdruck, wie man ihn so selten bei dem Juden unserer Zeit findet. Wie köstlich ist doch für uns die Gewissheit, dass nicht nur Gottes Güte reicht, soweit die Wolken gehen, also über die ganze Erde hin, sondern dass eine solche Fülle der Güte über die Erde ausgegossen ist, dass sie derselben voll ist. Kein Wunder, dass der Psalmist, der ja wusste, dass der HERRN sein Teil war (V. 57), auch seinen Anteil an dieser Güte zu empfangen hoffte und so zu der Bitte ermutigt war: Lehre mich deine Rechte. Das erschien ihm als etwas vom Höchsten, was er von Gottes Gnade erfahren konnte: von Gott selbst und in Gottes eigenem Gesetz unterwiesen zu werden. Sicherlich wird der, der das Weltall mit seiner Huld erfüllt, solche Bitte seinem eigenen Kinde nicht abschlagen. Lasst auch uns dies Begehren dem Allerbarmer vorlegen, wir werden die Erhörung erfahren.
  Der erste der acht Vers dieser Gruppe war durchdrungen von seliger Gewissheit der Gemeinschaft mit dem HERRN und von fester Entschlossenheit; dieser letzte fließt über von dem Bewusstsein der Fülle des göttlichen Reichtums und der völligen Abhängigkeit des Psalmisten von Gott. Das mag uns ein Beispiel sein, dass die volle Heilsgewissheit weder den Gebetsgeist dämpft noch die Demut beeinträchtigt. Ja wir würden nicht Unrecht haben, wenn wir geradezu sagten, dass sie zur Demut führe und zum Gebet antreibe. "Du bist mein Teil, o HERR", darauf folgt ganz richtig: "Lehre mich deine Befehle"; denn der Erbe eines großen Besitzes muss doch gründlich unterwiesen und wohl erzogen werden, damit sein Auftreten seinem Stande entspreche. Was für Jünger sollten wir doch eigentlich sein, deren Erbteil der HERR der Heerscharen ist! Wer Gott zu seinem Teil hat, der verlangt auch danach, ihn zum Lehrer zu haben. Zudem sind diejenigen, die entschlossen sind zu gehorchen, auch am eifrigsten, sich unterweisen zu lassen. "Ich habe gesagt, dass ich deine Worte halten will", dies Wort findet eine schöne Fortsetzung in der Bitte: "Lehre mich deine Rechte". Wer ein Gesetz zu erfüllen bestrebt ist, der ist auch darauf bedacht, alle seine Einzelbestimmungen und die besondere Fälle berücksichtigenden Entscheidungen und Verordnungen kennen zu lernen, damit er nicht etwa aus Unkenntnis fehle. Wem es nicht ein ernstes Anliegen ist, vom HERRN selber gelehrt zu werden, der hat auch nie den aufrichtigen Entschluss gefasst, heilig zu leben.


V. 57-64. Das achtfache x (Ch): Gottes Wort zu verstehen und zu halten, das ist sein Teil, der Gegenstand seines unablässigen Bittens und Dankens, die höchste Gnade, die ihm widerfahren kann.

57. HErr! Mein Teil bist du,
Ich gedenke zu beobachten deine Worte.
58. Herzinniglich fleh ich dich an:
Sei mir hold nach deiner Zusage.
59. Hin und her bedenkend meine Wege
Kehrt’ ich meine Füße zu deinen Zeugnissen.
60. Hastig und ohne Zaudern schicke ich mich an,
Zu beobachten deine Gebote.
61. Herum sind um mich Frevlerstricke -
Dein Gesetz vergess’ ich nicht.
62. Halbnachts stehe ich auf, zu danken dir
Ob der Rechte deiner Gerechtigkeit.
63. Hinzu zu allen, die dich fürchten, gesell’ ich mich,
Und zu denen, die deine Ordnungen beobachten.
64. HErr, deiner Gnade ist voll die Erde,
Deine Satzungen lehre mich!
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.

  Wir mögen diesen Versen acht Kennzeichen des wirklich bekehrten Menschen entnehmen: 1) Er hat Gott zu seinem Teil erwählt (V. 57a). 2) Er ist entschlossen, seinen Glauben durch Gehorsam zu betätigen (V. 57b). 3) Wenn er Gott betrübt hat, ruht er nicht, bis er wieder mit ihm versöhnt ist (V. 58). 4) Er prüft sich ernstlich selbst und legt ab, was ihn vom HERRN fern hält (V. 59.60). 5) Er erträgt freudig Verfolgung um seines Glaubens willen (V. 61). 6) Statt in Trübsal zu klagen, preist er Gott (V. 62). 7) Er sucht die Gemeinschaft der Frommen (V. 63). 8) Er bleibt nicht stehen, sondern strebt nach immer weiterer Erkenntnis und Besserung (V. 64b). David Dickson † 1662.


V. 57. Aus dem unterschiedlichen Verbinden und Trennen der Wörter sind vier Übersetzungen entstanden. 1) Nach der (berichtigten) Akzentuation (siehe d. Ausgabe von Bär) gehört hwhy yqlx zusammen; ytrm) wird dann (trotz Rebia) zum Folgenden zu ziehen sein. Also: Mein Teil ist der HERR; ich habe gesagt (d. h. mir vorgenommen, vergl. 1. Kön. 5,19), deine Worte zu halten. 2) Da aber auch ytrm) einen Trenner hat, teilen andere, z. B. Stier, so: Mein Teil ist der HERR, habe ich gesagt; dass ich deine Worte halte. - LXX und Vulg. dagegen nehmen HERR als Vokativ: 3) Die LXX übersetzen: Mein Teil bist du, o HERR; ich habe gesagt, deine Worte zu halten. Allerdings ist die Anrede im Psalm üblich; aber das Du ist eingetragen. 4) Die Vulg. (und danach Luther): Mein Teil, o HERR, ist, habe ich gesagt, zu halten deine Worte. Diese der Masora widersprechende Auffassung wird z. B. von Kautzsch und Bäthgen beibehalten, und man kann nicht leugnen, dass es der Richtung des Psalms, bei aller Wärme der Liebe zum HERRN, entspricht, das, was in andern Psalmen vom HERRN selbst ausgesagt wird (Ps. 16,5; 73,26), auf das Gesetz zu übertragen. - James Millard
  Der HERR ist mein Teil. Luther gibt jedem Christen den Rat, alle Versuchungen und Verführungen mit dem kurzen Worte zurückzuweisen: Christianus sum ich bin ein Christ; und ich möchte jedem Christen anempfehlen, allen Versuchungen mit dem kurzen Worte zu begegnen: Der HERR ist mein Teil. O mein Christ, wenn Satan oder Welt dich mit weltlichen Ehren versuchen, sprich: Der HERR ist mein Teil; wenn sie dich mit Reichtum verlocken wollen, so sprich: Der HERR ist mein Teil; wenn sie dich mit Auszeichnungen und Gunst der Großen verführen wollen, so sprich: Der HERR ist mein Teil. Und wenn diese verfolgungssüchtige Welt dich bedroht mit dem Verluste von Hab und Gut, so sprich: Der HERR ist mein Teil; wenn sie dich bedroht mit dem Verluste deiner Freunde, so sprich: Der HERR ist mein Teil; und wenn sie dich bedroht mit dem Verluste deines Lebens, so sprich: Der HERR ist mein Teil. O Mensch, wenn der Satan zu dir träte mit einem Apfel, wie einst zu Eva, oder mit der Frucht des Weinstockes, wie zu Noah, oder mit köstlichen Gewändern, wie zu Gehasi, oder mit einer Stange Goldes, wie zu Achan, oder mit dreißig Silberlingen, wie zu Judas, so sprich: Der HERR ist mein Teil. Thomas Brooks † 1680.
  Das muss ein ganz besonders anspruchsvoller, wählerischer Geselle sein, dem Gott nicht genügt, und es muss ein ganz besonderer Narr sein, dem die Welt genügt. Thomas Le Blanc † 1669.
  Ich habe gesagt, dass ich deine Worte halten will. Dies führt er an als Beweis für das, was er vorher gesagt hat. Viele werden ja mit David sprechen: Der HERR ist mein Teil, aber worauf es hier ankommt ist: Wie beweisen sie dies? Wenn Gott wirklich ihr Teil wäre, würden sie ihn lieben, und wenn sie ihn liebten, so würden sie sein Wort lieben und es zur Richtschnur ihres Lebens machen. William Cowper † 1619.


V. 58. Ich flehe vor deinem Angesicht von ganzem Herzen. Beten ist eine Sache des Herzens. (Est pectus quod facit disertum, das Herz macht bereit, auch zum Beten.) Gott höret und erhöret das Herz, ohne dass der Mund dabei ist, aber nicht den Mund, ohne dass das Herz dabei ist. Walter Marshall † 1690.
  Nach deinem Wort. Das Wort Gottes ist ein dreifaches, das Wort des Gebotes, das Wort der Drohung und Strafe und das Wort der Verheißung. Und wenn schon ein Christ natürlich jene beiden erstgenannten nicht verachten darf, so wird er sich doch an das letztere, das Wort der Verheißung, halten, sobald er sich im Worte göttlichen Trost und Erquickung sucht, denn die Verheißungen sind des Christen großer Freibrief für den Himmel. Jegliche Tröstung und Stärkung und Erquickung muss sich auf Verheißungen der Schrift stützen, sonst ist es nur unberechtigte Einbildung. Die Verheißungen sind pabulum fidei, anima fidei, Nahrung des Glaubens und Seele des Glaubens. Und wie der Glaube das Leben des Christen, so sind die Verheißungen das Leben des Glaubens, und der Glaube ist tot, den keine Verheißungen beleben. Wie die Verheißungen unnütz sind, wenn der Glaube fehlt, um sie sich anzueignen, so ist auch der Glaube unnütz, wenn die Verheißung fehlt, an die er sich halten kann. Edmund Calamy † 1666.


V. 59. Ich betrachtete meine Wege und kehrte meine Füße zu deinen Zeugnissen. Wie fein und doch so erhaben ist hier der Übergang von der Ursache, der Betrachtung, zur Wirkung, der Umkehr. Ich betrachtete meine Wege; aber weiter sagt uns der Psalmist nichts. Er spricht nicht davon, dass er nach Prüfung seiner Wege die Torheit und Gefährlichkeit der Sünde, die Niedrigkeit ihrer Vergnügungen, das Gift ihrer Freuden eingesehen, dass er nach Erforschung von Gottes Gesetz erkannt habe, dass dasselbe, das ihm vorher nur als streng, starr und Schrecken erregend erschienen war, doch nur eitel Liebe und Güte sei. Nichts von alledem. Es heißt ganz unvermittelt weiter: Und kehrte meine Füße zu deinen Zeugnissen. Eine kraftvollere und edlere Ausdrucksweise kann ich mir nicht vorstellen; denn damit deutet er aufs nachdrücklichste an, dass es ganz überflüssig sei, ein Wort über den Eindruck zu verlieren, den er bei Betrachtung seiner Wege von denselben erhalten. William Dunlop † 1720.
  Betrachtete. Das hier im Grundtexte gebrauchte Zeitwort hat (namentlich in dem Piel, welches hier steht) die Bedeutung: eingehend, planmäßig, ernstlich, eindringlich, wissbegierig über etwas nachsinnen. Das tat der Gottesmann in Bezug auf sein ganzes Tun und Handeln. Aber dann fing er ein neues Blatt seiner Lebensgeschichte an und richtete seinen Wandel genauer als bisher nach den Geboten. Mein Christ, du musst ebenso wohl ausblicken nach dem, was du sein sollst, als zurückblicken auf das, was du bist. Thomas Brooks † 1680.
  Ich betrachte meine Wege. Übe du nur recht eifrig dieses Werk ernstlicher Selbstprüfung. Wenn du täglich Rechenschaft von dir selbst fordertest, dann würden die Wirkungen der göttlichen Gnade bei dir immer mehr zur Geltung kommen können. Der berühmte heidnische Philosoph Seneka, der Lehrer des Kaisers Nero, fragte seinen Schüler Sextius: Welches Übel hast du heute gebessert? Welcher Sünde hast du Widerstand geleistet? Und wir haben das Beispiel des HERRN selber, der jeden Tag ansah, was er gemacht hatte (1. Mose 1). Und in Israel sollte der Mensch, der sich verunreinigt hatte, seine Kleider in der Abendstunde waschen (3. Mose 15; 4. Mose 19). Thomas Manton † 1677.
  Und kehre meine Füße zu deinen Zeugnissen. Philipp Henry macht zu dieser Stelle die Bemerkung, dass der große Umschwung in unserem Herzen und Leben in der Abkehr von allen anderen Dingen hinweg und hin zum Worte Gottes bestehe. Die Bekehrung führt uns zu Gottes Wort, das ist der Prüfstein, an dem wir uns selber, unseren Zustand, unsere Wege, unsere Neigungen, unsere Anschauungen, unsere Gewohnheiten in ihrem Werte erkennen; es ist gleichsam der Spiegel, vor dem wir uns beschauen, wie es bei Jak. 1,23 heißt, es ist unsere Regel, nach der wir einhergehen sollen (Gal. 6,16), das Feuer, das unsere Herzen brennen macht (Lk. 24,32), die Speise, an der wir uns nähren (Jer. 15,16), das Schwert, mit dem wir kämpfen (Eph. 6), unser Berater in allen Zweifeln (Ps. 119,24), der Becher voll stärkenden Weines, unser reiches, köstliches Erbteil. C. H. Spurgeon 1890.


V. 60. Ich eile und säume mich nicht, zu halten deine Gebote. Es gibt mehr als ein Sprichwort, das die Mahnung enthält, zweimal zu überlegen, ehe man einmal handelt. Aber auf religiösem Gebiete gilt das nicht. Unser Vers steht in engem Anschluss an den vorhergehenden: Ich betrachte meine Wege und kehre meine Füße zu deinen Zeugnissen. Dann sagt er: Ich warte nicht, um mir die Sache noch einmal zu überlegen. Es kann in Sachen der Religion zu einer geradezu ins ewige Verderben stürzenden Gewohnheit werden, sich Zeit zur Überlegung zu nehmen. Darum eile und säume dich nicht. Henry Melvill † 1871.
  Hüte dich vor dem Säumen und Hinausschieben von einem Tage zum andern; vor der Ausrede: Das hat auch ein andermal Zeit; erst will ich die Erde recht genießen, dann kann ich noch immer früh genug für den Himmel sorgen. Wenn ich das nur in meinem letzten Lebensjahre, im letzten Monat des letzten Jahres, in der letzten Woche des letzten Monats besorge, so genügt es. O hüte dich vor solchem Säumen. Dieses Hinausschieben der Buße hat schon Tausende von Seelen ins Verderben gestürzt; fliehe mit Angst und Zittern diesen Abgrund, in den schon so viele gestürzt, diese Klippe, an der schon so viele Schiffbruch gelitten haben. James Nalton 1664.
  Die Septuaginta gibt diese Stelle so wieder: h(toima/sqhn kai/ ou)k e)tara/cqhn, Ich war bereit und ließ mich nicht abschrecken, schreckte nicht zurück. Und in der Tat ist neben unserer natürlichen Unentschlossenheit dies ein häufiger Grund der Verzögerung: wir lassen uns von allerlei Befürchtungen abwendig machen; und wenn Gott uns seinen Willen kundgetan hat, dann meinen wir, zuwarten zu müssen, bis ruhigere oder für solches Unternehmen günstigere Zeiten eingetreten sind, oder bis unsere Geschäfte sich in geeigneterem Stande befinden. David säumte sich nicht. Wenn wir nicht geradezu nein sagen wollen, dann säumen, dann zaudern wir. Es ist nicht an der Zeit, ich habe jetzt keine Zeit, wendet der Sünder ein. Ich mag nicht, so heißt es in Wirklichkeit. Die zum Hochzeitsmahle Geladenen beschönigten ihre Absage mit allerlei Ausreden (Mt. 22). Zaudern ist so gut wie Neinsagen, denn wenn man willig wäre, brauchte man keine Entschuldigungen. Um lästig drängende Gläubiger loszuwerden, versprechen wir ihnen Zahlung zu einem späteren Zeitpunkte, obwohl wir genau wissen, dass dann unsere Verhältnisse nur noch aussichtsloser sein werden; es geschieht auch nur, um Aufschub zu gewinnen. Ebenso ist auch dieses Zögern und den HERRN Hinhalten nur eine nichtige Ausflucht. Das ist eben der Jammer: einem fleischlichen Herzen kommt Gott stets ungelegen. Teufel waren es, die da sprachen: Bist du hergekommen, uns zu quälen, ehe denn es Zeit ist? (Mt. 8,29) Das Gute ist einem fleischlichen Herzen eine Qual und kommt ihm stets ungelegen. Aber sicherlich ist es stets die beste, geeignetste Zeit, wenn das Wort sich deinem Herzen aufdrängt mit unwiderstehlicher Überzeugungskraft und Klarheit, wenn Gott kommt, mit dir zu handeln um das, was zu deinem ewigen Frieden dienen soll. Thomas Manton † 1677.
  Säumen. Das gleiche hebräische Wort wird von Lots Zögern, 1. Mose 19,16, gebraucht. William Kay 1871.


V. 61. Der Gottlosen Rotte. Um sich in ihrem bösen Tun gegenseitig zu bestärken, schließen sich die Gottlosen zusammen zu Banden und Rotten, aber das soll ihnen keinen Nutzen, uns keinen Schaden bringen. Die Menschen, die den Turm von Babel erbauten, die Moabiter, Ammoniter, Ägypter, die sich wider das Volk Gottes verschworen, sie sind nur ein Beweis dafür, dass es den Bösen nichts hilft, wenn sich auch alle Hände zusammen täten (Spr. 11,21); sie werden der Strafe nicht entgehen. Die Gottlosen sind wie ein Reisighaufen dem Feuer gegenüber; so dicht er auch aufgetürmt ist, es kann höchstens den Brand verstärken, nie aber ihn eindämmen oder ersticken. William Cowper † 1619.
  Der Gottlosen Rotte beraubt mich. Darauf sprach Christ, der Zionspilger, zu seinem Gefährten: Da kommt mir in den Sinn, was mir von einer Begebenheit erzählt wurde, die sich mit einem Manne hierherum zutrug. Der Name dieses Mannes war Kleinglaube, doch war er ein guter Mann, und er wohnte in der Stadt Aufrichtig. Die Sache war folgende: Beim Eingang dieser Gasse mündet ein Gässchen, das von dem Breitewegtore herkommt und das Totemannsgässchen heißt, wegen der Mordtaten, die dort ständig begangen werden. Als nun dieser Kleinglaube, so wie wir jetzt, als Pilger dahinzog, setzte er sich zufällig dort nieder und schlief ein. Nun traf es sich zu jener Zeit, dass durch das Totemannsgässchen drei handfeste Schelme daherkamen, die hießen Schwachherz, Misstrauen und Schuld, drei Brüder; als diese Kleinglaube erblickten, kamen sie eilig herbeigelaufen. Eben war der gute Mann von seinem Schlafe erwacht und erhob sich gerade, um seine Wanderschaft fortzusetzen. Da kamen sie alle auf ihn los und hießen ihn mit drohenden Worten stehen bleiben. Da wurde Kleinglaube kreidebleich und hatte weder Kraft, sich zu wehren, noch zu fliehen. Dann sprach Schwachherz: Gib deinen Beutel her! Da er aber das nicht gleich tat, denn er wollte nicht gern sein Geld verlieren, sprang Misstrauen auf ihn zu, fuhr mit der Hand in seine Tasche und zog einen Beutel mit Geld hervor. Da schrie er: Diebe, Diebe. Auf dieses hin versetzte Schuld mit einer großen Keule, die er in der Hand hatte, dem Kleinglaube einen Schlag über den Kopf, so dass er zu Boden stürzte und blutüberströmt dalag, wie einer, der am Verbluten ist. Aber die Stelle, wo er seine Kleinodien verborgen hatte, durchsuchten sie nicht. So behielt er diese; aber wie ich hörte, war der Brave doch sehr niedergeschlagen über seinen Verlust, denn die Räuber hatten den größten Teil seines Reisegeldes erwischt. Was sie aber nicht bekommen hatten, das waren, wie gesagt, seine Kleinodien; auch war ihm noch ein wenig Kleingeld geblieben, aber kaum genug, um bis ans Ende seiner Reise auszureichen. Ja, wenn ich recht berichtet bin, war er sogar genötigt, auf der weiteren Reise zu betteln, um sein Leben zu fristen, denn seine Kleinodien wollte er nicht verkaufen. Aber trotzdem, und trotz allem, was er sonst tat, um sich durchzuhelfen, musste er den Rest des Weges oft mit leerem Magen zurücklegen. - Pilgerreise von John Bunyan † 1688.


V. 62. Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken. Diese Übung kann ja nicht zu einem Gebote gemacht werden, aber man wird doch darinnen manches sehr Beachtenswerte finden können.
1) Das Feuer von Davids Andacht, sein ernstliches Verlangen, Gott zu danken, so dass er zu Mitternacht aufsteht, da die meisten Menschen schlafen. Was anderen Leuten den Schlaf raubt, sind irdische Sorgen, erlittene Kränkungen, ein böses Gewissen; den Psalmisten lässt sein Bedürfnis, Gott zu loben, nicht schlafen. Und dazu, zum Loben und Danken, gibt es keine unpassende Stunde. Unser Herr Jesus Christus verbrachte ganze Nächte im Gebete (Lk. 6,12) und es wird uns als Zustand der höchsten Vollendung und Seligkeit geschildert, dass die ungezählte Schar in weißen Kleidern vor dem Stuhle Gottes ihm diene Tag und Nacht (Off. 7,15).
2) Davids Aufrichtigkeit, die sich in dem Verborgensein zeigt. Er bekennt sich zu seinem HERRN, da er keine Zeugen hat, um Mitternacht, zu einer Stunde, da von einem Zur-Schau-Tragen nicht die Rede sein konnte, ganz entsprechend der Mahnung des Heilandes vom Gebet im Kämmerlein und seiner eigenen Übung; wie z. B. in Mk. 1,35 berichtet ist.
3) Davids sorgfältiges Auskaufen der Zeit. Diese war ihm sehr kostbar; wir hören auch an vielen anderen Stellen, wie er die Nachtstunden zur Einkehr und Selbstprüfung benutzt, wie er in der Frühe zum HERRN ruft, und siebenmal des Tages ihn lobt. Wir dürfen doch nicht mit unserer Frömmigkeit so geizen und mit ängstlicher Genauigkeit nur gerade soviel anwenden, als wir eben zum Seligwerden nötig zu haben glauben. Ach, wieviel Zeit haben wir im Grunde doch jeden Tag übrig; wenn wir doch diese dem HERRN schenken wollten!
4) Davids Beispiel lehrt uns auch die Übungen der Gottseligkeit höher schätzen als unser leibliches Behagen. Das Wort Gottes ist ihm süßer als alle Speise, das Loben und Danken wichtiger als seine Nachtruhe. Müssen wir uns in unserer Sinnlichkeit da nicht beschämt fühlen? 5) Trotz des Alleinseins die große Ehrfurcht und Ehrerbietung. David erhob nicht nur seine Seele in frommer Andacht, er stand aus seinem Bette auf, um seine Knie zu beugen. Auch bei dem allerverborgensten Gebete versäume nicht, die äußeren Formen der Andacht zu wahren. Thomas Manton † 1677.
  Gewiss hatte er den HERRN gepriesen in den Vorhöfen seines Hauses, und doch tut er es jetzt noch in der Stille seines Kämmerleins. Das Kirchengehen entbindet uns nicht von der Pflicht des Gebetes im Verborgenen. Matthew Henry † 1714.


V. 63. Ich halte mich zu denen, die dich fürchten. Gleichgesinnte finden sich schnell zusammen. Knechte eines Herrn werden, wenn sie treue Knechte sind, zusammenhalten und nicht mit den Knechten seines Feindes gemeinsame Sache machen. Wenn einer eine weite oder gefahrvolle Reise vorhat, so erkundigt er sich nach Reisegefährten, die dasselbe Ziel haben wie er. Um andere Reisende kümmert er sich nicht; aber jenen schließt er sich an und ist froh über ihre Gesellschaft. Wir Menschen sind alle Reisende, aber mit verschiedenen Wegen, mit verschiedenen Bestimmungsorten. So richtet sich die Wahl der Reisegefährten nach dem gemeinschaftlichen Wege und Ziele. Entweder handelt es sich um den breiten Weg des Fleisches oder um den schmalen Weg des Geistes, hinauf zum Himmel oder hinab zur Hölle. Ein Gottloser wird nicht die Gesellschaft derer suchen, die einen anderen Weg gehen, ein Frommer wird keinen Gefallen an der Gemeinschaft jener finden, die in entgegengesetzter Richtung wandern. Mögen auch zwei miteinander wandeln, sie seien denn eins untereinander (Amos 3,3)? George Swinnock † 1673.
  Wie schön und gut wäre es doch, wenn die Großen und Mächtigen dieser Erde auch so denken, sprechen und tun wollten: Ich halte mich zu allen, die dich fürchten. Aber die Eigenliebe herrscht bei den meisten Menschen, wir lieben die Reichen und verachten die Armen und halten also dafür, dass der Glaube an Jesum Christum, unseren Herrn der Herrlichkeit, Ansehen der Person leide (Jak. 2,1). Demgegenüber ist die Allgemeinheit des Ausspruches bemerkenswert. Vergl. Eph. 1,15: Nachdem ich gehört habe von eurer Liebe zu allen Heiligen - zu den Geringen so gut wie zu den Vornehmsten, zu den Schwachen wie zu den Starken. "Er schämt sich nicht, sie Brüder zu heißen" (Hebr. 2,11). Thomas Manton † 1677.


V. 64. HERR, die Erde ist voll deiner Güte; lehre mich deine Rechte. Es ist, als ob David hier sagen wollte: HERR, du breitest deine Güte aus über alle deine Geschöpfe; wir sehen die Tiere, die von deiner Barmherzigkeit gespeist werden, wir sehen die Bäume blühen, die Erde grünen, deine Güte ergießt sich über das Höchste und das Niedrigste, wie solltest du deinen Kindern nicht Gutes tun? Ich gehöre zur Zahl derer, die dich anrufen und die ihr Vertrauen auf dich setzen. Und da du dich doch gegen alle Geschöpfe so gütig beweisest, wirst du mich nicht im Stich lassen. Jean Calvin † 1564.
 


1. Es ist interessant, da der Doppelsinn Band = Strick, Fessel, und Bande = Verbindung von Menschen, Rotte, nicht nur unseren germanischen und romanischen Sprachen gemeinsam ist, sondern auch im Hebräischen sich findet. Doch ist die Bedeutung Genossenschaft im Hebr. nur für den Singular belegbar, und zwar mit 1. Samuel 10,5.10, wo sie im guten Sinn (von einem Prophetenhaufen, vergl. unser "Musikbande") vorkommt. Der hier im Hebr. stehende Plural wird daher Stricke zu übersehen sein. Die Übers. Luthers und der engl. Bibel "Rotte" geht auf d. Chald. und Hieronymus zurück; sie wird von Dr. Zunz festgehalten, ist aber sonst allgemein aufgegeben. - Das Zeitwort bedeutet jedenfalls umgeben hier im Sinne von festhalten.


65. Du tust Gutes deinem Knechte,
HERR, nach deinem Wort.
66. Lehre mich heilsame Sitten und Erkenntnis;
denn ich glaube deinen Geboten.
67. Ehe ich gedemütigt ward, irrte ich;
nun aber halte ich dein Wort.
68. Du bist gütig und freundlich;
lehre mich deine Rechte.
69. Die Stolzen erdichten Lügen über mich;
ich aber halte von ganzem Herzen deine Befehle.
70. Ihr Herz ist dick wie Schmer;
ich aber habe Lust an deinem Gesetze.
71. Es ist mir lieb, dass du mich gedemütigt hast,
dass ich deine Rechte lerne.
72. Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber
denn viel tausend Stück Gold und Silber.

In dieser Gruppe, deren Vers mit dem Buchstaben T beginnen, ist fünfmal als Anfangswort das Wort tob, gut, gewählt, das überhaupt dem Abschnitt sein besonderes Gepräge gibt. Es sind Erfahrungszeugnisse, die die Güte Gottes, sein gnädiges Walten und die Köstlichkeit seines Wortes rühmen. Namentlich bezeugt der Psalmist auch zweimal, wie heilsam ihm die Trübsal gewesen, und rühmt die Güte Gottes, die ihn gezüchtigt habe. Der V. 65 ist gleichsam der Text zu dem Ganzen.

65. Du hast (Grundtext) Gutes getan deinem Knechte, HERR, nach deinem Wort. Das ist die Summa seines Lebens, und wahrlich auch des unsern. Der Psalmdichter spricht vor dem HERRN dies Urteil seines Herzens aus; er kann nicht schweigen, er muss seiner Dankbarkeit in der Gegenwart Jehovahs, seines Gottes, Ausdruck verleihen. In dem 64. Vers hatte der Psalmist die Allgüte Gottes gepriesen, die sich überall auf Erden offenbart; von da ist es ein leichter, angenehmer Schritt zu dem Bekenntnis, wie diese selbe Güte auch gegen uns persönlich gewaltet. Ist es schon etwas Großes, dass Gott sich überhaupt mit solch unbedeutenden und sündigen Wesen abgibt, die auch nicht den geringsten Anspruch auf seine Beachtung haben, so ist es vollends anbetungswürdig, dass er so gnädig an uns handelt, uns so erstaunlich viel Gutes tut. Beim Rückblick müssen wir schon jetzt bekennen und werden es einst in noch volleren Tönen rühmen: Er hat alles wohlgemacht! Diese Regel kennt keine Ausnahme. In den Führungen seiner Vorsehung wie in seiner erlösenden Gnade erstrahlt seine Güte; ja, ob er uns Glück und Gedeihen oder Kreuz und Trübsal geschickt, immer hat er uns Gutes getan. Und von uns ist es wohlgetan, das auch vor dem HERRN auszusprechen, dass wir erkennen und empfinden, wie er an uns freundlich und treulich gehandelt hat; denn solch Lob ist lieblich und schön. Diese Freundlichkeiten des HERRN sind uns jedoch nicht zufällig, nicht willkürlich zuteil geworden; er hat es verheißen, also an uns zu handeln, und hat es getan nach seinem Wort. Es ist köstlich, wenn wir so in lieblichen Erfahrungen das Wort des HERRN sich an uns erfüllen sehen; das macht uns die Heilige Schrift gar teuer und erfüllt uns mit inbrünstiger Liebe zu dem, der dies einzigartige Buch uns gegeben. Wir könnten auch von zwei göttlichen Büchern reden, dem Buch der Verheißungen und dem Buch der göttlichen Führungen; das eine liegt vollendet vor uns, während unser Gott an dem andern noch immer schreibt. Aber beide stimmen genau überein; was wir wie in Stein gemeißelt auf den Seiten des geistdurchhauchten Bibelwortes lesen, das finden wir wieder auf den Blättern unserer Lebensgeschichte. Es mag wohl Zeiten gegeben haben, wo wir nicht meinten, dass es sich also herausstellen werde. Aber diesen unseren Unglauben bereuen wir jetzt, nun wir die Güte des HERRN gegen uns mit Augen sehen und erkennen, wie treulich er seinem Worte gemäß an uns gehandelt hat; und wir fühlen uns fortan verbunden, einen festeren Glauben an Gott und sein Wort zu bekunden. Ja, wir empfinden es tief: Sein Wort ist wahr, sein Werk ist klar; er hat wohl geredet und wohlgetan. Er ist der beste aller Meister; denn einem sehr ungeschickten und unnützen Knechte gegenüber hat er sich so liebreich und wohltätig erwiesen. Muss uns das seinen Dienst nicht immer lieber machen? Wir können den Satz nicht umkehren und sagen, dass wir unserem Herrn Gutes erwiesen haben; denn wenn wir alles getan hätten, was uns befohlen ist, so sind wir doch nur unnütze Knechte, die ihrem Herrn ewig dafür dankbar bleiben müssen, dass er sie seines Dienstes würdigt. Er aber hat sehr gütig an uns gehandelt, denn er gibt uns schöne, liebe Arbeit, ein köstlich Werk (1. Tim. 3,1), fürstlichen Unterhalt von seinem eigenen Tische, liebevolle Ermunterung und reichen Lohn. Es ist ein Wunder, dass er uns nicht längst fortgeschickt oder wenigstens unsere Bezüge geschmälert und ein strengeres Verfahren gegen uns eingeschlagen hat; stattdessen haben wir uns noch nie über harte Behandlung zu beklagen gehabt, sondern es ist uns bisher in allen Stücken solch zarte Rücksicht und Sorgfalt zuteil geworden, als ob wir Muster des vollkommensten Gehorsams gewesen wären. Wir haben unser täglich Brot gehabt, und wohl oft noch ein Übriges, die gehörige Kleidung ist uns auch immer geworden, und sein Dienst hat uns aus niederem Stande erhoben und uns fröhlich gemacht, als wären wir Könige. Ich wüsste nicht, worüber wir klagen sollten; nein, nur zu danken finden wir, zu danken in seliger Anbetung des Herzens, zu danken mit freudiger Hingabe aller Kräfte zu seinem Dienst.

66. Lehre mich gutes Urteil (Grundtext) und Erkenntnis. Wiederum bittet er um Belehrung wie in V. 64, und wie dort stützt sich seine Bitte auf Gottes Huld. Dass Gott ihm Gutes erwiesen hat (V. 65), das gibt ihm den Mut, um ein gutes Urteil, wörtl. "Güte des Geschmacks", um rechte Einsicht und Erkenntnis zu bitten, damit er des HERRN Güte recht würdigen könne und sich vor dem Bösen hüten. Die Wohlverständigkeit, die Fähigkeit, Gutes und Übles zu unterscheiden und das Gute herauszufühlen, es gleichsam zu schmecken, ist ein Gut, das der Gottesfürchtige dringend bedarf und sehnlich begehrt; zugleich aber auch eines, das der HERR sehr bereit ist, uns zu verleihen. Der Psalmdichter fühlte wohl, dass er oft in seinem Urteil gefehlt hatte, namentlich auch in feinem Urteil über die Führungen des HERRN in seinem Leben; aus Mangel an Einsicht hatte er die züchtigende Hand seines himmlischen Vaters oft missverstanden. Deshalb bittet er jetzt darum, besser unterwiesen zu werden, da er erkannt hat, wie Unrecht er seinem Gott oft mit seinen vorschnellen Schlüssen getan. Er will gewiss sagen: HERR, du hast mir immer Gutes erwiesen, auch wo ich dich für hart und streng hielt; o lass dir’s gefallen, mir mehr Einsicht zu geben, damit ich nicht wieder so übel von dir, meinem Herrn, denke! Die Erkenntnis unserer Irrtümer und das Bewusstsein unserer Unwissenheit sollte uns zu gelehrigen Schülern machen. Wir sind nicht fähig, richtig zu urteilen, ist unsere Erkenntnis doch in so betrübendem Maße unzuverlässig und mangelhaft. Wenn der HERR selbst uns Erkenntnis lehrt, dann kommen wir zu guter Einsicht, anders nicht. Der Heilige Geist allein kann uns mit Licht erfüllen und unser Verständnis von aller Voreingenommenheit befreien und schärfen. Darum lasst uns mit heißem Begehren nach seiner Belehrung verlangen; ist es doch so dringend zu wünschen, dass wir an Wissen und Verstand nicht mehr Kinder seien.
  Denn ich glaube deinen Geboten. Sein Herz war in der rechten Verfassung; darum durfte er hoffen, dass auch sein Kopf zurechtkommen werde. Er hatte Glauben, darum zweifelte er nicht, dass er auch Weisheit empfangen werde. Es war ihm zur festen Überzeugung geworden, dass die Gebote der Schrift Gottes Gebote und darum gerecht, weise, gütig und heilsam seien. Er glaubte an die Möglichkeit der Heiligung, und solcher Glaube ist keine geringe Gnadenwirkung in der Seele; darum schaute er nach weiteren Betätigungen der göttlichen Gnade aus. Wer den Geboten glaubt, der ist der rechte Mann dazu, sowohl die Lehren als die Verheißungen der Schrift zu verstehen. Wenn wir bei dem Rückblick auf unsere Fehlgriffe und unsere Unwissenheit doch noch das Bewusstsein haben, dass wir die Vorschriften des göttlichen Willens herzlich lieben, dann haben wir guten Grund zu der Hoffnung, dass wir Christi Jünger sind und er uns lehren und aus uns Leute von gutem Urteil und gesunder Erkenntnis machen wird. Ein Mann, der durch Erfahrung zu unterscheiden gelernt hat und also ein Mensch von gesunder, reifer Urteilskraft geworden ist, ist ein wertvolles Glied für eine Gemeinde und kann vielen andern zur wahrhaften Erbauung auf dem rechten Grunde dienen. Mögen alle, die gerne recht nützliche Leute werden möchten, sich die Bitte dieses Verses zu eigen machen: Lehre mich gutes Urteil und Erkenntnis.

67. Ehe ich gedemütigt ward (durch Leiden gebeugt war), irrte ich. Die Leiden wirken auf uns oft wie eine Dornenhecke, die die Schafe auf dem guten Weideplatz zurückhält; der Wohlstand hingegen ist wie eine Lücke im Gehege, durch die wir ausbrechen, um dann in die Irre zu gehen. Kann einer von uns sich auf eine Zeit besinnen, die ganz ohne Schwierigkeiten war, so wird er sich wahrscheinlich auch dessen erinnern, dass es damals mit dem geistlichen Leben bei ihm schwach bestellt war, dass es hingegen an starken Versuchungen nicht fehlte. Mag sein, dass manches Gotteskind ausruft: "O dass es mit mir wäre wie in jenen lichten Sommertagen, ehe die Trübsal über mich kam." (Vergl. Hiob 29,2-4 Grundtext) Aber solche Stoßseufzer sind in Wahrheit sehr unverständig und entspringen vielfach der fleischlichen Lust nach Wohlbehagen und einem bequemen, leichten Leben. Der geistliche Mensch, der das Wachsen in der Gnade über alles schätzt, wird Gott danken, dass jene gefährlichen Tage vorüber sind und das Wetter, wenn auch stürmischer, jetzt doch gesünder ist. Es ist gut, wenn der Mensch solches einsieht und ehrlich zugibt; vielleicht würde der Psalmist nie dahin gekommen sein, seine Irrwege zu erkennen und zu bekennen, wenn er nicht die Zuchtrute zu fühlen bekommen hätte. Und wir wollen ihm in dem demütigen Bekennen nachahmen, da wir ihm ohne Zweifel in den Verfehlungen und Irrwegen ähnlich geworden sind. Woher kommt es doch, dass ein wenig Wohlleben bei uns Menschenkindern so viel Unheil anrichtet? Können wir wirklich nie rasten, ohne zu rosten, nie satt werden, ohne das Maß zu verlieren, nie vorankommen in dieser Welt, ohne in Bezug auf die andere zurückzugehen? Was für schwache Geschöpfe müssen wir doch sein, dass wir nicht ein bisschen Wohlsein ertragen können! Wie niedrig gesinnte Wesen sind das doch, die den Reichtum der Güte Gottes in einen Anlass zum Sündigen verkehren!
  Nun aber halte ich dein Wort. In einem Herzen, dem die Züchtigung zum Segen gereicht, ist offenbar die Gnade am Werk. Wirklich unfruchtbaren Boden zu pflügen ist verlorene Mühe. Wo kein geistliches Leben vorhanden ist, da wirkt auch die Trübsal keinen geistlichen Gewinn; wo aber das Herz gesund ist, da weckt die Heimsuchung das Gewissen, dass man seine Irrwege bekennt, und die Seele kehrt wieder zum Gehorsam zurück und bleibt nun unter dem Wort. Keine Geißel verwandelt einen Empörer in ein gehorsames Kind; dem rechten Kinde aber dient ein Streich mit der Rute zu entschiedener Besserung. Bei unserem Psalmdichter bewirkte die Arznei der Trübsal eine Veränderung: "aber", und zwar eine sofortige Veränderung: "nun", eine dauernde, weil innerliche Veränderung: "halte ich", eine auf Gott hin gewendete Veränderung: "dein Wort ". Vor seiner Demütigung ging er in der Irre, nun aber bleibt er in der Hürde des Wortes Gottes und findet da gute Weide für seine Seele. Das Leiden hielt ihn wie der Weidezaun die Schafe an dem Orte fest, wo es für ihn am besten war; es bewahrte ihn im Gehorsam, und nun bewahrte er Gottes Wort. Gar mannigfach ist der köstliche Nutzen des Leides, und ein Gewinn ist der, dass es unserer Neigung, dem HERRN davonzulaufen, einen Zaum anlegt und uns zur Heiligung antreibt.

68. Gut bist du und tust wohl. (Wörtl.) Selbst wenn er uns mit Trübsal heimsucht, ist Gott gut und handelt er gut an uns. Das ist das Bekenntnis der gereiften Erfahrung. Gott ist in seinem Wesen die Güte1 selbst, und seine Taten entsprechen seinem Wesen; aus der lauteren Quelle fließen nur reine Wasser. Gottes Güte ist nicht eine verborgene, untätige Kraft wie die Wärme im Eise; nein, er offenbart sein Wesen durch seine Handlungen, seine Menschenfreundlichkeit betätigt sich in Wohltaten. Wieviel Gutes er tut, kann keine Zunge ausreden, wie gut er ist, kein Herz ausdenken. Es ist sehr geziemend, den HERRN auf solche Weise anzubeten, wie es der Psalmist hier tut, nämlich durch Schilderung seines Wesens und Wirkens. Die Wirklichkeit zu Worte kommen lassen, das ist, wo es sich um Gott handelt, das beste Lob. Alles, was wir Gott an Ehre geben können, ist doch nur, dass wir die Strahlen seiner eigenen Herrlichkeit auf ihn zurückstrahlen lassen. Wir können von Gott nicht mehr Gutes aussagen, als was er in der Tat ist und tut. Wir glauben an seine Güte und geben ihm durch unseren Glauben die Ehre; wir bewundern seine Güte und verherrlichen ihn durch unsere Liebe; wir verkünden seine Güte und lobpreisen ihn durch dieses unser Zeugnis.
  Lehre mich deine Rechte. Dieselbe Bitte wie in früheren Versen, z. B. V. 64.66, und auf der gleichen Grundlage, nämlich der Güte Gottes. Er betet: HERR, der du gut bist und gut handelst, wirke an meinem Herzen, auf dass auch ich gut sei und gut handle dank deiner Unterweisung. Der Gottesmann war ein Lernender, ein Schüler, und hatte am Lernen seine Freude; was er lernt, das schreibt er der Güte Gottes zu und hofft aus demselben Grunde, in der Schule Gottes bleiben und weiterlernen zu dürfen, bis er alles dessen, was ihm da gelehrt wird, auch völlig mächtig ist und es wohl anwenden, im täglichen Leben ausüben kann. Als Lehrbuch hatte er das Gesetzbuch des Königs und begehrte kein anderes. Er kannte die traurigen Folgen des Übertretens dieser Rechtsordnungen, und schwer erkaufte Erfahrung hatte ihn auf den Weg der Gerechtigkeit zurückgebracht. Darum erbat er sich als den denkbar größten Erweis der Güte Gottes, dass der HERR ihn eine völlige Kenntnis des Gesetzes lehren und ihn zu vollkommener Übereinstimmung seines Lebens mit diesem Gesetze erziehen möge. Wer es schmerzlich bereut, dass er das Wort nicht gehalten hat, der sehnt sich, darin unterwiesen zu werden, und wer sich darüber freuen darf, dass er durch Gottes Gnade das Wort zu halten gelernt hat, dem ist es wahrlich nicht ein weniger ernstes Anliegen, dass diese göttliche Unterweisung bei ihm fortgesetzt werde.

69. Die Stolzen erdichten Lügen über mich. Erst machten sie sich über ihn lustig (V. 51), dann raubten sie ihm seine Habe (V. 61), und nun suchen sie ihm seine Ehre zu rauben. Um seinen Ruf zu schädigen, griffen sie zu Lügen; denn wenn sie bei der Wahrheit bleiben wollten, konnten sie nichts wider ihn vorbringen. Das waren traurige Poeten, deren ganze Kunst im Erdichten von Lügen bestand. Sie fälschten die Wahrheit, wie die Falschmünzer das gute Geld. Im Hebräischen zeichnen die Worte nach Delitzsch ein sehr starkes Bild: sie schmierten dem Gottesmann Lügen an, dass sein wahres Wesen ganz unkenntlich wurde. Zum Lügen waren die Stolzen nicht zu stolz. Der Hochmut ist selbst in sich eine Lüge, und wenn ein vermessener Mensch Lügen redet, so redet er von seinem Eignen (Joh. 8,44). Die stolzen, selbstgefälligen, wider Gott sich übermütig auflehnenden Geister sind gewöhnlich die erbittertsten Gegner der Gerechten; sie neiden sie um ihren guten Ruf und sind darauf erpicht, ihn zu zerstören. Üble Nachrede ist eine wohlfeile und bequeme Waffe, wo es gilt, das Ansehen eines geachteten und verehrten Mannes zu vernichten, und wenn viele sich verschwören, um eine boshafte Verleumdung zusammenzudichten und zu verbreiten und die Lügen planmäßig zu vergrößern, da gelingt es ihnen fast immer, ihr Opfer schmerzlich zu verwunden, und an ihnen liegt es nicht, wenn sie ihn nicht ganz und gar umbringen. O welch ein schreckliches Gift ist es doch, das der Lügner im Munde hat! Wie manches glückliche Leben ist durch falsche Reden schon ganz verbittert worden, wie manchen edlen Mannes Ruf dadurch wie durch ein schleichendes, aber unabwendbar tödliches Gift vernichtet worden. Es ist unerträglich, es anhören zu müssen, wie gewissenlose Menschen auf des Teufels Amboss drauflos hämmern, um wieder eine neue Verleumdung zu schmieden. Die einzige Hilfe dagegen ist die köstliche Verheißung: Eine jegliche Waffe, die wider dich zubereitet wird, der soll es nicht gelingen; und alle Zunge, die sich wider dich setzt, sollst du im Gericht verdammen. Das ist das Erbe der Knechte des HERRN, und ihre Gerechtigkeit von mir, spricht der HERR. (Jes. 54,17.)
  Ich aber halte (will halten) von ganzem Herzen deine Befehle. Meine einzige Sorge soll sein, mich um meine Pflichten zu kümmern und mich genau an die Befehle meines Herrn zu halten. Wenn der Schmutz, mit dem man uns bewirft, uns nur nicht die Augen verklebt oder tatsächlich unsere Rechtschaffenheit angreift, dann wird er uns wenig Schaden tun. Bewahren wir die Ordnungen des HERRN, so werden sie uns auch bewahren am Tage der Schmach und Verleumdung. Der Psalmist erneuert seinen Entschluss: "Ich will halten"; er fasst die Befehle aufs Neue ins Auge und bestärkt sich in der Gewissheit, dass es wirklich des HERRN Befehle sind: "deine Befehle", und er ermuntert sein ganzes Wesen zu diesem Werk: "von ganzem Herzen". Wenn Schmähungen und Verleumdungen uns zu desto entschlossenerem und gewissenhafterem Gehorsam treiben, dann dienen auch sie uns zum Besten. Lügen, die man uns anschleudert, können bewirken, dass wir uns desto treuer an die Wahrheit halten, und die Bosheit der Menschen kann unsere Liebe zu Gott vermehren. Versuchen wir es, mit Worten auf die Lügen zu antworten, so mögen wir in solchem Kampfe leicht den Kürzeren ziehen; ein heiliges Leben aber ist eine Widerlegung aller Verleumdungen, gegen die schlechterdings keiner aufkommen kann. Auch die größte Gehässigkeit wird schließlich zu Schanden, wenn wir ungeachtet aller Anfeindungen auf dem Pfad der Heiligung ruhig vorwärtsschreiten.

70. Ihr Herz ist dick wie Schmer. Sie lieben das Wohlleben, ich aber habe meine Freude an dir. Das sinnliche Genussleben hat diese Leute ganz fühllos gemacht; ihr Herz ist gegen alle Eindrücke der Wahrheit stumpf, wie mit dickem Schmer überzogen. Mich aber hast du vor solchem Geschick bewahrt durch deine züchtigende Gnade. Hochmütige Menschen werden fett in fleischlicher Üppigkeit, und dies macht sie nur immer stolzer und hochfahrender. Sie schwelgen im Glück und mästen ihr Herz an den Dingen dieser Zeit, bis sie ganz unverständig und unempfindlich, ganz verweichlicht und unbrauchbar werden. Ein Schmerbauch ist hässlich genug; aber ein Schmerherz ist abscheulich; das ist eine Feistigkeit, die den Menschen dumm und albern macht, und solche Herzverfettung führt unfehlbar zu Herzschwäche und Tod. Diese Menschen ersticken in ihrem eigenen Fett. Von ihnen sagt der englische Dichter Dryden († 1701).

  Weh euch, in deren Seelen kein Himmelsfunke lebt,
  Ihr Satten, Fetten, die ihr im Staube kriecht und klebt!


  In solchem Zustand haben die Menschen nur noch Sinn für niedere Genüsse; man möchte sagen, dass ihr ganzes Dasein aufgeht, schwimmt und schmort im Fette des Wohllebens und der Schwelgerei. Weil sie nicht essen, um zu leben, sondern leben, um zu essen, und sich allezeit am Feisten ergötzen, wird ihr ganzes Wesen schließlich von dem, woran sie sich nähren, durchsetzt und darein verwandelt; ihre Knochen werden zu weichlichem Mark, ihre Muskeln zu schmierigem Fett.
  Ich aber habe Lust an deinem Gesetze. Wieviel besser ist es doch, sich an dem Gesetz des HERRN zu ergötzen, als den sinnlichen Genüssen zu frönen! Das macht das Herz gesund und hält den Geist demütig. Keiner, der die Heiligkeit liebt, hat den mindesten Grund, die Kinder der Welt um ihr Wohlleben zu beneiden. Die Lust am Gesetz des HERRN erhebt und adelt, während alle Fleischeslust die geistigen Fähigkeiten lähmt und das Begehren nur auf das Gemeinde richtet. Es ist und soll stets sein ein greller Unterschied zwischen dem Gläubigen und einem Knecht der Sinnenlust, und dieser Gegensatz tritt ebenso hervor in der Gesinnung der Herzen wie in dem äußeren Tun und Handeln: jener Herz ist dick wie Schmer, unser Herz hat seine Lust am Gesetze des HERRN. Was wir lieben, woran wir unsere Freude haben, das ist ein besserer Prüfstein unserer Sinnesart, als irgendetwas sonst; wie das Herz, so ist der Mensch. Der Psalmist ölte die Räder seines Lebens mit der Freude an Gottes Wort, nicht mit dem Schmer der Sinnlichkeit. Auch er wollte Vergnügen haben und hatte seine Lust, auch er begehrte auserlesene Speise und saß oft an einem herrlichen Festmahl - aber alle diese Lust und Freude fand er darin, dass er den Willen des HERRN, seines Gottes, tat. Wer an dem Gesetz seine Lust hat, dem ist Gehorsam Wonne. Wo Heiligkeit im Herzen regiert, da hat die Seele ihre Lust am Fetten (Jes. 55,2), und das ist mehr, als wenn der Bauch sich mit dem Schmer der Wollust füllt. Ist das Gesetz uns unser Ergötzen geworden, so schafft es in unseren Herzen etwas ganz anderes, ja das gerade Gegenteil von dem, was der Stolz hervorbringt. Wir werden von unserer Stumpfheit, Sinnlichkeit und Eigenwilligkeit geheilt und zu gelehrigen, empfänglichen und geistlich gerichteten Jüngern des Herrn gemacht. Wie sollten wir darauf bedacht sein, stets unter dem Einfluss des göttlichen Wortes zu leben, damit wir nicht unter das Gesetz der Sünde und des Todes fallen!

71. Es ist mir lieb (wörtl.: es war mir gut, d. i. heilsam), dass du mich gedemütigt hast, dass ich deine Rechte lerne. Auch wenn die Leiden durch böse Menschen über ihn kamen, wurde doch schließlich alles durch Gottes Weisheit zu seinem Heil gelenkt. Mochten sie gedacht haben, es böse mit ihm zu machen, für den Psalmisten war es dennoch gut. Was immer seine Gedanken gewesen sein mögen, während er unter der Züchtigung litt, nun sie vorüber war, erkannte er, dass sie ihm zum Heil gereicht hatte. Den Stolzen war es nicht gut, dass es ihnen so wohl ging, denn ihre Herzen wurden dadurch fleischlich, dem Sinnlichen ergeben und für die Eindrücke der Wahrheit unempfindlich; dem Psalmisten aber wurde das Leiden ein Segen. Das Schlimmste, was uns von des Vaters Hand widerfahren kann, ist für uns noch besser als das Beste, was sein Zorn den Sündern gibt. Für die Gottlosen ist es übel, wenn sie frohlocken, und für die Frommen gut, wenn sie Leid tragen. Unzählige Segnungen sind uns aus Schmerz und Kummer erwachsen, unter andern auch diese, dass uns das Leiden zu einer Hochschule geworden ist, da wir Gottes Rechte lernten. Dass wir dazu gekommen sind, diese tiefer kennen zu lernen und genau zu beobachten, das verdanken wir den Streichen der Zuchtrute, die uns so schmerzlich trafen. Wir haben den HERRN gebeten, uns gute Einsicht und Erkenntnis zu lehren (V. 66), und siehe, er hat unsere Bitte schon zu erfüllen angefangen. Fürwahr, er hat an uns wohl gehandelt (V. 68 Grundtext), denn er hat weislich mit uns verfahren. Wir sind gerade durch unsere Prüfungen vor der Unwissenheit jener, deren Herz dick wie Schmer ist, bewahrt geblieben, und das allein schon ist Grund genug zu beständiger Dankbarkeit. Mit Wohlleben gemästet zu werden ist nicht gut für die Stolzen; aber in der Wahrheit gelehrt zu werden in der Leidensschule, das ist gut für die Demütigen. Ohne Trübsal lässt sich nur wenig lernen. Wollen wir lernen, so müssen wir leiden; wie der Lateiner sagt: Experientia docet, Erfahrung ist der beste Lehrmeister. In die Erkenntnis der Rechte Gottes fährt man nicht mit stolzem Viergespann. Gottes Gebote liest man am besten mit tränenfeuchten Augen.

72. Das Gesetz deines Mundes. Eine schöne und ausdrucksvolle Bezeichnung des Wortes Gottes. Das Wort kommt aus Gottes eigenem Munde mit voller Frische und Kraft in unsere Seelen. Geschriebenes ist wie getrocknete Kräuter; das gesprochene Wort ist lebendig und hat gleichsam den frischen Tau an sich, wie das Gras auf der Wiese. Wir tun wohl daran, das Wort des HERRN so anzusehen, als wäre es eben frisch aus seinem Munde zu unseren Ohren geredet; ist es doch wahrlich nicht veraltet im Laufe der Jahre, sondern so jugendkräftig und gewiss, wie wenn es eben erst gesprochen wäre. Wir schätzen die Befehle der Heiligen Schrift erst richtig, wenn wir erkennen, dass sie von den Lippen unseres treuen Vaters im Himmel kommen. Derselbe Mund, der uns durch sein Wort ins Dasein rief, hat auch die Gebote ausgesprochen, nach denen wir dies unser Dasein einrichten sollen. Und aus welchem Munde hätten wohl je holdere Worte des Gesetzes kommen können, als aus dem Munde unseres Bundesgottes? Wahrlich, was aus solcher Quelle stammt, das mögen wir wohl schätzen über alle Schätze.
  Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viel tausend Stück Gold und Silber. Wäre es ein Armer, der hier so spräche, dann würden die Besserwisser wohl bald von sauren Trauben reden; seien doch eben die Leute, die keine Reichtümer besitzen, immer am ersten bei der Hand, von diesen geringschätzig zu sprechen. Allein wir haben hier den Ausspruch eines Mannes vor uns, der Tausende sein eigen nannte und aus Erfahrung über beides urteilen konnte, über den Wert des Geldes sowohl wie über den Wert der göttlichen Wahrheit. Er spricht von großem Reichtum, er häuft das Geld zu Tausenden, er erwähnt die verschiedenen Arten desselben, Gold und Silber, und stellt dann das Wort Gottes dem allem gegenüber, nein, stellt es hoch darüber als etwas, das ihm viel teurer, nach seiner Schätzung etwas viel Besseres ist, ob auch die ganze Welt es nicht als das Bessere schätzt. Reichtum ist ja in gewissen Beziehungen gut, Gehorsam aber ist besser in jeder Hinsicht. Es mag ganz recht sein, auch auf die Güter dieses Lebens etwas zu halten; aber weit ratsamer ist es, viel auf das Gesetz des HERRN zu halten. Das Gesetz ist besser als Gold und Silber, denn dieses kann man uns stehlen, das Wort aber nicht. Die Reichtümer kriegen selbst Flügel und fliegen in alle Winde, das Wort des HERRN aber bleibt in Ewigkeit. Jene sind uns nutzlos in der Todesstunde, während gerade dann uns das Wort aus Gottes Munde am köstlichsten wird. Christen, die in der Schule Gottes gebildet sind, erkennen tief den Wert des göttlichen Wortes und sprechen mit Wärme davon, nicht nur in ihren Zeugnissen vor ihren Mitmenschen, sondern auch, wenn sie in ihrem Kämmerlein mit Gott reden. Es ist ein sicheres Kennzeichen eines Herzens, das Gottes Rechte gelernt hat, wenn der Mensch des HERRN Wort höher schätzt als allen irdischen Besitz, und es ist gleicherweise ein Kennzeichen einer begnadigten Seele, wenn ihr die Vorschriften der Heiligen Schrift so teuerwert sind wie die Verheißungen. Der HERR helfe auch uns dazu, das Gesetz seines Mundes so köstlich zu schätzen.
  Merken wir noch darauf, wie dieser Abschnitt des Psalms von so vielem Guten redet. Gott tut Gutes (V. 65), die heilige Einsicht wird gut genannt (V. 66 Grundtext), Demütigung ist gut (V. 67), Gott selbst ist gut und handelt gut (V. 68), und nun zum Schlusse heißt das Gesetz nicht bloß gut, sondern besser als der beste Schatz. HERR, mache auch uns gut durch dein gutes Wort! Amen.


V. 65-72. Das achtfache + (T): Das gute Wort des gütigen Gottes ist alles Guten Quell; man lernt es auf dem Wege der Demut. Überblickt er sein Leben, so sieht er in allem, was ihm widerfahren, die gute, wohlmeinende Fügung des Gottes des Heils gemäß dem Heilsplan und der Heilsordnung seines Wortes.

65. Treulich hast du gehandelt an deinem Knechte,
Jahve, nach deinem Worte.
66. Taktvolles Urteil und Erkenntnis lehre mich,
Denn an deine Gebote glaub’ ich.
67. Tief in Irrtum war ich, bevor ich zu leiden hatte,
Und nun beobachte ich deine Aussage.
68. Traut bist du und traulich handelnd,
Lehre mich deine Satzungen.
69. Trug brauen wider mich Übermütige -
Ich wahre mit ganzem Herzen deine Ordnungen.
70. Talgig wie Schmer ist ihr Herz -
Ich hab’ an deinem Gesetze mein Ergötzen.
71. Taugsam war’s mir, dass ich mit Leiden belegt ward,
Damit ich lernte deine Satzungen.
72. Tausende Goldes und Silbers sind mir nicht so lieb,
Als das Gesetz deines Mundes.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 65. Du tust Gutes deinem Knechte, HERR, nach deinem Worte. Der Ausdruck "nach deinem Wort" kehrt in unserem Psalm so häufig wieder, dass wir ihn leicht übersehen oder doch ihm keine tiefere Bedeutung beilegen. Aber hat Gott nach den gewöhnlichen Gedanken der Menschen dem David Gutes getan, was bedeuten dann solche Äußerungen wie in V. 8: Verlass mich nicht gänzlich! V. 25: Meine Seele liegt im Staube; V. 28: Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet; u. a. m. Und doch, trotz all seiner vielen Trübsalen kommt er zu diesem Ausspruch. Wie ist er zu verstehen? Gott tat ihm Gutes nach seinem Worte, d. h. er tat ihm das, was nach seinem Worte das Gute ist. Er ersparte ihm nicht allerlei Trübsal, aber er schickte ihm gerade diejenige, die er nötig hatte für seinen inneren Menschen, zu seinem wahren Heile. Und das fühlt er wohl, darum sagt er: Es ist mir gut, dass ich gezüchtigt ward, dass ich deine Rechte lerne (V. 71). Auch in dem Sinne war Gottes Tun seinem Worte gemäß, als es in Übereinstimmung war mit der Weise, wie Gott an allen seinen Kindern handelt, die alle gezüchtigt werden zu ihrem Heile. Ferner ist die Erfüllung eines Teiles der Bundeszusage Gottes, die wir augenblicklich erleben, uns ein Angeld, eine sichere Gewähr dafür, dass er den ganzen Bundesvertrag halten, sein Wort völlig erfüllen wird. Ja, HERR, dein Wort ist die Leuchte, die uns die Dinge im richtigen Lichte zeigt, und die erkennen lässt, dass denen, die dich lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Nach deinem Worte, das heißt ferner: in der Art und in dem Grade, wie es dein Wort ausspricht. Solche Auffassung des Ausdrucks gibt z. B. der Bitte im 58. Vers "Sei mir gnädig nach deinem Wort" einen ungeahnten Umfang. So auch: Erquicke mich, stärke mich nach deinem Wort, d. h. mit allem, was du verheißen, und in dem vollen Maße, wie du es verheißen. Und weiter die Bitten von V. 76.169.170, sie umfassen alles, was die Heilige Schrift überhaupt über diese Gegenstände enthält. M. B. Duncan † 1865.


V. 66. Lehre mich heilsame Sitten und Erkenntnis. Das hebräische (von Luther mit Sitten wiedergegebene) Wort bedeutet eigentlich Geschmack. Die meisten Ausleger übersetzen es hier Urteil, Einsicht, was ungefähr das Gleiche bedeutet, aber doch nicht ganz. Der Geschmack ist etwas viel Unmittelbareres, als das erst auf mancherlei Erwägungen und Verstandestätigkeiten hervorgehende Urteil. Wir gebrauchen das Wort Geschmack mit Bezug auf die Wahrnehmung des Schönen auf dem Gebiete der Malerei, der Musik, der Kunst, überhaupt des Schönen, des Geziemenden; hier führt der gute Geschmack zur sofortigen Entscheidung, ohne lange Prüfung. Und in gleicher Weise besitzen die wahrhaft Frommen die Fähigkeit, die Schönheit der Heiligkeit im Worte Gottes, in Gottes Wesen, im Gesetz, im Evangelium, im Kreuze Christi, in dem Vorbilde, das uns der Herr und seine Heiligen gegeben, unmittelbar zu empfinden, zu schmecken. Es ist ihnen süßer als Honig und Honigseim. Sie schmecken und sehen, wie freundlich der HERR ist, sie schmecken das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt. John Ryland † 1825.
  In einer Abhandlung über die Befruchtung der Pflanzen durch Insekten macht der Naturforscher J. Lubbock (1878) auf die merkwürdige Fähigkeit der Unterscheidung von schönen und widerlichen Pflanzen aufmerksam, die gewisse Insekten betätigen. Die Bienen, sagt er, scheinen Gefallen an angenehmen Gerüchen und hellen, freundlichen Farben zu finden und suchen ausnahmslos solche Pflanzen auf, die auch den Menschen wohlgefallen. Wenn wir ihren Flug in einem Garten beobachten, so sehen wir, wie sie sich stets auf Rosen, Lawendel und allen solchen Blumen niederlassen, die durch ihre leuchtende Farbe oder ihren süßen Geruch erfreuen. Im ausgesprochenen Gegensatze hierzu ist das Benehmen der Fliegen, die stets eine Vorliebe für fahlgelbe oder trüb rötliche Farben und widerwärtige Gerüche zeigen. Die Biene ist ein Geschöpf von feinem, zart empfindendem Geschmack; die Fliege hingegen ist der Geier unter den Insekten, ihre Natur treibt sie zu solcher Pflanzennahrung, die nach Aas riecht. Setzt man zwei Teller in einiger Entfernung voneinander auf den Rasen, den einen etwa mit dem Stink- oder Gichtpilz (Phallus impudicus) gefüllt, den anderen mit ein paar Moosrosen, so wird man das verschiedene Verhalten der beiden Insektenarten sofort wahrnehmen. Der widrig riechende und hässliche Pilz wird sich schnell mit Fliegen bedecken, während die Bienen sich an die Rosen halten. Geradeso ist es auch mit den zwei Klassen, in die man die Menschen teilen kann, den Diesseits- und den Jenseitsmenschen. Während die geläuterten, geheiligten Triebe der einen auf das gerichtet sind, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, haften die irdisch gerichteten, niedrigen Instinkte der anderen nur an Tod und Verwesung. Die emsige Biene fliegt nicht mit unfehlbarerer Sicherheit von einer lieblichen Blume zur anderen, als der Christ darauf bedacht ist, das aufzusuchen, was auf Erden an Schönem, Holdem, Gutem zu finden ist. Mit David bittet er: Lehre mich guten Geschmack; und ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denkt er nach. James Neil 1879.
  Denn ich glaube deinen Geboten. Hier ist der Glaube auf einen sonst nicht gewöhnlich als solcher genannten Gegenstand bezogen. Wenn es hieße: "Ich glaube deinen Verheißungen" oder "Ich gehorche deinen Geboten", so wäre der Ausspruch ohne weiteres verständlich. Aber den Geboten glauben klingt dem gewöhnlichen Verstande ebenso widersprechend wie mit dem Ohre sehen oder mit dem Auge hören. Um dieser scheinbaren Ungereimtheit zu entgehen, nehmen manche Erklärer das Wort Gebote im allgemeineren Sinne, für das Wort Gottes überhaupt, so dass die Verheißungen mit einbegriffen oder eigentlich vornehmlich gemeint wären. Dem ist aber entgegen zu halten: Ganz gewiss gibt es ein Glauben an die Gebote, so gut wie an die Verheißungen. Wir müssen glauben, dass Gott ihr Urheber ist, dass sie also heilig, gerecht und gut sind, dass Gott diejenigen liebt, welche sie halten, und denen zürnt, die sie übertreten, und dass er seinem Gesetze schließlich zum vollen Siege verhelfen wird. Der Glaube an die Gebote muss ebenso lebendig sein wie der an die Verheißungen. Und wie der letztere nur dann lebendig zu nennen ist, wenn er unsere Herzen von den Eitelkeiten der Welt und des Fleisches abzuziehen vermag, dass wir das Glück suchen, das uns darinnen vorgehalten wird, so ist auch nur der Glaube an die Gebote der rechte, der uns dahin bringt, sie als unsere einzige Richtschnur anzuerkennen, als das einzige, was uns auf den Weg zum wahren Glücke zu leiten vermag. Thomas Manton † 1677.


V. 67. Ehe ich gedemütigt ward. Diese Übersetzung geht auf die LXX und Vulg. zurück. Im Hebräischen steht hier (sowie Ps. 116,10) eigentlich kein Passivum (hingegen wohl V. 71). Man übersetze etwa: Ehe ich (durch Leiden) gebeugt war, oder: Ehe ich die Leiden trug. Man kann dabei an Leiden aller Art denken. Albert Barnes † 1870.
  Irrte ich, ging ich irre. Nicht dass er mit Vorbedacht, argen Herzens, in Verachtung der Gebote sich von Gott abgewandt hätte: das bestreitet er aufs entschiedenste (Ps. 18,22). Aber die Schwachheit des Fleisches, die Macht der Verderbnis und der Versuchungen, sehr viel auch eine natürliche Neigung zur Sorglosigkeit und Mangel an geistlicher Wachsamkeit brachten ihn vom rechten Wege ab, so dass er irre ging, ehe er es selbst recht merkte. Es ist das Sündigen aus Unwissenheit gemeint, von dem 3. Mose 5,17 die Rede ist. Dies geschah in der Zeit seines Glückes. Wenn er schon nicht wie Jesurun fett und übermütig geworden war, den Fels seines Heiles gering geachtet und verlassen hatte, in Versuchung und schädliche Lüste gefallen und vom Glauben abgewichen war und ihm selbst viel Schmerz gemacht hatte, konnte er aber doch nachlässig werden in seinem inneren Leben und in seinen religiösen Pflichten - ein Fall, der nur zu häufig vorkommt. John Gill † 1771.
  Wohlergehen ist ein empfindlicherer und schärferer Prüfstein für den Charakter als Unglück, so wie eine Stunde Sommmersonnenhitze mehr Zersetzung bewirkt als der längste Wintertag. (Vergleiche Goethes geflügeltes Wort: Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.) Eliza Cook geb. 1817.
  Wie man dem Geflügel die Federn beschneidet, wenn es zu hoch und zu weit fliegen will, so nimmt uns auch Gott von unseren Reichtümern u. dgl. weg, damit wir nicht über unsere Grenzen hinausgreifen und uns zu viel auf solche Vorzüge einbilden. Otho Wermullerus um 1500.
  Aus der unzählbaren Schar vor dem Throne Gottes und des Lammes vernehmen wir die Worte des Psalmisten: Ehe ich gedemütigt ward, irrte ich, nun aber halte ich dein Wort. Und viele sind darunter, die sprechen: Siehe, selig ist der Mensch, den Gott straft (Hiob 5,17). Der eine wird dir sagen, dass sein irdischer Misserfolg die Ursache, das Mittel zu seinem Vorankommen in dem himmlischen Berufe geworden, ein anderer, dass der Verlust aller Habe ihm den Gewinn des Einen, das alles umfasst, gebracht habe. Viele hat Gott heimgesucht mit leiblicher Blindheit, damit ihnen das Licht des Geistes aufgehe; viele, die ihr ganzes Leben hindurch unter allerlei körperlichen Leiden und Schwächen und Gebrechen haben seufzen müssen, haben dafür mit Freuden und Frohlocken die Gewissheit zukünftiger Herrlichkeit und Unsterblichkeit ergriffen. W. G. Lewis 1872.


V. 68. Du bist gut und handelst gut. (Grundtext) Uns wird ein guter Gott vor Augen gestellt, wir sollen uns nicht mit einem geringeren Ideal und Vorbild des Guten begnügen. Der jüdische Philosoph Philo, ein Zeitgenosse des Heilandes (geb. i. J. 30 v. Chr., † nach 40 n. Chr.), sagt: (O o}ntwj w)`n to` prw=ton a)gaqo/n, das wahrhaftige Wesen ist das erste Gute. Schon unser Wort Gott kommt ja auch von gut. Er ist seinem Wesen nach gut, und gut gegen andere. Gutsein ist bei uns eine erworbene, verliehene Eigenschaft, bei Gott hingegen ist das Gutsein sein Wesen. Bei einem vergoldeten Gefäße ist der Goldglanz eine an dem Gegenstand später angebrachte Eigenschaft, bei einem ganz goldenen Gefäße hingegen gehört der Glanz zum Stoff, zum Wesen des Ganzen. Gott ist unendlich gut; das Gutsein der Geschöpfe ist nur ein beschränktes, das unsere ist nur ein Tropfen gegen das Meer göttlichen Gutseins. Und Gott ist unveränderlich, unwandelbar gut, es gibt da kein Mehr oder Weniger. Der Mensch im Stande der Unschuld war peccabilis, sündenfähig, durch den Fall wurde er peccator, ein Sünder. Gott aber war von Anfang, ist und bleibt gut. Dies ist sein Wesen. Nun aber sein Tun: Er tut auch das Gute. Was Gott auf dem großen Schauplatz der Weltereignisse durch die Jahrtausende getan und gewirkt hat, war nur das Gute. Und zwar hat er sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat uns viel Gutes getan und vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, unsere Herzen erfüllt mit Speise und Freude (Apg. 14,17). Auch dies ist uns als Vorbild hingestellt, damit auch unser ganzes Leben nichts sei als ein Vollbringen des Guten. Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Thomas Manton † 1677.
  Du bist gütig und freundlich. Die gesegneten Früchte der Züchtigung als ganz besondere Beispiele der Güte des HERRN konnten den Psalmdichter wohl zu einer Erkenntnis seiner Allgüte in seinem Wesen sowohl als in seinem Wirken führen. Aber in kleingläubiger Übereilung verkennt ein schwaches Gemüt Gottes weise und gnädige Führungen und hält für einen Zornesblick, was dem Glaubensauge als ein liebevolles Lächeln erscheint. Charles Bridges † 1869.


V. 69. Die Stolzen. Der Glaube macht demütig, der Unglaube stolz. Der Glaube macht demütig, weil er uns unsere Sünde und ihre Strafe zeigt und dass wir nicht zu Gott gelangen können ohne die Vermittlung Christi, dass wir nichts Gutes vollbringen, das Böse nicht unvollbracht lassen können ohne die Wirkung der Gnade. Solange Menschen dies aber nicht erkannt haben, denken sie groß von sich und fahren hoch her. Darum sind alle Unwissenden, alle Ketzer, alle Weltmenschen so stolz. Wer sich unter die starke Hand Gottes gedemütigt hat, ist auch demütig vor Menschen; hingegen wer Gott verachtet, der verachtet auch seine Knechte. Richard Greenham † 1591.
  Ich aber halte von ganzem Herzen deine Befehle. Lasst das Wort des HERRN kommen, lasst es kommen, und wenn wir tausend Nacken hätten, wir wollten sie alle unter das Joch seiner Gebote beugen. Aurelius Augustinus † 430.


V. 70. Ihr Herz ist fett wie Schmer - mein Herz hingegen ist ein mageres, ein hungriges Herz; aber meine Seele liebt dein Wort: ich habe Lust an deinem Gesetz. Ich habe nichts, um mein Herz zu füllen, als dein Wort und den Trost und die Stärkung, die ich daraus ziehe. Jener Herz hingegen ist fett von den Lüsten der Welt und des Fleisches, sie hassen das Wort. Einem vollen Magen ist die Speise zuwider, er kann sie nicht verdauen; so hassen auch die Bösen das Wort, es passt nicht zu ihren niedrigen Anschauungen, es dient ihren Lüsten nicht. William Fenner † 1640.
  Ein namhafter Arzt, an den ich mich mit der Frage wandte, was unter einem verfetteten Herzen zu verstehen sei, erteilte mir folgende Auskunft. Es gibt zwei Formen von Herzverfettung; die eine ist von geringerer Bedeutung, kommt auch wohl selten vor, die andere hingegen ist bedenklich. Sie besteht darin, dass die Muskelfasern, aus denen die Herzwände gebildet sind und von denen die ganze Herztätigkeit abhängt, entarten und geradezu in Fett übergehen. Dadurch werden sie unfähig, die Bewegungen auszuführen, zu denen sie bestimmt sind, und mit der Zunahme der Entartung, der Ausdehnung derselben wird die Tätigkeit des Herzens immer schwächer, bis sie schließlich ganz aufhört. Meist führt das Leiden einen plötzlichen Tod herbei. Träges, üppiges Leben, Mangel an Bewegung sind vielfach die Ursache des Leidens. Es ist nicht durchaus notwendig mit geistiger Schwerfälligkeit und Trägheit verbunden, aber in den höheren Graden des Leidens ist das Herz tatsächlich wie Schmer, geradezu schmierig zu nennen. - Soviel von dem körperlichen Leiden. Aber stellt hier nicht der Psalmist ganz treffend und deutlich diejenigen, die ein sinnliches, den Lüsten ergebenes, lasterhaftes Leben führen, durch welches Leib und Seele unfähig gemacht werden für die Zwecke, zu denen sie bestimmt sind, stellt er diese nicht jenen Menschen gegenüber, die die Tatkraft besitzen, zu laufen in den Geboten des HERRN, denen es eine Lust ist, zu tun seinen Willen und nachzusinnen über seine Gebote? Da stehen sich gegenüber auf der einen Seite Gleichgültigkeit, Trägheit und Stumpfheit, auf der andern Tatkraft, Strammheit und geistiges Leben; Leib gegen Geist, ein zum Tier gewordener Mensch gegen einen Menschen, der das göttliche Ebenbild bewahrt. James Bennett 1881.


V. 71. Es war mir gut, dass du mich demütigtest. (Wörtl.) Ich werde geheilt durch meine Krankheit, reich gemacht durch meine Armut, stark gemacht durch meine Schwäche, dass ich fast versucht wäre, mit dem heiligen Bernhard zu bitten: Irascaris mihi, Domine, O HERR, zürne mit mir! Denn wenn du mich nicht züchtigst, dann beachtest du mich nicht; wenn ich nichts Bitteres zu schmecken bekomme, so fehlt mir die Arznei; wenn du mich nicht züchtigst, so bin ich nicht dein Sohn. So war es mit dem Urenkel Davids, Manasse; da er in der Angst war, flehte er vor dem HERRN, seinem Gott. Selbst diesem König war das Eisen der Ketten und Bande köstlicher als sein Gold, der Kerker eine glücklichere Wohnstätte als sein Palast, Babylon eine heilsamere Schule als Jerusalem. Was für Toren sind wir doch, zu unseren Anfechtungen sauer zu sehen. So widerwärtig sie sein mögen, sind sie unsere besten Freunde. Sie sind allerdings nicht zu unserem Vergnügen, dafür aber zu unserem Heile da. Ihr Ausgang gibt ihnen Anspruch auf eine bereitwillige Aufnahme. Was liegt uns an der Bitterkeit des Heiltrankes, wenn er uns die Gesundheit wiedergibt! Abraham Wright † 1690.
  Die Zuchtrute sprosst und blüht durch ein Gnadenwunder wie der Stab Aarons und bringt hervor die Früchte der Gerechtigkeit, welche die köstlichsten sind. Und es ist fürwahr ein herrlicher Anblick, wenn man einen Menschen sieht, der vom Bett schweren Siechtums aufgestanden oder sonst aus einem Ofen der Trübsal hervorgegangen ist, mehr den Engeln gleich an Reinheit, mehr Christo gleich, der da war heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern abgesondert, mehr Gott selbst ähnlich, da er viel eifriger der Gerechtigkeit nachstrebt auf allen seinen Wegen, viel, viel heiliger ist in allem seinem Tun und Lassen. Nathanael Vincent † 1697.
  Es gibt Dinge, die gut sind, aber nicht angenehm, wie Kummer und Trübsal. Die Sünde ist angenehm, aber schädlich; Kummer ist nützlich, aber widerwärtig. Wie die Gewässer die klarsten sind, welche in Bewegung sind, so sind die Frommen am heiligsten, wenn sie in Anfechtung sind. Manche Christen gleichen Kindern, die nur so lange über ihren Aufgaben sitzen, wie man mit dem Stocke hinter ihnen steht. Und wohl wissen wir, dass der HERR gerade die süßesten Lehren oft durch die bitterste Trübsal einprägt. Manche, die sich nicht haben warnen lassen durch die Gerichte, die sie sehen, bessern sich durch die Gerichte, die sie zu fühlen bekommen. Das reinste Gold ist am geschmeidigsten. Die besten Klingen sind die, die am biegsamsten sind und doch nicht krumm bleiben. William Secker 1660.
  Die Gottesfurcht besitzt eine wunderbare Fähigkeit, alle Dinge in Gegenstände des Trostes und der Freude zu verwandeln. Im Grunde gibt es für den Frommen keine bösen oder traurigen Verhältnisse. Sogar seine Betrübnisse führen zur Freude, seine Schwachheiten sind heilsam, sein Mangel macht ihn reicher, seine Schmach ist sein Schmuck, seine Lasten machen ihm das Leben leichter, die Pflichten sind ihm Vorrechte, sein Fallen hilft ihm immer weiter, und selbst seine Verfehlungen, indem sie Reue und Beschämung, Vorsicht und Wachsamkeit erzeugen, bessern ihn und sind ihm so zum Nutzen, während die Gottlosigkeit alle Verhältnisse stört, alles Gute schlecht und gemein macht, alle Annehmlichkeiten des Lebens verbittert und vernichtet. Isaak Barrow † 1677.
  Dass ich deine Rechte lerne. Hier spricht der Psalmist nicht von dem Lernen, das durch das Hören oder Lesen von Gottes Wort geschieht, sondern von dem Lernen als einer Frucht der Erfahrung, indem er die Wahrheit und den Trost von Gottes Wort viel lebendiger und kräftiger in Not und Trübsal verspüren durfte, als er ohne das vermocht hätte, und indem ihn solche Trübsal gottseliger, weiser, frommer gemacht hatte. William Cowper † 1619.
  Dass ich deine Rechte lerne. Wie das Glück die Augen der Menschen blendet, so macht das Unglück sie helle. Und wie die Salbe, welche die kranken Augen heilt, zuerst beißt und weh tut und zu Tränen reizt, hernach aber ist die Sehkraft schärfer, als sie vorher war, so peinigt auch die Trübsal die Menschen anfangs ganz absonderlich, aber dann erleuchtet sie die Augen des Geistes, dass er hernachmals viel verständiger, weiser und klüger ist. Denn Trübsal bringt Erfahrung, und Erfahrung bringt Weisheit. Otho Wermullerus um 1500.


V. 72. Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viel tausend Stück Gold und Silber. Dieses Buch Gottes ist höher zu schätzen als alle anderen Bücher. St. Gregor nannte die Heilige Schrift "das Herz und die Seele Gottes". Die Rabbinen sagen, ein Berg von Bedeutung schwebe über jedem Häkchen und Zeichen der Schrift. Das Gesetz des HERRN ist vollkommen (Ps. 19,8). Die Heilige Schrift ist die Bücherei des Heiligen Geistes, sie ist ein Lehrbuch göttlicher Wissenschaft. Die Schrift enthält die Credenda und die Agenda, das, was wir zu glauben, und das, was wir zu tun haben, sie kann uns unterweisen zur Seligkeit (2. Tim. 3,15). Sie ist der Maßstab für alles, was wahr ist, der Richter in allen Streitfragen, der Polarstern, der uns zum Himmel weist. Das Gebot ist eine Leuchte und das Gesetz ist ein Licht (Spr. 6,23). Die Schrift ist der Kompass, nach welchem das Steuer unseres Willens gelenkt werden soll, der Acker, in welchem Christus, der köstliche Schatz, verborgen liegt. Sie ist eine heilige Augensalbe, sie heilt und schärft die Augen, welche auf sie schauen; sie ist das Mittel, welches alle Leiden der Seele heilt. Die Blätter der Schrift sind wie die Blätter vom Holze des Lebens, welche dienen zur Gesundheit der Heiden (Off. 22,2). Die Schrift ist die Mutter und die Ernährerin der Gnade. Wie anders wird ein Bekehrter gezeugt als durch das Wort der Wahrheit? Wie anders wächst und gedeiht er als durch die lautere Milch des Wortes? (Jak. 1,18; 1. Petr. 2,2) Die Schrift ist der Leuchtturm, der uns zeigt, wie wir die Klippen der Sünde meiden können; sie ist das Gegenmittel gegen jeden Irrtum und Abfall, das zweischneidige Schwert, welches die alte Schlange zu verwunden vermag. Sie ist unser Bollwerk gegen den Ansturm der Lüste, der Turm Davids, daran die tausend Schilde unseres Glaubens hangen. (Hohelied 4,4). "Gottes Wort", sagt Luther, "ist ein Licht, das im Finstern scheinet, und leuchtet heller, denn die Sonne am Mittage, denn im Tode verlöschet nicht allein das Licht der Sonnen, sondern auch die Vernunft mit all ihrer Weisheit. Da leuchtet denn mit all ihrer Treue das Wort Gottes, eine ewige Sonne, welche allein der Glaube siehet und folget bis ins ewige, klare Leben." Darum so achtet es hoch, das Wort der Schrift, dann werdet ihr auch den rechten Nutzen daraus ziehen. Thomas Watson † 1690.
  Das Wort Gottes muss uns näher stehen als unsere nächsten Angehörigen, muss uns teurer sein als unser Leben, köstlicher als unsere Freiheit, lieber als alles irdische Wohlleben. John Mason † 1694.
  Die Schätze dieser Welt, Gold und Silber, werden erworben mit Mühe und Arbeit, bewahrt mit Sorgen, verloren mit Schmerzen. Es sind falsche Freunde, dann am weitesten von uns entfernt, wenn wir am nötigsten Beistand brauchen; das müssen alle Weltkinder in der Stunde des Todes erfahren. Wie dem Propheten Jona seine Kürbisstaude genommen wurde, und gerade in einer Zeit, wo er ihrer gegen die Sonne am meisten bedurft hätte, so geht es auch mit dem Trost der Weltmenschen. Ganz anders aber ist es, wenn man sich auf das Wort Gottes verlässt, wenn man diesem einen Platz in seinem Herzen einräumt, wie Maria tat; dieser Trost wird uns stets aufrecht halten, wenn alles andere auch uns im Stich lassen sollte. Und dies ist es, was uns reich macht in Gott, wenn nämlich unsere Seelen Schatzhäuser sind, angefüllt mit den Schätzen aus seiner Welt. Sollen wir uns für arm halten, weil Gold und Silber bei uns knapp sind? An ideo angelus pauper est, quia non habet jumenta? Ist ein Engel darum arm, weil er keine Viehherden hat? fragt Chrysostomus. Oder war Petrus etwa um deswillen arm zu nennen, weil er dem Gichtbrüchigen kein Silber und Gold zu geben hatte? Nein, denn er besaß einen Schatz der Gnade, unendlich viel köstlicher als jenes. Lasst das Gold und Silber den Kindern dieser Welt, es hat doch keinen Kurs in Kanaan, man nimmt es nicht in unserem himmlischen Vaterlande. Wenn wir dort etwas gelten wollen, so lasst uns reich machen unsere Seelen mit geistlichen Gaben, mit den Schätzen, die wir in reichster Fülle in den Goldgruben und Schatzkammern des Wortes Gottes finden. William Cowper † 1619.
  Ihr Vornehmen, ihr vom Adel, lasst euch gesagt sein, was Hieronymus von einem jungen römischen Edelmanne, Nepotianus, erzählt, der durch lange und eifrige Betrachtung der Heiligen Schriften seine Brust zur Bibliothek Christi gemacht habe. Denkt an das, was von König Alphons erzählt wird, dass er die Heilige Schrift vierzehnmal durchgelesen habe, zusammen mit den Auslegungen, welche ihm damals zu Gebote standen. - Ihr Gelehrten, erinnert euch daran, dass von Cranmer und Ridley berichtet wird, sie hätten beide das Neue Testament auswendig gekonnt, dass Thomas a Kempis nirgends Ruhe gefunden nisi in angulo cum libello, als in einem Winkel mit diesem Buche, und dass der achtzigjährige Theodor Beza (der Freund und Mitarbeiter Calvins, † 1605) alle die Briefe des Apostels Paulus im griechischen Grundtexte auswendig gekonnt habe. - Ihr Weiber, vernehmt, was Hieronymus von der Paula, der Eustachia und anderen vornehmen Frauen erzählt, die in ganz hervorragendem Grade in der Heiligen Schrift bewandert waren. Edmund Calamy † 1666.
 


1. In der Auslegung Spurgeons (wie in der vorangestellten Übersetzung "Gut bist du") ist die bonitas, die sittliche Vortrefflichkeit, von der benignitas der Gütigkeit, nicht streng geschieden. Wir glauben, mit einem gewissen Recht. Cremer sagt (im bibl. - theol. Wörterbuch S. 3): Die Doppelseitigkeit des Begriffs gut (als vollendetes und Vollendung förderndes Sein) tritt auch in dem hebräischen bO+ hervor. In bO+ wird zuerst der wohltuende Eindruck hervorgehoben, den etwas macht und wodurch ihm eine hervorragende Bedeutung zukommt; sodann das Moment der Vollendetheit.


73. Deine Hand hat mich gemacht und bereitet;
unterweise mich, dass ich deine Gebote lerne.
74. Die dich fürchten, sehen mich und freuen sich;
denn ich hoffe auf dein Wort.
75. HERR, ich weiß, dass deine Gerichte recht sind;
du hast mich treulich gedemütigt.
76. Deine Gnade müsse mein Trost sein,
wie du deinem Knecht zugesagt hast.
77. Lass mir deine Barmherzigkeit widerfahren, dass ich lebe;
denn ich habe Lust zu deinem Gesetz.
78. Ach, dass die Stolzen müssten zu Schanden werden, die mich mit Lügen niederdrücken;
ich aber rede von deinen Befehlen.
79. Ach dass sich müssten zu mir halten, die dich fürchten
und deine Zeugnisse kennen!
80. Mein Herz bleibe rechtschaffen in deinen Rechten,
dass ich nicht zu Schanden werde.


  Wir sind nun zu der zehnten Gruppe gelangt, in welcher jeder Vers mit einem Jod anfängt, dem ob seiner Kleinheit sprichwörtlich gewordenen Buchstaben des hebräischen Alphabetes (Mt. 5,18); aber darum handelt unser Abschnitt doch nicht von kleinen, unbedeutenden Dingen. Seine Grundgedanken sind die Erfahrungen des Gläubigen und der anziehende und bestimmende Einfluss, den solche Erfahrenheit auf andere ausübt. Der Psalmist ist im Leide; aber er hofft auf Befreiung und dass er als tröstendes Beispiel seinen Mitmenschen ein Segen werde. Da er andern zur Unterweisung dienen möchte, begehrt er selbst vor allem, belehrt zu werden (V. 73), und spricht die bestimmte Erwartung aus, dass er dann mit seinem Zeugnis gute Aufnahme finden werde (V. 74), und wiederholt sich das Zeugnis, das er ablegen will (V. 75). Er bittet, dass der HERR ihn noch reichere Erfahrungen seiner Gnade machen lasse (V. 76.77), dass die Stolzen beschämt werden (V. 78), die Gottesfürchtigen aber sich um ihn scharen mögen (V. 79), und zu guter Letzt bittet er noch einmal für sich selber, damit er völlig gerüstet sei und bleibe zu seinem Zeugendienst (V. 80). Das ist der flehentliche und doch hoffnungsfreudige Gebetsruf eines Mannes, der durch erbarmungslose Widersacher schwer bedrängt ist und sich darum Hilfe suchend an Gott als seinen einzigen Freund wendet.

73. Deine Hand hat mich gemacht und bereitet. Es kann uns sehr nützlich sein, jeweils an unsere Erschaffung zu denken; ist es doch so erfreulich, zu betrachten, wieviel Gottes Hände sich um uns gemüht haben, denn Gottes Hand rührt sich nie unabhängig von Gottes Gedanken. Es erweckt in uns Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe gegen Gott, wenn wir uns ihn als unseren Schöpfer vor Augen halten, der alle Sorgfalt, Geschicklichkeit und Macht seiner Hände entfaltete, als er uns schuf und bildete. Er hat sich ganz persönlich um uns bekümmert, denn mit seinen Händen hat er uns gemacht. In zwiefacher Beziehung verdanken wir ihm alles, indem er sowohl den Stoff schuf als auch unseren Leib formte, uns ins Dasein rief und diesem Dasein seine ganze Ordnung und Einrichtung gab. In beidem offenbarte er seine Liebe und Weisheit; unser Sein und unser Wohlsein, dass wir überhaupt leben und dass wir so leben, wie uns beschieden ist, beides ist für uns Ursache zu freudigem Dank, festem Vertrauen und froher Erwartung. Unterweise mich (gib mir Einsicht, mache mich verständig), dass ich deine Gebote lerne. Da du mich gemacht hast, so lehre mich nun auch. Hier ist das Gefäß, das du selber geformt hast; HERR, nun fülle es. Du hast mir so Seele wie Leib gegeben; gewähre mir nun auch deine Gnade, damit meine Seele deinen Willen erkenne und mein Leib sich mit ihr vereine als williges Werkzeug, deinen Willen zu vollbringen. Gerade mit dieser Begründung ist die Bitte von großer Kraft; wie könnte er das Werk seiner Hände fahren lassen? Ohne Einsicht in das göttliche Wort, die Offenbarung seines heiligen Willens, und ohne Gehorsam gegen seine Gebote verfehlen wir unsere Bestimmung; da wären wir unvollendete, nutzlose Gefäße. Aber eben darum dürfen wir mit gutem Grunde hoffen, dass der große Töpfer sein Werk vollenden und gleichsam die letzte Hand daran legen wird, indem er uns heilige Einsicht und heilige Handlungsweise verleiht. Wenn Gott uns nur im Rohen geschaffen, uns nicht auch ganz wunderbar kunstvoll gebildet und bereitet hätte, so würde diese Begründung lange nicht so beweiskräftig sein; aber eben aus der so überaus feinen, vollendeten Kunst, mit der der HERR den Leib des Menschen gebildet, dürfen wir den sicheren Schluss ziehen, dass er auch ganz bereit ist, die gleiche Mühe und Sorgfalt auf unsere Seele zu verwenden, bis sie völlig seinem Bilde ähnlich ist.
  Ein Mensch ohne Einsicht, ohne Verstand ist ein armer Blödsinniger, das bloße Zerrbild eines Menschen; Verstand aber ohne Gnade ist vom Argen, eine traurige Verkehrung dessen, was die Vernunft eigentlich sein sollte. Deshalb beten wir, dass wir nicht ohne geistliches Verständnis, ohne gesunde Urteilskraft gelassen werden mögen. Darum hatte der Dichter schon V. 66 gefleht, und hier wiederholt er seine Bitte; denn ohne solche geistliche Einsicht ist kein wahres Erkennen und kein Halten der Gebote möglich. Narren können sündigen; aber nur wer von Gott selber gelehrt ist, kann heilig leben. Wir reden oft von begabten Leuten; die köstlichsten Gaben aber hat der empfangen, dem Gott ein geheiligtes Verständnis verliehen hat, mit dem er des HERRN Willen erkennen und richtig beurteilen kann. Es ist wohl zu beachten, dass des Psalmisten Bitte um Unterweisung nicht auf gelehrtes Wissen oder Befriedigung der Neugier geht; er begehrt ein erleuchtetes Urteil, damit er Gottes Gebote lerne und also gehorsam und heilig werde. Dies ist das beste Wissen. Auf der hohen Schule, wo diese Wissenschaft gelehrt und gelernt wird, mag einer bis ins Alter bleiben und dennoch nach immer mehr Fähigkeit zum Lernen verlangen. Gottes Wille, im Worte geoffenbart, ist ungemein hoch, tief und weit, und gewährt daher auch dem starken, gereiften Geiste Raum genug zu unausgesetzter Beschäftigung. In der Tat hat kein Mensch von Natur einen Verstand, der fähig wäre, ein so weites Gebiet zu umfassen; darum die Bitte: Gib mir Verständnis. Darin liegt: Andere Dinge vermag ich wohl mit dem Verstande, den ich besitze, zu erfassen; dein Gesetz aber ist so rein, so vollkommen, so geistig und erhaben, dass mein geistiges Fassungsvermögen durchaus erst erweitert werden muss, ehe ich es darin zu etwas bringen kann. Und er wendet sich an seinen Schöpfer, dass der dies in ihm wirke; er fühlt, dass keine geringere Kraft als die, welche ihn geschaffen, ihm diese Weisheit, die zur Heiligkeit führt, zu verleihen vermag. Wir bedürfen einer Neuschöpfung, und wer vermöchte diese in uns zu wirken als der Schöpfer selbst? Er, der uns das Leben verliehen, muss uns auch die Gabe des Lernens schenken; er, der uns die Fähigkeit gab zu stehen, muss uns auch das Verstehen geben. Lasst uns alle die Bitte dieses Verses zu der unseren machen, ehe wir in dem Psalm einen Schritt weiter gehen; denn wir werden uns sogar in dieser Fülle von Bitten verirren, wenn wir uns nicht hindurch beten, nicht Gott um das rechte Verständnis derselben anflehen.

74. Die dich fürchten, sehen mich und freuen sich; denn ich hoffe auf dein Wort (oder: habe auf dein Wort geharrt). Wenn ein Gottesmann des HERRN Gnade an sich erfährt, so wird er auch für andere ein Segen, besonders wenn die Gnade ihn zu einem Mann von gutem Verständnis und heiliger Erkenntnis gemacht hat. Gottesfürchtige Leute werden sehr in ihrem Mut gestärkt und gefördert, wenn sie mit erfahrenen Gläubigen zusammenkommen. Ein Mann voll Hoffnung und Glaubensmut ist eine wahre Gottesgabe in Zeiten, wo die Gemeinde im Niedergang begriffen ist und der Glaube gefährdet erscheint. Wenn das Harren eines Gläubigen in Erfüllung geht, so werden seine Gesinnungsgenossen dadurch mit neuer Freudigkeit und Standhaftigkeit erfüllt und bekommen Mut, gleichfalls desto fester auf das Wort des HERRN zu harren. Es tut den Augen so wohl, einen Menschen zu sehen, der es freudig aus der Erfahrung bezeugt, dass der HERR treu ist. Es ist eine der größten Freuden der Gotteskinder, mit ihren mehr geförderten Brüdern Umgang zu pflegen. Die rechte Gottesfurcht ist nicht eine minderwertige, herbe Frucht des Geistes, wie manche meinen; sie verträgt sich sehr wohl mit der Freude am HERRN. Denn wenn der Anblick eines Gesinnungsgenossen die Gottesfürchtigen schon froh macht, wie freudig müssen sie erst in der Gegenwart des HERRN selbst sein! Gottes Kinder kommen nicht nur zusammen, um einander die Lasten tragen zu helfen, sondern auch, dass einer des andern Freude teile, und manche begnadigte Menschen tragen in reichlichem Maße zu diesem Kapital gemeinschaftlicher Freude bei. Hoffnungsfreudige Menschen verbreiten überhaupt Freudigkeit um sich. Verzagte Gemüter hingegen stecken mit ihrer trüben Stimmung andere an, weshalb es auch nur wenige gibt, die sie gerne sehen, während Menschen, deren Hoffnung auf Gottes Wort gegründet ist, in ihrem Angesicht den Sonnenschein des göttlichen Friedens widerspiegeln und darum auch bei ihren Mitmenschen überall freudigen Willkomm finden. Es gibt freilich auch Christen, deren Gegenwart düstere Traurigkeit um sich verbreitet, so dass man sich gerne still aus ihrer Gesellschaft wegstiehlt; möchten wir nie selber dazu Anlass geben!

75. HERR, ich weiß, dass deine Gerichte recht sind. Auch wer noch viel zu lernen begehrt, muss dankbar sein für das, was er schon als festen Wissensschatz empfangen hat, und willig sein, was er gelernt hat zur Ehre Gottes zu bezeugen. Der Psalmist war schwer heimgesucht worden, aber er hatte in aller Trübsal nicht aufgehört, auf Gott zu vertrauen, und nun bekennt er als gewonnene Überzeugung, dass seine Züchtigung gerecht und weise gewesen sei. Das war nicht nur so eine Meinung, die morgen bei anderer Stimmung über den Haufen geworfen werden konnte, sondern es war ihm das zur Gewissheit geworden, so dass er es ohne das geringste Bedenken aussprach. Gottes Kinder sind des gewiss, dass ihre Prüfungen und Züchtigungen recht und gut sind, auch wenn sie den Zweck derselben noch nicht einsehen. Und die Gottesfürchtigen wurden froh, da sie solche Worte aus Davids Munde hörten: Du hast mich treulich gedemütigt. Weil die Liebe einsah, dass Strenge nötig sei, darum wandte der HERR sie an. Also nicht etwa, weil Gott untreu gewesen, fand sich der Gläubige in schwerer Bedrängnis, sondern gerade aus dem entgegengesetzten Grunde; es war eben die Treue, mit der Gott an seinem Bunde hielt, die den Auserwählten unter die Zuchtrute brachte. Vielleicht bedurften andere damals gerade keiner beugenden Trübsal; für den Psalmisten aber war sie nötig, darum hielt der HERR mit diesem Segen nicht zurück. Unser himmlischer Vater ist kein Eli; er lässt seine Kinder nicht ungestraft sündigen, dafür ist seine Liebe zu groß. Der Mann, der das Bekenntnis dieses Verses ablegt, ist in der Schule der Gnade in gutem Fortschreiten begriffen und ganz dabei, die Gebote innerlich zu lernen. Beachten wir, wie dieser dritte Vers dem der vorigen Gruppe (V. 67) entspricht.

76. Deine Gnade müsse mein Trost sein, wie du deinem Knecht zugesagt hast. Nachdem er die Gerechtigkeit des HERRN bezeugt hat, ruft er nunmehr seine Gnade an. Er bittet nicht, dass der Stab Wehe von seinem Rücken genommen werde, aber er fleht inständig um Trost unter der Züchtigung. Gottes Gerechtigkeit und Treue können uns keinen Trost gewähren, wenn wir nicht zugleich seine Gnade schmecken dürfen. Doch, Gott sei gelobt, dies ist uns in seinem Worte verheißen, so dass wir darauf rechnen dürfen. In dem Worte des Grundtextes (chesed, Liebe, Huld, Wohlwollen, Gnade) liegt alles das ausgedrückt, was wir in der Prüfung nötig haben; Gnade zur Vergebung unserer Sünden und Güte, die uns in unserer Betrübnis aufrecht erhält. Waltet sie über uns, so können wir auch in trüben Tagen getrost sein; ohne sie aber sind wir elend und unglücklich. Um Gnade lasst uns daher den HERRN bitten, den wir durch unsere Sünde betrübt haben, und auf das Wort seiner Gnade wollen wir uns berufen als unseren einzigen Rechtsgrund, auf den hin wir seinen gütigen Beistand erwarten dürfen. Gepriesen sei sein Name, trotz unserer Fehler sind und bleiben wir doch seine Knechte, und wir dienen einem barmherzig mitfühlenden Herrn. Man kann die zweite Vershälfte auch als Erinnerung an einen ganz besonderen Ausspruch des HERRN, eine bestimmte einzelne Verheißung auffassen. Können wir nicht auch solch eines teuerwerten Wortes, solch einer gewisslich wahren Zusage, uns gegeben, gedenken und sie zur Grundlage unserer Bitten machen? Der Ausdruck "nach deinem Worte" oder "wie du gesagt hast" kehrt sehr häufig in dem Psalm wieder. Es liegt darin sowohl das Warum als das Wie der Gnade. Unsere Gebete sind nach dem Herzen Gottes, wenn sie nach dem Worte Gottes sind.

77. Lass mir deine Barmherzigkeit widerfahren, dass ich lebe. So schwer war er bedrängt, dass ihm der Tod drohte, wenn ihm Gott nicht beistünde. Er bedurfte Barmherzigkeit, zartes helfendes Mitleid, denn er war wund und siech. Und nur solche milde Freundlichkeit konnte ihm helfen, die vom HERRN selbst kam. Auch musste sie zu ihm kommen, über ihn kommen (wie es wörtlich heißt), denn alles, was er tun konnte, war ein Seufzen der Sehnsucht. Wenn die Hilfe nicht bald kam, dann, das fühlte er, musste er sterben. Und doch hatte er noch eben erst (V. 74) gesagt: Ich hoffe auf dein Wort. Wie wahr ist es doch, dass die Hoffnung lebendig bleibt, selbst wenn ringsum nichts als Tod und Verderben zu sehen ist. Die Heiden hatten den. Spruch: Dum spiro spero, solange ich lebe, hoffe ich; der Christ aber kann sagen: Dum exspiro spero auch im Sterben hoffe ich, hoffe noch auf Gnadenbeweise des HERRN. Kein rechtes Gotteskind kann ohne die Barmherzigkeit des HERRN leben; ihm bedeutet es Tod, wenn es unter Gottes Zorn steht. Das erst ist wahres Leben, wenn uns Gottes Gnade widerfährt. Dann ist es nicht mehr ein bloßes Dasein, wir sind lebendig, voll frischer Lebens- und Tatkraft. Wir wissen gar nicht, was eigentlich Leben heißt, solange wir Gott nicht kennen. Von manchen Menschen sagt man, sie seien "gestorben durch Gottes Heimsuchung"1; wir aber leben durch sie.
  Denn ich habe Lust zu deinem Gesetz. O seliger Glaube! Der ist schon fortgeschritten im Glauben, wer Lust zum Gesetz hat, selbst wenn er um seiner Übertretungen willen gezüchtigt worden. Das beweist, dass die Züchtigung uns Nutzen gebracht hat. Und sicherlich ist das ein Umstand, den Gott zu unseren Gunsten gelten lässt, so Bitteres und Schmerzliches wir auch sonst durchmachen müssen; wenn wir trotz alledem am Gesetz des HERRN unsere Wonne haben, so kann er uns nicht sterben und verderben lassen, er muss und will auch uns einen Blick der Liebe gönnen und so unsere Herzen trösten.

78. Ach, dass die Stolzen müssten zu Schanden werden. Er bittet den HERRN, dass seine Strafgerichte doch nicht länger ihn treffen möchten, sondern seine herzlosen Feinde. Gott lässt es nicht geschehen, dass Menschenkinder, die ihre Hoffnung auf sein Wort setzen, zu Schanden werden. Diese Vergeltung hat er den hochmütigen Geistern vorbehalten. Sie sollen mit Schmach und Schande bedeckt werden, zur Verachtung werden, während die gedemütigten Kinder Gottes ihre Häupter emporheben sollen. Solche Schmach gebührt den Stolzen, denn es ist etwas Schmachvolles um den Stolz. Den Heiligen hingegen soll keine Schande anhaften, denn die Heiligkeit ist nichts, dessen man sich zu schämen hätte.
  Die mich mit Lügen (Grundtext: ohne Ursache) niederdrücken. Ihre Bosheit war ganz mutwillig, er hatte sie durchaus nicht herausgefordert. Lügen hatten sie erdichtet, um eine Anklage gegen ihn zu schmieden; sie mussten gewaltsam seine Handlungen entstellen, bevor sie seinen guten Namen angreifen konnten. Der Psalmist empfand offenbar die Bosheit seiner Feinde besonders lebhaft. Das Bewusstsein seiner Unschuld ihnen gegenüber erzeugte in ihm ein brennendes Gefühl der erlittenen Ungerechtigkeit, und er rief den gerechten Herrn an, seine Sache aufzunehmen und seine lügnerischen Ankläger mit Schande zu bedecken. Wahrscheinlich bezeichnet er sie darum als die Stolzen oder Übermütigen, weil er wusste, dass der HERR stets an den Stolzen Gericht übt und die Sache der Unterdrückten verteidigt. Bald nennt er sie die Stolzen, bald die Gottlosen, stets aber meint er die nämlichen Leute; die beiden Wörter können miteinander vertauscht werden. Wer stolz ist, ist auf jeden Fall gottlos, und übermütige Verfolger sind die schlimmsten unter den Gottlosen.
  Ich aber rede von deinen Befehlen, Grundtext: sinne über deine Befehle. Er überlässt die Stolzen der Hand Gottes und widmet sich ganz der Beschäftigung mit heiligen Dingen. Um den göttlichen Befehlen gehorsam sein zu können, müssen wir sie genau kennen, daher auch uns viel mit ihnen beschäftigen, darüber sinnen. Darum fühlte auch dieser verfolgte Heilige, dass die Betrachtung des Wortes Gottes seine wichtigste Beschäftigung sein müsse. Er wollte erforschen, welche Bedeutung die Befehle des Gesetzes Gottes für ihn selbst hatten; nicht um Vergeltung ging es ihm. Die Stolzen sind keines ernsthaften Gedankens wert. Das Schlimmste, was sie uns antun könnten, wäre, wenn sie uns von dem stillen Umgang mit Gott und seinem Worte abbrächten. Darum lasst uns ihre Pläne vereiteln, indem wir uns nur umso inniger und fester an Gott anschließen, je boshafter sie in ihren Anschlägen sind.
  Wir sind den Stolzen auch in anderen Abschnitten des Psalms begegnet und werden wieder von ihnen hören. Sie waren offenbar eine Quelle vieler Widerwärtigkeiten für den Psalmisten; doch vermag er immer wieder sich darüber zu erheben.

79. Ach dass sich müssten zu mir halten (wörtl.: wenden), die dich fürchten und deine Zeugnisse kennen. Vielleicht waren durch die Zungen böswilliger Verleumdung einige der Gottesfürchtigen von dem Psalmisten abgewendet worden, und wahrscheinlich hatten die Fehltritte Davids bei noch mehreren schmerzliches Ärgernis erregt. Er bittet den HERRN, sich selbst zu ihm zu wenden und dann zu geben, dass auch die Seinen sich zu ihm halten. Wer im rechten Verhältnis zu Gott steht, der hat auch den dringenden Wunsch, in ein rechtes Verhältnis zu seinen Kindern zu kommen. David sehnte sich nach der Liebe und Teilnahme der Frommen aller Grade, von denen, die erst im Anfange des Gnadenlebens standen, bis zu den in der Gottseligkeit Gereiften - "die dich fürchten" und "die deine Zeugnisse kennen". Wir können die Liebe auch der Geringsten unter Gottes Heiligen nicht missen, und wenn wir ihre Wertschätzung verloren haben, so ist es unsere Aufgabe, den HERRN zu bitten, dass wir sie wiedererlangen mögen. David war das geistige Haupt der Frommen im Volke, und es tat ihm bitter weh, wahrzunehmen, dass solche, die Gott fürchteten, nicht mehr mit solcher Freude zu ihm aufblickten, wie es früher der Fall gewesen war. Aber er begehrte nicht im Trotze auf - wenn sie ohne ihn fertig werden könnten, so könne auch er ohne sie auskommen; vielmehr empfand er so tief den Wert ihrer Freundschaft, dass er es zu einem Gegenstand inbrünstigen Gebetes machte, der HERR möge doch ihre Herzen ihm wieder zuwenden. Leute, die dem HERRN lieb und wert sind und in seinem Worte wohl unterwiesen sind, die sollten auch in unseren Augen köstlich sein. Wir sollten alles daran setzen, mit ihnen in gutem Einvernehmen zu stehen.
  Der Psalmdichter schildert die Heiligen, mit denen er gerne in trautem Verkehr sein möchte, als die Gott fürchten und die Gott kennen. Sie besitzen beides, Frömmigkeit und Kenntnisse, sie haben den Geist der wahren Religion und haben die rechte Lehre. Wir kennen Gläubige, deren Frömmigkeit ganz unbestreitbar ist, denen es aber an Erkenntnis in sehr bedauernswertem Maße mangelt; auf der anderen Seite kennen wir auch Leute, die ebenfalls als Christen angesehen sein wollen, aber nur Kopf und kein Herz zu besitzen scheinen. David ist einer, der Wärme der Frömmigkeit mit heller Erkenntnis verbunden wissen will. Wir haben weder für fromme Schwachköpfe noch für eiskalte Verstandesmenschen eine besondere Vorliebe. Wo Furcht Gottes und Erkenntnis Hand in Hand gehen, da machen sie den Menschen zu jedem guten Werke geschickt. Sind solche, die dies beides besitzen, meine liebsten Gefährten, dann darf ich hoffen, dass ich selber auch zu ihnen gehöre. Möchten doch immer solche Menschen sich zu mir halten, weil sie einen Gesinnungsgenossen in mir finden.

80. Mein Herz bleibe rechtschaffen in deinen Rechten, dass ich nicht zu Schanden werde. Das ist sogar noch wichtiger, als die Achtung guter Menschen zu genießen. Wenn das Herz rechtschaffen ist im Gehorsam des Wortes Gottes, dann ist alles in Ordnung oder kommt wenigstens in Ordnung. Werden wir hingegen vor Gott nicht rechtschaffen erfunden, dann ist unser frommer Name ein leerer Schall. Bloßes Bekennen hält nicht stand, und unverdiente Achtung schwindet wie eine plötzlich platzende Seifenblase; nur Aufrichtigkeit und Wahrheit bestehen am bösen Tage. Wer im Herzen richtig steht, hat kein Zuschandenwerden zu fürchten, weder jetzt noch später. Die Heuchler aber sollten jetzt sich schämen, und ein Tag wird kommen, da sie zu Schanden werden für immer und ewig. Ihre Herzen sind voll Moders, so wird auch ihr Name verwesen (Spr. 10,7).
  Dieser achtzigste Vers ist eine Ergänzung zu dem Gebet des dreiundsiebenzigsten; dort begehrte er Unterweisung, um tüchtig in der Erkenntnis zu werden, hier geht er tiefer und bittet um ein rechtschaffenes Herz. Wer sein Naturverderben in trauriger Erfahrung kennen gelernt hat, dem wird es Bedürfnis, in die Tiefe zu dringen und den HERRN um Wahrheit im Innern anzuflehen. Das sei denn auch der Schluss der Betrachtung dieses Abschnittes, dass wir mit dem Psalmisten den HERRN anrufen: Mein Herz bleibe rechtschaffen in deinen Rechten!


V. 73-80. Das achtfache y (I): Gott demütigt, aber er erhöht auch wieder nach seinem Worte; um dieses bittet der Dichter, damit er ein Trostexempel sei für die Gottesfürchtigen zur Beschämung seiner Feinde. Es ist unmöglich, dass Gott den Menschen, der sein Geschöpf ist, verlassen und ihm das, was ihn wahrhaft glücklich macht, versagen sollte, nämlich Verständnis und Erkenntnis seines Wortes. Um diese geistliche Gabe bittet der Dichter (V. 73) und wünscht (V. 74), dass alle, die Gott fürchten, an ihm mit Freuden ein Beispiel sehen mögen, wie das Vertrauen zu Gottes Wort sich belohnt. Er weiß, dass Gottes Gerichte eitel Gerechtigkeit sind, d. i. normiert durch Gottes Heiligkeit, ihren Beweggrund, und der Menschen Heil, ihren Endzweck; er weiß, dass Gott ihn gedemütigt, es treu mit ihm meinend, denn gerade in der Leidensschule lernt man den Wert seines Wortes erst recht würdigen, bekommt man seine Kraft zu schmecken. Aber Trübsal, wenn auch versüßt durch Einblick in Gottes heilsame Absicht, bleibt doch immer bitter, daher die wohlberechtigte Bitte (V. 76), dass doch Gottes Gnade sich erweisen möge ihm zum Troste, gemäß der ihm, seinem Knechte, gewordenen Verheißung. In V. 79 ist wohl die Zukehr zum Zwecke des Lernens gemeint; ihre, der Gottesfürchtigen, Erkenntnis möge sich aus seiner Erfahrung bereichern. Sich selbst aber wünscht er (V. 80) vorbehaltloses, mangelloses, wankelloses Festhalten an Gottes Wort, denn nur so ist er vor schmählicher Enttäuschung sicher. Prof. Franz Delitzsch † 1890.

73. Ich bin von deinen Händen gemacht und bereitet;
Lass mich einsichtig werden, dass ich deine Gebote lerne.
74. Indem, die dich fürchten, mich sehen, mögen sie sich freuen,
Denn ich hoffe auf dein Wort.
75. Ich weiß, HERR, dass deine Gerichte recht sind,
Und hast mich treulich gedemütigt.
76. In deiner Gnade müsse ich Trost finden,
Wie du deinem Knechte zugesagt hast.
77. Ich flehe, du wollest mir lassen deine Barmherzigkeit widerfahren, dass ich lebe;
Denn ich habe Lust zu deinem Gesetz.
78. In Schande müssen enden, die mich mit Lügen niederdrücken;
Ich aber sinne über deine Befehle.
79. Jene, die dich fürchten, müssen sich zu mir halten,
Und die deine Zeugnisse halten.
80. In deinen Rechten bleibe rechtschaffen mein Herz,
Dass ich nicht zu Schanden werde. - E. R.


V. 73. Deine Hand hat mich gemacht und bereitet; unterweise mich usw. Gottes Größe bildet kein Hindernis für seinen Verkehr mit uns, vielmehr macht seine Fähigkeit, sich zu der Kleinheit geschaffener Wesen herabzulassen, einen Teil seiner Größe aus. Das Geschaffene kann ja seiner Natur nach eben nicht anders als klein sein. Wie Gott stets nur Gott, so kann auch der Mensch stets nur Mensch sein, das Meer stets nur das Meer und der Tropfen immer der Tropfen. Die Größe Gottes umfasst unsere Kleinheit, wie der Himmel die Erde von allen Seiten umhüllt, wie die Luft alle Punkte der Erde; und das ist es, was seinen Verkehr mit uns zu einem so völligen und so seligen für uns macht, dass in seiner Hand ist die Seele alles des, das da lebt, und der Geist des Fleisches aller Menschen (Hiob 12,10). So nahe tritt der HERR den Werken seiner Hände, so innig wird er mit ihnen. In seinem Namen Schöpfer ist eben der Begriff des Nahe-, nicht des Ferneseins enthalten, und die einfache Tatsache, dass er uns geschaffen hat, gibt uns Gewähr dafür, dass er uns segnen und mit uns sein will. Den treuen Schöpfer nennt ihn der Apostel (1. Petr. 4,19), und diesen treuen Schöpfer rufen auch wir an: Das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen (Ps. 138,8). Horatius Bonar 1875.
  "Herr, siehe an die Wundenmale in deinen Händen und vergiss nicht das Werk deiner Hände" war das Gebet der Königin Elisabeth von England. John Trapp † 1669.


V. 74. Die dich fürchten, sehen mich und freuen sich. Wie erquickend, stärkend und tröstlich ist es doch für die Erben der göttlichen Verheißungen, sich zu sehen, miteinander zusammen zu kommen. Der bloße Anblick eines guten Menschen ist erfreulich; es gewährt Freude, mit solchen umzugehen, die es sich angelegen sein lassen, Gott zu gefallen, die eine heilige Scheu davor empfinden, ihn zu beleidigen. Wie fühlen sie mit, wenn einer von ihnen besonders begnadigt wird, "sie sehen mich und freuen sich", da mir etwas widerfahren ist, was meinen Hoffnungen entspricht. Sie schauen mich an als ein Denkmal, ein sichtbares Beispiel der Barmherzigkeit und Treue Gottes. Aber was war es doch für Gnade, die ihm widerfahren war? Nach dem Zusammenhange wird es als eine Gnade gerechnet, Gottes Geboten zu gehorchen; das war das Gebet des unmittelbar vorhergehenden Verses: Unterweisung, seine Gebote zu lernen. Nun werden sie sich freuen, meinen heiligen Wandel zu sehen, wie die Unterweisung bei mir gefruchtet hat zur Ehre Gottes. Hebräische Ausleger verstehen die Stelle so: denn dann werde ich im Stande sein, sie in diesen Rechten zu unterweisen, wenn sie mich, ihren König, im Gesetz Gottes forschen sehen. Es kann aber auch von jedem anderen Segen oder Gnadenbeweise, den Gott ihm nach seiner Hoffnung verliehen hat, verstanden werden; und ich möchte es so aufgefasst haben: sie freuen sich, zu sehen, wie er gehoben, getragen, gerettet wird durch seine Trübsal und Leiden. Sie freuen sich, wenn sie in mir ein deutliches Beispiel von der Frucht sehen, die aus der Hoffnung auf deine Gnade erwächst. Thomas Manton † 1677.


V. 75. HERR, ich weiß, dass deine Gerichte recht sind. In meiner Jugend erschien meinen Augen der Baum der Wissenschaft ein herrlicher, stolzer Baum, aber wie irrig ist doch meine Ansicht in vieler Hinsicht gewesen. Gewiss, wer die Schriften des klassischen Altertums gelesen hat, wer in die mathematischen Wissenschaften eingedrungen ist, wer in Geschichte, in Sprachlehre bewandert ist, wer befähigt ist, schwierige Fragen zu lösen, der ist im Vergleich mit der ungebildeten Menge ein kenntnisreicher Mann. Aber was bedeutet dies alles im Vergleich mit dem Wissen in unserem Texte! Das ist ein Wissen, von dem nur wenige derer, die Gelehrte heißen, auch nur die geringste Kenntnis haben. Joh. Martin 1817.
  Gottes Gerichte, das sind seine Ratschlüsse, seine Schickungen und Anordnungen ganz allgemein, nicht ausschließlich seine Heimsuchungen. Und der Psalmist meint hier ganz besonders die "Gerichte", die ihn selbst betroffen, alles was ihm widerfahren ist oder noch widerfahren wird. Er weiß nichts von Zufall, alles kommt von Gott, darum sieht er allem mit getroster Zuversicht entgegen in vollem Vertrauen auf Gottes Weisheit, Macht und Liebe. Ich weiß, dass deine Gerichte recht sind, ganz recht, in jedem Punkte, in jeder Hinsicht, sie könnten nicht besser sein. Und das ist seine feste Überzeugung. Ich weiß, sagt er, nicht, ich meine. Aber seine Worte zeigen, dass es sich hier um ein Glauben, noch nicht ein Schauen handelt; denn er sagt nicht: Ich sehe es. Wenn es auch vieles in deinen Schickungen gibt, was ich nicht verstehe, so bin ich doch völlig überzeugt, dass deine Gerichte recht sind. Und das gilt von allen, der Psalmist macht keine Einschränkungen. Recht sind nicht nur die Fügungen, die uns angenehm sind, oder deren Zweckmäßigkeit ganz augenfällig ist, sondern sein Glaube ist ein viel größerer, er weiß, dass alles, was ihm von Gott widerfährt, auch das Bittere, das Leiden, recht ist und darum ihm zum Besten dient. Und besonders von diesem letzteren spricht hier der Psalmist. Das zeigen die folgenden Worte: Und hast mich treulich gedemütigt. Der Psalmist spricht also nicht von freudigen, sondern von schmerzlichen Erfahrungen, nicht von Geschenken, sondern von Verlusten, von solchen versteckten Segnungen im Trauergewande, wie sie Gott so häufig seinen Kindern schickt. Alle diese Verluste, Enttäuschungen, Schmerzen, Krankheit, sind recht, ebenso recht wie die augenfälligen Gnadenbeweise, denn es sind Gottes Gerichte. Und treulich hast du mich gedemütigt, treu deinem Worte, treu deinen Gnadenabsichten, in treuer, nicht in schwacher Liebe. Franz Bourdillon 1881.
  Und hast mich treulich gedemütigt. Gott ist nicht nur getreu trotz der Prüfungen, die er sendet, sondern weil er sie sendet. Das ist nicht das nämliche; in dem einen Falle wäre es eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, im anderen Falle aber gehört es unter die Regel selbst. Gott kann nicht treu sein, wenn er nicht alles das tut, was zu unserem Wohl, zu unserem ewigen Heile dient. Wie dahin die Sündenvergebung, die Heiligung, die ewige Herrlichkeit gehört, ebenso wohl auch die Maßregeln seiner Vorsehung, welche zu unserer Erziehung für den Himmel notwendig oder förderlich sind. Das Kreuz ist also nicht etwas Außerordentliches, der Gnade des Bundes eigentlich Fremdes, sondern vielmehr ein wesentlicher Teil derselben. Thomas Manton † 1677.
  Gott kennt unsere Natur genau, er weiß, was jedem Einzelnen für seine Gesundheit zuträglich, was ihm schädlich ist, und danach verschreibt er uns die nötigen Mittel; bliebe uns die Wahl derselben überlassen, so würde viel Törichtes und Schädliches dabei vorfallen. Seid sicher, wir würden alle Gut und Reichtum wählen, auch wenn das uns nur üppig, hochmütig und habsüchtig machte. Darum teilt uns Gott in seiner Weisheit Armut zu, die Mutter des Fleißes, der Mäßigkeit und der Weisheit, die uns lehrt, unsere Schwachheit, unsere Abhängigkeit von Gott erkennen, die uns zu ihm, dem einzigen Helfer in aller Not, führt. Weiter würden wir sicherlich Gunst und Beifall der Menschen zu gewinnen suchen; aber Gott weiß, dass uns solches nur eitel und eingebildet machen würde auf unsere eigenen Fähigkeiten, so dass wir Gott der ihm gebührenden Ehre berauben würden. Darum lässt er uns weislich allerlei Missfallen und Schmach, ja Hass und Verachtung erfahren, damit wir unsere Ehre nur in der Hoffnung auf seine Gunst und Gnade suchen und mit größerem Eifer den reineren Freuden eines guten Gewissens nachjagen. Wir würden alle suchen, die höchsten Höhen zu ersteigen, ohne der Abgründe zu achten, die ringsumher drohen, ohne Rücksicht auf den Schwindel, der uns unfehlbar befallen würde. Aber Gott hält uns in Sicherheit zurück im bescheidenen Tale, indem er uns eine Stellung zuweist, die unseren Fähigkeiten besser entspricht. Wir würden vielleicht im Übermut die uns verliehene Macht frech missbrauchen zum Schaden unserer Nächsten und zu unserem eigenen Verderben. Umfassendes Wissen würde uns zur Selbstüberhebung, zur Geringschätzung unserer Nebenmenschen führen; im ungestörten Genusse guter Gesundheit würden wir die große Wohltat, die darin liegt, gar nicht kennen lernen und den vergessen, von dem sie kommt. Darum gewährt uns Gottes Güte nur ein bescheidenes Teil von diesen Dingen, so dass wir nicht zu hungern brauchen, aber auch nicht übermütig werden. Kurz, der Gewinn, den wir aus den göttlichen Heimsuchungen, den Demütigungen ziehen, ist so mannigfach, so groß, dass wir alle Ursache haben nicht bloß zur Zufriedenheit, nein zu freudigstem Danke für alles Kreuz und alle Plagen, die uns heimsuchen, sie mit heiterem Gemüte entgegenzunehmen aus Gottes Hand, als Heilmittel für unsere Seelen, als Grundlage unseres Glückes, als Beweise seines Wohlwollens, als Werkzeuge zu unserer Besserung, als festen Grund der Hoffnung und tröstliche Hinweise auf zukünftige Freuden. Isaak Barrow † 1677.
  Dass für den Christen das Leiden und die Heimsuchungen nicht Beweise des Zornes, sondern der Liebe Gottes sind, das drücken zahlreiche köstliche Lieder aus, mit denen Kreuzträger aller Zeiten sich und vielen Leidensgenossen Stärkung und Trost zugesprochen haben, vom königlichen Psalmensänger an: Wo kämen Davids Psalmen her, wenn er nicht auch versuchet wär? Und zur höchsten Höhe der Erkenntnis vom Segen des lieben Kreuzes, der "lieben Not", wie sie unsere Väter tiefsinnig genannt haben, hat sich der fromme Johannes Mentzer aufgeschwungen, der aus köstlicher Erfahrung heraus in die Worte ausbrach:

  Vor anderm küss’ ich deine Rute,
  Womit du mich gezüchtigt hast;
  Wieviel tut sie mir doch zugute,
  Wie ist sie eine sanfte Last!
  Sie macht mich fromm und zeugt dabei,
  Dass ich bei dir in Gnaden sei.

  Und wie tief der Dichter die wahre Bedeutung des Kreuzes erkannte, das beweist die Stelle, die er diesem Lob des Kreuzes angewiesen, mitten in dem herrlichen Dank- und Jubelliede: O dass ich tausend Zungen hätte. Ed. Roller 1907.


V. 76. Deine Gnade müsse mein Trost sein. In mehreren der voraufgehenden Verse (V. 67.71.75) hat der Psalmist von Züchtigung, von Trübsal gesprochen. Jetzt bittet er den HERRN um Erleichterung der Last. Inwiefern? Er verlangt nicht, dass sie völlig entfernt werde; er fleht nicht dem HERRN, dass sie von ihm weiche (2. Kor. 12,8). Vielmehr hat er wiederholt anerkannt, wieviel Trost und Hilfe er dabei erfahren, wieviel Segen er daraus gewinnen durfte, und das hatte ihn schließlich dahin gebracht, getrosten Mutes Maß und Dauer der Heimsuchungen dem HERRN zu überlassen. Alles, was er braucht und um was er bittet, ist, dass seine Seele der Gnade und Huld des HERRN bewusst und sicher werde. Auch da, wo Gott will, dass die Not sich mehre, erwartet er Trost auf Grund der freien Gnade des HERRN. Charles Bridges † 1869.


V. 78. Die Stolzen oder Übermütigen. Die Gottlosen werden in diesem Psalme mehrfach mit diesem Namen bezeichnet (vergl. V. 51.69.85.122), besonders die Verfolger der Kinder Gottes. Weshalb? Weil die Gottlosen das Joch Gottes von sich werfen, sie wollen nicht Knechte ihres Schöpfers sein und beunruhigen darum auch stets seine Diener. (Vergl. 2. Mose 5,2) Ferner weil sie trunken sind von irdischen Erfolgen und meinen, es könne nie anders werden. Wenn es Menschen äußerlich wohlgeht, dann sind sie merkwürdig schnell bei der Hand, andere in Not und Unglück zu bringen und dann noch sich über sie lustig zu machen und die Frommen zu verachten (Ps. 55, 21.22). Sie führen ein Leben des Glanzes und der Bequemlichkeit und verachten die Trübsal und die Einfalt und Niedrigkeit der Gottesfürchtigen. Darum heißen sie Stolze, weil sie noch dazu auf besondere Achtung und Ehrerbietung Anspruch machen, die ihnen gar nicht zukommen (Esther 3,5). Thomas Manton † 1677.
  Hütet euch, ihr Gottlosen, dass euer unversöhnlicher Hass gegen die Wahrheit und die Kirche des HERRN nicht die Gebete der Heiligen gegen euch herausrufe. Diese die göttlichen Strafgerichte herabrufenden Gebete sind Verderben bringende Geschosse, und wen sie treffen, der stürzt, um sich nicht wieder zu erheben. Sollte Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in einer Kürze. Ihre Gebete, ihre Hilferufe sind keine leeren, in den Wind gesprochenen Worte wie die Verwünschungen der Bösen, sie finden Eingang im Himmel und fallen von da unter Donner und Blitz hernieder auf die Häupter der Sünder. Davids Gebet enthüllte die fein gesponnenen Ränke Ahitophels und entwand dem Gegner die Waffen, die er gegen ihn gebrauchen wollte. Die Gebete der Heiligen sind mehr zu fürchten als ein schlagfertiges Heer von vielen tausend Mann. Esthers Gebet brachte schnell den bösen Haman zu Fall, und Hiskias Gebet gegen Sanherib lieferte sein gewaltiges Heer auf die Schlachtbank und holte einen Engel vom Himmel herab, der in einer Nacht sein Werk der Vernichtung an jenen vollbrachte. William Gurnall † 1679.


V. 79. In Vers 63 sagte der Psalmist: Ich halte mich zu denen, die dich fürchten. In diesem Vers aber kommt er zum HERRN und bittet, er möchte es bewirken, dass die Gottesfürchtigen sich zu ihm halten. Er sagt also: Wahrlich, HERR, ich halte mich zu den Deinen; aber es liegt nicht in meiner Macht, sie mir geneigt zu machen. Du selber wollest sie mir zu Gefährten machen. William Bridge † 1670.
  Das vornehmste Mittel, um Entfremdung, Missverständnisse, Verstimmungen zu heben, die das gute Einvernehmen zwischen Kindern Gottes stören, ist das Gebet, so wie David hier fleht: HERR, mach doch, dass sie sich zu mir wenden. Der HERR, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche, benutzt die Einigkeit, aber auch die Entfremdung als Mittel, seine Absichten mit uns auszuführen. Thomas Manton † 1677.
  Wir wollen uns zu Gottes Kindern halten. Dort können wir Starke finden, wenn wir schwach sind, Kluge, wo es uns an Rat fehlt, und so werden wir vor vielem Schlimmen behütet werden. Darum dankt auch Paulus, nachdem er sich über mancherlei Unbilden beklagt, die er von anderen erfahren, von ganzem Herzen für die Familie des Onesiphorus (2. Tim. 1,16), die ihn mehr erquickte, als die anderen ihn zu entmutigen vermochten. Richard Greenham † 1591.
  Die dich fürchten und deine Zeugnisse kennen. Furcht Gottes und Erkenntnis, beides gehört zur Gottseligkeit. Erkenntnis ohne Furcht erzeugt Anmaßung, Furcht ohne Erkenntnis Aberglauben. Blinder Eifer mag ja voll Feuer sein, wird aber immer wieder straucheln. Erkenntnis muss die Furcht leiten und Furcht muss die Erkenntnis würzen, dann gibt es eine glückliche Mischung. Thomas Manton † 1677


V. 80. Was ist ein rechtschaffenes Herz  Ein solches, das tatsächlich fest in der Gnade Gottes steht. Zu einem rechtschaffenen Herzen im Sinne unserer Stelle gehört viererlei: ein erleuchtetes Verständnis (Spr. 15,21), ein waches Gewissen (Spr. 6,22; Ps. 16,7), ein entschlossener Wille (Apg. 11,23) und schließlich reine, gottgefällige Triebe und Neigungen (5. Mose 30,6). Thomas Manton † 1677.
  Mein Herz bleibe rechtschaffen, unsträflich, heil, gesund, das alles liegt in dem Worte. Mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist in einem gesunden Leibe, war der Wunsch eines heidnischen Dichters (Juvenal, Sat. 10,356); und nach dem Stande seiner Erkenntnis hatte er ganz Recht mit diesem Wunsche. Der Psalmist freilich begehrt mehr, ein gesundes Herz, rechtschaffen in den Geboten des HERRN, durch und durch untadelig, ohne Flecken und Runzel, wie des Königs Tochter "innen ganz herrlich", und das ist das, was jedes Kind Gottes für sich erstrebt und erbittet; es reinigt sich, gleichwie er auch rein ist (1. Joh. 3,3). Barton Bouchier † 1865.
  Willst du nicht zu Schanden werden, willst du deinem Herrn und Heiland treu sein, so mache Davids Gebet um ein rechtschaffenes Herz auch zu dem deinigen. Frömmigkeit, die auf Heuchelei begründet ist, endet sicherlich mit Fall und Abfall und führt zu Verachtung und Schande. William Spurstowe † 1666.
 


1. "Died by the visitation of God", Formel in amtlichen Urkunden bei einem Todesfalle, wo die Todesursache unbekannt ist, oder bei gewaltsamem Tode, wenn der Täter nicht zu ermitteln ist. - E. R.


81. Meine Seele verlangt nach deinem Heil;
ich hoffe auf dein Wort.
82. Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort
und sagen: Wann tröstest du mich?
83. Denn ich bin wie ein Schlauch im Rauch;
deiner Rechte vergesse ich nicht.
84. Wie lange soll dein Knecht warten?
Wann willst du Gericht halten über meine Verfolger?
85. Die Stolzen graben mir Gruben,
die nicht sind nach deinem Gesetze.
86. Deine Gebote sind eitel Wahrheit.
Sie verfolgen mich mit Lügen; hilf mir!
87. Sie haben mich schier umgebracht auf Erden;
ich aber verlasse deine Befehle nicht.
88. Erquicke mich durch deine Gnade,
dass ich halte die Zeugnisse deines Mundes.

Dieser Abschnitt des gewaltigen Psalmes zeigt uns den Psalmisten in den höchsten Nöten. Er erliegt fast unter dem Druck der Angst und Betrübnis, die seine Feinde über ihn gebracht haben; doch bleibt er dem Gesetz treu und harrt auf seinen Gott. Diese Verse, mit denen wir an die Mitte des Psalmes kommen, sind zugleich auch gleichsam seine Mitternacht, und sehr düster ist ihr Dunkel. Doch leuchten Sterne durch die Finsternis, und der letzte Vers lässt schon das Morgengrauen ahnen. Der Ton, die ganze Stimmung des Psalms wird fortan freudiger werden; inzwischen können wir aber gerade daraus Trost schöpfen, dass wir in den vorliegenden Versen einen so hervorragenden Knecht Gottes so Bitteres von den Gottlosen erdulden sehen. Da wird es recht augenscheinlich, dass uns mit unseren Leiden und Verfolgungen nichts Seltsames widerfährt, das uns befremden müsste.

81. Meine Seele verlangt (schmachtet, sehnt sich verzehrend) nach deinem Heil (deiner Hilfe). Der Psalmist begehrt keine andere Hilfe, als die vom HERRN kommt; sein einziges Begehren ist "dein Heil". Nach dieser Hilfe von oben aber sehnt er sich aufs äußerste; er streckt sich ihr entgegen mit allen seinen Kräften, ja darüber hinaus, dass sie ihn ganz zu verlassen drohen. So stark und heftig war sein Verlangen, dass er fast verschmachtete. Das Harren machte ihn matt, die beständige Spannung raubte ihm schließlich die Spannkraft, er wurde ganz krank vor ungestilltem stürmischem Begehren. So erwies sich, wie redlich und glühend sein Verlangen war. Nichts konnte ihn zufrieden stellen als einzig eine mit Gottes eigener Hand gewirkte Befreiung; sein ganzes Innere schmachtete nach dem Heil von dem Gott aller Gnade. Das musste ihm zuteil werden, oder er ging zu Grunde. Aber: ich hoffe auf dein Wort. Deshalb wusste er auch, dass ihm die Hilfe kommen werde, denn Gott kann sein Versprechen nicht brechen noch die Hoffnung täuschen, die sein Wort selbst im Herzen erweckt hat. Vielmehr muss die Erfüllung nahe sein, wenn unsere Hoffnung fest und unser Verlangen inbrünstig ist. Die Hoffnung allein vermag die Seele vor dem Ohnmächtigwerden zu schützen, indem sie sie mit dem Lebenselixier der Verheißungen stärkt. Doch dämpft die Hoffnung nicht das Verlangen nach rascher Erhörung des Gebetes; im Gegenteil, sie macht uns nur ungestümer im Bitten, denn sie feuert unseren Eifer an und stärkt das Herz zum Anhalten am Gebet, wenn die Hilfe sich verzögert. Zu schmachten, ja fast zu verschmachten vor brennender Heilsbegier, und dennoch durch die Hoffnung vor dem gänzlichen Verschmachten bewahrt zu werden, das gehört zu den häufigen Erfahrungen des Christen. Gleich Gideons Mannen sind wir müde und jagen dennoch nach (Richter 8,4). Die Hoffnung hält uns aufrecht, wo das Sehnen uns matt macht.

82. Meine Augen sehnen sich (verzehrend, sie schmachten) nach deinem Wort und sagen: Wann tröstest du mich? Er schaute nach dem huldreichen Erscheinen des HERRN aus, bis ihm vom Spähen die Augen übergingen, und sein Herz schrie nach Trost und Erquickung, dass es über dem bangen Harren ganz ermattet ward. Im Worte lesen, bis die Augen ihren Dienst versagen, ist ein Kleines im Vergleich zu dem sehnsuchtsvollen Harren auf die Erfüllung der Verheißung, bis das geistige Auge über dem Ausschauen trübe wird, weil die Hoffnung sich immer wieder verzieht. Wir dürfen Gott keine Zeit vorschreiben, denn das hieße den Heiligen in Israel meistern; wohl aber dürfen wir unsere Anliegen mit dringlichem Flehen vor Gott geltend machen und mit brennendem Eifer der Frage nachgehen, warum die Verheißung verzieht. Der Psalmdichter begehrte keinen Trost als den, der vom HERRN kommt; seine Frage ist: Wann tröstest Du mich? Kommt unsere Hilfe nicht vom Himmel, dann kommt sie überhaupt nicht; alle die Erwartungen des Gottesmannes gehen nach dieser Richtung, nicht einen Blick wirft er anderswohin. Dies alle Kräfte der Seele bis zum äußersten anspannende, verzehrende Harren ist den geförderten, gereiften Heiligen wohlbekannt, und sie lernen daraus manche köstliche Lektion, die sie auf keine andere Weise sich hätten aneignen können. Eines der segensreichen Ergebnisse solcher Erfahrungen ist das, dass der Leib sich zu edler Gemeinschaft mit der Seele erhebt, dass beide, Fleisch und Seele (Ps. 63,2) schreien nach Gott, nach dem lebendigen Gott, und selbst die Augen ihre Sprache finden: Wann wirst du mich trösten? Wie gewaltig muss doch das Sehnen sein, dem die Lippen nicht mehr zum Ausdruck genügen, sondern das mit den Augen redet, mit den Augen, die über dem sehnenden Ausschauen verschmachten! Die Augen können wahrlich sehr beredt sein, ihre Sprache hat ihre Feinheiten so gut wie die der Lippen. Besonders stark sind ihre Mutae und ihre Liquidae; ihre stummen Bitten und die flüssigen Seufzer ihrer Tränen vermögen oft mehr als alle Worte des Mundes. An anderer Stelle sagt der Psalmist einmal: Der HERR hat die Stimme meines Weinens gehört (Ps. 6,9). Beonders dann sind unsere Augen beredt, wenn sie vor Herzeleid und Harren zu versagen anfangen. Ein demütiges, in unhörbarem Flehen zum Himmel erhobenes Auge kann solche Flammen sprühen, dass die Riegel schmelzen, die das Tor verschlossen halten für die Stimme des Mundes, und durch das Geschütz der Tränen kann der Himmel im Sturm genommen werden. Selig die Augen, die sich überanstrengt haben im Ausschauen nach Gott. Des HERRN Augen werden dazu sehen, dass solche Augen nicht völlig versagen. Wieviel besser ist es doch, mit schmerzenden Augen des HERRN zu harren, als dass wir mit funkelnden Blicken den eitlen Schimmer der Weltlust betrachten!

83. Denn ich bin (oder: ob ich auch bin) wie ein Schlauch im Rauch. Die aus Ziegenfell bereiteten Schläuche, in denen man den Wein aufbewahrte, wurden, wenn sie leer waren, im Zelte aufgehängt, und weil der Raum oft mit Rauch erfüllt war, so wurden sie schwarz und rußig, und von der Hitze schrumpften sie zusammen und wurden schadhaft. Das Antlitz des Psalmisten war durch Kummer und Leiden dunkel und entstellt geworden, voller Furchen und Runzeln; ja sein ganzer Leib hatte so an den Leiden seiner Seele teilgenommen, dass er seine natürliche Geschmeidigkeit verloren hatte und dürr und spröde geworden war. Sein Ruf war geschwärzt vom Rauche der Verleumdung, sein Geist war mürbe geworden unter der Verfolgung; er begann zu fürchten, so viel seelisches Leiden werde ihn ganz unbrauchbar machen, dass die Menschen ihn nur noch wie einen alten, völlig untauglichen Schlauch betrachten würden, der nichts mehr behalten, zu nichts mehr dienen kann. Welch ein Bild, das ein Mann von sich selber gebraucht, der sicherlich ein Dichter, ein Schriftgelehrter und ein Meister in Israel, wenn nicht gar ein König und der Mann nach Gottes Herzen war. Da ist es nicht zu verwundern, wenn wir kleineren Leute in den mancherlei Erfahrungen des Lebens dazu geführt werden, sehr gering von uns zu denken, und je und dann im Gemüte tief niedergedrückt werden. Manche unter uns kennen die Bedeutung dieses Gleichnisses gar wohl, denn auch wir haben uns mit Schmutz bedeckt, morsch und wertlos gefühlt, zu nichts nütze, als fortgeworfen zu werden. Sehr schwarz und heiß war der Rauch, der uns umgab; er schien nicht bloß aus dem Glutofen Ägyptens, sondern geradewegs aus dem Höllenschlund herzukommen; und dabei besaß sein Ruß eine Zähigkeit und Klebrigkeit, dass wir ihn gar nicht loskriegen konnten und wir von finsteren, unglücklichen Gedanken ganz schwarz wurden.
  Deiner Rechte vergesse ich nicht. Hier ist beides, leidende Geduld und sieghafter Glaube der Heiligen. Angeschwärzt werden durch Falschheit konnte der Mann Gottes wohl, aber in ihm war die Wahrheit, und er ließ nie von ihr ab. Er blieb seinem König treu, auch wo es schien, als würde er von ihm im Stich gelassen und allem preisgegeben. Die Verheißungen waren lebendig in seinem Geiste, und was ein noch besseres Zeichen seiner Treue gegen seinen himmlischen Herrn war, auch dessen Rechte waren ihm stets gegenwärtig; er hielt sich an seine Pflichten so gut wie an seine Vorrechte. Auch die schlimmsten Umstände vermögen den wahren Gläubigen nicht von dem Festhalten an seinem Gott abzubringen. Die Gnade ist eine Lebenskraft, die auch da ausdauert, wo alles natürliche Leben vergehen muss. Feuer kann sie nicht verzehren, Rauch sie nicht ersticken. Ein Mensch mag zu Haut und Knochen zusammenschrumpfen und aller Lebensgenuss ihm vergehen, und dennoch hält er fest an seiner Frömmigkeit und preist seinen Gott. Doch ist es dann kein Wunder, wenn die vom Rauche gepeinigten Augen nach der erlösenden Hand des HERRN rufen und das Herz, von der Hitze der Trübsal ermattet und verschmachtend, nach Gottes Hilfe seufzt.

84. Wieviel sind der Tage deines Knechtes? (Wörtl. Luther 1524.) Ich kann ja, zumal unter solchen Verhältnissen, nicht hoffen, noch lange am Leben zu bleiben; du musst mir eilends zu Hilfe kommen, sonst sterbe ich. Soll ich mein kurzes Leben ganz in solch aufreibendem Leide verbringen? Die Kürze des Lebens bietet einen trefflichen Grund, gegen die lange Dauer einer Prüfung bei Gott vorstellig zu werden. Bei dieser Auslegung haben wir das "wie viel" im Sinne von "wie wenig" aufgefasst. Es wäre immerhin auch möglich, dass der Psalmist meint, die Zahl seiner Tage sei zu groß, wenn sie in solchem Leiden zugebracht werden sollten, so dass er also fast wünschte, sein Leben ginge bald zu Ende. Gleich einem gemieteten Knecht hat er eine bestimmte Zeit zu dienen, und wiewohl er nicht daran denkt, seinem Herrn aus dem Dienst zu laufen, dünkt ihn doch in seiner gegenwärtigen Stimmung die Zeit, da er hienieden ausharren muss, lange, weil seine Kümmernisse so schwer waren. Niemand kennt das Maß unserer Tage als allein der HERR; darum ist er es auch, an den sich der Psalmist wendet, dass er ihre Zahl nicht über das Maß der Kräfte seines Knechtes hinaus verlängere. Es kann nicht nach dem Sinne des gütigen Herrn sein, dass sein eigener Knecht immerzu so ungerecht behandelt werde. Das muss einmal ein Ende nehmen. Wann wird dies eintreten? Wie lange soll dein Knecht warten?
  Wann willst du Gericht halten über meine Verfolger? In des HERRN Hand hatte er seine Sache gelegt, und er bittet nun, dass das Urteil gesprochen und vollstreckt werde. Er begehrt nichts als Gerechtigkeit, dass sein Ruf wiederhergestellt und seine Verfolger zur Ruhe verwiesen werden. Er weiß, dass Gott seinen Auserwählten Recht schaffen wird; aber der Tag der Befreiung verzieht, die Stunden schleichen so langsam dahin; da schreit der arme Bedrängte schließlich Tag und Nacht nach Erlösung.

85. Die Stolzen graben mir Gruben. Wie Menschen, die auf wilde Tiere Jagd machen, diesen Fallgruben und Schlingen legen, so suchten Davids Feinde ihn in allerlei Fallen zu fangen. Sie gingen mit allem Bedacht, mit Mühe und Schlauheit zu Werk, um ihn zu verderben. Sie gruben ihm Gruben, nicht eine, sondern viele. Fing er sich nicht in der einen, so mochte eine andere vielleicht den Zweck erreichen; so gruben sie unermüdlich darauf los. Man sollte meinen, solch stolze Leute würden sich ihre Hände nicht gerne mit Graben beschmutzen; aber sie taten ihrem Stolze Gewalt an, in der Hoffnung, auf diese Weise auch ihr Opfer vergewaltigen zu können. Weit entfernt, sich solcher unwürdigen Handlungsweise zu schämen, waren sie stolz auf ihre Geschicklichkeit, stolz darauf, einem Frommen eine Falle gestellt zu haben. Die nicht sind nach deinem Gesetz. Weder die Stolzen noch die Gruben waren dem göttlichen Gesetz gemäß; jene waren blutdürstige Ränkeschmiede, und ihre Gruben waren im unmittelbaren Widerspruch mit dem mosaischen Gesetz (vergl. 2. Mose 21,33 f.) und besonders mit dem Gebot, das uns unseren Nächsten zu lieben befiehlt. Wenn sich die Menschen an die Befehle des HERRN halten wollten, dann würden sie den Gefallenen aus der Grube ziehen oder die Grube zuschütten, dass niemand hinein stürzen könnte; nie aber würden sie auch nur einen Augenblick darauf verwenden, andern Unheil zu bereiten. Wenn Menschen aber stolz werden, dann kommen sie unfehlbar dahin, andere zu verachten; so suchen sie sie denn zu überlisten, um sie dann der Lächerlichkeit preiszugeben.
  Gut war es für David, dass seine Feinde auch Gottes Feinde waren und ihre Angriffe wider den König bei dem König aller Könige keine Billigung fanden. Auch war es sehr günstig für ihn, dass ihm ihre Anschläge nicht verborgen blieben; so war er gewarnt und konnte seine Schritte recht in acht nehmen, dass er nicht in eine ihrer Gruben stürze. Solange er sich an das Gesetz des HERRN hielt, war er sicher, wiewohl es immerhin eine schmerzliche Sache war, dass ihm sein Weg durch die Hinterlist frecher Bosheit so gefährlich gemacht wurde.

86. Deine Gebote sind eitel Wahrheit. Er hatte nichts an Gottes Gesetz auszusetzen, wenngleich ihn sein Gehorsam gegen dasselbe in unangenehme Bedrängnis versetzt hatte. Aber das Gesetz mochte ihn kosten, soviel es wollte, es war jeden Preis wert. Mochte Gottes Weg auch rauh sein, er war der rechte Weg; mochte des HERRN Gebot ihm viele Feinde machen, es war dennoch sein bester Freund. Er war fest überzeugt, dass Gottes Vorschriften sich schließlich als zu seinem Vorteil dienend erweisen müssten und er daher, indem er ihnen gehorche, nichts aufs Spiel setze.
  Sie verfolgen mich mit Lügen (oder: ohne Grund, ungerecht); hilf mir! Die Schuld lag an seinen Widersachern, nicht an seinem Gott oder an ihm. Er hatte keinem Menschen etwas zuleide getan und nur nach Wahrheit und Recht gehandelt; darum wendet er sich vertrauensvoll an seinen Gott und ruft: Hilf mir! Das ist ein güldenes Gebetlein, so köstlich wie es kurz ist. In der Sprache des Psalmisten ist’s nur ein Wort, aber wie umfassend ist sein Sinn. Hilfe tat Not, damit der Verfolgte den Gruben aus dem Wege gehen, unter all den Angriffen und Verleumdungen standhaft bleiben und so klüglich handeln könne, dass seine Feinde mit aller ihrer List zu Schanden wurden. Gottes Hilfe ist unsere Hoffnung. Wer uns auch kränke und angreife, es tut nichts, solange der HERR unser Helfer ist; denn wenn uns der HERR beisteht, kann niemand uns wirklich schaden. Wie oft schon ist dieser Gebetsseufzer von bedrängten Gotteskindern zum Himmel gesandt worden; passt er doch für die verschiedensten Fälle von Not, Schmerzen, Kummer, Schwachheit und Sündenelend. HERR, hilf mir! Das ist ein treffliches Gebet für Junge und Alte, für Arbeitsdrang und Leidensnot, für Leben und Sterben. Keine andere Hilfe reicht hin, Gottes Hilfe aber kann allem genügen; so verlassen wir uns denn auf sie und lassen keiner Furcht Raum.

87. Sie haben mich schier umgebracht auf Erden. Fast hatten seine Feinde mit ihm den Garaus gemacht. Wenn sie es nur vermocht hätten, sie würden ihn aufgefressen oder lebendig verbrannt oder sonstwie ihn zu Grunde gerichtet haben, einerlei auf welche Weise, wenn sie nur den frommen Mann aus der Welt schaffen konnten. Offenbar war er bis zu einem hohen Grad in ihrer Gewalt, und sie hatten ihre Macht so gebraucht, dass es beinahe mit ihm aus war. Er war fast von der Erde umgebracht; aber fast ist nicht ganz, so kam er mit dem Leben davon. Die Löwen sind, wie Bunyan es in seiner Pilgerreise schildert, an Ketten gelegt; mit all ihrer Wut können sie nicht einen Schritt weiter gehen, als unser Gott es zulässt. Und selbst wenn ihnen erlaubt worden wäre, seinem irdischen Leben ein Ende zu machen, so hatte er doch noch ein himmlisches Erbe, an das sie nicht rühren konnten. Aber auch auf Erden blieb er am Leben, ob er auch beinahe umgebracht worden wäre; denn seine Stunde war noch nicht da. Ich aber verlasse deine Befehle nicht. Nichts konnte ihn davon abbringen, dem HERRN Gehorsam zu leisten. Halten wir an Gottes Befehlen fest, so werden wir uns durch Gottes Verheißungen gerettet finden. Wenn ihre Misshandlungen den Frommen von dem Pfad der Gerechtigkeit abzubringen vermocht hätten, so wäre die Absicht der Gottlosen erreicht worden, und wir würden in der heiligen Geschichte von David nichts mehr hören. Sind wir fest entschlossen, lieber den Tod zu erleiden, als den HERRN zu verlassen, so können wir gewiss sein, dass wir nicht sterben, sondern den Zusammenbruch derer, die uns hassen, erleben werden.

88. Erquicke mich (belebe mich, oder: erhalte mich am Leben) durch deine Gnade, wörtl.: nach deiner Gnade. Welch treffliche Bitte! Werden unserem inneren Leben neue Kräfte eingeflößt, so werden alle Angriffe unserer Gegner uns nichts anhaben können. Unser bester Schutz gegen alle Versuchungen und Verfolgungen ist mehr Leben. Gottes Huld kann uns keinen größeren Liebesbeweis geben, als indem sie den göttlichen Lebensodem noch voller in uns einströmen lässt. Werden wir neubelebt, so sind wir imstande, die Trübsale zu erdulden, die Ränke der Feinde zu vereiteln und die Sünde zu überwinden. Zu Gottes Gnade blicken wir empor als der Quelle aller geistlichen Erweckung und Belebung, und wir flehen zum HERRN, er möge uns erquicken, nicht wie wir es verdient haben, sondern nach der überschwänglichen Kraft seiner Gnade. Dass ich halte die Zeugnisse deines Mundes. Strömt die Lebenskraft des Heiligen Geistes in uns ein, dann kann es auch nicht ausbleiben, dass wir ein heiliges Wesen offenbaren. Wir werden der gesunden Lehre treu bleiben, wenn der Geist uns heimsucht und treu macht. Keiner vermag das Wort, das aus des HERRN Munde geht, zu halten, wenn nicht dieses selbe Wort, der Odem des Allmächtigen, ihn belebt. Wir müssen die geistliche Weisheit des Psalmsängers bewundern, der nicht so sehr um ein Aufhören der Anfechtungen bittet, als um Verjüngung seiner Kraft, um unter denselben standhaft zu bleiben. Pulsiert das innere Leben kräftig, dann steht alles wohl. Im Schlussverse des vorigen Abschnitts bat David um ein rechtschaffenes Herz, und hier fleht er um Neubelebung seines Herzens. Das heißt der Sache auf den Grund gehen, das begehren, was vor allem anderen Not ist. HERR, belebe auch unsere Herzen und lass sie rechtschaffen bleiben in deinen Rechten!


V. 81-88. Das achtfache k (K): Diese Ausrichtung nach Gottes Verheißung ist sein Sehnen jetzt, da so wenig fehlt, dass seine Feinde ihn zu Grunde gerichtet.

81. Krank vor Sehnsucht nach deinem Heil ist meine Seele,
Auf dein Wort hoffe ich.
82. Krank vor Sehnsucht sind meine Augen nach deinem Wort;
Sie sprechen: Wann tröstest du mich?
83. Kaum brauchbar bin ich, wie ein Schlauch im Rauche;
Deiner Rechte vergesse ich nicht.
84. Kurz sind deines Knechtes Tage.
Wann willst du Gericht halten über meine Verfolger?
85. Klaffende Gruben haben die Stolzen mir gegraben,
Sie, die nicht sind nach deinem Gesetze.
86. Köstliche Wahrheit sind alle deine Gebote.
Sie verfolgen mich mit Lügen; hilf mir!
87. Kaum am Leben haben sie mich gelassen auf Erden,
Ich aber verlasse deine Befehle nicht.
88. Kraft deiner Gnade belebe mich,
Dass ich halte die Zeugnisse deines Mundes.
  Zum Teil nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  


V. 82. Wann tröstest du mich? Wir wollen uns nicht über Gott beklagen, sondern bei Gott unsere Klagen ausschütten. Klagen über Gott sind nur Ausbrüche unzufriedenen Murrens; Klagen, bei Gott angebracht, sind Äußerungen unseres Glaubens, unserer Hoffnung, unserer Geduld. - Wir brauchen Trost, denn lange nicht alle unsere Versuchungen bestehen aus Verlockungen, ein großer Teil besteht aus Trübsalen. Schmerzen können uns ebenso wohl verführen als Vergnügungen, und die Welt ist uns gegenüber ebenso oft die dräuende Verfolgerin wie die schmeichelnde Verführerin, und Fleisch und Satan peinigen uns nicht weniger, als sie uns streicheln. So nötig wir aber auch den Trost haben, noch mehr ist uns Heiligung Not; also wenn wir auch den Trost nicht verachten wollen, so müssen wir doch mehr Wert auf rechte, wahre Liebe zu Gott legen, und müssen uns damit zufrieden geben, wenn uns hienieden der Trost auch in weniger reichem und vollem Maße zuteilwird. Das, was wir wirklich brauchen, um zum Dienst unseres Gottes fähig zu sein, das werden wir sicher erhalten. Thomas Manton † 1677.


V. 83. Wie ein Schlauch im Rauche. Zahlreiche Zeugnisse von Reisenden im Morgenlande bestätigen das in diesem Psalmverse gebrauchte Bild. Es gibt keinen mehr von Rauch erfüllten Raum als ein Araberzelt. Alle Geräte sind von Rauch und Ruß geschwärzt, und die ledernen Schläuche, die in dem Zelte über dem Holzfeuer hängen, dörren aus, schrumpfen zusammen und werden davon natürlich unbrauchbar. John Gadsby 1860.
  Der mit Wein gefüllte Schlauch wurde in den Rauchfang gehängt, um den Wein früher reif und milde zu machen (Rosenmüller). Dabei wird der Schlauch runzlig und schwarz. So ist auch Israel durch die Leiden, deren Bild das Feuer ist, unansehnlich geworden und trägt die Farbe der Trauer an sich; aber sein wertvollstes Gut, das göttliche Gesetz, trägt es in seinem Innern. Prof. Friedrich Baethgen 1904.
  Die Sitte der Alten, Krüge mit Wein, um diesen früher alt, d. i. mild zu machen, über Rauch aufzustellen, trägt nichts zum Verständnis aus. Den vorderhand nicht zu brauchenden Schlauch hing man in der Höhe auf, und dass er da den oben hinausziehenden Rauch zu bestehen hatte, begreift sich bei dem Mangel der Kamine. Der Vergleichspunkt ist, dass man den Psalmisten beiseite geschoben und dass er als Aschenbrödel fort und fort den Plackereien seiner Verfolger ausgesetzt ist. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Das eigentümliche Bild scheint im Zusammenhang des Verses einen vergessenen Gegenstand bezeichnen zu sollen. Sinn: Selbst wenn du mich vergessen könntest, vergesse ich doch deiner nicht. Lic. H. Keßler 1899.
  Satan kann den Leib auch durch den Geist treffen, denn diese beiden hängen so eng zusammen, dass Freud und Leid beiden gemeinsam ist. Wenn das Herz fröhlich ist, dann ist auch das Äußere heiter, dann fühlt man sich frisch und kräftig, und selbst das Gebein grünt wie das Gras (Jes. 66,14). Wenn das Herz aber betrübt ist, so wird auch das Wohlbefinden gestört, die Kräfte versiegen, das Mark in den Knochen verdorrt. Solch ein Herzenskummer ist wie ein zehrendes Gift im Körper, unmerklich übt es seine Wirkungen aus, bis alle Gesundheit und Lebenskraft dahin ist. Und das ist ein Erfolg, der dem Satan bei seiner Haupttätigkeit, die auf unsere Seelen gerichtet ist, noch so nebenher in den Schoß fällt, worüber er sich aber sehr freut, da er ein Feind unseres Leibes so gut wie unserer Seele ist. Und noch mehr freut es ihn, dass er, wenn er durch die seelischen Verstimmungen auf unseren Körper eingewirkt hat, nun hinwieder umgekehrt durch körperliche Störungen unser seelisches Missbefinden steigern kann. Wie unfähig ist ein kränklicher Mensch, wie wenig kann ein gebrechlicher Körper leisten. Lesen, Zuhören, ja selbst das Beten ist ihm eine schwere Last, und das ängstigt ein zartes Gewissen, und dieses gibt der Seele und ihrer Verfassung die Schuld, die doch nur in der Schwachheit des Leibes zu suchen ist. Richard Gilpin 1677.
  Seht, welch ein Unterschied ist doch zwischen leiblicher und geistiger Schönheit und Kraft. Die Schönheit der Seele wächst unter dem Drucke der Trübsal, während die des Leibes dadurch zerstört wird. David war ein runzeliger, verschrumpfter Schlauch, aber die gottgefällige Gestalt seiner Seele war davon unberührt geblieben; seine äußere Schönheit war dahin, nicht aber die Reinheit und Heiligkeit seiner Seele. Thomas Manton † 1677.


V. 84. Wie viel sind der Tage deines Knechts? Wann willst du Gericht halten über meine Verfolger? Die beiden Vershälften scheinen mir eng zusammen zu gehören, so dass sich die Tage auf die Tage des Leidens beziehen. HERR, wie lange hast du im Sinne, deinen Knecht der Willkür der Gottlosen zu überlassen? Wann willst du dich gegen ihre Grausamkeit und Verunglimpfungen kehren und Rache an ihnen nehmen? So beklagt der Psalmist also hier nicht, wie die meisten Ausleger meinen, die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, sondern dass die Zeit seines Streitens und Ringens in dieser Welt sich allzu lang hinausziehe, und da kommt er natürlich zu dem Wunsche, dass ihr ein Ziel gesetzt werde. Aber wenn er auch mit Gott rechtet um seine Bekümmernisse, so tut er dies doch nicht in zudringlicher Anmaßung oder in unzufriedenem Murren; immerhin, indem er fragt, wie lange es ihm noch beschieden sei zu leiden, spricht er in aller Demut die Bitte aus, Gott wolle nicht verziehen, ihm zu Hilfe zu kommen. Jean Calvin † 1564.
  Er hegt keinen Zweifel, dass seine Leiden einmal ein Ende nehmen und seine Hasser und Verfolger würden gerichtet werden. Er fragt nur nach dem Zeitpunkt. So ist bei den Heiligen eben ihre Ungeduld bei dem Verziehen der göttlichen Hilfe und Erlösung ein Beweis für ihr festes Vertrauen auf diese. Wolfgang Musculus † 1563.


V. 85. Die Stolzen graben mir Gruben. Es mag befremdlich erscheinen, dass ein stolzer Mensch sich herbei lassen sollte, in der Erde zu wühlen. Aber so erniedrigte sich z. B. der hochmütige Absalom vor den Allergeringsten des Volkes, um sich dadurch den Weg zu ebnen zur Auflehnung gegen seinen königlichen Vater. Doch eines ist wohl zu beachten: Der Psalmist sagt nicht, dass er in die Gruben gefallen sei. Nein, Gottes Gerichte sind gerecht, die Gottlosen fallen in ihre eigenen Schlingen, und die Gerechten bleiben verschont. "Er hat eine Grube gegraben und ausgehöhlt und ist in die Grube gefallen, die er gemacht hat. Sein Unglück wird auf seinen Kopf kommen und sein Frevel auf seine Scheitel fallen." (Ps. 7,16.17) So schmückte Haman als erster den Galgen, den er für Mardochai hatte errichten lassen, und Saul, der mit Arglist David durch das Schwert der Philister zu verderben gedachte, da er ihn aussandte, zweihundert ihrer Vorhäute heimzubringen, sah sich in seinem Anschlage getäuscht, er selbst aber fand schließlich seinen Tod durch das Schwert bei dem Sieg der Philister. William Cowper † 1619.
  Das die bezieht sich auf die Stolzen: sie, die nicht nach deinem Gesetz. Der Relativsatz bezeichnet dieselben, wie Bäthgen bemerkt, als abtrünnige Israeliten. Lic. H. Keßler 1899.


V. 86. Der Satan sucht uns mit allerlei Ränken zu fangen. Wie, spricht er, siehst du denn jetzt nicht, dass Gott dich im Stich lässt? Wo sind denn die Verheißungen, darauf du dich so verlassen hast? Du stehst hier wie ein armer Verzweifelter. Da siehst du wohl, dass Gott dich getäuscht hat und dass die Verheißungen, auf die du zähltest, dir keineswegs gehören. Seht, das ist die Hinterlist Satans. Was sollen wir da tun? Wir haben mit David zu dem Schlusse zu kommen: Aber doch ist es so, dass Gott getreu ist. Halten wir fest, sage ich, die Wahrheit Gottes wie einen Schild, um alles abzuwehren, was Satan gegen uns vorbringen kann, wenn er uns vom Glauben abwendig zu machen sucht, wenn er sich Mühe gibt, uns glauben zu machen, dass Gott nicht mehr an uns denke, oder dass es ganz vergeblich sei, uns auf seine Verheißungen zu verlassen. Wir sollen vielmehr wissen, dass eitel Wahrheit in allem ist, was Gott uns gesagt hat. Wenn Satan auch noch so viele Pfeile gegen uns verschießt, wenn schon er so viele und noch mehr Tücken gegen uns verübt, wenn er uns, jetzt durch Gewalt, jetzt durch Listen und Ränke doch noch überwältigen zu können scheint, so wird es ihm nicht gelingen, solange wir die Wahrheit Gottes fest in unseren Herzen haben. Jean Calvin † 1564.
  Sie verfolgen mich mit Lügen, oder ohne Ursache. Dies letzte Wort "ohne Ursache" steht im Grundtext nachdrücklich voran. Sehr wahr hat ein Blutzeuge gesagt: Der Grund, um deswillen er leidet, nicht die Marter ist’s, was einen Märtyrer macht. Darauf weist uns auch der Apostel hin, wenn er schreibt: Niemand aber unter euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder der in ein fremdes Amt greift. Leidet er aber als ein Christ, so schäme er sich nicht, er ehre aber Gott in solchem Falle (1. Petr. 4,15). James Millard Neale † 1866.


V. 87. Sie haben mich schier umgebracht auf Erden. Der Lebensgang der Frommen ist voll von wunderbaren Errettungen aus drohender Gefahr. Alle Gerechten werden schier umgebracht und kommen nur mit knapper Not davon. Oft sind ihre Füße nahe daran zu gleiten. Aber der sie erlöst hat, der lässt sie nie soweit fallen, dass sie sich nicht wieder erheben können. Eine große Gefahr liegt für sie in der Versuchung, unerlaubte Mittel zur Beendigung ihrer Trübsale anzuwenden. William Swan Plumer † 1880.


V. 88. Die Zeugnisse deines Mundes. Diese Bezeichnung des göttlichen Gesetzes stellt unsere Verpflichtung ihm gegenüber in ein besonders helles Licht. So müssen wir also jedes Wort, das wir da hören und lesen, ansehen, als aus Gottes Munde kommend. Beugen wir uns in anbetender Ehrfurcht, in unbedingtem Gehorsam davor; lauschen wir ihm in Andacht, in demütigem Glauben, ein jeder von uns stets bereit zu der Antwort: Rede, HERR, dein Knecht hört. Charles Bridges † 1869.


89. HERR, dein Wort bleibt ewiglich,
soweit der Himmel ist;
90. deine Wahrheit währet für und für.
Du hast die Erde zugerichtet, und sie bleibt stehen.
91. Es bleibt täglich nach deinem Wort;
denn es muss dir alles dienen.
92. Wo dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre,
so wäre ich vergangen in meinem Elende.
93. Ich will deine Befehle nimmermehr vergessen;
denn du erquickest mich damit.
94. Ich bin dein, hilf mir;
denn ich suche deine Befehle.
95. Die Gottlosen lauern auf mich, dass sie mich umbringen;
ich aber merke auf deine Zeugnisse.
96. Ich habe aller Dinge ein Ende gesehen;
aber dein Gebot währet.


89. Auf ewig, HERR, steht dein Wort fest im Himmel. (Wörtl.) Mit diesem Vers schlägt der Sänger einen freudigeren Ton an, denn die Erfahrung hat ihn in den süßen Trost des göttlichen Wortes eingeführt, und das gibt ein fröhliches Singen. Aus den wild bewegten Wogen des Leides und der Verfolgung hat er sich zu dem rettenden Gestade aufgeschwungen und steht nun auf sicherem Felsen. Jehovahs Wort ist nicht wankend und unsicher, es ist bestimmt und klar und steht fest und unbeweglich. Der Menschen Lehren wechseln so oft, dass ihnen gar nicht Zeit bleibt, sich zu festigen; Gottes Wort aber ist das Nämliche von alters her und wird unverändert bleiben in alle Ewigkeit. Es gibt Menschen, die sich nie glücklicher fühlen, als wenn sie alles umstürzen und jedermann in Verwirrung bringen können; mit solchen aber ist Gottes Geist nicht. Himmlische Macht und Herrlichkeit haben jeden Ausspruch aus Gottes Mund bestätigt, und so bestätigt, dass er in alle Ewigkeit bestehen bleiben muss. Gottes Wort steht fest im Himmel, wohin keine Erschütterung reicht. Im vorhergehenden Abschnitt war die Seele des Psalmisten am Verschmachten, hier aber erhebt er seine Blicke von der eigenen Person hinweg, hinauf zu dem HERRN, der nicht müde noch matt wird und dessen Wort niemals kraftlos hinsinkt.
  Der Vers hat die Form einer Lobpreisung. Die Zuverlässigkeit und Unwandelbarkeit Gottes sind wohl geeignet, den Gegenstand heiligen Lobsingens zu bilden, und wenn unsere Augen vom Blicken auf die immer wechselnden Auftritte des Lebens um uns her müde geworden sind, dann wird der Gedanke an die unwandelbaren Verheißungen Gottes unsere Zunge voll Rühmens machen. Die Ratschlüsse des Ewigen, seine Zusagen und seine Rechtsordnungen sind alle fest gegründet in seinem Sinn, und niemand und nichts soll je an eines derselben rühren. Gottes Bundesfestsetzungen fallen nicht hin, ob die Gedanken der Menschen auch noch so wankend und wirr werden. Sei es darum unser Entschluss, unverbrüchlich an dem Worte unseres Gottes festzuhalten alle Tage unseres Lebens.

90. Deine Wahrheit (besser Luther 1524: deine Treue) währet für und für, wörtl.: von Geschlecht zu Geschlecht. Das ist ein weiterer Ruhm des HERRN: er wird nicht berührt von dem Lauf der Zeiten. Er ist nicht bloß treu gegen den einzelnen Menschen, solange dieser lebt, sondern auch gegen seine Kinder und Kindeskinder nach ihm, ja gegen alle Geschlechter, solange sie seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. Die Verheißungen sind alt, zum Teil schon uralt; aber sie sind durch den Jahrhunderte langen Gebrauch nicht verschlissen, denn Gottes Treue währet für und für. Er, der seinen Knechten vor Tausenden von Jahren beistand, erweist sich noch heute stark an denen, die von ganzem Herzen an ihm sind (2. Chr. 16,9). Du hast die Erde zugerichtet (gegründet), und sie bleibt stehen. Die Natur wird von festen Gesetzen beherrscht. Der Erdball folgt seiner Bahn nach Gottes Geheiß und schlägt keine Abwege ein; die Jahreszeiten beobachten die ihnen gesetzte Ordnung, das Meer gehorcht dem Gesetz von Ebbe und Flut, und alle anderen Dinge gehen in genau vorgeschriebenen Ordnungen vor sich. Es besteht eine Übereinstimmung zwischen dem Worte und den Werken Gottes, namentlich auch darin, dass beide gleich beständig, fest bestimmt und unwandelbar sind. Das Wort Gottes, das die Welt mit ihrer Ordnung hervorbrachte, ist dasselbe, dem er in der Heiligen Schrift Ausdruck verliehen hat. Durch das Wort des HERRN sind Himmel und Erde gemacht, und zwar insbesondere durch ihn, der in ganz hervorragendem Sinne das Wort genannt wird. Und wenn wir sehen, dass das Weltall seine Bahnen einhält und alle seine Gesetze unverändert bleiben, so liegt für uns darin die sichere Bürgschaft, dass der HERR auch seinem beschworenen Gnadenbunde treu bleiben und nicht zulassen wird, dass der Glaube der Seinen zu Schanden werde. Wenn die irdische Schöpfung bestehen bleibt, dann sicherlich auch die geistliche Schöpfung; wenn Gottes Wort genügt, um dem Weltall festen Bestand zu geben, dann ist es wahrlich auch ausreichend, den einzelnen Gläubigen in festem Stande zu erhalten.

91. Es bleibt täglich nach deinem Wort. Grundtext: Nach deinen Ordnungen stehen sie (Himmel und Erde) noch heute. Weil der HERR es also befohlen hat, steht das Weltall noch da und fahren seine Gesetze fort, mit solcher Genauigkeit und Macht zu wirken. Weil Gottes Kraft stets gegenwärtig ist, sie zu erhalten, deswegen bestehen alle Dinge. Das ewige Wort, dessen Sprechen alle Dinge ins Dasein rief, hat sie auch bisher getragen und erhält sie weiter, macht sowohl, dass sie bestehen, als auch, dass sie in solcher Wohlordnung bestehen und gedeihen. Was für wichtige Kräfte sind doch diese Ordnungen des Höchsten! Denn es muss dir alles dienen. Alles ist dir untertan, Himmel und Erde und was genannt mag werden, alles sind deine Diener. Geschaffen durch dein Wort, gehorchen sie diesem Worte und entsprechen so dem Zweck ihres Daseins, der Absicht ihres Schöpfers. Alles, das Größte wie das Kleinste im Weltall huldigt dem HERRN. Kein Atom entflieht seinem Herrscherstab, keine Welt entzieht sich seiner Herrschaft. Sollen wir etwa wünschen, von der Macht des HERRN unabhängig dazustehen und unsere eigenen Herren zu sein? Wenn das einträte, so würden wir bald mit Schrecken innewerden, dass wir die einzige Ausnahme bildeten von einem Gesetz, in dem das ganze übrige Weltall die Bürgschaft seines Bestehens und seines Wohlergehens hat. Vielmehr wollen wir, da wir von allem andern lesen, dass es "bleibt und ihm dient", auch unserseits weiter ihm dienen, und in immer vollkommenerem Gehorsam ihm dienen, da auch uns das Leben durch ihn erhalten wird. Mögen durch das Wort, das auf ewig fest steht (V. 89), auch wir befestigt werden, durch das Wort, das die Erde zugerichtet hat, auch wir zugerichtet werden und durch das Gebot, dem alles Geschaffene gehorcht, auch wir zu recht brauchbaren Dienern des allmächtigen Gottes gemacht werden.

92. Wo dein Gesetz nicht mein Trost (wörtl.: mein Ergötzen) gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elende. Das gleiche Wort, das Himmel und Erde erhält, dass sie bestehen bleiben, erhält auch die Knechte des HERRN in ihren Trübsalszeiten. Dieses Wort ist unser Trost, und mehr als das, es ist unser Ergötzen, unsere Wonne, eine wahre Goldgrube vielfältiger Freuden. Dies Wort bleibt unsere sichere Zuflucht, wenn alle anderen Trost- und Freudenquellen versagen. Längst hätte die Verzweiflung uns übermannt; oft war es uns zu Mute, als müssten wir hinsinken und sterben vor Schmerz und Gram, wenn uns die geistlichen Tröstungen des Wortes Gottes nicht aufrecht erhalten hätten. Aber ihre stärkende, belebende Kraft hat uns über alles Verzagen hinweggeholfen, über alle Verzweiflungsgedanken, die so leicht aus schwerer Trübsal erwachsen. Manche von uns können das Zeugnis des Psalmdichters aus eigenster Erfahrung bestätigen. Wäre die göttliche Gnade nicht gewesen, so hätte unser Elend uns völlig zugrunde gerichtet. In den dunkelsten Stunden unseres Lebens vermochte nichts uns vor dem Versinken zu bewahren als die Verheißungen des HERRN; ja es gab Augenblicke, da allein der Glaube an das ewige Gotteswort zwischen uns und dem Selbstmord stand. Wenn wir von Schmerz gepeinigt, von der Gewalt der Leiden schier zerrieben waren, bis unser Hirn sich verwirrte und die Fähigkeit zu denken fast ganz erloschen war, wie manches Mal flüsterte dann ein holdseliges Schriftwort uns herzerquickende Tröstung und Ermutigung zu, und unser armes zerplagtes Gemüt fand Ruhe und Frieden am Vaterherzen Gottes. Was in Zeiten des Wohlseins und Glückes unsere Wonne gewesen, das war auch unser Trost im Unglück, unser Licht in Finsternis. Was uns am heiteren Tage vor Übermut bewahrte, das behütete uns in der Nacht der Leiden vor dem Verderben. Der Vers enthält eine schauerliche Voraussetzung: "Wenn -", und schildert das Schreckliche, das dann hätte geschehen müssen: "Dann wäre ich vergangen in meinem Elende"; aber er birgt in sich auch einen herrlichen erlösenden Schluss, denn der Psalmist ging in seinem Leid nicht unter, sondern blieb lebendig, um laut den Ruhm des Wortes Gottes zu verkündigen.

93. Ich will deiner Befehle nimmermehr vergessen, denn du erquickest mich damit (durch sie belebst du mich, oder hast du mich am Leben erhalten). Wenn wir erst die belebende Kraft einer göttlichen Anordnung gespürt haben, dann werden wir sie gewiss nicht wieder vergessen. Wir mögen einen Befehl noch so oft lesen, auswendig lernen, uns immer wiederholen, bis wir meinen, uns ihn unauslöschlich eingeprägt zu haben, und doch die Erfahrung machen, dass er trotz alledem unserem Gedächtnis entschwinden kann. Hat er sich an uns aber als eine das Leben erhaltende oder erneuernde Kraft erwiesen, dann hat es keine Gefahr, dass er uns je aus der Erinnerung komme. Die Erfahrung lehrt, und sie ist der beste Lehrmeister. Wie köstlich, wenn Gottes Ordnungen uns mit der Goldfeder der Erfahrung ins Herz geschrieben, mit dem göttlichen Griffel der Gnade unserem Gedächtnis eingegraben sind. Vergesslichkeit in den Dingen, die unser Seelenheil betreffen, ist ein schlimmes Übel. Wir sehen hier den Mann Gottes dagegen ankämpfen, und zwar mit voller Gewissheit des Sieges, da er die belebende Kraft des Wortes an seiner Seele verspürt hat. Was das Herz belebt und kräftigt, das stärkt auch das Gedächtnis.
  Es mag befremdlich erscheinen, dass der Psalmist gerade den Befehlen solche belebende Kraft zuschreibt, und doch ist sie wirklich in ihnen wie in jedem Gotteswort. Erinnern wir uns bei diesem Anlass daran, dass der Herr Jesus, wenn er Tote erweckte, an sie ein Wort des Befehls richtete: Lazarus, komm heraus! Jüngling, Mägdlein, ich sage dir, stehe auf! So brauchen auch wir uns nicht zu scheuen, toten Sündern den Befehl des Evangeliums zuzurufen: Tut Buße, glaubt usw., denn durch das göttliche Wort wirkt der Heilige Geist Leben in den Herzen. Doch wollen wir nicht übersehen, dass der Psalmist nicht etwa behauptet, die Befehle selbst hätten ihn belebt, sondern dass der HERR dies durch sie getan habe. Somit geht der Sänger dem Strome des Lebens nach, sein Bett verfolgend bis hinaus zur Quelle, und bringt seine Lobpreisung dort dar, wo sie gebührt. Doch unterschätzt er auch die Mittel nicht, durch welche die göttliche Gnade ihm den Segen hat zuströmen lassen, und bekennt ausdrücklich, dass er jene nie vergessen werde. Der Rechte des HERRN hatte er gedacht, auch als er einem Schlauch im Rauche zu vergleichen war (V. 83); und jetzt erfüllt ihn die Gewissheit, dass ihm die Befehle des HERRN überhaupt nie aus Herz und Gedächtnis schwinden werden, sowenig im Feuer des Elends wie im Rauch der Anfeindung, nie, weder in guten noch in bösen Tagen.

94. Ich bin dein, hilf mir! Eine viel umfassende Bitte mit einer sehr wirksamen Begründung. Ist unser Leben Gott geweiht, so ist es teuer geachtet vor ihm. Sind wir uns bewusst, dass wir des HERRN sind, dann dürfen wir auch darauf rechnen, dass er in der Not uns helfen wird. Wir sind des HERRN Eigentum kraft dessen, dass er uns erschaffen, uns von Ewigkeit erwählt und uns erlöst hat, dass wir uns ihm übergeben und er uns zu Kindern angenommen hat. Wer wird nicht seinem eigenen Kinde helfen? Darum HERR, hilf mir! Die Notwendigkeit der göttlichen Hilfe sehen die Kinder Gottes besser ein als die Weltmenschen, darum ihr ständiges Gebet: Hilf mir! Sie wissen, dass nur Gott ihnen helfen kann, darum rufen sie auch ihn allein an. Ebenso wohl aber wissen sie auch, dass bei ihnen kein Verdienst zu finden ist, darum berufen sie sich auf eine Tatsache, die ganz in der freien Gnade Gottes ihre Ursache hat: Ich bin dein!
  Denn ich suche deine Befehle. Darin erwies sich, dass er wirklich dem HERRN angehörte. Wohl mochte er das hohe Ziel der Heiligung, das ihm vor Augen schwebte, noch nicht erreicht haben; aber er ließ es sich mit allem Ernste angelegen sein, dem HERRN zu gehorchen, und darum durfte er auch den HERRN um seine Hilfe bitten, um seinen Beistand alle Tage bis ans Ende. Mancher mag den Lehren und Verheißungen der Schrift forschend nachgehen, ohne doch im Innern wirklich erneuert zu sein; aber die Befehle Gottes suchen, das ist ein sicheres Zeichen des Gnadenstandes. Oder hat man je von einem Manne, der in offener Auflehnung oder in Heuchelei lebte, gehört, dass er die Gebote seines Herrn gesucht habe? Offenbar hatte Gott ein großes Werk an dem Psalmisten begonnen, und dieser bat ihn nun, es zu Ende zu führen. Gottes heilvolle Hilfe ist hier im Psalm, wie in unserer Lebenserfahrung, eng mit dem Suchen verbunden. Hilf mir, denn ich suche. Und wenn der HERR uns durch seinen Geist zum Suchen bringt, so wird er uns seine Hilfe, sein Heil auch nicht versagen. Wer Heiligkeit sucht, dem ist schon geholfen; suchen wir den HERRN, dann können wir gewiss sein, dass der HERR auch uns gesucht hat und seine rettende, helfende Hand nicht wieder von uns abziehen wird.

95. Die Gottlosen lauern auf mich, dass sie mich umbringen; ich aber merke auf deine Zeugnisse. Sie gleichen wilden Tieren, die aus dem Dickicht auf ihr Opfer spähen, oder Straßenräubern, die dem wehrlosen Wanderer am Wege auflauern. Der Psalmist aber zog seine Straße, ohne sich um sie zu kümmern, denn ihn beschäftigte etwas Besseres, nämlich die Zeugnisse, die Gott den Menschenkindern gegeben hat. Von seinem Forschen und Sinnen über Gottes Wort ließ er sich auch durch die Bosheit der Gottlosen nicht abbringen. Er war dabei innerlich so ruhig, so wenig aufgeregt, dass er seine Gedanken ganz gesammelt auf das richten konnte, was ihm seine liebste Beschäftigung war, und die Frömmigkeit war ihm so sehr Herzenssache, dass gerade die Zeugnisse des HERRN, seine heiligen Willenserklärungen, es waren, auf die er sein Augenmerk richtete. Das Gottvertrauen machte ihn so siegesgewiss, dass er sich durch alle die Ränke der Gottlosen in seiner Gemeinschaft mit dem HERRN und seinem Worte nicht stören ließ. Wenn der Feind es nicht fertig bringt, unsere Gedanken von der Beschäftigung mit heiligen Dingen abzuziehen noch unsere Herzen von heiligem Wollen, dann sind alle seine Angriffe wahrlich von wenig Erfolg. Die Gottlosen sind die geborenen Feinde heiliger Menschen und heiliger Gedanken; vermöchten sie es, so würden sie uns nicht nur allen erdenklichen Schaden zufügen, sondern uns ganz und gar umbringen. Und gelingt ihnen das heute nicht, dann lauern sie auf andere Gelegenheiten, stets hoffend, dass ihre bösen Anschläge doch noch einmal erfolgreich sein werden. Bis jetzt war aber all ihr Warten vergeblich, und das Harren und Lauern wird ihnen noch lang werden; denn wenn wir von ihrer Feindschaft so wenig berührt werden, dass wir ihnen nicht einmal einen Gedanken zuwenden, dann muss es um ihre Aussicht, uns verderben zu können, armselig bestellt sein.
  Von zweierlei Beharrlichkeit handelt unser Vers - von dem Ausharren der Gottlosen, die lange mit gespanntester Aufmerksamkeit auf eine Gelegenheit lauern, den Frommen umzubringen, und sodann von dem Ausharren des Gottesknechtes, der sich von seinen andächtigen Betrachtungen nicht abziehen lässt, selbst nicht, um seinen Feinden nachzuspüren und ihnen das Handwerk zu legen. Wie doch der Same der Schlange auf der Lauer liegt, gleich der Natter, die dem Pferd des Reisenden in die Ferse sticht. Aber die Auserwählten Gottes sind vor ihren Giftzähnen sicher und achten ihrer so wenig, als ob sie überhaupt gar nicht vorhanden wären.

96. Ich habe aller Dinge (oder: aller Vollkommenheit) ein Ende gesehen. Alles Irdische hat seine Grenze, über die es nicht kommen kann. Es ist noch kein Baum in den Himmel gewachsen. Die stolzesten Reiche stürzen, auf ihrem Höhepunkt angelangt, wieder zusammen. Alle Weisheit der Philosophen endete in der Erkenntnis, dass wir nichts wissen können. Auch unsere modernen Riesenfernrohre können nicht ins Endlose wachsen, denn werden sie zu groß, so kann man überhaupt nichts mehr mit ihnen sehen, weil die Bewegung der Luft sichtbar wird und sich als Schleier vor das Auge breitet. So geht es auf allen Gebieten. Auch die Grenze aller Vollkommenheit des Menschen hatte der Psalmist gesehen; sie reicht gar wenig weit, denn sie hält nicht aus unter den Anfechtungen des Lebens, sie verträgt nicht den forschenden Blick der Wahrheit, sie bricht zusammen unter dem Bekenntnis des reuigen Sünders. Es gibt nichts Vollkommenes unter der Sonne. Vollkommene Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes leben nur in einer vollkommenen Welt. Es gibt freilich manche, die von ihrer eigenen Vollkommenheit kein Ende sehen, aber das kommt eben daher, dass sie vollkommen blind sind. Der erfahrene Gläubige sieht ein Ende aller Vollkommenheit bei sich sowohl wie bei seinen Brüdern, auch bei den besten Werken der besten Menschen. Es wäre manchen, die auf Vollkommenheit Anspruch erheben, zu wünschen, dass sie nur wenigstens den Anfang derselben gesehen hätten; denn wir haben allen Grund zu fürchten, ihr Anfang sei nicht richtiger Art gewesen, sonst würden sie nicht solch anmaßende Reden führen. Ist es nicht der Anfang der Vollkommenheit, dass wir über unsere Unvollkommenheit trauern? Es gibt keine Vollkommenheit in Menschenwerk und Menschenleben. Aber dein Gebot währet (wörtl.: es ist unbegrenzt). Es erstreckt sich auf alle Gebiete und hat ewige Dauer. Wem die so umfassenden und unbegrenzt gültigen Forderungen des Gesetzes erst zum Bewusstsein gekommen sind, dem schwindet jeder Gedanke an menschliche Vollkommenheit. Dieses Gesetz umfasst jede Handlung, jedes Wort, jeden Gedanken und ist also geistiger Natur, da es alle die Beweggründe, die Wünsche und geheimsten Regungen der Seele vor seinen Richterstuhl zieht. Es stellt uns eine Vollkommenheit vor Augen, die unsere Unterlassungen ebenso wie unsere Übertretungen verdammt, die auch jeden Gedanken als Wahn erweist, wir könnten Mängel auf einem Gebiet durch desto größeren Eifer auf einem andern ausgleichen. Was Gott nach seinem Worte unter Vollkommenheit versteht, das reicht so weit, dass wir nie hoffen können, seinem ganzen Umfang gerecht zu werden, und doch gehen Gottes Forderungen nicht weiter, als sie gehen müssen. Wer möchte sich ein unvollkommenes Gesetz wünschen? Nein, seine Vollkommenheit ist sein Ruhm, aber dabei der Tod alles Ruhmes menschlicher Vollkommenheit. Das Gesetz hat einen Umfang, eine Ausdehnung nach Länge und Breite, nach Tiefe und Höhe, wie sie auch nur in annäherndem Maße von der Heiligkeit irgendeines Menschen, solange er hienieden weilt, noch nie erreicht worden ist; nur in Jesu sehen wir sie vollkommen verwirklicht. Das Sittengesetz, in den zehn Geboten uns gegeben, ist ein in jeder Hinsicht vollkommener Gesetzeskodex; jedes einzelne Gebot hat einen unermesslichen Umfang heiliger Bedeutung, und die sämtlichen zehn umfassen alles in sich, keine Lücke lassend, mit der unseren Leidenschaften ein Spielraum frei bliebe. Wohl mögen wir die Unendlichkeit der göttlichen Heiligkeit anbeten und dann uns an dem von ihr aufgestellten Maßstabe messen und uns in tiefer Demut vor dem HERRN beugen in der Erkenntnis, wie weit wir noch davon entfernt sind.


V. 89-96. Das achtfache l (L): Ohne das ewige, feste, machtvolle Wort Gottes würde er verzagen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.

89. Lebendig in Ewigkeit ist Jehovah -
Dein Wort steht fest im Himmel.
90. Langwährend von Geschlecht zu Geschlecht ist deine Treue;
Du hast die Erde gegründet, und sie steht fest.
91. Laut deinen Ordnungen stehen sie noch heute,
Denn alles ist dir dienstbar.
92. Längst wäre ich umgekommen in meinem Elende,
Wenn dein Gesetz nicht mein Ergötzen wäre.
93. Lebenslang werde ich deine Befehle nicht vergessen,
Denn durch sie belebst du mich.
94. Lass mir Hilfe widerfahren, denn ich bin dein;
Deine Befehle suche ich.
95. Lauernd warten auf mich Frevler, mich zu verderben;
Auf deine Verordnungen merke ich.
96. Lauter Vergänglichkeit sah ich aller Dinge,
Unendlich ist dein Gebot. - E. R. 1907.

  Die Schilderung der Pilgerleiden des andächtigen Beters hat ihren Höhepunkt erreicht. Wir stehen im Mittelpunkt des Psalms, und der Faden, der das Bisherige verknüpfte, wird hier mit einem Male abgebrochen. Der Inhalt der elf ersten Abschnitte war: Bis hierher hat mich der HERR gebracht; soll es nun dahin kommen, dass ich zugrunde gehe? Die elf folgenden Abschnitte geben die Antwort: Des HERRN Wort wandelt sich nicht; der HERR wird für mich vollführen das Werk, das er angefangen hat. Jos. Franz Thrupp 1860.


V. 89. Dieser Vers wird meist als Ausdruck eines einzigen Gedankens aufgefasst und danach übersetzt. Das hebräische Zeichen bei dem Worte Jehovah zeigt aber, dass wir zwei zu trennende Vershälften haben, die eine, welche die Ewigkeit Gottes, die andere, welche die Beständigkeit und Dauer seines Wortes ausspricht. Also: 1) Der HERR ist ewig (oder: Du, HERR, bist ewig), und 2) Dein Wort steht fest im Himmel. So übersetzen z. B. die Peschito und manche spätere; und so passt dieser Vers auch besser zum folgenden, wie ein Vergleich der parallelen Hälften ergibt: HERR du bist ewig - deine Treue währet für und für, welche Gedanken sich völlig entsprechen; und ebenso: Dein Wort steht fest im Himmel - du hast die Erde zugerichtet, und sie bleibt stehen. Es wird hier von dem Gedanken abgegangen, dass wie Gott, so auch sein Wort ewig und unvergänglich ist, und dass diese Unvergänglichkeit ihren Ausdruck findet droben am Himmel und hier unten auf Erden; dort in der ständigen Bewegung der Himmelskörper, hier in der Unveränderlichkeit und Dauer der Erde; dass gleichwie sein Wort fest im Himmel steht, so auch seine Treue und Wahrheit auf Erden, wenn auch hier die Leiden und Anfechtungen der Frommen dem zu widersprechen scheinen. Thomas Manton † 1677.
  Auf ewig, HERR, ist dein Wort festgestellt im Himmel. Wenn wir auf Gottes Verheißungswort blicken, wie es in unseren unbefestigten, unruhigen Herzen ist, so bilden wir uns ein, es sei ebenso geneigt, hin und her zu schwanken, wie dies mit unserem Herzen der Fall ist; gerade wie das Spiegelbild der Sonne oder des Mondes im Wasser genauso zittert wie das Wasser, auf das es scheint. Aber mögen sie hienieden dem Anschein nach noch so sehr schwanken, dennoch wandeln Sonne und Mond in fester Bahn am Himmel. Und ob unser Herz mit seinem Kleinglauben noch so sehr versucht ist, an der Verheißung zu zweifeln, ja ob unser Unglaube uns glauben macht, die Verheißung sei ganz schwankend, so ist Gottes Wort dennoch fest, wenn nicht in unseren Herzen, so doch im Himmel, und zwar dort auf ewig, so fest wie der Himmel selbst; ja fester noch, denn Himmel und Erde mögen zergehen, aber nicht der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetze, und ebenso wenig vom Evangelium. Anthony Tuckney † 1670.


V. 90. Deine Wahrheit währet für und für. Du hast die Erde zugerichtet, und sie bleibt stehen. Von der Festigkeit und Dauer des Himmels hat der Psalmist auf die Gewissheit des göttlichen Wortes geschlossen, und nun findet er das bestätigt durch die Betrachtung des festen Bestandes der Erde. Da der durch das Wort gelegte Grund der Erde so fest steht, müssen wir da nicht zu dem Schlusse kommen, dass der Grund unserer Erlösung, der in Jesu Christo gelegt ist, noch viel sicherer ist? Wenn uns das Geschaffene auch nicht den Weg unserer Erlösung zeigen kann (den können wir nur aus dem Worte Gottes lernen), so bestätigt uns die Natur doch, was das Wort uns gelehrt hat: "So spricht der HERR, der die Sonne dem Tage zum Licht gibt und den Mond und die Sterne nach ihrem Lauf der Nacht zum Licht; der das Meer bewegt, dass seine Wellen brausen; HERR Zebaoth ist sein Name: Wenn solche Ordnungen vergehen vor mir, spricht der HERR, so soll auch aufhören der Same Israels, dass er nicht mehr ein Volk vor mir sei ewiglich." (Jer. 31,35.36) William Cowper † 1619.


V. 91. Nach deinen Ordnungen stehen sie bis heute. (Grundtext) Wo wäre ein Werk unseres Gottes zu finden, da nicht die wundervollste Ordnung regierte? Denke doch nur an die regelmäßige Wiederkehr der Jahreszeiten, denke an die Sterne, wie sie in erhabener Ruhe ihre gewaltigen Bahnen dahin wandeln, einem großen Gesetze der Einheit und Zusammengehörigkeit folgend. "Vermagst du die Bande der Plejaden zu knüpfen oder die Fesseln des Orion zu lösen? Führst du die Tierkreisbilder heraus zu ihrer Zeit, und leitest du den Bär samt seinen Jungen?" (Hiob 38,31.32) Hebe deine Augen auf in strahlender Sternennacht, hinaus zu dem Himmelsgewölbe mit seinen zahllosen Lichtern - Welten an Welten gehäuft, und dabei diese stolze schweigende Majestät! Kein Missklang stört die holde Harmonie, trotz der unfassbaren Geschwindigkeit, mit der sie ihre vielfach verschlungenen Bahnen durcheilen. J. R. Macduff 1862.
  Nach deinen Ordnungen steht es noch heute. Der Mensch vermag wohl eine Pflanze zugrunde zu richten, er kann sie aber nicht zwingen, von den Gesetzen abzuweichen, die der Schöpfer ihr gegeben. Will der Mensch sich ein Gewächs dienstbar machen, so muss er seine Lebensbedingungen erforschen und sie genau berücksichtigen. Der stolzeste Wille muss da vor dem geringsten Pflänzchen zu seinen Füßen Halt machen und sich den ihm anerschaffenen Lebensgesetzen fügen. Versuche es, eine rankende Bohnenpflanze zu zwingen, dass sie in der entgegengesetzten Richtung wachse; sie wird ruhig, aber unaufhaltsam, in der ihr natürlichen, mit dem Sonnenlicht gehenden Bahn voranschreiten. Vergeblich bemühst du dich, den heimischen Rasen in den heißen Himmelsstrichen zu erzielen oder die Dattelpalme in unseren Gärten zum Fruchttragen zu bringen; der Reis will nur auf bewässertem Boden gedeihen, und der Baumwollstrauch weigert dir sein schneeiges Vlies, wo er vom Regen getroffen wird. Es ist noch nie gelungen, die Königin der Nacht, die ihre wunderbare Pracht und ihren süßen Duft nur für wenige Nachtstunden entfaltet und bei Tagesanbruch schon welk und unscheinbar nichts mehr von den Wundern der Nacht ahnen lässt, dahin zu bringen, ihre Herrlichkeit dem Tageslichte zu offenbaren. Was ist doch der Grund solch starren Festhaltens an der einmal angenommenen Gewohnheit? Der Psalmist nennt ihn uns: Der HERR hat ihnen diese Ordnungen gegeben, dass sie nicht anders gehen dürfen, denn ihm ist alles untertan. Der eigenwillige Mensch wagt es, seinem Schöpfer Trotz zu bieten; die ganze Natur dient seinem Willen. Wohl uns, dass sie nicht unserem Beispiele folgt, dass noch immer Same und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht aufeinander folgen ohne Aufhören, dass das unscheinbarste Gras und der stolzeste Baum noch heute ohne Widerspruch den Gesetzen untertan sind, die der HERR am dritten Schöpfungstage ihnen gegeben. Welch traurigen Gegensatz dazu bildet doch die Krone der Schöpfung, der Mensch, dem der HERR den herrlichen Leib, den reichen Geist, die unsterbliche Seele verliehen, und der im wahnsinnigen Gebahren diese ihm vom HERRN verliehenen Güter verdirbt, indem er sie zu Zwecken missbraucht, die ihrer Bestimmung schnurstracks zuwider laufen. James Neil 1879.
  Die Geschöpfe Gottes befolgen jedoch nicht nur die Gesetze, denen der HERR sie in jenen denkwürdigen ersten sechs Tagen unterworfen, sie sind ihm untertan und dienen ihm, auch wenn er ihnen Dinge auferlegt, die ihrer Natur entgegen sind. Er braucht nur ein Wort zu sagen, so legt sich der grimmige Löwe friedlich zu den Füßen seines zitternden Opfers nieder, das verzehrende Feuer, die wilden Wasser halten ein in ihrem Wüten, die Sonne steht still auf ihrer Bahn und harrt, bis das Volk Gottes seine Feinde überwunden. Stephen Charnock † 1680.


V. 92. Die Lust am Worte Gottes ist das Mittel, das den durch Trübsal schwer bedrängten Frommen vor dem Untergange bewahrt. Das Wort ist seine Arznei in Krankheit, sein Labsal und sein Trost in der Todesstunde. Das Wort Gottes machte, dass Jakob den Mut nicht sinken ließ, als sein Bruder Esau ihm mit einem Heer von vierhundert Mann entgegen zog. Er hielt Gott sein Versprechen vor: Du hast gesagt: Ich will dir wohltun (1. Mose 32,13). Es hielt Josua aufrecht, dass er mutig die Kriege des HERRN führte, denn Gott hatte zu ihm gesagt: Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen (Jos. 1,5). Melanchthon erzählt, der Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen habe in Dresden gegen ihn geäußert, dass er nie die Leiden seiner langen Gefangenschaft hätte ertragen können, nisi habuisset consolationem verbo divino in suo corde, wenn er nicht Trost durch das göttliche Wort in seinem Herzen gehabt hätte. Edm. Calamy † 1666.
  Dein Gesetz meine Lust in meinem Elende. Es war zur Zeit einer großen Teuerung in Schottland. Die Wohlhabenden wurden arm, und der Armen Los war äußerst traurig. Die Allerbedürftigsten erhielten von der Regierung täglich eine ganz kleine Summe Geldes, aber das reichte kaum zum Notwendigsten. Eine arme alte Frau, die eben die wenigen Pfennige dieser Unterstützung erhalten hatte, kam zum Krämer, um das Nötigste einzukaufen: für ein paar Pfennige Mehl, ein wenig Salz, eine Kleinigkeit von diesem und jenem. Ihre kleine Barschaft war nur zu schnell erschöpft. Nun legte sie den letzten Groschen auf den Ladentisch und sagte: "Jetzt möchte ich auch etwas für mein Vergnügen tun. Gebt mir ein wenig Öl, damit ich doch an den langen Abenden in meiner Bibel lesen kann, denn die ist doch mein einziger Trost." Und dabei leuchtete aus ihrem alten runzeligen, sorgenvollen Gesicht ein Strahl heiliger Freude. Alex Wallace 1853.


V. 93. Denn du erquickest mich damit. Der Geist, der erquickt und belebt, wirkt am liebsten durch das Wort. So ist wohl das Wort Gottes das Mittel, aber die segensreiche Wirkung rührt von Gott selbst her: Du erquickst, belebst mich damit. Solche Erquickung kann nur von der wahren Lebensquelle kommen. Die Belebung nun kann eine doppelte sein, einmal wenn wir vom Tode zum Leben erweckt werden, und sodann, wenn wir aus einem Zustande der Kälte und Erstarrung zu warmem lebendigem Dasein gerufen werden, so dass wir nicht bloß so dahinleben, sondern jetzt erst die rechte Freude am Leben haben, nach Christi gnädiger Verheißung
(Joh. 10,11): Leben und volle Genüge. Dieses letztere Erquicken kann nun im höheren, geistlichen Sinne oder in einem niedrigeren, vom Trost im Unglück, verstanden werden, und so meint es der Psalmist wohl auch hier, nach V. 92. Als seinen Trost und Beistand hielt er denn das Wort wert sein Leben lang. Thomas Manton † 1677.


V. 94. Ich bin dein, hilf mir. Ich bin dein, darin ist ein dreifaches enthalten: Erstens ist es ein Gebot der Natur, was einen Vater geradezu zwingt, sich gegen sein Kind liebreich und hilfreich zu erweisen; und Gott selbst befolgt diese Gebote der Natur, die er gegeben, in viel vollkommenerem, herrlicherem Grade, als wir Menschen es vermögen: Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen? Und ob sie seiner vergäße, so will ich dich doch nicht vergessen. Weiter: Wenn wir zu Gott sprechen: Ich bin dein, so berufen wir uns auf den Bund, den Gott mit uns gemacht: Bist du doch unser Vater. Denn Abraham weiß von uns nicht, und Israel kennt uns nicht; Du aber, HERR, bist unser Vater und unser Erlöser; von alters her ist das dein Name (Jes. 63,16). Zum Dritten: Wenn ein Mensch so mit Gott rechten kann, dass er ihm vorhält: Ich bin dein, darum musst du mir helfen, so wird sein Geist eine Fülle von Kraft und Stärkung damit empfangen, dass Gott nun umso mehr zu ihm sprechen wird: Auch ich bin dein. Wenn unsere Liebe zu Gott so groß ist, dass wir uns ihm zu eigen geben, wieviel mehr wird die Liebe Gottes ihn dazu treiben, sich ganz uns hinzugeben. Keine Braut kann dem Manne, den ihre Seele liebt, mit größerer Innigkeit bekennen: Ich bin dein, als die Seele eines Gerechten zum HERRN sagt: Ich bin dein. Denn das ist die Liebe der Dankbarkeit. Wer dessen eingedenk ist, wieviel an Dank er dem HERRN schuldet, der bekennt auch mit Freuden: Ich bin dein. So tun die Heiligen Gottes, und dasselbe spricht David mehr als zwanzigmal in diesem Psalm und im 116. aus, indem er sich einen Knecht Gottes nennt. - Wenn nun ein Mensch mit freudigem Herzen sprechen kann: Ich bin dein, dann folgt ganz von selbst der Ruf: Hilf mir. Denn solch ein Mensch ist ein Mensch des Gebetes, er steht in regem Verkehr mit dem HERRN, ruft ihn an und erhält Antwort. Jos. Symonds 1653.

  Solang ich hier noch walle,
  Soll dies mein Seufzer sein,
  Ich sprech’ bei jedem Falle:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Wenn ich am Morgen wache
  Und schlafe abends ein,
  Befehl’ ich Gott die Sache:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Geh’ ich an die Geschäfte,
  Bitt’ ich, dass sie gedeihn,
  Ihn um Verstand und Kräfte:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Wenn ich in Leidenstagen
  Bei seiner Rute wein’,
  So will ich kindlich sagen:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Will Satan mich berauben.
  Und macht die Welt mir Pein,
  Ruf’ ich getrost im Glauben:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Will sich mein Fleisch vergehen,
  Betrogen von dem Schein,
  So halt’ ich an mit Flehen:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Wenn mich die Sünden kränken,
  So kann ich noch allein
  An den Versöhner denken:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Fühl’ ich mich schwach zum Beten
  Und ist mein Glaube klein,
  Soll mich sein Geist vertreten:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  Macht auch mein Herz mir grauen,
  Der HERR sei nicht mehr mein,
  So seufz’ ich voll Vertrauen:
  HERR, hilf mir, ich bin dein!

  In meinen letzten Stunden
  Schätz’ ich mich heil und rein
  Durch meines Heilands Wunden:
  Er hilft mir, ich bin sein!
   F. Hiller † 1769.


V. 95. Die Gottlosen lauern auf mich, dass sie mich umbringen. Zweierlei wirft der Psalmist seinen Gegnern hier vor: Den Eifer im Bösestun, dass sie auf alle Gelegenheiten lauern, um ihm zu schaden, und dann ihre unbarmherzige Grausamkeit, denn ihr Ziel ist, ihn umzubringen. Wir sehen darin, wie rastlos und unersättlich die Blutgier der Gottlosen den Frommen gegenüber ist. Daniels Errettung aus der Löwengrube war ein großes Wunder; aber kein geringeres Gotteswunder ist es, dass das Häuflein der Frommen, die Herde Christi, alltäglich behütet bleibt inmitten der Gottlosen, die wie ein Rudel reißender Wölfe nach dem Blute der Heiligen Gottes dürsten und nur darauf denken, wie sie die grausamen Gelüste ihres Herzens befriedigen und jene ganz verderben mögen. William Cowper † 1619.


V. 96. Ich habe aller Dinge (oder: aller Vollkommenheit) ein Ende gesehen. Das muss doch eine armselige Vollkommenheit sein, die man von Anfang bis zu Ende überblicken kann. Aber so sind alle Dinge, die der Mensch zu den Vollkommenheiten rechnet. David hatte genug davon zu erleben Gelegenheit gehabt. Mit leiblichen Augen hatte er gesehen, wie die Stärke Goliaths, die Geschwindigkeit Asahels (2. Samuel 2,18-23), die Klugheit Ahitophels, die Schönheit Absaloms zu Schanden wurden. Und mit seinem inneren Auge sah er das Ende aller menschlichen Vollkommenheit. Adam war nicht auf dem Wege geblieben, der zu der einzig wahren Vollkommenheit führt, die kein Ende hat; wie sollte auch nur eines seiner Kinder imstande sein, diesen verlassenen Weg zu finden und darauf zu wandeln? Abr. Wright † 1690.
  Schon mit dem leiblichen Auge kann der Mensch das Ende vieler irdischen Vollkommenheit erblicken, von stolzen Geschlechtern, berühmten Schönheiten, blühender Jugend; mit dem inneren Auge der Seele aber schaut er noch viel mehr: das Ende aller Dinge. Da sieht er die Welt im Feuer vergehen und alle ihre Pracht und Herrlichkeit, ihren Stolz und ihren Ruhm, ihre Tapferkeit und Weisheit, ihre Zepter und Kronen, ihre Schätze und Güter zu Asche werden. Er sieht den Himmel entweichen wie ein zusammengerolltes Buch und die Elemente vor Hitze schmelzen und die Erde und die Werke, die darauf sind, verbrennen und all das Vollkommene, auf das die Menschen stolz waren, in Dampf und Rauch aufgehen. Ja, das Ende irdischer Dinge kann man leicht zu sehen bekommen, nie aber das Ende der göttlichen Gebote. Diese überleben sich nicht, sie sind auch unbegrenzt in ihrer Wirkung, sie sind unergründlich in ihrer tiefen Bedeutung. Ihr Bereich erstreckt sich auf jegliches Gebiet des menschlichen Daseins, bis in die Tiefen des Herzens, in seine verborgensten Falten und Winkel, es beansprucht Macht und Einfluss auf die innersten, geheimsten Regungen der Seele, es dringt durch, bis dass es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Georg Swinnock † 1673.


97. Wie habe ich dein Gesetz so lieb!
Täglich rede ich davon.
98. Du machst mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind;
denn es ist ewiglich mein Schatz.
99. Ich bin gelehrter denn alle meine Lehrer;
denn deine Zeugnisse sind meine Rede.
100. Ich bin klüger denn die Alten;
denn ich halte deine Befehle.
101. Ich wehre meinem Fuß alle böse Wege,
dass ich dein Wort halte.
102. Ich weiche nicht von deinen Rechten;
denn Du lehrest mich.
103. Dein Wort ist meinem Mund
süßer denn Honig.
104. Dein Wort macht mich klug;
darum hasse ich alle falschen Wege.


97. Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Ein Ausruf, der ihm frisch aus dem Herzen sprudelt. Seine Liebe ist so gewaltig, dass er ihr Ausdruck verleihen muss, und doch merkt er bei dem Versuch, sie in Worte zu fassen, dass dies eigentlich unmöglich ist; darum der Ausruf: O wie liebe ich dein Gesetz! Wir empfinden nicht nur heilige Ehrfurcht vor Gottes Gesetz, wir lieben es auch; aus Liebe gehorchen wir ihm, und selbst wenn es uns züchtigt, so lieben wir es darum nicht weniger. Es ist Gottes Gesetz, darum gehört ihm unsere Liebe. Wir lieben es um seiner Heiligkeit willen und sehnen uns danach, ebenso heilig zu sein; wir lieben es um seiner Weisheit willen und trachten danach, durch dasselbe weise zu werden; wir lieben es um seiner Vollkommenheit willen und begehren, ebenfalls vollkommen zu werden. Wer die Kraft des Evangeliums kennen gelernt hat, der sieht erst recht an dem Gesetz, nun wir es in Jesu erfüllt und verkörpert schauen, das unaussprechlich Liebenswerte. Den ganzen Tag (d. i. allezeit) ist es mein Sinnen. (Grundtext) Das war sowohl eine Folge seiner Liebe zu dem Gesetz als auch deren Ursache. Er sann über Gottes Wort nach, weil er es liebte, und je mehr er sich damit beschäftigte, desto lieber wurde es ihm. Er konnte nie davon genug bekommen, so brennend war seine Liebe zum Worte. Es wurde ihm nicht zu lang, den ganzen Tag damit umzugehen. Sein Morgengebet, seine Tagesgedanken, sein Abendlied, alles wurzelte in der Heiligen Schrift; ja selbst unter den irdischen Geschäften blieb doch sein Geist von dem Gesetz des HERRN erfüllt. Von manchen Menschen gilt, dass die Bewunderung vor ihnen abnimmt, je mehr man sie genau kennen lernt; von Gottes Wort aber ist das Gegenteil wahr. Je vertrauter wir mit ihm werden, desto lieber gewinnen wir es, und je mehr deine Liebe zunimmt, umso vertrauter wird es dir werden, und umso größer auch dein Verlangen, noch tiefer ihm ins Herz zu dringen Wenn Gottes Gesetz und mein Sinnen den ganzen Tag miteinander verleben, dann ist das ein heiliger, seliger Tag, ein Tag des Herrn, an dem die Seele mit Gott lebt und die ganze Freude solcher Gemeinschaft genießt. Von allem andern wendete der Psalmist sich ab, hat er es doch soeben (V. 96) ausgesprochen, dass er aller irdischen Vollkommenheit ein Ende gesehen; desto mehr wandte er sich mit völligem Herzen dem ewigen, unermesslich weiten, tiefen und hohen Worte seines Gottes zu, bei ihm verweilte er fortan all sein Leben lang und nahm dadurch immer zu an Weisheit und Gottseligkeit.

98. Du machst mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind. Die Gebote waren sein Lehrbuch, aber Gott war sein Lehrmeister.1 Der Buchstabe vermag uns wohl ein Wissen zu geben, aber der Geist des HERRN allein kann uns weise machen. Weisheit ist angewandtes Wissen. Solche Weisheit kommt uns auf dem Wege des Gehorsams: So jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei. Wir lernen nicht nur aus den Verheißungen sowie aus der Lehre der Schrift und der heiligen Geschichte, die sie uns bietet, sondern ebenso aus den Verordnungen und Geboten; ja aus ihnen gewinnen wir die nützlichste Lebensweisheit, auch solche, die uns am besten befähigt, unseren Gegnern die Spitze zu bieten. Ein heiliges Leben ist die höchste Weisheit und die beste Schutzwehr und Verteidigungswaffe. Unsere Gegner sind berühmt wegen ihrer Klugheit und Arglist, von ihrem Ahnherrn, der alten Schlange, an bis zu der jüngsten Otter, die eben aus dem Ei gekrochen ist, und es wäre ein vergebliches Unterfangen, es ihnen an List und heimlichen Ränken gleichtun zu wollen, denn die Kinder dieser Welt sind klüger denn die Kinder des Lichtes in ihrem Geschlecht. Wir müssen in eine andere Schule, zu einem anderen Lehrmeister gehen; dann werden wir durch Ehrlichkeit alle Hinterlist zu Schanden machen, durch einfältige Wahrheit auch die aufs feinste gesponnenen Ränke vernichten, durch freimütige Aufrichtigkeit alle Verleumdung unwirksam machen. Ein durch und durch aufrichtiger, gerader Mensch, der keine krummen Wege kennt, ist für die schlauen Weltmenschen ein unbegreifliches Rätsel; sie vermuten bei ihm eine noch höhere Kunst der Schlauheit, die sie nicht durchschauen können, während er unbekümmert um alles, was sie von ihm denken und wider ihn ersinnen, seinen geraden Weg weiter geht und alle ihre Ränke zunichtemacht. Es bleibt dabei, dass Redlichkeit das Klügste ist. Wer von Gott unterwiesen ist, der besitzt eine Lebensweisheit, wie sie keine noch so scharfsinnige Bosheit verleihen kann; ohne Falsch wie die Tauben, ist ein solcher doch klüger als die klügste Schlange. Denn es ist ewiglich mein Schatz. Dieser Besitz kann nicht von ihm genommen werden, und er findet darin stets das, was er nötig hat, in jeder Lage, bei allen Gelegenheiten und Verlegenheiten. Diesen unerschöpflichen Schatz, aus dem wir Weisheit für dies Leben wie für das Seligwerden schöpfen können, lasst auch uns hochhalten und fleißig gebrauchen.

99. Ich bin gelehrter (klüger) denn alle meine Lehrer. Was der HERR ihn gelehrt, das hatte sich ihm draußen auf dem Kampfplatz des Lebens, wenn er seinen Feinden gegenüber stand, nützlich erwiesen; doch findet er es gleich wertvoll in den Zeiten stillen Studiums. Auf unsere Lehrer können wir uns nicht immer verlassen; ja auch nicht einem von ihnen dürfen wir blindlings folgen, denn vor Gott sind wir selbst verantwortlich für unsere Entscheidungen. Es gebührt uns daher bei unserer Lebensschifffahrt, unseren Kurs aufs genaueste auf der Karte des Wortes Gottes zu verfolgen, damit wir das Schiff zum sichern Hafen bringen können, selbst wenn auch der Lotse den Weg verloren hat. Sind unsere geistlichen Lehrer recht gesinnt, so werden sie sich nur freuen, wenn ihre Schüler sie übertreffen, und sie werden dann stets bereit sein, anzuerkennen, dass die Unterweisung des HERRN besser ist als alle Unterweisung, die sie uns bieten können. Schlichte Jünger des Herrn, die zu Jesu Füßen sitzen, sind oft in den göttlichen Dingen besser bewandert als mancher hochgelehrte Professor der Theologie. Denn deine Zeugnisse sind mein Sinnen. (Grundtext) Das ist die beste Weise, um zu guter Erkenntnis zu gelangen. Wir können die weisesten Lehrer hören und dabei doch unwissende Toren bleiben; vertiefen wir uns aber voll Heilsverlangens in das heilige Wort, dann müssen wir weise werden. In den Zeugnissen des HERRN ist mehr Weisheit als in aller Menschen Lehren zusammengenommen, selbst wenn sie in einer ungeheuren Bücherei vereinigt uns zur Verfügung ständen. Dies eine Buch wiegt die andern alle miteinander auf.
  Der Psalmdichter spricht sich hier in aller Unbefangenheit über sich selber aus, denn Selbstüberhebung liegt ihm ferne. Wenn er von seinem Gelehrtsein, seiner Klugheit spricht, so will er damit das Gesetz und den HERRN erheben und preisen, nicht sich selber. Nicht eine Spur von Prahlerei ist in diesem kecken Wort, nur ein aufrichtiges, kindliches Begehren, die Trefflichkeit des Wortes Gottes ins Licht zu stellen. Wer sich die in der Heiligen Schrift gelehrten Wahrheiten angeeignet hat, macht sich nicht der Selbstüberschätzung schuldig, wenn er überzeugt ist, einen wertvolleren Wahrheitsbesitz zu haben als alle die Lehrer des vornehmen Zweifels, seien sie mit ihren Systemen schon begraben oder nicht, sie, die mit ihrem selbstgewählten Namen Agnostiker2 bekennen, dass sie vom letzten Grunde der Dinge nichts wissen.

100. Ich bin klüger (einsichtiger) als die Alten, denn ich halte deine Befehle. Die Alten, das sind die Bejahrten wie auch die Männer des Altertums3; sie alle hatte der frömmere, wenn auch noch jüngere Schüler überholt. Er war angeleitet worden, in Herz und Leben, in Gesinnung und Wandel die Befehle des HERRN zu beachten und einzuhalten, und das ist mehr, als der ehrwürdigste alte Sünder je gelernt, mehr als die Philosophen des Altertums je als erreichbares Ziel ihrer Wissenschaft aufzustellen gewagt oder auch nur zu erstreben begehrt hätten. Er hatte das Wort für sich, so überwand er seine Feinde; er forschte liebend darin, so überholte er seine Freunde; er handelte danach, so übertraf er selbst die Alten. Das aus der Heiligen Schrift geschöpfte Wissen ist nützlich in vielen Stücken, es erweist sich als vorzüglich in vieler Hinsicht, ja es steht überall und immer unerreicht da. Wie unsere Seele sich des HERRN rühmen darf, so können wir uns auch seines Wortes rühmen. "Es ist seinesgleichen nicht, gib mir’s" sagte David von Goliaths Schwert, und das Gleiche mögen wir von dem Worte Gottes sagen. Schätzen Menschen hohes Altertum wert, wohlan, hier haben sie es. Die Weisen der Vorzeit stehen in hohem Ansehen; aber was war all ihr Wissen im Vergleich zu demjenigen, das uns in den göttlichen Lehren und Rechten vor Augen tritt? Das Alte ist besser, sagt man wohl; ja, und das Allerälteste ist das Allerbeste, und was wäre älter als das Wort des "Alten", den Daniel auf seinem erhabenen Stuhle geschaut!

101. Ich wehre (wehrte) meinem Fuß alle böse Wege, dass ich dein Wort halte. Zum Aufsammeln eines heiligen Schatzes aus dem Worte Gottes kann es nicht kommen, es sei denn, dass zugleich alles Unheilige ausgefegt wird. Wollen wir das Gute haben, so müssen wir das Böse fahren lassen. Der Psalmist bewachte aufs sorgfältigste seine Schritte und hielt all sein Handeln in strenger Zucht; er hielt, wie er sich ausdrückt, seine Füße zurück. Kein böser Weg, welcher Art immer, durfte ihn verlocken, denn er wusste, dass er, wenn er auch nur einmal einen Seitenweg einschlug, er eben damit den Weg der Gerechtigkeit tatsächlich verließ; darum vermied er jeden falschen Schritt. Mancher Weg mochte dem Fuße einen weichen Rasenteppich bieten und das Auge mit leuchtenden Blumen locken; aber er wusste, dass alle Abwege vom Übel sind, darum wehrte er seinem Fuße und blieb auf der geraden, wenn auch rauen Straße, die zu Gott führt. Es gewährt uns nicht geringe Befriedigung, wenn wir wie der Psalmist auf Siege zurückschauen können, die wir über uns selbst errungen haben, und eine noch größere Freude ist es, wenn wir uns bewusst sind, dass wir dies nicht nur getan haben, um bei unseren Mitmenschen im Ansehen zu stehen, sondern mit der einfältigen Absicht, das Gebot des HERRN zu halten. Die Sünde meiden aus Gehorsam gegen Gott, das ist der Grundgedanke dieses Verses. Da fehlt es auch an der rechten Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift, wo nicht volle Sorgfalt geübt wird, jede Übertretung ihrer Verordnungen zu vermeiden. Wie können wir Gottes Wort heilig halten, wenn wir nicht unser Tun und Handeln davor bewahren, dass es unheilig und schädlich wird?

102. Ich weiche (wich) nicht von deinen Rechten, denn Du lehrest (lehrtest, unterwiesest) mich. Wen Gott unterrichtet, der ist wohl unterwiesen. Was wir vom HERRN selbst lernen, das vergessen wir nie. Gottes Unterricht und Erziehung zeigen ihre Frucht im Leben: lehrt er uns seine Wege, so wandeln wir auf seinen Steigen (Jes. 2,3), und diese gute Wirkung ist dauernd: wir weichen nicht von seinen Rechten. Halten wir die zwei Verse, diesen und den vorhergehenden, gegeneinander, so hören wir, was der Liebhaber des göttlichen Wortes tut und was er nicht tut. Was er tut: er wehrt seinem Fuße, er hält ihn von dem zurück, was er sonst getan haben möchte, nämlich zu weichen von Gottes Rechtsordnungen. Wer sich davor hütet, auch nur einen Fuß breit vom rechten Wege abzuweichen, wird nie Gefahr laufen, sich zu verirren. Wer den berauschenden Becher nie anrührt, wird niemals trunken werden. Wer sich hütet, auch nur ein unnützes Wort zu reden, wird nie eine Lästerung begehen. Die geringste Abweichung aber ist gefährlich, weil wir nicht sagen können, wohin der Abweg uns schließlich führen wird. Der HERR bewirkt, dass wir in der Heiligkeit beharren, indem wir uns von den Anfängen der Sünde enthalten. Doch gleichviel, welcherlei Weise er dazu benutzt, er ist es, der in uns das Beharren bewirkt, und sein allein sei denn auch aller Ruhm davon.

103. Dein Wort ist meinem Munde süßer denn Honig. Genauer übersetzt lautet der Vers. Wie süß (eigentlich: wie glatt eingehend, wie einschmeichelnd, lieblich) sind meinem Gaumen deine Worte, mehr als Honig meinem Munde. Er hatte Gottes Wort nicht nur gehört, sondern gleichsam gegessen; sein Gaumen, sein Geschmackssinn, hatte ebenso damit zu tun wie sein Ohr. Gottes Worte sind zahlreich und mannigfaltig, und in ihrer Gesamtheit bilden sie das, was wir "das Wort" nennen. David liebte jedes Einzelne davon und sie alle als ein Ganzes; er schmeckte eine Süßigkeit an ihnen, so köstlich, dass es ihm an Worten zum vollen Ausdruck fehlte, er darum zunächst nur ausrufen kann: Wie süß sind sie! Eben weil es Gottes Worte sind, haben sie auch göttlichen Wohlgeschmack an sich, und der HERR, der ihnen diese Süßigkeit verliehen, hatte auch den inneren Geschmackssinn seines Knechtes dazu zubereitet, dass er diese ihre Süßigkeit wahrzunehmen und zu genießen imstande war. Auch die süßesten irdischen Genüsse stehen weit zurück hinter der unaussprechlichen Lieblichkeit des ewigen Wortes; selbst der Honig wird an Süße und Wohlgeschmack übertroffen von dem köstlichen Worte des HERRN. Der Psalmdichter unterscheidet hier nicht zwischen Verheißungen und Geboten, Lehrworten oder Mahnungen; alles dies ist in Gottes Wort enthalten, und alles dünkt ihn köstlich. Ach, dass auch wir solch eine tiefinnige Liebe haben mögen zu allem, was der HERR, welcher Art es auch sei, zu uns Menschen zu reden geruht hat!4

104. Dein Wort macht mich klug. Durch Gottes Weisungen werden wir einsichtige Leute. Der Gehorsam gegen Gottes Willen macht uns weise im Denken und im Handeln. Da Gottes Weg stets der beste ist, werden die, welche ihm folgen, am Ende durch den Ausgang gerechtfertigt erscheinen. Wäre der Gesetzgeber unweise, so würde sein Gesetz die gleiche Eigenschaft haben und uns in tausend Torheiten und Verlegenheiten stürzen; da jedoch gerade das Gegenteil der Fall ist, dürfen wir uns glücklich schätzen, solch ein weises, vorsorgliches und wohltätiges Gesetz zu unserer Lebensregel zu haben. Wir sind klug, wenn wir gehorchen, und wachsen an Weisheit durch das Gehorchen.
  Darum hasse ich alle falschen Wege (jeden Lügenweg). Weil er Gottes Befehle zur Richtschnur seines Lebens hatte und weil er durch sie verständig geworden war, darum verabscheute er alle Sünde und Falschheit. Jede Sünde ist ein Betrug; wir sündigen, weil wir einer Lüge Glauben schenken. Doch zuletzt entlarvt sich das schmeichlerische Böse, und wir finden uns schmählich betrogen. Wahrhaftige Gemüter stehen der Falschheit nicht gleichgültig gegenüber, sondern entrüsten sich über sie; wie sie die Wahrheit lieben, so hassen sie die Lüge. Alle Gotteskinder haben einen Abscheu vor allem, was unwahr ist; sie können nichts Falsches und Gottloses ertragen, sie widerstehen allem Irrtum in der Lehre, aller Schlechtigkeit im Wandel. Wer eine Sünde liebt und hegt, der ist ein Bundesgenosse des ganzen großen Heeres, zu dem sie gehört. Wir dürfen auch nicht einen dieser Amalekiter schonen (1. Samuel 15,3), dürfen mit diesen Feinden keinen Waffenstillstand schließen, uns nicht in irgendwelche Unterhandlungen einlassen; denn der HERR hat Krieg mit Amalek auf ewige Zeiten (2. Mose 17,16), darum auch wir. Es ist etwas Gutes um einen rechten, echten Hass. Wieso das? Auch unsere schlimmsten Feinde sollen wir lieben, aber hassen alle falschen Wege. Der Weg des Eigenwillens, der Selbstgerechtigkeit, der Weltlust, des Stolzes, des Unglaubens, der Heuchelei, das alles sind falsche Wege, Lügenpfade; darum müssen wir sie nicht nur nicht betreten, sondern sie verabscheuen.
  Dieser Schlussvers des Abschnitts offenbart einen bedeutenden Fortschritt in der Entwicklung des Charakters des Psalmisten und lässt erkennen, dass der Mann Gottes an männlicher Kraft und Kühnheit und auch an innerer Ruhe und Freude zunimmt. Er ist vom HERRN unterwiesen worden, so dass er das Köstliche von dem Unedlen, Schnöden scheiden (vergl. Jer. 15,19 Grundtext) und die Geister prüfen kann, und wie er von brennender Liebe zur Wahrheit erfüllt ist, so glühend hasst er die Falschheit. Möchten wir alle doch zu solcher Urteilsfähigkeit und solcher Entschiedenheit gelangen, auf dass unser ganzes Verhalten zur Verherrlichung Gottes diene.


V. 97-104. Das achtfache m (M): Der Dichter rühmt die Lebensweisheit, die das eben deshalb ihm so süße Wort Gottes darreicht.

97. Minniglich lieb hab’ ich dein Gesetz,
Den ganzen Tag ist es mein Sinnen.
98. Mehr als meine Feinde machen weise mich deine Gebote,
Denn auf ewig sind sie mein Teil.
99. Mehr als alle meine Lehrer bin ich einsichtig,
Denn deine Zeugnisse sind mir Ziel des Sinnens.
100. Mehr als Alte bin ich verständig,
Denn deine Ordnungen beachte ich.
101. Meiden allen bösen Pfad lass ich meine Füße,
Auf dass ich halte dein Wort.
102. Missachtend verlass ich deine Rechte nicht,
Denn du hast mich unterwiesen.
103. Meinem Gaumen, wie lieblich sind ihm deine Zusagen,
Mehr als Honig meinem Munde!
104. Mittelst deiner Ordnungen gewinn’ ich Einsicht,
Darum hass’ ich allen Lügenpfad.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890
  


V. 97. Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Der Psalmist hebt hier nicht hervor, dass er das Gesetz kenne oder darin lese, es anhöre, davon rede oder es äußerlich erfülle; hier ist nur von der Liebe zum Gesetz die Rede. Die bedeutet viel mehr als alles das andere. Jenes kann sehr wohl ohne die Liebe bestehen; man kann das Gesetz kennen, dasselbe hochschätzen, es mit einem gewissen Vergnügen hören und lernen, ja sogar es verkündigen, ohne es wirklich zu lieben. Aber das Umgekehrte ist nicht möglich; wo Liebe zum Gesetz vorhanden ist, da kann jenes andere nicht fehlen. Die Liebe ist das alles Beherrschende, wie eine Königin regiert sie; all jenes andere ist von ihr abhängig, selbst der Verstand mit seinem Urteil ist ihr oft untertan. Und die Richtung, die unsere Liebe nimmt, ob zum Guten oder zum Bösen, bestimmt alle übrigen Neigungen. Wir wollen aber an diesem Vers noch einige Punkte hervorheben. Der Psalmist sagt nicht: Wie sollte man dein Gesetz doch so lieb haben, sondern: Wie habe ich dein Gesetz so lieb. Und weiter heißt es nicht: Wie habe ich es so lieb gehabt, oder, wie will ich es so lieb haben, oder, wie würde ich es so lieb haben, wenn ich weiter vorgeschritten wäre. Nein, der Psalmist spricht von sich in der ersten Person und in der Gegenwart. Wie habe ich jetzt, so wie ich bin, dein Gesetz so lieb. Diese beiden Umstände sind für uns von Bedeutung. Ferner sagt er: Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Dieses Wie zeigt so recht den hohen Grad seiner Liebe. Es ist ein Ausruf, der aus tiefstem Herzen kommt; die Liebe zu Gottes Gesetz hat ihn so ganz gefangen genommen, dass er vor Sehnsucht danach krank war (V. 81.82), "krank vor Liebe" wie die Braut im Hohenliede (Kap. 2,5). Dieses Wie ladet aber auch zu Vergleichungen ein, so wie der Psalmist sie später (V. 127) ausspricht: "über Gold und über fein Gold", also mehr als alle Reichtümer und Kostbarkeiten. Wer aber den Herrn und sein Wort nicht so liebt, dass er um seinetwillen Vater und Mutter, Weib und Kind, ja sein Leben lassen kann, wieviel mehr also irdische Schätze und Güter, der ist sein nicht wert. Unser Herr Christus verließ um Gottes willen alles, wieviel mehr haben wir Veranlassung, solches zu tun. - Den ganzen Tag ist es mein Sinnen. Damit meint er nicht nur ein Forschen im Buchstaben der Schrift, als ob er immer die eine oder andere Schriftstelle gelehrt untersucht hätte, sondern er vertiefte sich in den Inhalt und die Grundgedanken der ganzen Offenbarung. Die Gerechtigkeit, Güte, Weisheit und Macht Gottes, aber auch die Ohnmacht und Verderbnis des natürlichen Menschen, das ist’s, was ihn Tag und Nacht beschäftigte. Das heißt natürlich nicht, dass er nun nichts anderes getan habe, als sich mit dem Worte Gottes beschäftigen, aber dass dies doch seine Lieblingsbeschäftigung, seine Haupttätigkeit gebildet habe, deren er nie müde wurde, das Erste, woran er des Morgens dachte, das Letzte, was er am Abend vornahm. Mag ein Mann heute noch so eifrig in seinem Berufe gearbeitet haben, er wird morgen mit gleichem Eifer wieder daran gehen, und so einen Tag wie den anderen. So stand auch der Psalmist zum Wort Gottes. Die Beschäftigung damit war ihm ebenso notwendig wie natürlich, sie war ihm wichtiger selbst als das Gebet, ja wir stehen nicht an zu behaupten, dass sie notwendiger als dieses ist, ihm voran gehen muss, denn erst durch sie lernen wir, was und wie wir bitten sollen. Thomas Stoughton 1616.
  Wer sich ohne Liebe an das Gesetz Gottes wagt, bleibt bei allem Bibellesen und -forschen kalt und wird den Versuch bald aufgeben. Denn unser Geist kann nicht mit Ernst und Ausdauer bei einer Sache sein, an der das Herz nicht beteiligt ist. Nur wer das Gesetz liebt, kann den ganzen Tag darüber sinnen. Wolfg. Musculus † 1563.
  Dein Gesetz. In jedem der acht Vers dieses Abschnittes, wie durchweg in dem Psalm, wird von der Heiligen Schrift als Gottes eigen gesprochen. Wer ist der Verfasser der Heiligen Schrift? Gott. Wovon handelt sie? Von Gott. Was ist ihr Zweck? Gott. Denn zu welchem Ende ward sie geschrieben, als dass wir ewiglich uns unseres Gottes erfreuen dürften? Thomas Manton † 1677.
  Allezeit ist es mein Sinnen. Die Heilige Schrift ist kein Buch für die Bequemen, sie kann nicht ohne den Heiligen Geist, durch den sie entstanden, oder gar unter Leugnung seines Daseins verstanden und ausgelegt werden. Vielmehr ist sie ein Land, auf dessen Oberfläche wir bisweilen leicht und ohne Mühe reichlich gespendetes Manna sammeln können, das aber in anderen Teilen auch wieder mit Mühe und Arbeit bebaut werden muss, ehe es seine Frucht dem Menschen darreicht. Und oft müssen wir dieses Lebensbrot in dem o wie heilsamen Schweiße unseres Angesichts essen. R. Chen. Trench 1845.


V. 98. In diesem und den beiden folgenden Versen preist der Psalmist das Wort um einer sonderlich köstlichen Frucht willen, die ihm aus dem Wort erwachsen ist, nämlich dass er daraus Weisheit gelernt hat. Dies führt er näher aus, indem er sich mit drei Klassen von Menschen vergleicht, mit seinen Feinden
(V. 98), seinen Lehrern (V. 99) und den Alten (V. 100). Dies aber tut er nicht in eitler Prahlerei, denn solches liegt dem ferne, der unter der Leitung des Geistes der Gnade steht, sondern es geschieht zum Preise des göttlichen Wortes und um andere dahin zu bringen, es ebenfalls lieb zu gewinnen. - Weiser als meine Feinde. Wie mag solches zugehen, da doch unser Heiland selbst sagt, dass die Kinder dieser Welt klüger seien denn die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht? Die Antwort darauf ist sehr einfach: Unser Herr nennt nicht die Kinder dieser Welt schlechthin weise oder klug, sondern klug gegen ihr eigenes Geschlecht, also im Verkehr mit Leuten ihres Schlages in den Angelegenheiten dieses Lebens. Oder wie der Prophet sagt: "Weise sind sie genug, Übels zu tun" (Jer. 4,22), und wenn sie es getan, weise genug, um es zu bemänteln und zu verbergen. All dieses ist aber in Wirklichkeit nur Narrheit, und der Psalmdichter, der im Lichte des göttlichen Wortes dieses erkannte, ließ sich nicht verleiten, es ihnen gleich zu tun. Es ist dies eben ein Hauptstreitpunkt zwischen den Frommen und den Gottlosen: jeder hält das andere für töricht; hier kann allein das Licht des göttlichen Wortes Klarheit schaffen, wer damit recht hat. William Cowper † 1619.
  Denn es ist ewiglich mein Schatz oder mein Teil. Gott verleiht Weisheit, wem er will, wer aber sich am meisten mit Gottes Wort beschäftigt, der kommt auch am weitesten. Es liegt auch darin der Gedanke, dass das Wort Gottes ein allbereiter, allgegenwärtiger Helfer ist. Wer seine Weisheit von auswärts hernimmt, hat nicht allezeit seine Ratgeber zur Hand. Wenn ein Mensch aber Gottes Wort im Herzen hat, dann hat er in jedem Augenblick die Hilfe, die er braucht, er findet in jeder Lage des Lebens, in jeder Schwierigkeit, für jede Versuchung ein passendes Wort, das ihn leitet und ihm zeigt, was gut sei um der gegenwärtigen Not willen (1. Kor. 7,26), wie er sich darin zu verhalten habe und wie er auf bessere Zeit hoffen dürfe. Thomas Manton † 1677
  Es ist ewiglich mein Schatz. Und solchen Schatz trägt der Fromme stets bei sich, wenn nicht in der Hand, dann doch stets in Kopf und Herz. Matthew Henry † 1714.


V. 99. Ich bin gelehrter denn alle meine Lehrer. Selbst in Fällen, wo der Lehrer ein gottesfürchtiger, bei Gott in Gnaden stehender Mensch ist, wird es vorkommen, dass durch seine Wirksamkeit an der Seele eines Schülers diesem ein weit höheres Maß von Gnade und Erleuchtung verliehen wird, als jener selbst besitzt. Dies sehen wir z. B. an Augustinus, der seinen Lehrer Ambrosius an Wissen und Erkenntnis und Gottbegnadung weit überragte. Solches ist ein eigentümlicher Beweis der göttlichen Macht und Herrlichkeit, dass er seine Werkzeuge Größeres ausrichten lässt, als diese selbst besitzen, und ist dieses für den gottesfürchtigen Lehrer kein Gegenstand eifersüchtigen Kummers, vielmehr ein Gegenstand des Rühmens und Lobpreisen. William Cowper † 1619.


V. 100. Ich bin klüger denn die Alten, denn ich halte deine Befehle. Bou/lei qeo/logoj gene/sqai;
ta`j e)ntolaj fu/lasse, sagt Gregor von Nazianz, willst du ein Gottesgelehrter werden, dann halte die Gebote. Erst aus dem Tun des Wortes erwächst die Fähigkeit, recht zu forschen, recht zu erkennen. Vergl. Joh. 7,17. Und derselbe große Kirchenlehrer macht darauf aufmerksam, dass die Emmausjünger den Herrn nicht erkannten an seiner Lehre, obwohl sie ihm lange zuhörten, so dass ihr Herz in ihnen brannte, sondern erst, da sie eine Tat der Gastfreundschaft gegen ihn vollbrachten, also indem sie nicht nur Hörer, sondern auch Täter des Worts waren. Quisquis ergo vult audita intelligere, festinet, ea quae jam audire potuit, opere implere: Wer also das Gehörte recht verstehen will, der braucht nur alsbald das, was er gehört, mit der Tat zu vollbringen. Nathan. Hardy † 1670.
  Klugheit, die aus dem Worte Gottes und seinen Geboten stammt, ist besser als Klugheit, die aus der Erfahrung geschöpft ist. Sie ist untrüglich, sie verleiht völlige Gewissheit. Unsere Erfahrung erstreckt sich doch nur auf ein sehr beschränktes Gebiet, das Wort Gottes aber umfasst alles, was zu unserer Glückseligkeit nötig ist. Denn das Wort ist die Frucht göttlicher Weisheit, und so hoch der Himmel über der Erde ist, sind Gottes Gedanken höher als alle menschliche Erfahrungsweisheit. Es ist aber auch ein viel sichererer Weg, um zur rechten Weisheit zu gelangen. Auch bei großer, reicher Erfahrung kann einem Menschen die innere Fähigkeit fehlen, die rechte Frucht ans solcher Erfahrung zu gewinnen. Dieser Weg ist auch gefahrlos und führt am schnellsten zum Ziele. Es ist wahrlich leichter, sich durch das Wort und den Geist Gottes lehren zu lassen, als mit bitteren Reuetränen den Heimweg suchen zu müssen, auf den dich erst der Stab Wehe getrieben hat. Erfahrung ist stets etwas Kostspieliges, und wenn sie unsere einzige Führerin wäre, durch wieviel tausend schmerzliche, bittere Erlebnisse müssten wir da hindurch, bis wir in vorgerücktem Alter einen gewissen Grad von Klugheit erlangten; hier aber kannst du in früher Jugend Großes erwerben. Du brauchst nur dich in das Wort Gottes zu vertiefen. Da kannst du schon frühzeitig weise werden und nicht erst, wenn es zu spät ist, wie die törichten Jungfrauen. Thomas Manton † 1677.
  Welche Quelle der Weisheit muss dies heilige Buch erst für uns bilden, nachdem es noch so viele Bereicherung erfahren, von der der Psalmist nichts wusste und ahnte, z. B. die begeisterte Sprache der Propheten, die Fülle von praktischer Lebensklugheit in den Sprüchen Salomos und gar die überzeugende Kraft in den Beweisführungen Sankt Pauli. Die Schätze dieses Buches haben auch je und je ihre Würdigung gefunden. Der heidnische König Ptolemäus ließ es in die damalige Weltsprache, das Griechische, übersetzen. Zwei Könige des Mittelalters, denen die Geschichte den Beinamen des Weisen verliehen, Karl V. von Frankreich und Alphons X. von Kastilien, achteten dasselbe als die höchste Quelle der Weisheit und Erkenntnis und legten öffentlich Zeugnis ab von dieser ihrer Überzeugung. G. Hakewell † 1649.


V. 101. Ich wehre meinem Fuß alle böse Wege, dass ich dein Wort halte. Der Psalmist zeigt uns hier erstens, welche Grundsätze er in seinem Tun und Wandel befolgt, und zweitens, aus welchem Grund und zu welchem Zweck er so und nicht anders handelt. Erstens: Sein Tun und Wandel. Wie ernstgemeint klingt doch das Wort: Ich wehre meinem Fuß. Damit will er sagen, er halte seine Neigungen und Begierden im Zaum, gerade wie der Ausdruck Pred. 4,17 gemeint ist: Bewahre deinen Fuß, wenn du zum Hause Gottes gehst. Unsere Neigungen, die unser ganzes Seelenleben aufs stärkste beeinflussen, sind auch die Haupttriebfedern unseres Handelns; so ist der Vergleich mit unseren Füßen, die unseren Körper an jede Stelle bringen, wohin wir zu kommen wünschen, recht passend. Die Füße von den bösen Wegen zurückhalten, ihnen solche wehren, heißt also, seine Neigungen, die Regungen der Seele, in strenger Zucht halten, damit sie uns nicht zur Sünde verführen. Und der Psalmist gibt seinem Ausspruch die umfassendste Geltung: alle bösen Wege. Das war sein Grundsatz, die Grundrichtung seines Wollens und Strebens, wenn auch die Wirklichkeit, die Ausführung gar manches Mal weit zurückblieb. Zweitens sagt er uns auch, aus welchem Grund, zu welchem Zwecke er so handelt: dass ich dein Wort halte, dass ich einen Gott gehorsamen und wohlgefälligen Wandel führe und überall und unzweideutig nur seinem Wort nachlebe. Thomas Manton † 1677.
  Ich wehre. Dieses Wort sagt uns, dass wir von Natur durch unsere Füße auf alle möglichen bösen Wege getragen werden, dass unsere Leidenschaften uns mit Schnelligkeit auf ihnen dahin treiben, so dass selbst die Weisen und Klugen und Erfahrenen stets Zügel und Hemmschuh nötig haben, um an dem Verlassen des rechten, an dem Weiterverfolgen des bösen Weges verhindert zu werden. Das hebräische Wort ist stark, es bedeutet oft einschließen, gefangen nehmen, mit Gewalt zurückhalten. Es bedarf also mehr als eines leichten Widerstandes, um unsere Fuße daran zu hindern, uns in die Irre zu führen. James Millard Neale † 1866.


V. 102. Denn Du lehrest mich. Um jeden Anschein zu vermeiden, als ob er den Ruhm für seinen gottesfürchtigen Wandel für sich selbst in Anspruch nähme, als ob es seiner eigenen Vortrefflichkeit zuzuschreiben sei, wenn er seinem Fuße alle bösen Wege wehre, gibt er hier allein Gott alle Ehre und spricht es aufs entschiedenste aus, dass er nur darum nicht von Gottes Rechten abweiche, weil Gott ihn selbst lehre und anweise. Wir lernen daraus, dass allewege, mögen wir nun stehen geblieben sein oder nach einem Falle in wahrer Reue wieder aufstehen, das eine wie das andere dem HERRN allein zuzuschreiben ist, der uns lehrt. Denn keine Schlechtigkeit ist zu abscheulich, als dass sie uns nicht doch nach kurzer Zeit entschuldbar erscheinen würde, wenn Gott sich unser nicht mehr annehmen wollte. Wohl hatte der Psalmist auch seine Lehrer, und er ehrte und achtete sie hoch; dass er aber von ihrem Lehren Nutzen zog, das schrieb er Gott zu. Paulus mag immerhin säen und Apollo begießen, aber das Wachstum muss Gott geben. William Cowper † 1619.


V. 103. Wie lieblich sind meinen Gaumen deine Worte, mehr denn Honig meinem Munde. (Wörtl.) Der Wiedergeborene erhält einen neuen geistigen Sinn, gleichsam einen besonderen Geschmackssinn für das Geistliche, das Göttliche, der ihn zu einer tieferen Erkenntnis dieser Dinge befähigt, als sie der natürliche Mensch erlangen kann, so wie der Geschmack uns die vorzüglichste Eigenschaft des Honigs verrät, nämlich seine Süßigkeit, die man weder durch das Gesicht noch das Gefühl wahrnehmen kann. Was dieser geistige Sinn uns vermittelt, das ist die Erkenntnis der Schönheit und Köstlichkeit des Heiligen, wodurch in uns jene Lust an der geistlichen Speise geweckt wird, von der die Worte unseres Heilandes
Joh. 4,32.34 Zeugnis geben. Jonathan Edwards † 1758.
  Ein liebendes Weib sagt hier (in Indien) wohl zum Gatten: "Deine Worte sind mir süßer als Honig, ja süßer als das Zuckerrohr." "Ach, mein Mann ist von mir gegangen", klagt die Witwe, "o wie süß waren seine Worte! Honig troff von seinem Munde, seine Worte waren wie Götterspeise." Joseph Roberts 1835.


V. 104. Dein Wort macht mich klug, darum hasse ich alle falschen Wege. In diesem Vers scheint der Psalmist die Gedankenfolge, die er in V. 101 aufgestellt hat, umzukehren. Dort hatte er gesagt: "Ich wehre meinem Fuß, damit ich dein Wort halte", wonach also das Meiden der bösen Wege das Mittel, der Segen, der aus dem Worte geschöpft wird, der Zweck war. Hier ist umgekehrt der Segen aus dem Worte das Mittel zu dem Zwecke, die bösen Wege zu meiden. Der eine Vers schildert den Anfang des guten Werkes, der andere seinen Fortgang. Thomas Manton † 1677.
  Darum hasse ich jeden Lügenweg. So sagt David auch im 163. Vers: Lügen bin ich gram und habe Gräuel daran, aber dein Gesetz habe ich lieb. Der Fromme meidet nicht nur das Böse, er hasst und verabscheut es; und er tut nicht nur das Gute, er hat es lieb, er hat Lust dazu, er sehnt sich danach, es ist ihm nur wohl, wenn er es tut, ja er liebt es, auch wenn er es nicht zu vollbringen vermag (Röm. 7,22). Der natürliche Mensch mag ja auch Böses unterlassen und Gutes tun, nie aber verabscheut er das Böse und hat er Lust am Guten. Der Abscheu vor dem Bösen und die Liebe zum Guten ist mehr als das bloße Unterlassen dieses und jenes Bösen und das Tun dieses und jenes Guten. Und wenn wir das Wesen der Sünde mit der neuen Natur des wiedergeborenen Menschen vergleichen, so verstehen wir, warum bei diesem die Enthaltung von der Sünde mit einem wahren Abscheu vor ihr verbunden ist. Jos. Caryl † 1673.
  Der Hass ist eine totschlägerische, mörderische Empfindung; wo er sich gegen die Sünde richtet, da verfolgt er sie leidenschaftlich, bis aufs Blut, wie ein Bluträcher, d. h. ein Rächer des Blutes, das die Sünde vergossen hat, nämlich des Blutes Christi. Wenn du die Sünde gründlich und dauernd hassest, so wirst du ihr keine Schonung angedeihen lassen, sondern sie sofort umbringen. Ehe man sie recht hasst, kann sie nicht ertötet werden. Hassest du sie nicht, so wirst du auch nicht, wie die Juden über Christum, das Kreuzige, kreuzige, über sie rufen, sondern wirst es machen wie David mit Absalom. Du wirst sprechen: Fahret mir säuberlich mit dem Knaben, - mit dieser Lieblingssünde, mit jener mir ans Herz gewachsenen Lust. Nachsicht mit der Sünde aber ist Grausamkeit gegen die eigene Seele. Edw. Reyner † 1670.
  Es heißt hier nicht böse, sondern falsche Wege, oder wie es wörtlich heißt: Pfad der Lüge, der Falschheit. Das Falsche kann hier im Urteil oder in der Ausführung liegen, in den Ansichten und Meinungen oder im Handeln. Wer durchs Wort gelehrt wird, ist gefeit gegen Irrtum, und nicht nur das, er hasst ihn. Thomas Manton † 1677.
 


1. Es wird jedoch zu übersetzen sein. Dein Gebot macht mich weiser usw. Die Gebote (hebr. Mehrzahl) bilden ein geschlossenes Ganze, das Gesetz, daher das Zeitwort im Singular (3. Pers. fem.) und das )yh (es) im 2. Versglied.

2. Der Darwinist Prof. Huxley hat diesen Namen als Selbstbezeichnung seines Standpunktes geprägt. Nach ihm nennen sich so die vornehmeren naturwissenschaftlichen Skeptiker namentlich in England.

3. Und die "Alten" im letzteren Sinne scheinen zwar auch das Targum u. a. zu denken. Das hebr. Wort (Greise) kann aber doch wohl nur auf die an Jahren Alten, die natürlichen Vertreter der Weisheit und Erfahrung, oder auf die "Ältesten" (Leiter) bezogen werden. Das andere würde wohl durch "Männer der Vorzeit" ausgedrückt sein. James Millard

4. Es mag nicht ohne Interesse sein, das Spurgeon den Vers unter schärferer Trennung seiner beiden Glieder folgendermaßen auffasst: Wie süß sind deine Worte meinem Gaumen! Ja süßer als Honig sind sie meinem Munde. Er denkt dann bei dem Munde an das Reden und findet somit in dem Vers eine Steigerung: "Als er das Wort nicht nur aß, sondern es auch redete, indem er andere darin unterwies, empfand er noch höheren Genuss an demselben. Als er sich an dem Worte nährte, fand er es süß; aber als er davon Zeugnis ablegte, ward es ihm noch süßer. Wie wohl werden auch wir daran tun, das Wort des HERRN sowohl selber zu kosten und zu genießen in stiller Betrachtung, als auch es im Munde zu führen in gläubigem Zeugnis. Es muss unserem Geschmack süß sein, wenn wir darüber denken, sonst wird es auch unserem Munde nicht süß sein, wenn wir davon sprechen". Ähnliche Gedanken finden wir schon bei Wolfgang Musculus, † 1563. Die Tautologie, welche z. B. Luther veranlasst hat, den Vers zu kürzen, fiele bei dieser Fassung allerdings weg; allein die Vergleichung mit dem Honig fordert, auch den Mund als Organ des Geschmackes, nicht der Rede aufzufassen, wie z. B. 1. Mose. 25,28. James Millard


105. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Wege.
106. Ich schwöre und will’s halten,
dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will.
107. Ich bin sehr gedemütigt;
HERR, erquicke mich nach deinem Wort!
108. Lass dir gefallen, HERR, das willige Opfer meines Mundes
und lehre mich deine Rechte.
109. Ich trage meine Seele immer in meinen Händen,
und ich vergesse deines Gesetzes nicht.
110. Die Gottlosen legen mir Stricke;
ich aber irre nicht von deinen Befehlen.
111. Deine Zeugnisse sind mein ewiges Erbe;
denn sie sind meines Herzens Wonne.
112. Ich neige mein Herz, zu tun nach deinen Rechten immer und ewiglich.


105. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte. Wir sind auf der Wanderschaft durch diese Welt und müssen es oft erfahren, dass sie eine finstere Welt ist; lasst uns nie uns in ihre Finsternis wagen ohne das Licht spendende Wort, wir würden sonst sicherlich straucheln. Ein jeder von uns soll das Wort Gottes in seinem persönlichen ständigen Gebrauch haben in allen Lebenslagen, damit er sowohl den Weg sehe, den er wandeln soll, als auch die Hindernisse und Gefahren, die seinen Fuß gefährden. Wenn Dunkel sich rings um mich lagert, dann erleuchtet das Wort des HERRN gleich einer hell brennenden Fackel meinen Weg. In den Städten des Morgenlandes, wo es keine Straßenbeleuchtung gab, trug man, wenn man zur Nachtzeit einen Gang zu tun hatte, ein Licht bei sich, damit man nicht in eine offene Grube stürze oder über die Haufen Unrat falle, die da lagen. Ist das nicht ein getreues Abbild unseres Wandels durch diese dunkle Welt? Auch wir würden unseren Weg nicht finden, noch wissen, wie die rechten Tritte darauf tun, wenn uns nicht die Heilige Schrift mit ihrem hellen Lichte bei jedem Schritt voranleuchtete. Einer der handgreiflichsten Vorteile des treuen Gebrauches der Bibel ist der, dass wir in ihr Wegleitung finden für die Aufgaben und Ereignisse des täglichen Lebens. Ihr Zweck ist nicht, mit ihrem Glanze unsere Bewunderung zu erregen, sondern uns mit dem Licht ihrer Wahrheit zu unterweisen und zu führen. Wohl bedarf auch der Kopf Erleuchtung, noch mehr aber bedürfen unsere Füße der Leitung, sonst möchten beide, Haupt und Füße, in den Graben fallen. Wohl dem Manne, der sich das Wort Gottes persönlich aneignet und sich aus ihm Trost und Rat holt auf Schritt und Tritt, so dass es wirklich seines Fußes Leuchte ist. Und ein Licht auf meinem Wege: Lampenschein zur Nachtzeit, Sonnenschein zur Tageszeit, Freudenschein allezeit. Wer im Finstern wandelt, der wird gewiss über kurz oder lang straucheln, während wer im Lichte des Tages oder bei Nacht mit einer Leuchte wandelt, sich nicht stößt, sondern aufrecht bleibt und getrost vorwärtsschreiten kann. Nicht zu wissen, wie man handeln soll, ist eine böse Sache; solche Unwissenheit erzeugt Unschlüssigkeit, und diese Unsicherheit ist ein äußerst drückendes, peinigendes Gefühl. Das Wort Gottes aber lässt Licht von oben auf alles fallen und führt uns dadurch zu einem klaren Urteil, und wenn diesem, wie bei dem Psalmdichter (siehe V. 106), die feste Entschlossenheit folgt, so kommt dadurch tiefe Ruhe ins Herz.
  Der Vers ist von anbetendem Dank erfüllt und redet doch zugleich so vertraulich mit Gott. Hat unser Herz nicht auch im gleichen Tone dem himmlischen Vater etwas zu sagen?
  Bemerkenswert ist, wie dieser Vers dem ersten des ersten Abschnitts, auch des zweiten und anderer Abschnitts im Inhalt ähnlich ist. Auch die zweiten Verse besitzen häufig eine Übereinstimmung.

106. Ich schwöre (habe geschworen) und will’s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will. Unter dem Einfluss des hellen Lichtes der Erkenntnis hatte er seinen Entschluss gefasst und diesen auch feierlich vor dem Angesichte Gottes ausgesprochen. Vielleicht weil er seinem wankelmütigen Herzen misstraute, hatte er sich mit feierlichem Schwur verpflichtet, den Rechtsentscheidungen und Rechtsordnungen seines Gottes mit aller Treue nachzuleben. Mochten noch so viele Wege sich ihm verlockend darbieten, er war durch sein Gelübde gebunden, einzig den Weg zu verfolgen, auf den ihn die Leuchte des göttlichen Wortes wies. Die Schrift enthält Gottes Rechte, seine Ordnungen und Urteile in den großen sittlichen Fragen. Diese Rechtsentscheidungen Gottes sind allesamt gerecht, darum sollten auch alle rechtlich denkenden Menschen entschlossen sein, sich unter allen Umständen, koste es was es wolle, nach ihnen zu richten, da es stets das Richtige sein muss, zu tun, was recht ist. Die Erfahrung lehrt, dass es im Allgemeinen besser ist, wenn die Menschen so wenig Gelübde und Schwüre wie nur möglich eingehen, und dem Geist der Lehre unseres Heilandes widerstreitet alles überflüssige Schwören und Verbindlichmachen; dabei aber sollen wir, die wir unter dem Evangelium leben, uns stets genauso verbunden fühlen, dem Wort des HERRN zu gehorchen, als ob wir uns mit einem förmlichen Eid dazu verpflichtet hätten. Die Bande der Liebe sind nicht weniger stark und unverletzlich als die Fesseln des Gesetzes. Hat jemand ein Gelübde getan, so muss er gewissenhaft darauf bedacht sein, es zu erfüllen, und hat ein anderer auch nicht in so förmlicher Weise wie der Psalmist es gelobt, des HERRN Rechte zu halten, so ist er doch nicht weniger zum Gehorsam verbunden durch Verpflichtungen, die da sind, ganz unabhängig von allem, was wir etwa mit Hand und Mund geloben, Verpflichtungen, die begründet sind in den von Ewigkeit her gültigen Begriffen von dem, was recht und geziemend ist, und Verpflichtungen, die noch verstärkt sind durch die überschwängliche Güte Gottes gegen uns. Wird nicht jeder Gläubige gerne zugeben, dass er dem HERRN, der ihn erlöst hat, mit unverbrüchlichen Banden verbunden ist, seinem Vorbilde nachzufolgen und sein Wort zu halten? Ja, wir schulden, was wir dir gelobt haben, o Herr, wir, die wir uns ausdrücklich als deine Jünger bekannt haben, die wir auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft sind, an des Herrn Tische teilgenommen und in dem Namen des Herrn Jesu zu unseren Mitmenschen haben reden dürfen. Wir sind in sein Heer aufgenommen, haben den Fahneneid geschworen und sind verpflichtet, als treu ergebene Streiter jedem Befehl unseres Feldherrn zu gehorchen, solange der große Krieg währt. Wenn wir so das Wort in unser Herz aufgenommen haben in dem festen Entschluss, ihm zu gehorchen, dann haben wir eine Leuchte in unserer Seele sowohl als in dem Bibelbuche, und dann wird unser Weg licht sein bis ans Ende.

107. Ich bin sehr gedemütigt (durch Leiden gebeugt). Wir mögen dabei an Bekenntnisleiden oder an Züchtigungsleiden denken. Wer sich dem HERRN als Streiter zugeschworen hat, der muss sich auf Ungemach und Anfeindung gefasst machen. Unsere Stellung im Dienst des HERRN schützt uns nicht vor Anfechtung, sondern bringt sie unfehlbar mit sich. Der Psalmist war ein Mann, der sich ganz Gott geweiht hatte, und doch stand er unter der Zucht des HERRN, und leicht waren seine Züchtigungen nicht. Schien es nicht fast, als mehrten sich seine Trübsale, je gehorsamer er war? Er fühlte offenbar, dass die Rutenstreiche tief eindrangen, und das klagt er dem HERRN, aber nicht um zu murren, sondern um des Vaters Herz zu rühren und auf die Schwere der Heimsuchung die Bitte um desto reichere Erquickung zu gründen.
  HERR, erquicke (belebe) mich nach deinem Wort! Das ist das beste Mittel gegen die Trübsal. Schon in dem Gebet selber liegt ein Segen, indem das Gemüt dadurch aus dem Grübeln über den Kummer emporgehoben wird, und mit der Erhörung zieht in das Herz die heilige Freude ein, die mit aller Belebung verbunden ist, denn Freude ist ja erhöhtes Lebensgefühl. Da ist’s nicht Not, um Hinwegnahme der Leiden zu bitten, denn durch vermehrte Kraft wird die schwere Trübsal leicht. Jehovah allein kann erquicken, neues Leben in uns einströmen lassen, er, der das Leben in ihm selber hat und es darum auch freigebig mitteilen kann. Er vermag uns jederzeit Leben zu spenden, auch jetzt sofort, im Augenblick, denn im Lebendigmachen offenbart sich seine Schöpferkraft, und diese wirkt stets plötzlich, augenblicklich. Lebenskraft ist ein Gut, das Gott allen, die auf ihn harren, verheißen und bereitet hat; es gehört zu den vorzüglichsten Gaben und ist ein Hauptstück der uns verbrieften Bundessegnungen, von dem wir stets so viel bekommen können, wie wir nötig haben. Oft braucht Gott die Trübsal selbst als Mittel, um uns geistlich zu beleben, gerade wie das Schüren des Feuers die Flamme anfacht, dass sie umso heller brennt. Manche wünschen sich wie Elia in der Trübsal den Tod; lasst uns lieber um mehr Lebenskraft bitten. In Zeiten der Trübsal blicken wir oft sehr düster in die Zukunft; da lasst uns den HERRN bitten, an uns zu handeln nicht nach unserer Furcht, sondern nach seinem Wort. David hatte dem HERRN noch nicht viele Verheißungen vorzuhalten, und wahrscheinlich befanden sich diese vornehmlich in seinen eigenen Glaubenspsalmen; dennoch beruft er sich fest auf Gottes Zusage. Wieviel mehr Grund haben wir dies zu tun, da zu uns so viele Menschen Gottes, getrieben von dem Heiligen Geiste, geredet haben in der wunderbaren Schriftensammlung, die unsere Bibel bildet. Da wir denn mehr Verheißungen haben, lasst uns auch mehr Flehen vor Gott darbringen.

108. Lass dir gefallen, HERR, das willige Opfer (wörtl. Luther 1524: die freiwilligen Opfer) meines Mundes. Die da leben, die loben den lebendigen Gott (Jes. 38,19); darum kommt auch der Sänger, da er Gottes belebende Kraft an sich erfahren hat, mit Gaben der Liebe ins Heiligtum. Er opfert Bitte und Lobpreis, Gelübde und Dankbekenntnis; diese mit seinen Lippen vor versammeltem Volke dargebracht, das sind die Opfer seines Mundes. Doch befällt ihn die Furcht, er möchte, was er Gott sagen wollte, nur so mangelhaft zum Ausdruck bringen können, dass es kein geziemendes Opfer sei; darum bittet er, der HERR wolle es in seiner Herablassung dennoch gnädig annehmen. Er macht geltend, dass, was er dem HERRN darbietet, ganz aus freiem Antrieb und mit Freuden dargebracht ist; alles, was sein Mund vor Gott ausgesprochen, sind freiwillige Opfer. Erzwungene Bekenntnisse und Gelöbnisse können keinen Wert haben; Gottes Einkünfte bestehen nicht aus zwangsweise erhobenen Abgaben, sondern aus freiwilligen Gaben der dankbaren Liebe. Nur wo einer willig ist, so ist er angenehm (2. Kor. 8,12); was nicht eine Frucht des freien Willens ist, kann auch kein Werk der freien Gnade sein. Dass der HERR unsere Opfer annehme, ist eine Gunstbezeugung, die wir mit ernstlichem Flehen erbitten sollten, denn sonst sind unsere Opfer schlimmer als nutzlos. Welch ein Wunder der Gnade ist es doch, dass der HERR es sich gefallen lässt, von solch unwürdigen Geschöpfen etwas anzunehmen.
  Und lehre mich deine Rechte. Wenn wir dem HERRN unser Bestes darbringen, wird es uns ein umso ernsteres Anliegen, Besseres geben zu können. Nimmt der HERR uns und unsere Gaben in seiner Huld wirklich an, dann begehren wir, noch besser von ihm unterwiesen zu werden, damit wir noch "angenehmer" seien. Haben wir Leben von oben empfangen, so brauchen wir Belehrung, denn Leben ohne Licht, Eifer ohne Verstand wäre nur ein halber Segen. Diese so oft wiederholten Bitten um Belehrung zeigen uns die Demut des Mannes Gottes und lassen auch unser eigenes Bedürfnis nach gleicher Unterweisung hell zu Tage treten. Unser Urteilsvermögen bedarf der Zucht und Unterweisung, bis es zu einer rechten Erkenntnis der Urteile, der Rechte Gottes kommt, ihnen beistimmt und wir im Leben nach ihnen handeln. Die Rechtsentscheidungen Gottes sind nicht alle so leicht verständlich, dass wir sie auf den ersten Blick durchschauen; wir müssen darin unterwiesen werden, dann erst lernen wir ihre Weisheit bewundern, ihre Vollkommenheit anbeten.

109. Ich trage meine Seele immer in meinen Händen. Er schwebte in beständiger Lebensgefahr, sein Leben war ein fortwährendes Ringen ums Dasein. Lebhaft tritt uns hier Davids lange Leidenszeit vor die Seele, da der Geliebte Gottes heute auf der Flucht war, sich in Höhlen und Einöden bergend, morgen im blutigen Kampfe. Und wie viele treue Bekenner haben ein ähnliches Los gehabt. Das ist ein höchst schmerzliches, die Kräfte des Körpers wie des Gemütes gleich aufreibendes Dasein, und es kann uns nicht wundern, wenn Menschen in solcher Lage versucht sind, dem Gedanken Raum zu geben, dass jedes Mittel, das einen Ausweg aus dieser Not bietet, gerechtfertigt oder doch entschuldbar sei. Der Psalmist aber wich nicht von dem dornenvollen Wege ab, er verfiel nicht auf die Torheit, in sündigen Dingen Sicherheit zu suchen, denn er spricht: Und ich vergesse deines Gesetzes nicht. Man sagt wohl: Lieb’ und Not hat kein Gebot; aber wenn man dies Sprichwort so anwendet, wie es häufig geschieht, dass im Kriege (und beim Lieben) jedes Mittel erlaubt sei, so dachte der Psalmist nicht so. Wie er sein Leben in der Hand trug, so trug er auch Gottes Gesetz in seinem Herzen. Keine leibliche Gefahr sollte uns je dahin bringen, unsere Seele zu gefährden, indem wir außer Acht lassen, was recht ist. In Not und Unglück vergisst freilich manch einer seine Pflicht, und es wäre dem Psalmisten wohl auch so ergangen, wenn er nicht belebende Erquickung (V. 107) und Unterweisung (V. 108) vom HERRN empfangen hätte. Darin aber, dass er das Gesetz des HERRN fest im Gedächtnis hielt, lag gerade seine Rettung; er durfte gewiss sein, dass Gott sein nicht vergaß, denn er vergaß auch Gottes nicht. Es ist ein vorzüglicher klarer Beweis unseres Gnadenstandes, wenn nichts, auch die schwerste Not nicht, die Wahrheit Gottes aus unserem Herzen verdrängen oder uns zu unheiligen Handlungen verleiten kann. Bleiben wir dessen, was Gott uns in seinem Worte als seinen heiligen Willen kundgetan hat, eingedenk, selbst wenn der Tod uns dabei ins Gesicht starrt, dann dürfen wir uns auch dessen zuversichtlich getrösten, dass der HERR unser eingedenk bleibt.

110. Die Gottlosen legen mir Stricke. Das geistliche Leben ist ein Schauplatz beständiger Gefahren: Der Gläubige trägt sein Leben stets in offener Hand, und währenddessen ist alles ringsum darauf verschworen, es ihm zu entreißen, und geht’s nicht durch Gewalt, dann versucht man es mit List. Auch wir werden es erfahren, dass es nicht leicht ist, das Leben eines wahren Jüngers des Herrn zu führen. Böse Geister und böse Menschen werden nichts unversucht lassen, um uns zu verderben. Ob auch ein Anschlag nach dem andern fehlschlägt (V. 95) und selbst wohlangelegte Gruben nicht zum Erfolge führen (V. 85), so halten die Gottlosen doch an ihren verbrecherischen Absichten fest und ersinnen neue, noch listigere Ränke, indem sie nun Schlingen stellen für das Opfer ihres Hasses. Auf diese Weise, mit Stricken, Leimruten, Netzen oder Fallen fängt man ja gewöhnlich das kleine Raubzeug oder sonstige Jagdbeute. Den Gottlosen ist es ganz gleich, mit welchen Mitteln sie arbeiten, wenn sie nur den Frommen ins Verderben locken können - er gilt ihnen nicht mehr als ein wildes Kaninchen oder eine Ratte. Hinterlist und Betrug sind stets die Helfershelfer der Bosheit, und alles Gefühl von Edelmut und ritterlicher Gesinnung ist diesen Gottvergessenen fremd, die die Frommen behandeln, als wären sie Ungeziefer, das um jeden Preis vertilgt werden muss. Weiß ein Mensch sich ständig von solchen Ränken bedroht, so wird er leicht ängstlich und ergreift dann hastig den ersten besten Einfall, wie er sich der Gefahr entziehen könne, und gerät dadurch in Sünde. Der Psalmist aber setzte ruhig seinen Weg fort und durfte darum in Wahrheit sagen: Ich aber irre nicht von deinen Befehlen. Er wurde trotz allen Ränken seiner Feinde nicht umstrickt, denn er hielt die Augen offen und hielt sich nahe zu seinem Gott. Er wurde in keiner Schlinge gefangen und geriet in kein Räubernest, denn er blieb auf der königlichen Heerstraße, wo der erhabene König selbst jedem Wanderer Sicherheit gewährleistet. Er irrte nicht ab von der Bahn des Rechts und ließ sich durch nichts davon ablenken, sie zu verfolgen, weil er sich des HERRN Führung unterstellte, und sein Gott ließ ihn nicht im Stich. Wenn wir von den Befehlen des HERRN abweichen, so scheiden wir im selben Augenblick auch von den Verheißungen; entfernen wir uns aus Gottes Gegenwart, so geraten wir in die Wildnis, wo die Vogler ungehindert ihre Netze stellen. Lasst uns aus diesem Vers lernen, auf unserer Hut zu sein; denn auch wir haben Feinde, und sehr verschlagene und boshafte. Die Jäger stellen ihre Fallen in den Wechseln und Pässen auf, d. h. an den gewöhnlich vom Wild eingeschlagenen Wegen, und die schlimmsten und gefährlichsten Schlingen befinden sich auch für uns auf unseren eigenen Wegen. Halten wir uns an die Wege des HERRN, dann werden wir den Ränken unserer Feinde entgehen, denn seine Wege sind sicher, auf ihnen lauert kein Verrat.

111. Deine Zeugnisse sind mein ewiges Erbe. Er hatte sie als sein Besitztum, als sein Los und Erbe auf ewig erwählt, und was noch mehr ist, er hatte sie sich auch angeeignet, von ihnen Besitz ergriffen und sie in Gebrauch genommen. Davids Wahl ist auch unsere Wahl. Wenn wir uns etwas wünschten, so wäre es, Gottes Gebote vollkommen zu befolgen. Gottes Wahrheit zu kennen, seiner Verheißungen mich zu erfreuen, seinen Vorschriften nachzuleben - wahrlich, das ist ein Königreich, groß genug für mich! Da haben wir ein Erbe, das unvergänglich ist und das uns niemand streitig machen kann; es ist ewig und bleibt ewig unser, wenn wir es so wie der Psalmist ergriffen haben. Es mag uns da gehen wie Israel, da es ins Gelobte Land kam: wir mögen uns unser Eigentum unter schweren Kämpfen erringen müssen; doch es ist der Mühe und des Kampfes wert! In jedem Fall aber bedarf es, um dieses Erbes teilhaftig zu werden, einer entschiedenen Wahl des Herzens und des festen Griffes des Willens. Was Gott gibt, das müssen wir nehmen. Denn sie sind meines Herzens Wonne. Das Glücksgefühl, das durch das Wort des HERRN über ihn gekommen war, hatte ihn dazu bewogen, es mit unabänderlichem Entschlusse als sein Eigen zu erwählen. An allen Teilen des Wortes Gottes hatte der Psalmist sein Wohlgefallen, darum hielt er an ihnen jetzt und für alle Zeiten fest. Was das Herz erfreut, das findet stets Liebhaber, die es erwerben und als teuren Schatz hegen. Nicht das bloße Wissen, die Schriftgelehrsamkeit im niederen Sinne des Wortes, sondern das Erleben des Wortes im Herzen, das ist’s, was solche Wonne erzeugt.
  In diesem Vers, dem siebenten der Gruppe, schmecken wir wieder die Süßigkeit des Wortes, von der der entsprechende Vers der vorigen Gruppe (103) Zeugnis abgelegt hatte. Es ist ein köstlich Ding, wenn die Erfahrung durch Kummer, Gebet, Kampf, Hoffnung, Entscheidung und heilige Zufriedenheit bis zur frohlockenden Wonne sich durcharbeitet. Freude macht das Herz fest; hat jemand am Worte Gottes erst seine Wonne, dann wird er es auch für immer als sein kostbares Besitztum festhalten.

112. Ich neige mein Herz (dazu), zu tun nach deinen Rechten immer und ewiglich (oder wörtl.: immer und bis ans Ende). Er war nicht halb, sondern von ganzem Herzen zum Guten geneigt. Sein ganzer Sinn war auf lebendige, tatkräftige und im Tun des Guten ausdauernde Gottseligkeit gerichtet. Er war entschlossen, die Rechte des HERRN ohne Ausnahme, ohne Wanken und ohne Aufhören zu halten. Er setzte es sich zum Lebensziel, das Gesetz zu halten bis zum Lebensende. In Gebet, andächtiger Betrachtung und festem Vorsatz hatte er sein ganzes Ich den Geboten Gottes zugewendet und zugeneigt, oder wie wir es ausdrücken würden: Gottes Gnade hatte ihn geneigt gemacht, sein Herz dem Heiligen zuzuneigen. Viele fühlen eine Neigung in sich zum Predigen, der Psalmist aber war dazu geneigt, nach den Rechten des HERRN zu tun. Gar manche sind gerne geneigt, allerlei religiöse Formen auszuüben; der Psalmist aber war geneigt, die Rechte oder Satzungen, die von Gott festgesetzten Gebote zu erfüllen. Nicht wenige sind nicht abgeneigt, gelegentlich einmal Gehorsam zu leisten, der Psalmist aber wollte allezeit gehorchen, immerdar und bis zum letzten Atemzug. Und ach, so manche neigen zu einer zeitlichen und zeitgemäßen Religion, dieser fromme Mann aber trachtete nach der Ewigkeit: immer und ewiglich wollte er den Ordnungen seines Herrn und Königs nachleben. HERR, ach gib uns solchen himmelan gerichteten Sinn, dann wird es sich an uns erweisen, dass du uns Leben eingehaucht hast und wir in deiner Schule erzogen sind. So schaffe darum in uns ein reines Herz und gib uns einen neuen gewissen Geist, denn nur dann wird unser Herz nach der rechten Richtung neigen.


V. 105-112. Das achtfache n (N): Das Wort Gottes ist sein steter Führer, dem er sich anvertraut hat auf ewig.

105. Nur dein Wort ist meines Fußes Leuchte
Und ein Licht für meinen Steig.
106. Nachdem ich geschworen, hielt ich’s aufrecht:
Zu beobachten die Rechte deiner Gerechtigkeit.
107. Niedergebeugt bin ich gar sehr -
Jahve, belebe mich nach deinem Wort!
108. Nimm huldvoll auf, Jahve, meines Mundes Spenden,
Und deine Rechte lehre mich.
109. Nacht und Tag trage ich mein Leben in meiner Hand,
Doch dein Gesetz vergesse ich nicht.
110. Netze haben mir die Frevler gestellt,
Aber von deinen Befehlen irre ich nicht ab.
111. Nun und ewig sind deine Zeugnisse mein Erbe,
Denn sie sind meines Herzens Wonne,
112. Nach deinen Satzungen zu tun, dazu neige ich mein Herz
Auf ewig, bis aufs Letzte.
  Frei nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 105. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Basil der Große erklärt das "Wort" als den Willen Gottes, wie er in der Heiligen Schrift zum Ausdrucke kommt. Er nennt das Alte Testament und besonders das Gesetz eine Laterne oder Lampe, eine künstliche Leuchte, die die Dunkelheit nur unvollkommen zu erhellen vermag, während das Evangelium, durch den Herrn Jesus selbst gegeben, Licht von der Sonne der Gerechtigkeit ist, das alles mit hellstem Glanze erleuchtet. Ambrosius, der noch tiefer geht, nennt Christum selbst sowohl Leuchte als Licht. Er, das ewige Wort, sei den einen ein großes Licht, anderen nur eine Leuchte. Mir mag er eine Leuchte sein, Engeln ist er ein Licht. Er war ein Licht für Petrus im Gefängnisse, als der Engel des Herrn daher kam und Licht im Kerker erglänzte. Er war ein Licht für Paulus, als ihn das Licht vom Himmel umleuchtete und er Jesum zu sich sprechen hörte: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Und Christus ist wahrlich auch mir ein Licht, wenn ich von ihm rede mit meinem Munde. Da leuchtet er aus mir, dem tönernen Lämpchen; er ist der Schatz, den wir in irdenen Gefäßen tragen. James Millard Neale † 1866.
  Was wir alle brauchen, das sind nicht Wunder, die unsere Augen blenden, nicht Erscheinungen, deren Glanz uns in Entzückung versetzt, sondern ein wenig Licht auf den dunkeln, schwierigen Pfad, den wir zu gehen haben, eine freundliche Lampe, die uns bei unserer Arbeit scheint. Sterne sind ja wohl erhabener, Meteore unendlich glänzender und blendender; aber das Licht, das da scheint am dunkeln Orte, entspricht weit mehr unseren täglichen Bedürfnissen. The Expositor 1864.
  Ich hatte in einem eine halbe Stunde von meinem Wohnorte entfernten Dorfe eine Bibelstunde gehalten. Mein Heimweg führte mich einen schmalen Fußpfad durch den Wald. Es war schon spät am Abend und eine dunkle Nacht, und die Gefahr war vorhanden, dass ich mich auf einem der zahlreichen sich im Walde kreuzenden Pfade verirren könne. Die Leute wollten mir deshalb eine kleine Fackel von Leuchtholz, von der sogenannten Pechtanne, mitgeben. Ich lehnte ab, die Fackel sei viel zu klein; sie war kaum ein halbes Pfund schwer. "Sie wird Ihnen schon nach Hause leuchten", antwortete mein Wirt. "Aber der Wind könnte sie auslöschen." "Sie wird Ihnen nach Hause leuchten." "Und wenn es regnet?" "Sie wird Ihnen nach Hause leuchten." Die feste Zuversicht des Mannes bewirkte, dass ich endlich nachgab. Und er behielt Recht. Die kleine Leuchte erhellte meinen Weg völlig genügend, so dass ich ohne Unfall und Aufenthalt zu Hause anlangte. Seitdem habe ich oft an dieses kleine Erlebnis denken müssen. Welch einen trefflichen Wink enthält es für die Behandlung zweifelnder ängstlicher Gemüter. Wenn sie nur die Heilige Schrift als ihren Führer nehmen wollten, sie würde ihnen schon nach Hause leuchten, auch durch Nacht und Sturm und finsteren Wald. Und wenn dir Zweifler entgegentreten mit ihren Einwendungen gegen die Kraft des Wortes und der eine dies, der andere das daran auszusetzen hat, lass dich auf nichts ein, antworte ihnen nur wie jener alte Landmann mit seiner Fackel: "Sie wird dir schon nach Hause leuchten." The Ameriecan Messenger 1881.
  Meines Fußes Leuchte. Darauf kommt es an, wie wir diese Leuchte gebrauchen. Als ich noch ein Knabe war, pflegte ich dem Lehrer unserer Sonntagsschule, die des Abends gehalten wurde, auf dem Wege dahin, der durch schmutzige, unbeleuchtete Straßen führte, eine Laterne voranzutragen. Das erste Mal hielt ich sie hoch in die Höhe, viel zu hoch, und wir gerieten miteinander in eine arge Schlammpfütze. "Du musst dein Licht tiefer halten, wenn wir unseren Weg sehen sollen", sagte der Lehrer und knüpfte dann in der Abendschule an dieses kleine Erlebnis eine herrliche Betrachtung, die mir einen unvergeßlich tiefen Eindruck machte. Leicht hält man die Leuchte zu hoch, aber schwerlich je zu tief. James Wells 1882.

  Suchst du, vom Ziel verirret,
  Die wahre Lebenspfort’,
  Hat dich die Welt verwirret,
  Komm, hier ist Gottes Wort!

  Das wird dir deutlich weisen
  Die rechte Lebensbahn,
  Auf welcher du musst reisen,
  Wenn du willst himmelan.

  (V. 2 des Liedes: Wohl dem, der Jesum liebet.) Anna Sophie, Landgräfin von Hessen-Darmstadt † 1683.


V. 106. Ich schwör, und will’s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will. O übergeben auch wir uns völlig Gott zum Dienste! Wir sollen uns auch nicht damit begnügen, bloß in unserem Innern den Entschluss zu fassen, sondern ihn ausdrücklich vor dem Angesicht Gottes erklären. Solche feierliche Form des Gelübdes hat ihren guten Grund in der menschlichen Natur und kann nur dringend empfohlen werden, wenn es gilt, so unzuverlässige Herzen an Gott, den HERRN, zu binden. Zu wissen, zu welcher Stunde und unter welchen Umständen dies geschehen, ist ein trefflicher Weckruf für das Gewissen. Das Bewußtsein deines Gott geleisteten Gelübdes wird dich in der Stunde der Versuchung stärken, und auf der Erinnerung daran magst du in aller Demut den Mut, ja das Recht hernehmen, dich in Nöten und Verlegenheiten an ihn zu wenden als deinen Bundesgott und Vater. Darum tue es; aber erst nach reiflicher Überlegung. Mach dir klar, was du tun willst, bedenke, wie zweckmäßig es ist, dass du es tuest, dass du es von Herzen und freudig tuest, nicht gezwungen, sondern willig, denn hier wie überall heißt es: Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Bedenke auch, dass deine Hingabe dauernd sein muss, für alle Zeiten. Du darfst nie wieder den Anspruch erheben, dein eigener Herr zu sein, denn die Rechte des HERRN sind ewig und unwandelbar wie sein Wesen, sind dieselben gestern, heute und in Ewigkeit. Es ist anzuraten, dass deine Hingabe an den HERRN unter feierlichen Formen vor sich gehe, mit ganz bestimmten gesprochenen Worten; für manche Fälle ist es auch gewiss von großem Segen, wie es wohlerfahrene Seelenhirten angeraten haben, dies schriftlich zu tun. Bezeuge mit Namensunterschrift und Siegel, dass du an dem und dem Tage des und des Jahres, an dem und dem Orte, unter solchen Umständen, nach ernstlicher, reiflicher Überlegung zu dem seligen Entschlusse gekommen bist, mögen andere erwählen, wem sonst sie dienen wollen, du wollest dem HERRN dienen.1 Phil. Doddridge † 1751.
  Wiederhole oft deine Entschlüsse aus früheren heiligen Stunden. Es kommt viel auf ernstliche Entschlüsse und Vorsätze an. Die Entschlossenheit eines Schwachen vollbringt mehr als alle Kraft eines Unentschlossenen, Wankelmütigen. Gegen unsere geistliche Schwäche, die Stärke der Versuchungen, die Wachsamkeit und den Eifer der Feinde unserer Seele braucht es starke Entschlüsse. Wir müssen fest und unbeweglich sein, dann werden wir auch zunehmen in dem Werk des Herrn
(1. Kor. 15,58). Darum sollen wir in demütigem Glauben unsere Vorsätze fassen, demütig im Gedanken an unsere Schwäche, aber im festen Glauben an den starken Beistand des HERRN, wie der Psalmdichter, der sich Gott zu Eigen gab mit einem Entschlusse, der auf tiefstem Herzen kam: Ich schwöre und will’s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will. Und das tut er nicht im Vertrauen auf seine eigene Kraft, denn er fährt fort: Ich bin sehr gedemütigt, HERR, erquicke mich nach deinem Wort, mach mich lebendig, munter, frisch und mutig; und nimm gnädig an, lass dir gefallen das willige Opfer meines Mundes, nämlich eben das Gelübde, das er ausgesprochen. Gott wird solche Gelübde nicht gering achten, sondern seinen Geschöpfen die nötige Kraft verleihen, sie zu erfüllen. St. Charnock † 1680.
  Kaiser Sigismund fragte den Erzbischof von Köln, Dietrich II. von Moers († 1463), was der kürzeste und einfachste Weg zum wahren Glücke sei. Der Erzbischof gab die kurze Antwort: Bist du gesund, dann halte die Gelübde aus der Zeit der Krankheit. John Spencer † 1654.
  Über dem besten und ernstlichsten Vorsatz, wie V. 106, kann es hintennach die schärfsten Demütigungen geben, V. 107, damit das miteinschlagende fremde Feuer geschieden, der Mensch vor Erhebung verwahrt und der bezeugte Ernst auf eine gemäße Probe gesetzt werde. Darüber empfiehlt man es aber desto mehr dem HERRN zum Wohlgefallen und Fördern an, V. 108. Karl Heinr. Rieger † 1791.


V. 107. Ich usw. Wie überzeugend können wir es andern empfehlen, mit Freudigkeit den Leidenskelch zu trinken, in deren Hand wir ihn sehen, und welch saures Gesicht machen wir, wenn er uns selbst gereicht wird! Alfred John Morris † 1869.
  Ich bin sehr gedemütigt; HERR, erquicke mich nach deinem Wort!

  Je größer Kreuz, je mehr Gebete,
  Geriebne Kräuter duften wohl.
  Wenn um das Schiff kein Sturmwind wehte,
  So fragte man nicht nach dem Pol.
  Wo kämen Davids Psalmen her,
  Wenn er nicht auch versuchet wär?
   B. Schmolck † 1737.

  Nach deinem Wort. Diese Wendung gebraucht der Dichter dieses Psalmes sehr häufig. Offenbar ist sein Gemüt tief durchdrungen von der Verheißung, Gott wolle sein Herz erquicken, beleben, wenn es gedemütigt, zerschlagen sei. Darum hält er sich die vielen Gnadenwirkungen des Geistes Gottes vor und bekennt laut, dass er nie seine Befehle vergessen wolle, weil er ihn damit belebe (V. 93). So lege du dein totes Herz Christo zu Füßen und halte ihm vor: Herr, mein Herz ist so gar träge und verkehrt, ich spüre nichts von jenen Einflüssen, durch die die Herzen deiner Heiligen groß und weit und empfänglich gemacht worden. Aber gehören diese Einwirkungen nicht zu den vorzüglichsten Bundesgnaden? Verheißest du uns nicht den Geist der Erleuchtung, der Erkenntnis, der Demut? Ist nicht Heiligkeit des Herzens und des Wandels ein Hauptstück deiner Zusagen? Verheißest du nicht, dein Gesetz in mein Herz zu schreiben, dieses mit deiner Furcht zu erfüllen, meine bösen Lüste zu bändigen, meinem Unvermögen im Gebet aufzuhelfen? Nun HERR, das sind die Gaben, nach denen meine Seele verlangt, auf die sie wartet; erfülle sie mit diesen erquickenden, lebendig machenden Kräften, setze die Arbeit der Gnade an meiner Seele fort, ziehe mein Herz zu dir, erfülle es mehr und mehr mit deiner Liebe, mit deiner Ähnlichkeit, und gib, dass all dieses in meinem Wandel und Wesen sichtbar werde. Oliver Heywood † 1702.


V. 108. Lass dir gefallen, HERR, das willige Opfer meines Mundes. Es ist eine große Gunst, die uns widerfährt, wenn der HERR etwas von uns annimmt, ja gnädig annimmt, es sich wohlgefallen lässt, wenn wir bedenken, wer er ist und wer wir sind und was wir ihm darzubringen haben. Er der Schöpfer und Herr aller Dinge, an dessen Vollkommenheit nichts hinanreicht; wir armselige Geschöpfe, die von seiner Gnade leben, ja die von den Almosen der ganzen Schöpfung ihr Dasein fristen, von Luft und Wasser, Sonne und Mond, Tieren und Pflanzen. Und solche wollen sich unterfangen, dem HERRN Gaben darzubringen? Das kann doch nur solches sein, was ihm schon längst, von jeher angehört. "Denn von dir ist’s alles kommen, und von deiner Hand haben wir dir’s gegeben" (1. Chr. 29,14). Aber es mag so gering sein, wie es will, Gott wird es sich gefallen lassen, wenn es nur aus willigem, fröhlichem Herzen kommt, das Scherflein der Witwe, den Becher kalten Wassers, das Opfer unserer Lippen. Nur wo der Mensch mehr tun könnte und doch sich auf solch dürftige Gabe beschränkt und damit beweist, dass sein Herz nicht aufrichtig dem HERRN zugeneigt ist, da sind die Gaben dem HERRN nicht angenehm. William Cowper † 1619.


V. 109. Ich trage meine Seele immer in meinen Händen. Wenn jemand ein sehr zerbrechliches Gefäß, mit einer köstlichen Flüssigkeit gefüllt, in der schwachen, zitternden Hand trägt und ihm dabei noch allerhand Schwierigkeiten und Gefahren drohen, so wird es kaum ausbleiben können, dass das Gefäß zerbrochen und der Inhalt verschüttet werde. So steht es auch mit meinem Leben, unter den Nachstellungen verschiedener Feinde trage ich es gleichsam in den Händen, mein Leben hängt nur noch an einem Faden, und stets habe ich den Tod vor Augen. Andr. Rivetus † 1651.
  Was man in der Hand trägt, das lässt man leicht fallen oder kann einem leicht entrissen werden. Wenn auch in der Hand Gottes sein (Ps. 31,6.16) den Zustand vollkommenster Sicherheit bedeutet, weil seine Hand mit der Kraft ausgerüstet ist, das, was er ergriffen hat, festzuhalten und zu beschützen, so gilt für des Menschen Hand, dass das, was von ihr getragen wird, sich im Zustand der größten Unsicherheit und Gefahr befindet. J. Caryl † 1673.
  Zu bemerken ist, dass der hebräische öfters wiederkehrende Ausdruck stets das Wort PkIa (nicht dyf), d. i. die hohle Hand, gebraucht. Wir haben hier also das Bild von einem leicht auf der Handfläche ruhenden Gegenstande, den die geringste Erschütterung, ein Windhauch, herabwerfen kann, nicht aber von einem fest gefassten, den man zu bewahren trachtet. Ed. Roller 1907.
  David deutet damit an, dass er nicht nur als ein sterblicher Mensch, von dem Gott seine Seele täglich nehmen könne, sondern auch als ein Knecht Gottes, welchem viele Feinde nachstellen, immer in Lebensgefahr stehe; denn dass diese Redensart eine Lebensgefahr, welcher man sich selbst aussetzt, andeute, beweisen andere deutliche Schriftstellen, wie Richter 12,3; 1. Samuel 19,5; 28,21. In eben diesem Sinn sagt Paulus 1. Kor. 15,31: Bei unserm Ruhm, den ich habe in Christo Jesu, unserm Herrn: ich sterbe täglich, d. i. ich bin in täglicher Lebensgefahr, oder ich trage meine Seele immer in meinen Händen. David und Paulus hätten sich gute Tage machen können, wenn sie von dem Wort Gottes abgewichen wären und sich der Welt gleichgestellt hätten. David wäre am Hof Sauls und Paulus bei den Altesten und Schriftgelehrten der Juden beliebt gewesen, wenn beide sich nach den Gesinnungen und Sitten der Gottlosen gerichtet hätten. Auch hätten sie alsdann ihres Leibes und Lebens schonen und dem Gott Bauch täglich opfern können. Weil sie aber des Gesetzes Gottes nicht vergessen, von seinem Befehl nicht irren und von seinen Zeugnissen nicht weichen wollten, so waren sie immer als die Sterbenden, sie durften ihr Leben für nichts Teures halten. Sie trugen ihre Seelen in ihren Händen, weil sie bereit waren, sie herzugeben, sobald es Gott haben wollte. Übrigens hat sie Gott dennoch viele Jahre erhalten, und ihre Seelen sind nicht eher, als da sie alt und lebenssatt waren und ihren Lauf nach Gottes wohlgefälligem Willen vollendet hatten, von ihnen genommen worden. Magnus Friedr. Roos 1790.


V. 110. Wie vielerlei Stricke legt uns der Feind! Beim Essen sucht er uns zu fangen in Unmäßigkeit, bei der Liebe in Sinnlichkeit, bei der Arbeit in der Nachlässigkeit, beim Umgang im Neid, beim Herrschen in der Herrschsucht, beim Strafen im Zorn, bei Ehrenerweisungen in der Eitelkeit; im Herzen erregt er allerhand böse Gedanken, im Munde böse Worte, in unserm Handeln böse Werke, selbst im Schlafe unreine Träume. Girolamo Savonarola † 1498.
  Ich aber irre nicht usw. Das Auslegen der Lockspeise gereicht dem Fisch noch nicht zum Verderben, wenn er nur nicht anbeißt. Thom. Watson † 1690.


V. 111. Deine Zeugnisse sind mein ewiges Erbe, wörtl.: Ich habe deine Zeugnisse als Besitz erhalten auf ewig. Weshalb der Psalmist die göttlichen Zeugnisse als Erbe oder Besitz bezeichnet, ist nicht ohne weiteres verständlich, denn das Wort Gottes zeigt und verbürgt uns zwar das Erbe, aber es ist doch nicht selber das Erbe. Und doch ist dieser Ausdruck wohlberechtigt, schon allein um den unaussprechlichen Trost und der köstlichen Schätze willen, die im Worte Gottes enthalten sind. Das Wort Gottes ist eine unerschöpflich reiche Schatzkammer, ein Vorratshaus der köstlichsten Güter. Und alle Gerechtsame, auf die wir Anspruch haben im Himmel und auf Erden, sie alle finden sich im Worte Gottes. Wer dies zu Eigen besitzt, der darf von einem schönen Erbteil reden. Rich. Holdsworth † 1649.


V. 112. Ich neige mein Herz, zu tun nach deinen Rechten immer und ewiglich. Im vorhergehenden Vers hat der Psalmist seinen Glauben bekannt und die Freude, die aus diesem Glauben entsprang; jetzt spricht er aus, dass er in dieser seiner Freude die Gebote Gottes halten wolle. Damit zeigt er auch, dass seine Freude eine rechte Freude war, denn sie bewirkte in ihm das Bestreben, Recht zu tun. Denn wenn wir den Verheißungen wahrhaftig glauben, dann müssen wir die Gebote auch wirklich lieb haben, sonst ist unser Glaube eitel. Wer da sorgt, wie sein Leben dem Herrn gefalle, bei dem wird es auch am Glauben an Gottes Verheißungen nicht fehlen. Rich. Greenham † 1591.
  Ich neige usw. Wie stimmt zu diesem Selbstzeugnis, dass er in V. 36 den HERRN bittet: "Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen"? Dies widerspricht sich keineswegs. Gott neigt das Herz, und der Gottesfürchtige neigt es gleichfalls. Des Menschen Neigen aber ist auf das Wollen beschränkt, Gottes Neigen gibt das Vollbringen. Und auch das, was der Mensch erstrebt, und was er durch sein Streben Gottgefälliges zustande bringt, ist nicht von ihm selbst, sondern allein vom HERRN, der gibt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen. Wolfgang Musculus † 1563.
  Dieses Bekenntnis Davids müssen wir wohl beachten, damit wir nicht etwa meinen, Gott zu gefallen, wenn wir seinen Willen gezwungen tun. Wir sehen die armen Heiden und Ungläubigen sich abmühen und abquälen, sie tun es nur unfreiwillig; gerne möchten sie der Hand Gottes entfliehen, aber wie unter einem Zwange und Banne stehend kommen sie ihm immer näher, aber zum Gerichte. Und wenn wir solche knechtische Neigung haben, dass wir nur einem Zwange gehorchen, so taugt unser ganzes Wollen und Tun nichts, und Gott wird es auch verleugnen. Und warum? Weil Gott bei dem Gehorsam, den man ihm entgegenbringt, vor allem auf die Freiwilligkeit sieht. Darum sagt David, dass er sein Herz neige, Gottes Gebote zu tun; er will damit nicht behaupten, dass er das aus sich, aus seinem eigenen Innern heraus getan, sondern weil Gott ihm dazu das Wollen und das Vollbringen gegeben. Wir sehen auch nirgends, dass David sich je einmal gerühmt hätte, dass er zu seinem Streben nach dem Guten von seiner eigenen Natur veranlasst und geführt worden sei, nirgends rühmt er sich einer natürlichen Neigung zum Guten, im Gegenteil, er spricht es klar und offen aus: Ich bin in Sünden empfangen und geboren. Wenn er also hier davon spricht, sein Herz geneigt zu haben, so gibt er damit nur ein Beispiel von der Wirkung der göttlichen Gnade. Jean Calvin † 1564.
  Für immer und bis ans Ende. (Wörtl.) Unser Leben auf Erden ist ein Wettlauf. Und wenn wir am Anfang noch so schnell laufen, es ist vergeblich, wenn wir nachher ermatten und den Lauf aufgeben, ehe wir ans Ziel kommen. Nur das Ausharren bis ans Ende wird gekrönt. Es ist ganz gut, einen guten Anfang gemacht zu haben; lasset uns aber Fleiß tun, bis ans Ende zu beharren. William Cowper † 1619.
 


1. Der Raum gestattet es nicht, hier aus Lebensbildern solche Angelobungen anzuführen. Übrigens gilt es da besonders auf der Hut zu sein, dass man nicht andern etwas nachtun wolle, wozu die inneren Voraussetzungen fehlen, somit in ein Nachmachen des Heiligsten gerate. Und mit einer der jetzt in manchen Kreisen beliebten "Weihestunden" springt man auch nicht in die Vollkommenheit. Man lese, was jener "Weihestunde" Israels (Jos. 24,21-24) vorausging (V. 19) und nachfolgte (Richter 2,1-5). - James Millard


113. Ich hasse die Flattergeister
und liebe dein Gesetz.
114. Du bist mein Schirm und Schild;
ich hoffe auf dein Wort.
115. Weichet von mir, ihr Boshaften;
ich will halten die Gebote meines Gottes.
116. Erhalte mich durch dein Wort, dass ich lebe,
und lass mich nicht zu Schanden werden über meiner Hoffnung.
117. Stärke mich, dass ich genese,
so will ich stets meine Lust haben an deinen Rechten.
118. Du zertrittst alle, die von deinen Rechten abirren;
denn ihre Trügerei ist eitel Lüge.
119. Du wirfst alle Gottlosen auf Erden weg wie Schlacken;
darum liebe ich deine Zeugnisse.
120. Ich fürchte mich vor dir, dass mir die Haut schaudert,
und entsetze mich vor deinen Gerichten.


113. Ich hasse die Flattergeister und liebe dein Gesetz. In diesem Abschnitt machen dem Psalmisten hauptsächlich die Leute zu schaffen, die sich zu Gott und seinem Wort und seinen Wegen teils durch Halbheit, teils durch Bosheit in einen Gegensatz gestellt haben. Sein ganzes Innere erregt sich wider sie. Wie er die vorvorige Gruppe V. 97 mit dem Ausruf begann: "Wie habe ich dein Gesetz so lieb!" so eröffnet er diesen Abschnitt mit der Bezeugung seines Hasses gegen diejenigen, die diesem Gesetz nicht mit ganzem Herzen anhangen, sondern Gott und seinem Worte die Treue brechen, und wiederholt dann gerade ihrem Abfall gegenüber das Bekenntnis seiner Liebe zu dem Gesetz des HERRN. Von offenbaren Ungläubigen und Gottlosen hatte der Dichter unseres Psalms ja viel zu erdulden, wie wir gesehen haben; noch mehr aber empört sich seine Seele über die Flattergeister, die unbeständigen Gemütes das unfehlbare und darum unwandelbare Gesetz des HERRN verließen und den schwankenden, ewig wechselnden Meinungen der Menschen nachjagten. Was für Leute er meint, das ersehen wir am besten aus dem Worte des Elias auf dem Karmel: Wie lange hinket ihr auf beide Seiten? Ist der HERR Gott, so wandelt ihm nach; ist’s aber Baal, so wandelt ihm nach! (1. Könige 18,21) Ach, das Volk antwortete Elia nichts, denn gerade dieses dämmerige Halbdunkel der Unentschiedenheit behagte ihm, da man Baalsdienst und Jehovahdienst nebeneinander treiben konnte. So gab es auch zu der Zeit des Dichters unseres Psalmes viele, die innerlich gespalten waren, die sich wägen und wiegen ließen von allerlei Wind der Lehre durch Schalkheit der Menschen und Täuscherei
(Eph. 4,14). Besonders mächtig wurde ja diese Strömung hernach in der Zeit des griechischen Einflusses, wo viele die naturalistische hellenische Philosophie mit dem Mosaismus zu vereinigen suchten und es Kreise gab, in denen man nichts Bedenkliches darin sah, sogar einmal (2. Makkabäer 4,18 ff.) eine Festgesandtschaft von Jerusalem nach Tyrus zu senden, zu dem heidnischen Götzenfeste der befreundeten Stadt, mit Priestern des Jehovahtempels an der Spitze, die dem heidnischen Gott Opfergaben darbringen sollten (welche man dann allerdings aus Furcht vor den Strenggläubigen in einer minder anstößigen Weise verwendete) - wo man also in ganz moderner Art vornehme Toleranz üben zu dürfen glaubte, ohne dadurch mit dem heimischen Kult zu brechen, weil dieser den Betreffenden eben auch nur leere Form geworden, zu einem herkömmlichen Religionsbrauch herabgesunken war. Die Strömungen, die Richtungen, in denen sich die Menschenmeinungen bewegen, wechseln mit den Zeiten; aber zwiespältige Herzen, die zwischen Gott und Welt und zwischen Gotteswort und Menschenlehre hin- und herschwanken, hat es zu allen Zeiten gegeben, so schon, als der Psalmist lebte. Ihm aber waren diese Halben in der Seele zuwider, ihr unkeuscher Wankelmut erfüllte ihn mit Abscheu, und für die Erdichtungen der Menschen, denen sie folgten, hatte er nur Verachtung. Alle seine Ehrfurcht und Liebe wandte sich dem gewissen Worte der göttlichen Offenbarung zu, und dem Maße seiner Liebe zu Gottes Gesetz entsprach sein Hass gegen die Erfindungen der Menschen. Sind doch die Gedanken der Menschen nichts als Eitelkeit, Gottes Gedanken die lautere Wahrheit. Man hört auch in unseren Tagen viel von großen Denkern, von gedankenreichen Predigern, von den neuen Errungenschaften der Wissenschaft und von der modernen Weltanschauung überhaupt; aber was enthüllt sich darin anders als der alte Stolz des Menschenherzens? Hängen wir uns an die Lehren der Menschen, so sind wir verurteilt, immer wieder umherzuflattern, denn die Meinungen und Ansichten und Systeme der Menschen wechseln beständig, nirgends findet unser Herz Ruhe. Baal hat heute einen anderen Namen, der moderne Götze heißt Natur; die Sache aber ist dieselbe, denn schon in Baal verehrte man die Natur statt des Schöpfers. Und wie viele schwanken, wie damals in Elias Tagen oder in den Zeiten des eindringenden Griechentums, zwischen dem alten und dem neuen Glauben unentschieden hin und her. Doch gibt es auch nicht wenige, die an Entschiedenheit in der Lehre nichts zu wünschen übriglassen, ja die mit einem wahren Feuereifer für diese oder jene Lehre, für diese oder jene besondere Gestalt des Christentums eintreten und sich dabei doch in ihrer eigentlichen Gesinnung und ihrem Wandel als zwiespältig erweisen. Überhaupt, wieviel Halbheit des Herzens findet sich auch bei manchen, die sich Christen im engeren Sinn des Wortes nennen, welch klägliche Nichtübereinstimmung zwischen Bekenntnis und Wandel! Da gilt es wohl, dass wir uns selbst prüfen, wozu wir gehören, zu denen, die mit ganzem Herzen dem HERRN anhangen, oder zu den Doppelherzigen, zu den Halben oder zu den Ganzen, zu den Flattergeistern oder zu den Treuen. Es gibt kaum unglücklichere Wesen als solche Halben, die weder warm noch kalt sind. Schrecklich ist das Los, das ihrer wartet, wenn sie sich nicht durch Gottes Mahnungen zur Buße führen lassen: der Herr wird sie ausspeien aus seinem Munde! Wie aber Gott ihr nikolaitisches Wesen hasst (Off. 2,15), so sind sie auch dem treuen Knechte Gottes ein Gräuel. Mit ganzem Herzen hängt er an dem ewigen Worte, das über die menschlichen Gedanken und Meinungen, selbst die besten und edelsten, so hoch erhaben ist wie der Himmel über der Erde, und das mit dem Licht seiner Wahrheit all den Lügendunst der Menschen verjagt wie die Sonne den Nebel.

114. Du bist mein Schirm und Schild. Bei seinem Gott barg er sich, wie vor den Anfeindungen, so auch vor den Versuchungen, die bei dem Abfall und der Zwiespältigkeit so vieler ihm drohten. Dort, in der tiefen feierlichen Gottesruhe, fand seine Seele die rechte Zufluchtsstätte. Und wenn er nicht allein sein konnte mit seinem Gott in dem Versteck trauter Stille, sondern er hinaus musste in das Getriebe der Welt, so hatte er den HERRN dennoch bei sich als seinen Schild und konnte also auch im heißesten Kampfe alle die feurigen Pfeile auslöschen, die gegen ihn heranflogen. Dieser Vers ist so recht ein Zeugnis aus der Erfahrung, und zwar der eigensten des Psalmisten. Beachten wir, dass der Psalmdichter als seine zwiefache Schutzwehr nicht Gottes Wort nennt, sondern den HERRN selbst. Sonderlich dann, wenn wir von solchen hochgradig geistlichen Anfechtungen bestürmt werden, wie Zeiten des Abfalls und mächtiger Strömungen des Unglaubens sie mit sich bringen, tun wir wohl daran, unmittelbar zum HERRN unsere Zuflucht zu nehmen und uns des zu getrösten, dass er wahrhaftig bei uns ist. Wie selig ist der Mensch, der zu dem dreieinigen Gott sagen kann: Du bist mein Schirm und Schild! Hat er damit doch Gott bei seiner Bundestreue gefasst. Ich hoffe auf dein Wort. Ja, das durfte er getrost, denn er hatte es erprobt und hatte es bewährt erfunden. Darum erwartete er Schutz vor aller Gefahr und Bewahrung in allen Versuchungen von dem, der bisher seine feste Burg gewesen war, seine Schutzwehr gegen alle Angriffe. Es ist leicht, hoffnungsfreudig zu sein, wenn man einen Helfer hat, dessen Bereitwilligkeit und Macht zu helfen man bereits bei vielen Gelegenheiten erfahren hat. Bisweilen, wenn alles um uns her düster ist, ist das einzige, was wir tun können, dass wir hoffen, und gottlob! das Wort Gottes bietet uns stets Dinge dar, auf die wir hoffen dürfen, und Gründe und Tatsachen, um deren willen wir hoffen dürfen. Das Wort des HERRN ist so recht das Lebenselement der gläubigen Hoffnung, da findet sie alles, wessen sie zu kräftigem Gedeihen bedarf. In all der Qual und Pein des Lebens ist die Hoffnung auf die ewige Seligkeit, die das Wort uns bietet, ein wunderbares Mittel, um das unruhige Herz zu stillen.

115. Weichet von mir, ihr Boshaften. Könige sind besonders dem ausgesetzt, sich von Leuten umgeben zu sehen, die ihnen schmeicheln und es sich dabei zugleich herausnehmen, Gottes Gebote zu brechen. David reinigte sein Haus von solchen Schmarotzern, er wollte sie nicht unter seinem Dache dulden. Ganz sicher hätten sie ihn in üblen Ruf gebracht, denn man würde ihn für ihre bösen Taten verantwortlich gemacht haben, da ja in Allgemeinen das, was die Höflinge tun, so angesehen wird, als gehe es vom Hofe selbst aus. Darum jagte sie der König fort mit Sack und Pack, indem er sprach: Weichet von mir! Das ist dasselbe Wort, das der Davidssohn einst am Jüngsten Tage sprechen wird: Weichet alle von mir, ihr Übeltäter! (Mt. 7,23.) Wohl können wir nicht in allen Fällen die Bösen aus unseren Häusern wegweisen, doch wird es oft unsere Pflicht sein, so zu handeln. Ein Hauswesen kann nur gewinnen, wenn es alle Lügner, alle, die sich Veruntreuungen zu Schulden kommen lassen, alle losen Mäuler und Verleumder los wird. Jedenfalls sind wir verpflichtet, da wo uns die Wahl frei steht, uns von dem Umgang mit solchen fern zu halten, von denen wir sittlich Verwerfliches anzunehmen berechtigt sind. Übeltäter sind üble Ratgeber. Menschen, die zu Gott sprechen können: "Weiche von uns!" müssen eigentlich sofort als Antwort aus dem Munde der Kinder Gottes den Widerhall ihrer eigenen Worte zu hören bekommen: Weiche von uns, wir können mit Verrätern nicht an einem Tische sitzen.
  Ich will halten die Gebote meines Gottes. Darum eben, weil es ihm zu schwer fiel, in der Gesellschaft von Gottlosen Gottes Gebote zu halten, hatte er jenen den Laufpass gegeben. Die Gebote musste er halten um jeden Preis, dagegen war er nicht gebunden, mit jenen Leuten Gemeinschaft zu halten. - Welch schöne Bezeichnung für den HERRN enthält dieser Vers! Das Wort Gott kommt in dem ganzen langen Psalme nur an dieser einen Stelle vor, und da steht es mit dem süßen Wörtlein mein verbunden: mein Gott. Weil Jehovah unser Gott ist, darum sind wir entschlossen, ihm zu gehorchen und alle die aus unserer Gegenwart zu entfernen, die uns an seinem Dienste hindern würden. Es ist etwas Großes darum, zu einer endgültigen gottgefälligen Entscheidung gekommen zu sein und fest bei derselben zu verharren: Ich will halten die Gebote meines Gottes! Gottes Gesetz ist unsere Freude, wenn der Gesetzgeber unser Gott ist.

116. Erhalte (wörtl.: stütze) mich durch dein Wort (Grundtext: nach deinem Worte), dass ich lebe. So sehr tat es Not, dass der HERR seinen Knecht stütze, aufrecht halte, dass dieser ohne solche Hilfe nicht einmal leben konnte. Unsere Seele müsste in der Tat sterben, wenn der HERR sie nicht fortwährend erhielte, und alle Tugenden, die ja die Äußerungen des wahren, wirklich lebendigen geistlichen Lebens sind, würden zusammenbrechen, wenn er seine stützende Hand von uns abzöge. Es ist ein gar tröstlicher Gedanke, dass diesem großen Bedürfnis der Erhaltung schon von alters her in dem göttlichen Worte Rechnung getragen ist und wir also darum nicht als um eine im Bundesvertrage nicht vorgesehene außerordentliche Gnade bitten müssen, sondern sie ganz einfach als die Erfüllung eines Versprechens ansprechen dürfen: Erhalte mich, stütze mich deiner Verheißung gemäß! Er, der uns das neue, ewige Leben geschenkt hat, hat uns mit dieser Gabe alles verbürgt, was dazu gehört, und da das gnadenvolle Aufrechterhaltenwerden für uns etwas so Nötiges ist, so dürfen wir sicher sein, dass es uns zuteilwerden wird. Und lass mich nicht zu Schanden werden über meiner Hoffnung. In dem 114. Vers hatte er von seiner Hoffnung gesprochen als einer auf das Wort sich gründenden, und nun bittet er um die Erfüllung dieses Wortes, damit seine Hoffnung vor aller Augen als wohlbegründet erwiesen werde. Jedermann müsste sich ja seiner Hoffnung schämen, wenn es sich herausstellen würde, dass seine Hoffnung des sicheren Grundes entbehrte; aber das ist bei uns ausgeschlossen. Wohl mögen wir uns unserer Gedanken, unserer Worte und unserer Werke schämen müssen, denn diese rühren von uns selber her; nie aber werden wir über unserer Hoffnung zu Schanden werden, denn diese hat ihren Ursprung in Gott dem HERRN selber. Die Gebrechlichkeit unserer Natur ist so groß, dass wir, wenn uns die Gnade nicht unablässig stützte und aufrecht erhielte, aufs schmählichste fallen würden, so dass wir selbst zu Schanden werden und Schmach auch auf all die herrlichen Hoffnungen fallen würde, die jetzt die Krone und Ehre unseres Leben bilden. Der Mann Gottes, der diesen Psalm gedichtet, hatte die bestimmtesten, festesten Vorsätze ausgesprochen, aber er fühlte, dass er sich auch auf seine feierlichsten Gelöbnisse nicht verlassen konnte; darum die Bitten unseres Verses. Es ist nicht unrecht, Vorsätze zu fassen, aber es wird nutzlos sein, es sei denn, dass wir sie wohl würzen mit gläubigem Flehen zu Gott. Der Psalmist hatte die feste Absicht, das Gesetz des HERRN zu halten; aber das Erste, das er dazu brauchte, war, dass der HERR des Gesetzes ihn hielt.

117. Stärke mich, dass ich genese, d. h. dass ich am Leben bleibe, gerettet werde, mir geholfen werde, denn das ist die alte Bedeutung, in der Luther das Wort genesen anwendet. Andere übersetzen das Anfangswort: Halte mich - wie eine Wärterin ein kleines Kind stützt und aufrecht hält. Denn wenn du nicht bei mir stehst und mir in meiner Schwachheit hilfst, so muss ich ja straucheln und einmal über das andere fallen wie ein Kindlein, das seine ersten Schritte macht; hältst du mich aber, so wird mir geholfen, so widerfährt mir Heil, so bin ich ganz sicher. Es genügt nicht, dass wir einmal etwas von der rettenden Gnade an uns erfahren haben; wir müssen von dieser Gnade fort und fort, jeden Augenblick, gehalten und gestärkt werden. Der Psalmdichter hatte (siehe V. 106) gelobt, des HERRN Rechte zu halten; hier aber fleht er zum HERRN, er möge ihn halten - ein sehr verständiges Vorgehen. Die Bitten von V. 116 und V. 117 sind einander sehr ähnlich: Sei mein Halt, stütze oder stärke mich. Ach, wir brauchen in der Tat Gottes Beistand in jeder nur denkbaren Weise, denn unsere Schwachheit ist auch mannigfaltig, und ebenso vielfältig sind die Weisen, wie unsere Gegner uns zu Fall zu bringen suchen. Bei alledem dennoch aufrecht zu bleiben und ganz sicher sein zu können ist ein großes Glück. Zu diesem Glück gibt es nur eine Tür, aber die steht auch dem Geringsten unter uns offen.
  So will ich stets meine Lust haben an deinen Rechten. So übersetzt Luther nach den alten Übersetzungen, die dabei wohl die im Hebräischen etwas ähnlichen Aussagen von V. 16 und
V. 47 im Sinne hatten. Dem Grundtext an unserer Stelle entspricht besser die früheste Übersetzung Luthers (vom J. 1521): Und will mich halten zu deinen Geboten (wörtl.: will schauen auf deine Gebote) allewege. Niemand wird die Rechte des HERRN andauernd in seinem äußeren Wandel halten, wenn nicht sein Herz sich zu ihnen hält, das innere Auge seines Herzens auf sie gerichtet ist, und das wird nie der Fall sein, wenn die Hand des HERRN nicht das Herz beständig in heiliger Liebe erhält. Beharren bis ans Ende, allewege treu gehorchen, das vermögen wir nur aus des Gottes Macht, dessen Gnade den Anfang in uns gewirkt hat. Am Ende erweist sich’s, dass wir neben das Ziel gefahren, wie der Pfeil aus trügerischem Bogen (Ps. 78,57), wenn wir nicht in der rechten Bahn gehalten werden durch die starke Hand dessen, der uns zuerst darauf gewiesen. Selig ist der Mann, der den Inhalt dieses Verses erlebt, der also, durch die Macht der Gnade sein ganzes Leben hindurch in unerschütterlicher Rechtschaffenheit wandelnd, ein leuchtendes Exempel dessen wird, was Gottes Heil an einem Menschenherzen auszurichten vermag, und sich jene zarte Gewissenhaftigkeit bewahrt, die andern ein unbekanntes Ding ist. Er hat mit der Halbheit, dem geteilten, wankelmütigen Wesen der Flattergeister nichts zu schaffen, sondern hat sein Augenmerk stets auf die Rechte des HERRN gerichtet, denen seine ganze Liebe gehört, und wird durch diese seine Treue bewahrt vor den Widersprüchen zwischen Wandel und Bekenntnis und vor der Weltförmigkeit, die sich bei andern so häufig finden, und also wird er eine Säule in dem Hause des HERRN. Ach, es gibt so manche Christen, die nicht aufrichtig wandeln, sondern sich der Sünde zuneigen, bis sie das Gleichgewicht verlieren und schmählich fallen; und ob sie auch wieder vom Boden aufgerichtet werden, kommen sie doch nie zu einem festen, gewissen Gang, und es fehlt ihnen die zarte Keuschheit des Herzens, die den köstlichen Schmuck derer bildet, die mit ganzem Ernst der Heiligung nachjagen und, weil sie sich von der Gnade führen lassen, vor so mancher Schlammpfütze der Sünde bewahrt werden, in die jene geraten.

118. Du zertrittst alle, die von deinen Rechten abirren. Ihnen erweist sich Gottes Macht nicht als stärkende, aufrecht erhaltende, sondern sie werden von eben dieser Macht zu Boden gestürzt und zertreten, haben sie doch selber es erwählt, in den Irrwegen der Sünde zu wandeln, die unfehlbar ins Verderben stürzen. Einmal, sei es früher oder später, setzt Gott seinen Fuß auf den Nacken aller derer, die ihren Fuß von seinen Geboten abwenden; so ist es immer gewesen, und so wird es sein bis ans Ende. Wenn das Salz dumm geworden ist, wozu ist es hinfort nütze, denn dass es zertreten werde? Andere übersetzen: Du verwirfst sie, und zwar ist die Bedeutung genauer, dass sie auf der Waage gewogen und zu leicht erfunden und darum verachtet und verworfen werden wie falsches Geld oder (vergleiche den folgenden Vers) wie die leichten Schlacken gegenüber dem lauteren Metall, die nur geeignet sind, auf den Weg geworfen zu werden, wo sie von den Füßen zertreten und zu Staub zermalmt werden.
  Denn ihre Trügerei ist eitel Lüge. Sie halten es freilich für weitsichtige Klugheit, dass sie die Menschen also betrügen und hintergehen, aber in Wahrheit ist es nichts als Falschheit, Lüge vor allem auch gegen den HERRN, den doch niemand mit Lügen und Listen täuschen kann, und als Lüge, als Falschheit wird es auch von dem HERRN behandelt werden. Die Kinder dieser Welt nennen es kluge Diplomatie, vernünftiges Ausnützen der Verhältnisse; aber Gottes Kinder, die den Geist der Wahrheit bei sich haben, nennen schwarz schwarz, und Falschheit bleibt ihnen Falschheit, so sehr sie sich auch schmücke, denn sie wissen, dass sie sich auch in Gottes Augen also darstellt. Leute, die von dem rechten Wege abweichen, erfinden allerlei wohlklingende Ausflüchte, mit denen sie sich selbst und andere täuschen und dadurch ihr Gewissen beschwichtigen und ihr Ansehen bei den Menschen aufrecht halten; aber die Lügenmaske, mit der sie sich decken wollen, ist doch gar zu durchsichtig. Gott zertritt alle Truggewebe der Menschen; sie sind zu nichts nütze, als dass sie von seinen Füßen in den Staub getreten werden. Welch schreckliche Überraschung muss es für diejenigen einst sein, die ihr ganzes Leben daran gewendet haben, sich mit aller Kunst eine selbst ersonnene Religion zu verfertigen, wenn sie dann sehen müssen, wie ihr ganzes Kunstwerk von Gott zertreten wird als eine Fälschung, die ihm ein unausstehlicher Gräuel ist.

119. Du wirfst alle Gottlosen auf Erden weg wie Schlacken. Gott tändelt nicht mit ihnen, er fasst sie nicht mit Samthandschuhen an. Nein, er erachtet, beurteilt (so lasen einige Alte den Text) sie als wertlose Schlacken, als den Auswurf und Abschaum der Erde, und danach behandelt er sie auch: er wirft sie weg (so die gewöhnliche Lesart). Er stößt sie hinaus aus seiner Gemeine, stößt sie hinweg aus ihren Ehren, rottet sie aus von der Erde und verwirft sie endlich für immer von seinem Angesichte. Hinweg von mir, ihr Verfluchten! Das ist das letzte Wort, das sie aus seinem Munde hören, und das doch ewig ihnen in den Ohren tönt, als würde es immer neu zu ihnen gesprochen. Wenn ein redlich gesinnter Mensch sich schon gezwungen sieht, die Übeltäter aus seiner Umgebung zu entfernen, wieviel mehr muss nicht der dreimal heilige Gott alle Gottlosen von sich weisen und verwerfen. Sie hatten das Aussehen von edlem Metall, sie waren auch darunter vermengt, bildeten einen Haufen damit. Aber der HERR versteht sich auf die Scheidekunst; jeden Tag schafft er etliche von den Gottlosen aus seinem Volke weg, sei es indem er ihre Heuchelei offenbar macht und sie dadurch schmählich zu Schanden werden lässt, sei es dass er sie von der Erde vertilgt. Sie werden weggeworfen wie Schlacken, um nie wieder herbeigeholt zu werden. Und gleichwie das Silber dadurch an Wert gewinnt, dass es seine unedlen Zusätze verliert, so dient es auch der Gemeinde des HERRN zum Gewinn, wenn Gottlose aus ihr entfernt werden. Diese leben nicht nur auf Erden, sondern sie sind auch von der Erde und haben daher kein Recht, unter denen zu weilen, die nicht von der Welt sind; der HERR sieht, dass sie am unrechten Platze sind, wo sie nur hinderlich und schädlich sind, deshalb schafft er sie weg, und zwar alle ohne Ausnahme, keiner darf zurückbleiben, um seine erlöste Gemeinde zu verunreinigen und minderwertig zu machen. Diese Arbeit der Ausscheidung wird eines Tages beendet sein; keine Schlacke wird verschont werden, nichts vom Golde wird ungereinigt bleiben. Wo werden wir sein, wenn dieses große Werk vollendet sein wird?
  Darum liebe ich deine Zeugnisse. Selbst die Taten, in denen der HERR seine Strenge erweist, schüren bei seinem Volke das Feuer der Liebe. Wenn er die Menschen immerzu ungestraft sündigen ließe, so könnte er nicht in so hohem Maße der Gegenstand unserer liebenden Bewunderung sein. Er ist herrlich erhaben gerade in seiner Heiligkeit, denn durch seine furchtbaren Taten befreit er sein Reich von den Aufrührern und reinigt er seinen Tempel von denen, die ihn entweihen. In unseren bösen Zeiten, da Gottes Strafgerechtigkeit die Zielscheibe frecher Angriffe eines hochmütigen, anmaßenden Unglaubens geworden ist, mögen wir es als ein Kennzeichen eines rechten Gottesknechtes ansehen, dass er den HERRN darum nicht weniger, sondern noch viel, viel mehr liebt, dass er an den Gottlosen Gericht übt, wie sie es verdienen.

120. Ich fürchte mich vor dir, dass mir die Haut schaudert. So groß war die Scheu, die er bei dem Gefühl der Allgegenwart des Richters aller Welt empfand, über dessen Gericht er soeben nachgedacht hatte, dass es ihm ging wie selbst Mose an dem brennenden Sinai, der da sprach: Ich bin erschrocken und zittere (Hebr. 12,21). Selbst der gröbere Teil seines Ich, sein Fleisch, ward von Schauern der Furcht durchbebt bei dem Gedanken, ein so vollkommen gutes und großes Wesen zu beleidigen, ihn, der so streng und unerbittlich die Gottlosen mitten aus den Gerechten heraus scheiden wird. Ach du armes Fleisch, solches Schaudern ist das Höchste an Frömmigkeit, wozu du gelangen kannst! Und entsetze mich vor deinen Gerichten. Gottes Worte des Gerichts, seine Urteilssprüche, sind feierlich ernst, und seine Gerichtstaten, die Vollziehungen seiner Urteile, sind schrecklich. Wahrlich, wir mögen uns wohl davor entsetzen! Wenn wir an den ewigen Richter denken, an sein alles durchdringendes Auge, an die unauslöschlichen Beurkundungen in seinen Büchern, an den großen Tag des Gerichtes und an die sein Urteil vollstreckenden Taten seiner Gerechtigkeit - ja dann mögen wir wohl flehen um Reinigung unserer Gedanken und Herzen und Hände, damit seine Gerichte uns nicht treffen. Und wenn wir jetzt schon sehen, wie er, der große Schmelzer, das Edle vom Unedlen scheidet, dann mögen wir wohl heilige Furcht empfinden, dass wir nicht etwa auch von ihm weggeworfen werden, um von seinen Füßen zertreten zu werden.
  Die Liebe, von der in dem vorhergehenden Vers die Rede ist, verträgt sich gar wohl mit der Furcht, die dieser letzte Vers meint. Die Furcht, welche Pein hat, wird von der Liebe ausgetrieben, nicht aber die kindliche Furcht, die ehrerbietigen Gehorsam als Frucht zeitigt.


V. 113-120. Das achtfache s (S): Seine Hoffnung ruht auf Gottes Wort, ohne durch Zweifler und Abtrünnige sich irre machen zu lassen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.

113. Spinnefeind1 bin ich den Flattergeistern,
Und dein Gesetz habe ich lieb.
114. Schirm bist du mir und Schild;
Auf dein Wort harre ich.
115. Schert euch1 von mir, ihr Bösewichter,
Dass ich halte die Gebote meines Gottes.
116. Stütze mich deiner Verheißung gemäß, dass ich lebe,
Und lass mich nicht zu Schanden werden an meiner Hoffnung.
117. Stärke mich, dass mir geholfen werde,
So will ich auf deine Satzungen schauen fort und fort.
118. Sie alle verwirfst du, die von deinen Rechten abirren,
Denn eitel Lüge ist ihre Trügerei.
119. Schlacken gleich schaffst du weg alle Gottlosen der Erde,
Darum liebe ich deine Zeugnisse.
120. Schauder ergreift mein Fleisch vor deiner Furchtbarkeit,
Und ich bange vor deinen Gerichten. - James Millard


V. 113. Die Flattergeister. Die eigentliche Bedeutung des Wortes Mypi(As" war schon den alten Übersetzern meist nicht mehr bekannt, wie ihre sehr allgemein gehaltenen Übersetzungen (LXX: parano/mouj, die Gesetzesübertreter, Vulg.: iniquos, die Bösen, Syr. perversos, die Verkehrten) zeigen. Es gibt jedoch zwei nahe verwandte Wörter, die uns auf die rechte Spur führen: Hiob 4,13; 20,2 MypRi(i#o: Gedanken, und 1. Könige 18,21 MypRi(is: ebenfalls Gedanken, geteilte Meinungen, Gesinnungen. Ein Teil der späteren Übersetzer nahm nun das Mypi(As" an unserer Stelle irrtümlich gleich MypRi(is: (MypRi(i#o:) Gedanken, cogitationes, und fasste dieses Wort im üblen Sinne, indem man alias, andere, abweichende (Beza), oder vanas, eitle, einfügte. So die engl. Übers.: Ich hasse eitle Gedanken - eine praktisch sehr fruchtbare, aber sprachlich unhaltbare Auffassung. An eitle Gedanken dachte schon die alte chaldäische Übers. der Psalmen, die aber richtig gesehen hat, dass, wie Aben-Ezra bemerkt, das Wort Mypi(As" seiner Form nach kein Abstraktum sein kann, sondern Bezeichnung von Personen mit einer gewissen Eigenschaft sein muss (nach der dagessierten, körperliche oder geistige Gebrechen anzeigenden Form, wie rW"(i blind, $r"x" taub, $qI"(i verkehrt) und daher übersetzt: cogitantes cogitationes vanas. Die nähere Bedeutung ist aber nicht durch Einfügung des Wortes "eitel" zu gewinnen, sondern aus der Grundbedeutung des Wortes selbst, unter Herbeiziehung der Stelle 1. Könige 18,21, wo in dem verwandten MypiI(is: geteilte Meinungen, diese Grundbedeutung zur Erscheinung kommt. Denn das Grundwort P(s heißt jedenfalls teilen, zerteilen, vergl. die Derivate ........ 1) Ritze, Kluft, Felsenkluft, 2) Zweig, und hpIf(as:, hpIf(ar:sa Zweig. Elia spricht zum Volke, das zwischen Baalsdienst und Jehovahdienst hin- und herschwankt: Wie lange hinket ihr nach beiden Seiten, oder genauer Meinungen, Gesinnungen, Parteien? An diese Stelle lehnen sich (mit Luther) fast sämtliche neueren Übersetzer in der Psalmstelle an. Die Mypi(As" sind demnach Leute von geteiltem, schwankendem Sinn, Menschen, deren Herz nicht ungeteilt Gott anhängt, die di/yucoi des Jakobus, und zwar nach den beiden Seiten, die an diesem Begriff bei Jakobus hervortreten, Leute unbeständigen Gemütes, sowohl Zweifler,
Jak. 1,8, als auch solche, die heuchlerisch im Herzen geteilt sind, Jak. 4,8. - Interessant sind die drei Übersetzungen Luthers. 1521 übersetzte er: Ich bin feind den Weblingen, die da hin- und herweben, und fahren wie Baumkipfen vom Winde, vergl.
Eph. 4,14. 1524: Ich hasse die Ketzer: die heißen hier die unbeständigen Geister, die immer etwas Neues finden und vornehmen. 1545: Ich hasse die Flattergeister. - Andere meist auch gute praktische Winke gebende Übersetzungen und Umschreibungen, die wir großenteils auch bei der Umarbeitung der nur die unhaltbare englische Übersetzung des Verses berücksichtigenden Auslegung Spurgeons schon benutzt haben, sind z. B. innerlich Gespaltene, auf beiden Seiten Hinkende (Delitzsch), Zwiespältige (Kantzsch), Zweifler, eigentlich Geteilte (Hengst. und viele), die zwei Herren dienen (Gerlach), them that are of a double mind (Engl. Revid.), Wankelmütige (Keßler), unsichere, unbeständige Geister (P. Zeller), les hommes indécis (Segond), die Halben, deren Neigungen zwischen dem alten und dem neuen Glauben geteilt waren (Bäthgen), die halb heidnisch, nur halb (nur äußerlich) israelitisch waren (Keßler); weniger gut: Zweizüngige (Hitzig), Zweideutige (De Wette und andere). - James Millard


V. 114. Mein Schirm. Unser Herr Jesus Christus besitzt alle Eigenschaften, die ihn zum besten Zufluchtsort seiner Gläubigen machen. Denn er ist stark, er ist der ewige Fels, der starke Gott; er ist hoch erhaben, dass kein Mensch und kein Teufel ihm etwas anhaben kann; er birgt uns in den sicheren verborgenen Höhlen seiner Wunden, er ist treu und zuverlässig, er ist der Hüter, der nicht schläft noch schlummert. Ralph Robinson † 1655.
  Mein Schild. Die Nützlichkeit eines Schildes besteht in Folgendem: Erstens in seiner Länge und Breite, so dass er den, der ihn trägt, völlig verdeckt und vor allen Pfeilen und Speeren, die gegen ihn geschleudert werden, schützt. (Ps. 5,13; 1. Mose 15,1; Ps. 28,7) Ein Schild ist ferner fest und undurchdringlich. Gottes Macht, mit der er sich der Seinen schützend annimmt, ist unbesiegbar, an ihr brechen sich alle Angriffe der Feinde
(Ps. 144,2). Und schließlich noch eins; Steine und Geschosse prallen von einem harten Schilde zurück, ja wohl gar zurück auf die, die sie geschleudert haben (Ps. 59,12). Thomas Manton † 1677.
  Ich hoffe. Alles Holde und Liebliche, was sonst noch das menschliche Leben versüßen mag, langt an Bedeutung in dieser Beziehung doch von ferne nicht an die Hoffnung heran. Ohne die Hoffnung würde auch dem größten Glück und Genuss doch das Beste, ja die Hauptsache fehlen; ihr Dasein aber versüßt mir alles Bittere, lindert wie Balsam auch das tiefste Weh. Umgib mich mit allen Wonnen, die gegenwärtiger Besitz und Genuss verleihen oder die Erinnerung in mir wiedererwecken kann - ohne die Hoffnung der Zukunft sind sie nicht imstande, mich wahrhaft zu sättigen. Ohne die Hoffnung bleibt nur Trauer darüber, dass die Freuden der Vergangenheit dahin sind und die Freuden der Gegenwart vergehen und dahin sein werden. Aber nimmst du mir auch alle diese Freuden, die die Vergangenheit und Gegenwart gewähren können - wenn nur die Hoffnung auf ein lichtes Morgen ihre Strahlen auf das trübe Gestern oder Heute fallen lässt, so überkommt mich Freude mitten in meinem Leid. Und wie geschäftig ist die Hoffnung, ihren mächtigen Einfluss bei uns auszuüben Die Hoffnung ist der edelste Abkömmling, das erstgeborene Kind des für die Zukunft, für die Ewigkeit geschaffenen Menschengeistes, und das Letzte, das Allerallerletzte, das er begräbt; denn was muss alles in einem Menschenherzen vorgegangen sein, bis es dies tut! Das Tier kann sich gedankenlos an der gegenwärtigen Fülle gütlich tun; aber der denkende Mensch sollte nicht und kann in Wahrheit nicht ohne die Hoffnung glücklich sein. William Grant 1876.


V. 115. Weichet von mir, ihr Boshaften. Nur zu häufig begeht man ein Unrecht zur Gesellschaft; es ist wie ein Kelch, der die Reihe umgeht und woraus jeder Anwesende trinkt. Darum ist es klug und vorsichtig gehandelt, jede Gesellschaft zu verlassen, wo die Sünde festen Fuß gefasst hat. Dort kannst du nichts gewinnen, ja zuletzt wird die schlechte Gesellschaft das Gute, das in dir ist, ersticken. Die Blume Unschuld gedeiht nicht in solchem Boden. Wie kümmerlich steht das Getreide, das mit Unkraut durchsetzt ist. Und alle Stärkungsmittel helfen einem Körper nicht, der voll schlechter Säfte steckt. Es ist schwer, ja fast unmöglich, mitten unter einer Rotte Gottloser nach Gottes Geboten zu leben. Darum musste David, als er mit Gottes Gesetz den Bund fürs Leben schließen wollte, den bösen Buben den Laufpass geben. Weichet von mir, ihr Boshaften, ich will halten die Gebote meines Gottes. Ich kann nicht so, wie ich sollte, meines Gottes Geboten gehorchen, solange ihr in meiner Gesellschaft weilt, darum hebet euch hinweg, ihr Übeltäter. George Swinnock † 1673.
  Sirach ruft das Wehe über die Gottlosen und ihre Kinder und sagt: Die sich zu den Gottlosen gesellen, werden eitel Gräuel
(Sir. 41,6). Und selbst die Heiden des Altertums glaubten, dass der Fluch der Götter auf denen ruhe, die Gemeinschaft mit den Missetätern hielten. Mit einem Verächter der Götter zu wohnen oder zu reisen hielten sie für unheilvoll. So sagt Horaz:

  Den weis’ ich von mir, der der Göttin Heiligstes
  Mit frevelhaftem Sinn entweiht,
  Dass nimmer unter meinem Dach er weile, noch
  Mit mir in einem Schiff das Meer durchfahre.
   Jonathan Edwards † 1758.

  Die Gebote meines Gottes. Es ist unmöglich, dass jemand Gott von Herzen und auf die Dauer diene, der nicht aus voller Überzeugung mit dem Psalmisten sprechen kann: Er ist mein Gott. Und alle Freuden und alle Schrecken der Welt können eine solche Seele nicht von Gott scheiden, die in Wahrheit sagen kann: Der HERR ist mein Gott. William Cowper † 1619.


V. 116. Erhalt mich, sei mein Halt, nach deiner Zusage. Hoch in der Luft schwebt ein Drache. Du siehst nicht die Schnur, die ihn festhält, die Hand, die ihn führt, den Wind, der ihn höher und höher trägt. Und doch sind diese Dinge zum Fluge des Drachen durchaus notwendig. Wenn die Schnur risse, wenn die Hand losließe, wenn der Wind sich legte, so würde der stolze Flug mit einem schmählichen Fall enden. Denn der Drache besitzt keine eigene Kraft, die ihn emportreibt, von sich aus folgt er ebenso wohl wie alle irdischen Körper nur der Schwere, die ihn nach unten zieht. Dem Unkundigen muss dieses scheinbar naturwidrige Verhalten unbegreiflich sein. So ist es auch mit dem Menschen, wenn seine Seele durch den Geist Gottes aus dieser Welt des Niederen emporgehoben wird zu hohen, himmlischen Dingen, zu einem neuen, der gefallenen Natur widerstreitenden Zustande, und in diesem erhalten wird durch das Band des Glaubens, das ihn mit der leitenden Gotteshand verbindet. Lässt diese nur einen Augenblick los, so ist der Fall unausbleiblich. Seine einzige Kraft liegt im HERRN, seine einzige Sicherheit in der beständig fortwirkenden Gnade. H. G. Salter 1840.


V. 117. Stärke mich, stütze mich. Es ist nicht allein das Gefühl unserer Schwäche, sondern die Gefahren, die uns auf dem schmalen, steilen, schlüpfrigen Pfade drohen, sind das, was uns immer und immer wieder die Notwendigkeit einer fortwährenden Unterstützung Gottes, seines unablässigen Beistandes zum Bewusstsein bringt. Die Versuchung tritt uns in so mannigfacher Weise nahe, oft ganz ohne dass wir es merken, ihre Anfänge sind so versteckt, wir selbst sind von so unbegreiflicher und unbeschreiblicher Schwachheit und Blindheit, dass wir nur mit dieser Bitte im Herzen und auf den Lippen sicher wandeln können. (Vergl. das so schnell verbreitete Lied von Julie v. Haußmann, † 1904: So nimm denn meine Hände.) Charles Bridges † 1869.
  So will ich stets schauen auf deine Rechte. Wenn Gottes Hand uns hält und führt, dann müssen wir aber auch nun in seiner Kraft den Weg unserer Pflicht, den Weg seiner Gebote wandeln mit Eifer und Freude, mit Lust und Liebe. Matthew Henry † 1714.


V. 118. Du zertrittst alle, die von deinen Rechten abirren. Es ist in unserer Zeit eine Neigung vorhanden, alle die Eigenschaften der Gottheit in einer einzigen aufgehen zu lassen. Während sich viele unserer hervorragendsten geistlichen Schriftsteller über die überreiche Güte, die sanfte, sich so viel gefallen lassende Milde und Wohltätigkeit Gottes, über seine Gnade, die so viel übersieht und die Gebrechen der menschlichen Schwachheit mit großer Nachsicht trägt, in sehr inniger und sinniger und sehr eingehender Weise ausgesprochen haben, so übergeht man, wenn nicht mit vorbedachtem, so doch mit tatsächlichem Schweigen Gottes Wahrhaftigkeit und Reinheit und seinen Hass gegen alles sittlich Böse. Es kann ja keine Herrschaft ohne Gesetz sein; die Frage aber wird wenig in Erwägung gezogen, was doch mit den Verletzungen dieses Gesetzes anzufangen sei. Jedes Gesetz hat seine Wirkungen - einerseits winkt der Lohn für seine Erfüllung, anderseits droht der Übertretung die Strafe. Soll die rächende Gerechtigkeit etwa nur angedroht werden, aber nie zur Vollziehung kommen? Soll die Schuld nur mit vorausgehenden Ankündigungen von Strafe bekämpft werden, nie aber mit nachfolgenden Züchtigungen? Nimm der Rechtspflege die Vollmacht, Strafen zu verhängen, oder lass, was noch schlimmer wäre, die Strafen nur angedroht, aber niemals vollzogen werden, so sinkt das Ganze zu einer bedeutungslosen Spiegelfechterei herab. Das ganze Gebäude der sittlichen Weltregierung bricht dann in sich selbst zusammen, und statt einer erhabenen das Weltall lenkenden Autorität haben wir einen gestürzten Thron und einen seiner Würde entsetzten Herrscher. Soll die ganze Rechtsverwaltung nur eine Parade-Schaustellung sein, ohne Macht, das Recht auszuüben; soll Gott seine Wahrhaftigkeit nur, was die Verheißungen des Lohnes betrifft, aufrecht erhalten, aber ebenso regelmäßig von ihr abstehen, wenn die Androhungen der Strafe in Frage kommen; soll der Richter ganz in dem herzensguten Väterchen aufgehen, das sich durch nichts von seiner überguten Meinung abbringen lässt, - dann bleibt schließlich nichts als der Name übrig von der sittlichen Weltregierung, dann sind wir nicht Gottes Oberhoheit unterworfen, dann sind wir nur noch Schoßkinder, die verwöhnt und verhätschelt werden. Unter einem solchen Moralsystem müsste das ganze Weltall in einen Zustand der Anarchie, völliger Gesetzlosigkeit und Zuchtlosigkeit versinken, und in der Verwirrung dieser wilden Misswirtschaft würde der König, der in der Höhe thront, alle Gewalt über die von ihm selbst erzeugte Schöpfung verlieren. Thomas Chalmers † 1847.

  Und also ist es denn geschehen,
  Dass, wie von einem Wetterschlag,
  Eh’ man die Hand hat zucken sehen,
  Der, den sie traf, am Boden lag.
  Und wir bekennen frei und offen:
  Es ist der HERR, der ihn getroffen.
  Der HERR hat ihn gepackt beim Schopfe,
  Geschleudert ihn von seinem Stuhl
  Gleich einem jämmerlichen Tropfe,
  Nicht in den Staub, nein in den Pfuhl.

   Aus: Gott und die Fürsten, von Fr. Rückert † 1861.

  Ihre Trügerei ist eitel Lüge. Damit meint der Dichter wohl nicht die Trügerei, womit die Gottlosen andere betrügen, sondern diejenige, womit sie sich selbst betrügen. Und das geschieht auf zweierlei Weise: erstens indem sie von der Sünde etwas Gutes erwarten, wie es die Sünde ihnen ja lügnerisch verspricht, aber niemals gibt; und sodann, indem sie sich mit der eitlen Hoffnung täuschen, sie würden dem Gericht entrinnen, das sie doch sicher ergreifen wird. William Cowper † 1619.
  Die Worte: Lüge ist ihre Täuscherei fasst man gewöhnlich auf: Erfolglos, selbstbetrügerisch ist usw. Besser: Lüge (besonders gegen den HERRN, vergl. V. 37.104.128) ist ihr (die Menschen) betrügendes Verhalten. Lic. H. Keßler 1899.


V. 119. Du hast alle Gottlosen auf Erden als das Kehricht ausgeworfen. Das hebräische Wort schabab ist deutsch worden und heißt verwerflich Ding, als Kehricht, Schlacken, Späne, Schaum, Spreu, Trestern usw., und lautet also: Du hast sie schababt wie das Kehricht und was jedermann wegwirft, dass sie nichts nütze sind, denn Dämme und Wehre mit ihnen zu füllen, dass man über sie laufe. Wiewohl sie viel anders wähnen, als seien sie allein auserlesen - sie sind Schabab. Martin Luther 1531.
  Bei den Leuten dieser Welt sind Gottes Kinder "wie Kehricht der Welt, wie ein Abschaum aller" geachtet (1. Kor. 4,13); so missachtet war selbst ein Paulus, dies auserwählte Rüstzeug Gottes. In unserer Psalmstelle aber sehen wir, dass die Gottlosen nach Gottes Urteil in der Tat nichts als Schlacken sind, der Abschaum und Auswurf von Silber oder anderen guten Metallen. Möge das die Gottseligen in ihrer Zuversicht stärken gegenüber der Verachtung, die ihnen von den Menschen zuteilwird; der HERR allein hat in seiner Hand die Waage, die die Menschen wägt, wie sie wirklich sind. William Cowper † 1619.
1) Die Schlacken, die fremden, das gute Metall verunreinigenden Stoffe, trüben und verdecken den Glanz des Metalls.
2) Sie täuschen, indem sie dem guten Metall ähneln. Schlackensilber ähnelt dem Silber, ist aber doch nur Blei; Schlackenerz ähnelt dem Erz, ist aber kein Erz.
3) Die Schlacken werden durch das Feuer nicht veredelt wie das gute Metall, sondern werden im Gegenteil durch das Feuer als Schlacken offenbar.
4) Schlacken sind wertlos, sie haben keinen Nutzen und werden weggeworfen.
5) Es gibt gewisse, dem guten Metalle sich anheftende Stoffe, die nicht nur wertlos sind, sondern dieses angreifen und eben deshalb den Silberschmied nötigen, das Schmelzfeuer anzuwenden, um das Edle vom Unedlen, Schädlichen zu scheiden. William Greenhill † 1677.


V. 120. Dass mir die Haut schaudert, eigentlich von den Haaren gebraucht, die sich vor Schrecken aufrichten oder sträuben, vergl. Hiob 4,15. J. J. St. Perowne 1868.
  Statt sich über die zu erheben, die Gottes Zorn verfallen sind, demütigt er sich. Was wir von Gerichten lesen oder hören, die Gott über Gottlose verhängt, das sollte uns dazu führen, Gottes furchtbare Majestät zu verehren und in heiliger Scheu vor ihm zu erbeben; denn wer kann stehen vor dem HERRN, solchem heiligen Gott? (1. Samuel 6,20.) Es sollte uns mit Furcht erfüllen, ihn zu beleidigen und uns dadurch seinem Zorne auszusetzen. Auch die Gläubigen haben es nötig, von der Sünde zurückgehalten zu werden durch die Schrecken des Herrn; ganz besonders, wenn das Gericht anfängt an dem Hause Gottes und Heuchler entlarvt und als Schlacken weggeworfen werden. Matthew Henry † 1714.
  Als ich am Abend beim Gebet war, bekam ich so nahe, schreckliche Blicke in Gottes Gerichte über die Sünder in der Hölle, dass mein Leib erschauerte vor Furcht. Zitternd floh ich zu Jesu Christo, als ergriffen mich die Flammen. Ja, wenn Christus mich nicht rettete, so müsste ich verderben. Henry Martyn † 1812.


V. 116.120. Furcht - Hoffnung. Die rechte Frömmigkeit besteht in einer angemessenen Mischung von Furcht vor Gott und Hoffnung auf seine Gnade. Wo eine von beiden völlig fehlt, da kann von wahrer Frömmigkeit keine Rede sein. Gott hat sie zusammengefügt, und wir sollten sie nicht scheiden. Er kann nicht Gefallen haben an Menschen, die ihn mit einer sklavischen Furcht fürchten, ohne auf seine Gnade ihre Hoffnung zu setzen, denn solche halten ihn für einen grausamen Willkürherrscher, dem Güte fremd ist; auch bezichtigen sie ihn stillschweigend der Unwahrhaftigkeit, indem sie sich weigern, seinen Einladungen und Anerbietungen der Gnade zu glauben. Anderseits kann er aber auch an solchen kein Wohlgefallen haben, die vorgeben, auf seine Gnade zu hoffen, ohne ihn zu fürchten. Denn diese beschimpfen ihn durch ihr Verhalten, dem die Voraussetzung zugrunde liegt, es sei an ihm nichts, das zu fürchten wäre. Und überdies machen auch sie ihn zum Lügner, indem sie den schrecklichen Drohungen, die er wider die Sünder erlassen hat, nicht glauben, und sie beleidigen seine Majestät, indem sie ihm den Gehorsam verweigern. Nur wer den HERRN sowohl fürchtet als auch auf seine Gnade traut, gibt ihm die Ehre, die seinem Namen gebührt. Edward Payson † 1827.


1. Natürlich sind solche Ausdrücke nur als Notbehelf unter dem Zwang der alphabetischen Anordnung entschuldbar, sofern sie den Gedanken des Grundtextes treu, wenn auch in unedler Form, wiedergeben.


121. Ich halte Recht und Gerechtigkeit;
übergib mich nicht denen, die mir wollen Gewalt tun.
122. Vertritt du deinen Knecht und tröste ihn;
mögen mir die Stolzen nicht Gewalt tun.
123. Meine Augen sehnen sich nach deinem Heil
und nach dem Wort deiner Gerechtigkeit.
124. Handle mit deinem Knechte nach deiner Gnade
und lehre mich deine Rechte.
125. Ich bin dein Knecht; unterweise mich,
dass ich erkenne deine Zeugnisse.
126. Es ist Zeit, dass der HERR dazu tue;
sie haben dein Gesetz zerrissen.
127. Darum liebe ich dein Gebot
über Gold und über feines Gold.
128. Darum halte ich stracks alle deine Befehle;
ich hasse allen falschen Weg.


121. Ich halte Recht und Gerechtigkeit, oder (vergl. Luther 1521): Ich habe Recht und Gerechtigkeit geübt. Das ist ein großes Wort im Munde eines orientalischen Herrschers, denn diese waren meist Despoten, mehr auf Gewinn als auf Gerechtigkeit bedacht. Etliche von ihnen vernachlässigten ihre Pflichten völlig und wollten überhaupt nicht das Recht ausüben, indem sie ihr Vergnügen der Erfüllung ihrer Herrscherpflicht vorzogen; noch mehr aber verkauften ihre Rechtsurteile dem, der am meisten dafür bot, indem sie Bestechungsgeschenke annahmen oder die Person ansahen. Manche Herrscher übten also überhaupt nicht Recht und Gericht aus, andere fällten wohl Urteile, aber ohne Gerechtigkeit; David jedoch fällte gerechte Entscheidungen und Urteile und achtete darauf, dass seine Verordnungen und Richtersprüche auch ausgeführt wurden. Er konnte vor dem HERRN den Anspruch erheben, dass er unparteiisch Gerechtigkeit geübt habe und auch jetzt noch das Recht einhalte. Mit diesem Zeugnis seines guten Gewissens stützte er die Bitte: Übergib mich nicht denen, die mir wollen Gewalt tun. Wer, soweit seine Macht reicht, das Recht hochgehalten und ausgeübt hat, darf auch hoffen, von denen, die über ihn Macht haben, errettet zu werden, wenn sie ihm Unrecht zuzufügen suchen. Ist es mein fester Vorsatz, niemanden zu unterdrücken, so darf ich freimütig und hoffnungsvoll auch darum beten, dass andere mich nicht mögen unterdrücken können. Wandeln wir aufrichtig und redlich vor Gott und Menschen, so macht uns das kühn, uns an den erhabenen Richter aller zu wenden, dass er uns von der Ungerechtigkeit anderer befreie. Auch darf man dem Psalmisten diese Weise, seine Bitten zu begründen, nicht als Selbstgerechtigkeit auslegen. Wenn wir mit Gott reden über unsere Mängel und Verfehlungen, bedienen wir uns eines ganz anderen Tones, als wenn wir den harten Urteilen unserer Mitmenschen gegenüberstehen; und wissen wir uns ihnen gegenüber in solchen Fällen schuldlos, so sind wir auch berechtigt, unsere Unschuld geltend zu machen.

122. Tritt für deinen Knecht ein zum Guten. (Wörtl.) Antworte du für mich. Lass deinen armen Knecht nicht sterben durch die Hand seines Feindes, der auch dein Feind ist. Nimm meine Sache in deine Hand, mache sie zu deiner eigenen und verteidige mich. Bist du doch mein Herr und ich dein Knecht, so führe du meine Sache und vertritt mich vor den stolzen Menschen, dass sie zu der Einsicht kommen, welch erhabenen Verbündeten ich an dem HERRN, meinem Gott, habe. Mögen (oder lass) mir die Stolzen nicht Gewalt tun. Dein Eintreten wird meine Befreiung bewirken; wenn die Übermütigen sehen, dass du mein Verteidiger bist, so werden sie ihre Häupter verhüllen. Wir wären wahrlich unter unserem hochmütigen Widersacher, dem Teufel, schier erdrückt worden, wenn unser Herr und Heiland nicht zwischen uns und den Verkläger getreten und unser Bürge geworden wäre. Nur weil er uns zu Hilfe gekommen ist, sind wir entronnen wie ein Vogel dem Strick des Voglers. Wie gut ist’s, dass wir unsere Sache in seinen, unseres Sachwalters, treuen Händen lassen dürfen mit der vollen Gewissheit, dass alles wohl ausgehen wird, weil er eine Antwort hat für jeden Ankläger, die rechte Abweisung für jeden, der uns verlästern und uns Gewalt tun will.
  Gutgesinnte Menschen haben ein Grauen vor gewalttätiger Unterdrückung, denn solche kann auch einen Weisen wahnsinnig machen; darum schreien sie zum Himmel um Befreiung. Und sie sollen nicht vergeblich rufen, der HERR wird die Sache seiner Knechte in die Hand nehmen und ihre Kämpfe gegen die Stolzen ausfechten. In recht kluger Weise verwendet der Psalmist das Wort Knecht als Stütze seiner Bitte, dass Gott ihm Gnade erweisen möge, und das Wort Stolze als Beweis gegen seine Feinde. Es scheint unvermeidlich, dass stolze Menschen Bedrücker werden und dass es ihnen am meisten Freude macht, wahrhaft gottselige Menschen ihre Gewalt fühlen zu lassen.

123. Meine Augen sehnen sich (verzehrend, vergl. V. 82) nach deinem Heil. Er schaute schmachtend aus nach Gottes helfender, rettender Hand, bis das Auge seines Glaubens fast versagte. Zu Gott allein sah er um Hilfe auf, er schaute scharf aus, schaute lange, so lang, bis seine Augen schmerzten und ihm übergingen. Wohl uns, dass Gottes Auge nicht müde wird. Unser Auge ist ein zartes Ding, und ähnlich ist es mit unserem Glauben, unserer Hoffnung, unserer Kraft des Harrens; Gott wird sie nicht versuchen über Vermögen. Und nach dem Wort deiner Gerechtigkeit, nach deinem gerechten Spruche, der die ungerechten Reden meiner Bedrücker zum Schweigen bringen wird. Nicht nur sein Ohr, auch sein Auge wartete auf des HERRN Wort; er schaute danach aus, dass das göttliche Wort als Befehl zu seiner Befreiung in Erscheinung trete. Wohl uns, wenn die Gerechtigkeit auf unserer Seite ist; dann ist eben das, was des Sünders Schrecken ist, unsere Hoffnung, das, wovor die Stolzen zittern, der Gegenstand unserer Erwartung und unseres Sehnens. Der Psalmist ließ seine Ehre ganz in Gottes Hand und wollte lieber durch den Spruch des Richters von den Anklagen gereinigt werden als durch irgendwelche Versuche, sich selbst zu verteidigen. Er war sich bewusst, recht gehandelt zu haben; darum scheute er das höchste Gericht nicht, sondern bat vielmehr um das Urteil, von dem er wusste, dass es seine Befreiung zur Folge haben würde. Er schaute sogar sehnlichst und unverwandt nach dem Urteil und der Befreiung aus, nach dem gerechten Spruche Gottes, der für ihn Heil bedeutete.

124. Handle mit deinem Knechte nach deiner Gnade. Hier besinnt er sich: mochte er vor den Menschen so rein sein, dass er den Spruch der Gerechtigkeit fordern konnte, so war er sich doch bewusst, dass er vor dem HERRN als sein Knecht sich an die Gnade wenden müsse. Dabei fühlen wir uns am sichersten. Unser Herz hat mehr Ruhe bei dem Ruf: "Gott, sei mir gnädig!" als bei dem Anrufen der Gerechtigkeit. Wohl uns, wenn wir sagen können: "Ich habe Recht und Gerechtigkeit geübt", dann aber in aller Demut fortfahren: "Handle du aber mit deinem Knecht nach deiner Gnade." Der Name Knecht, den er sich beilegt, enthält eine Begründung der Bitte. Der Gebieter ist verpflichtet, seinen Knecht zu verteidigen, wenn dieser fälschlich angeklagt wird, und ihm zu helfen von denen, die ihm Gewalt tun wollen; und überdies sollte ein Herr seinem Knechte Güte erweisen, auch wenn er mit einem Fremden streng verfährt. Unser himmlischer Herr traktiert seine Diener nicht mit Maulschellen und Fußtritten, sondern behandelt sie aufs leutseligste, redet freundlich mit ihnen und lässt sich herzlich zu ihrer Niedrigkeit herab, denn sonst würde seine Erhabenheit sie in den Staub drücken. Und lehre mich deine Rechte. Das ist eine der Weisen, wie er nach seiner Gnade an uns handelt. Wir dürfen erwarten, dass ein Herr seinen Knecht über die Bedeutung seiner Befehle unterweist. Da unsere Unwissenheit jedoch aus der durch die Sünde in uns gewirkten geistlichen Stumpfheit kommt, ist es von Gott sehr gnädig, dass er sich dazu herablässt, uns in seinen Geboten zu unterweisen. Dass unser erhabener Regent unser Lehrer wird, ist eine der auserlesensten Gnadenerweisungen, für die wir niemals dankbar genug sein können.

125. Ich bin dein Knecht. Das ist das dritte Mal, dass er diese Dienstbezeichnung in dieser selben Gruppe wiederholt; er liebt es offenbar, sich so zu nennen, und weiß, wie wirksam er sich bei seinen Bitten auf diese seine Stellung stützen kann. Wir, die wir darüber frohlocken, dass wir Kinder Gottes sind, empfinden doch nicht weniger Wonne dabei, dass wir seine Knechte sein dürfen. Hat nicht der erstgeborene Sohn Knechtsgestalt angenommen und das Werk des Knechtes Jehovahs aufs vollkommenste erfüllt? Welch höhere Ehre können wir jüngeren Brüder begehren, als dass wir dem, der der Erbe über alles ist, ähnlich gemacht werden?
  Unterweise mich, lass mich einsichtig werden, dass ich erkenne deine Zeugnisse. In dem vorhergehenden Vers hatte er Belehrung erbeten; hier geht er noch weiter und fleht um Einsicht. Gewöhnlich findet ja der Schüler, wenn der Lehrer die Belehrung darbietet, schon von selber das Verständnis; in geistlichen Dingen aber sind wir viel abhängiger und müssen uns ebenso wie die Belehrung auch die Einsicht erbitten, und eben diese kann ein menschlicher Lehrer nicht geben. Darum ist es doppelt gut, dass unser göttlicher Lehrer sie uns darreichen kann. Wir haben nur unsere Torheit zu bekennen, so wird uns der HERR Weisheit sowohl wie auch Wissen geben. Das beste Wissen und Verstehen ist das, welches uns geschickt macht zu völligem, unbedingtem Gehorsam, zu überzeugtem, bewusstem Glauben. Das ist’s auch, was der Psalmist begehrt: Unterweisung, um Gottes Zeugnisse zu erkennen. Manche Menschen möchten solche Dinge lieber nicht wissen; sie ziehen es vor, im gemächlichen Halbdunkel der Unwissenheit zu bleiben, statt sich von dem Lichte bescheinen zu lassen, das sie zur Buße und zu ernstem Fleiße und Wachsamkeit treiben würde. Der Knecht Gottes aber hat ein Verlangen, alles, was der HERR über den Menschen und für den Menschen geoffenbart hat, in verständnisvoller Weise zu erkennen; er wünscht so unterrichtet zu werden, dass er das, was ihm gelehrt wird, auch erfasse und verstehe. Ein Knecht darf in Bezug auf seinen Herrn und dessen Angelegenheiten nicht unwissend sein; er muss die Denkweise, den Willen, die Absichten und Ziele dessen, dem er dient, zu erkennen suchen, denn nur dann kann er seine Pflichten recht erfüllen. Und da doch niemand diese Dinge besser weiß als sein Herr selbst, so sollte er sich recht oft an ihn wenden, um Unterweisung bittend; es möchte sich sonst herausstellen, dass er gerade, je eifriger er ist, desto ärgere Missgriffe macht.
  Beachten wir genau, dass die Bitte des Psalmisten nicht darauf geht, durch Mitteilung von Wissen zu Einsicht zu gelangen, sondern dass er sich als erstes vom HERRN die Gnadengabe der Einsicht erbittet und erst auf Grund davon rechte Kenntnisse im Gesetz des HERRN zu erlangen hofft. Alles, was wir wissen, ohne dass wir das rechte innere Verständnis haben, ist geeignet, uns zu verbilden, uns eitel und eingebildet zu machen; besitzen wir hingegen als erstes ein verständiges Herz, dann bereichern die Schätze des Wissens wirklich unser Inneres, ohne, wie es sonst bei dem Reichtum, auch dem geistigen, der Fall ist, uns zu schaden und mit Sorgen zu beschweren. Ja, durch diese Gabe des Verständnisses bekommen wir ein richtiges Urteilsvermögen, wodurch wir bewahrt werden, uns falsches, gefährliches Wissen anzueignen; wir lernen erkennen, was wahrhaft Zeugnisse des HERRN sind und was nicht, lernen auch auf religiösem Gebiet das Echte von seinen Nachahmungen und Entstellungen unterscheiden.

126. Es ist Zeit, dass der HERR dazu tue; sie haben dein Gesetz zerrissen (gebrochen, aufgehoben). Der Psalmist war ein Knecht, ein Leibeigener seines himmlischen Herrn, darum war es für ihn immer Arbeitszeit; aber angesichts des gottlosen Tuns der Menschen empfindet er die Notwendigkeit, dass auch sein Herr selbst eingreife. Darum ruft er ihn auf, gegen das Wirken der Bösen einzuschreiten. Die Menschen "zerreißen" Gottes Gesetz, indem sie leugnen, dass es Gottes Gesetz sei, indem sie Gebote und Lehren aufstellen und verbreiten, die mit ihm im Widerspruch stehen, indem sie menschliche Überlieferungen an seine Stelle setzen oder indem sie das Ansehen und die Macht des Gesetzgebers verachten und verspotten. Dann gewinnt die Sünde Macht, die Frechheit gibt den Ton an bei Alten und Jungen, Vornehmen und Geringen, und ein heiliger Wandel gilt als altmodische Strenge; das Laster heißt unschuldiges Vergnügen, und die Eitelkeit führt den Reigen an. Dann seufzen die Heiligen nach der Erfahrung der Gegenwart Gottes und seiner Macht. Ach, wenn er doch nur eine Stunde lang sich offenbaren wollte als König, der mit der eisernen Rute Ordnung schafft! Ach, dass ein zweites Pfingsten käme mit all seinen Wundern, so dass Gottes gewaltige Kraft sich erwiese gegenüber allen, die ihn leugnen und bekämpfen, und sie sehen müssten, dass ein Gott ist in Israel! Wenn die Not am größten, sei es äußere Not oder die der Sünde, dann ist Gottes Stunde gekommen, seine Herrlichkeit zu enthüllen. Als die Erde wüst und leer war, da kam der Geist Gottes und schwebte über dem Gewässer; und er sollte nicht wiederkommen, da die Menschheit sich wieder in Unordnung und Wirrwarr aufzulösen im Begriff ist? Als es mit Israel in Ägypten zum äußersten gekommen war und es den Anschein hatte, als wäre der Bund, den Gott mit Abraham geschlossen, zerrissen, da erschien Mose und wirkte gewaltige Wunder und Zeichen. Und so dürfen auch wir, wenn die Gemeinde Gottes mit Füßen getreten und ihre Botschaft an die Menschen verhöhnt und verlacht wird, darauf warten, dass der HERR seine Hand ausstrecke (Apg. 4,30), um die Wahrheit zu verteidigen und zu schützen, wahre Gottesfurcht und Frömmigkeit wieder aufleben zu lassen und seinen göttlichen Namen zu Ehren zu bringen und zu verherrlichen. Das Eingreifen des HERRN kann geschehen entweder in Gerichten, durch die er die Bollwerke der Feinde zerschmettert, oder in Offenbarungen seiner Gnade, indem er die Gemeinde neu belebt, die Mauern Jerusalems wieder erbaut. Wir dürfen dringend zum HERRN flehen, dass er noch viele Männer erwecke, "die in der Kraft Evangelisten seien", und dass er diejenigen, die bereits in der seligen Arbeit stehen, mit neuem Zeugenmut und stets frischer Zeugenkraft ausrüste, ja dass er seine ganze Gemeinde in heiligem Feuer entbrennen lasse und alle Welt dem König mit der Dornenkrone zu Füßen bringe. Gottes Wirken ist immer erhaben und anbetungswürdig; was wir tun, das hat nur Wert, sofern es in ihm, mit ihm und durch ihn geschieht.

127. Darum liebe ich dein Gebot über Gold und über feines Gold. War es für den HERRN an der Zeit zu handeln, so drängte die böse Zeit anderseits den Psalmisten dazu, seine Liebe zu Gott zu vertiefen und sie mehr denn je zu bekennen und zu betätigen. Statt dass er sich durch das Beispiel der Gottlosen hätte verführen lassen, die Heilige Schrift gering zu schätzen, entbrannte er vielmehr in umso heftigerer Liebe zum göttlichen Worte. Da er sehen musste, wie die Gottlosen die Ordnungen des Höchsten missachteten und mit Füßen traten, empfand er tief, dass er auf Gottes Seite stand, also Gottes Sache seine Sache war, und die innige Liebe zu Gottes heiligen Geboten loderte in seinem Herzen hell auf. Daran eben erkennt man den echten Gläubigen, dass er mit seiner Frömmigkeit nicht von andern abhängt, sondern frisches Wasser aus dem eigenen Born schöpft, der nicht versiegt, auch wenn alle Zisternen auf Erden austrocknen. Gerade da er sich rings von Verachtung des göttlichen Gesetzes umgeben sieht, fühlt der heilige Sänger seine eigene Wertschätzung desselben in so hohem Grad wachsen, dass ihn Gold und Silber dagegen gering dünken. Der Reichtum bietet ja so vielerlei Annehmlichkeiten, dass die Menschen ihn naturgemäß hoch schätzen, und das Gold, das Wahrzeichen des Reichtums, ist allbeliebt; aber nach dem Urteil des Weisen sind Gottes Gebote größere Schätze und gewähren edleren Genuss und besseren Trost als die köstlichsten Reichtümer. Der Psalmist durfte sich nicht rühmen, immer die Gebote gehalten zu haben; das aber wagte er frei zu sagen, dass er sie lieb habe. Sein Herz war rechtschaffen mit dem HERRN, seinem Gott (1. Könige 8,61), und wie gerne wäre er auch in seinem Wandel vollkommen gewesen. Gottes heilige Gebote galten ihm mehr als das Wertvollste, was die Erde bietet, ja mehr als das Auserlesenste vom Auserlesenen. Und in dieser Wertschätzung des Göttlichen wurde er bestärkt und sie mannhaft zu bezeugen wurde er getrieben gerade durch den Widerstreit der Welt, der die Heuchler veranlasst, den HERRN und seine Wege zu verlassen.

  HERR, dein Wort, die edle Gabe,
  Diesen Schatz erhalte mir;
  Denn ich zieh’ es aller Habe
  Und dem größten Reichtum für.
  Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten,
  Worauf soll der Glaube ruhn?
  Mir ist’s nicht um tausend Welten,
  Aber um dein Wort zu tun!

   (N. L. v. Zinzendorf.)

128. Darum halte ich stracks (d. i. fest und entschieden, ohne Umschweife und Abweichung) alle deine Befehle. Andere nehmen das Zeitwort in der Bedeutung: für recht erkennen und bekennen, in Bekenntnis und Tat für recht erklären (Delitzsch), wie z. B. Stier übersetzt: Darum halte ich für recht alle Befehle in allem.1 Dass die ungöttlich Gesinnten an Gottes Befehlen allerlei auszusetzen fanden, das bestärkte den Psalmisten nur umso mehr in der Überzeugung, dass diese recht seien. Der Tadel der Gottlosen ist ein Zeugnis für die Trefflichkeit einer Person oder Sache. Was jene gutheißen, das muss uns schon darum verdächtig erscheinen; was sie verwerfen, das dürfen wir mit ganzer Liebe umfassen. Des Frommen Wohlgefallen an Gottes Gesetz ist uneingeschränkt; er glaubt, dass alle Anordnungen Gottes, mögen sie sich auf was immer beziehen, richtig sind.
  Ich hasse allen falschen Weg. Die Liebe zur Wahrheit erzeugte in ihm Hass gegen die Lüge. Dieser Gottesmann wollte nichts wissen von lauer Gleichgültigkeit; was er nicht lieben konnte, das hasste er. Er war entweder ein warmer Freund oder ein bitterer Feind, und er machte aus seinen Gefühlen kein Hehl. Er war kein Gallion, den die Fragen von Lehre und Gesetz kalt ließen
(Apg. 18,15). Sein Abscheu gegen Irrtum und Lüge war so unbegrenzt wie seine Bewunderung und Liebe der Wahrheit. Was irgend das Licht der Wahrheit zu scheuen hatte, dafür hatte er keine Schonung. Die Tatsache, dass solch große Haufen den breiten Weg erwählten, hatte auf sein Verhalten nur den Einfluss, dass es ihn noch entschlossener machte, den Irrtum und die Sünde in jeglicher Gestalt zu meiden. O dass der Heilige Geist auch in unseren Herzen so die Herrschaft gewinne, dass unsere Neigungen sich ebenso entschieden und völlig den Ordnungen der Heiligen Schrift zuwenden!


V. 121-128. Das achtfache ..( 2: In der gegenwärtigen Zeit des Abfalls und der Verfolgung hält er sich umso strenger an die Richtschnur des göttlichen Wortes und befiehlt sich der Beschirmung und Belehrung Gottes.

121. Erfüllt hab’ ich Recht und Gerechtigkeit,
Nicht überlassen wirst du mich meinen Bedrückern.
122. Eintritt für deinen Knecht zum Guten,
Nicht mögen bedrücken mich Übermütige.
123. Es schmachten meine Augen nach deinem Heile
Und nach der Zusage deiner Gerechtigkeit.
124. Erweis’ dich an deinem Knecht nach deiner Gnade,
Und deine Satzungen lehre mich.
125. Ein Knecht dir bin ich, gib mir Verstand,
Dass ich erkenne deine Zeugnisse.
126. Einzugreifen für Jahve ist an der Zeit;
Sie haben verungültigt dein Gesetz.
127. Ebendeshalb hab’ ich lieb deine Gebote
Mehr als Gold und als Feingold.
128. Ebendeshalb heiß’ ich gut alle deine Anordnungen,
Allen Lügenpfad hass’ ich.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V.121. Ich habe Recht und Gerechtigkeit geübt. (Grundtext) Hier tritt uns David in seiner Eigenschaft als Richter vor Augen. Er blickt dabei auf ein langes Leben mit reichen Erfahrungen zurück. Wenn alle Herrscher am Ende ihrer Regierung ein solches Bekenntnis vor Gottes Angesicht aussprechen dürften, welch tröstliches, köstliches Bewusstsein wäre das. Und es sollte so sein, denn ihm werden sie schließlich alle Rechenschaft geben müssen. Wenn wir jedoch den Psalmisten hier auch nur als Privatmann so redend denken, so ändert das wenig an der Sache. Wohl dem Manne, der als Vater also sprechen darf im Blick auf seine Kinder, als Herr im Blick auf seine Knechte, als Mensch im Blick auf seinen Nächsten. John Stephen 1861.
  Recht und Gerechtigkeit. Sonst heißt es immer "zedek und mischpat", hier einmal "mischpat und zedek". Mischpat ist das über die jeweilige Zeitgestalt erhabene, sich immer gleiche prinzipielle Recht, und zedek die dieses Recht in tatsächliche Wahrheit und Wirklichkeit umsetzende Gerechtigkeit. Nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  So uns unser Herz nicht verdammt, so haben wir eine Freudigkeit zu Gott (1. Joh. 3,21). Dieses Zeugnis des Gewissens ist oft der Ruhm der Männer Gottes gewesen (vergl.
2. Kor. 1,12), wenn sie unter ungerechten Vorwürfen oder den Gewalttaten der Stolzen (V. 122) zu leiden hatten. Da durften sie solches vor dem Herzenskündiger geltend machen, ohne fürchten zu müssen, damit lästerlich zu reden. Wir sind vielleicht in Gefahr, es uns nicht genügend zum Bewusstsein kommen zu lassen, wie wichtig die sittliche Reinheit für unser geistliches Wohlergehen ist. Welche Freimut gab sie dem Psalmisten beim Beten! Siehe die zweite Vershälfte. Charles Bridges † 1869.


V. 122. Vertritt du deinen Knecht. HERR, du weißt, wie unrecht ich verleumdet und geschmäht werde, bei vielen Gelegenheiten, wo ich nicht zugegen bin oder aus anderen Ursachen nicht imstande bin, mich zu verteidigen. HERR, da tritt du für mich ein! W. Cowper † 1619.
  Das scharfe Auge der Welt mag vielleicht nicht imstande sein, irgendwelche Flecken am Kleide meiner Gerechtigkeit zu entdecken; aber so du, HERR, willst Sünde zurechnen, HERR, wer wird bestehen? Wohl mag ich mich darauf gefasst machen, denen übergeben zu werden, die mir wollen Gewalt antun, bis ich bezahlt habe alles, was ich meinem Herrn schuldig bin. Aber siehe, wo bleibt der Grimm des Wüterichs (Jes. 51,13)? Die Schuld ist bezahlt, die Zahlung ist angenommen, der Sünder ist frei. Eine Stimme erschallt im Himmel: "Erlöse ihn, dass er nicht hinunterfahre ins Verderben; denn ich habe eine Versöhnung gefunden" (Hiob 33,24). Der Sohn Gottes selbst ward Bürge für den anderen, und er hatte den Schaden davon (Spr. 11,15). Um ein mehr denn köstliches Lösegeld, das Lösegeld seines eigenen teuren Blutes, befreite er mich von denen, die mir wollten Gewalt antun: Sünde, Satan, Welt, Tod, Hölle. Vergl. Röm. 8, 31-34. Charles Bridges † 1869.


V. 123. Meine Augen sehnen sich nach deinem Heil. In Zeiten schweren Kummers, wenn das Herz von Sorgen bedrückt ist, wenn ringsum Gefahren drohen, dann finden diese Kümmernisse und Ängste der Seele ihren beredten Ausdruck in der Sprache des Auges. Der Psalmist sieht sich von gefährlichen Feinden umgeben, und im Gefühl seiner eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit zum Kampfe mit jenen schaut er voller Sehnsucht und Verlangen aus, ob der treue, starke Freund nicht bald erscheine, der ihm seine Hilfe für die Stunde der Not zugesagt hat. Und da der Freund mit seinem Kommen verzieht, so wächst seine Angst, und seine Augen werden trübe, sie versagen den Dienst vor lauter Spähen nach dem Retter. Nur vom Himmel her kann er Hilfe erwarten. Er hält sich an Gottes Verheißungen, und während er auf ihre Erfüllung wartet und sich mit voller Zuversicht auf das Wort von Gottes Gerechtigkeit verlässt, bricht er doch in den Ruf aus: Meine Augen sehnen sich verzehrend nach deinem Heil. Mit solchem aufrichtigen und sehnsüchtigen Heilsverlangen ist der Sieg über alle geistlichen Feinde gewiss, und wir werden am Ende den großen Namen unseres allmächtigen Helfers und Erretters durch alle Ewigkeiten triumphierend verkünden. John Morison 1829.


V. 124. Handle mit deinem Knechte nach deiner Gnade. Wenn ich auch ein Knecht des HERRN bin, so kann ich mich auf meine Dienste vor ihm doch nur auf Grund seiner Gnade berufen, in dem Bewusstsein, dass ich auch für die besten meiner Taten immer noch ein unendliches Maß von vergebender, erlösender Gnade bedarf; doch im Hinblick auf Jesu Blut kann ich kühn diese Forderung aussprechen: Handle mit deinem Knechte nach deiner Gnade. Charles Bridges † 1869.
  Handle mit deinem Knechte nach deiner Gnade. Jahraus, jahrein, jeden Tag und jede Stunde erfahren wir viel Güte Gottes; sowohl wenn wir schlafen als auch wenn wir wachen waltet seine Gnade über uns. Die Sonne mag aufhören zu scheinen, nie aber wird unser Gott aufhören, seine Kinder mit seiner Liebe zu erquicken. Gleich einem Strom fließt seine Gnade immerdar mit einer Fülle, die so unerschöpflich ist wie sein innerstes Wesen, aus dem sie entspringt. Gleich der Luft, die die Erde immer umgibt und stets bereit ist, das Leben der Menschen zu erhalten, umgibt die Güte Gottes alle seine Geschöpfe; in ihr als ihrem Element leben und weben und sind sie. Doch gleichwie die Sonne an Sommertagen uns mit wärmeren und helleren Strahlen zu leuchten scheint als zu anderen Zeiten, wie die Flüsse zu gewissen Jahreszeiten vom Regen anschwellen und wie die uns umgebende Luft manchmal frischer, stärkender oder milder, erquickender uns anweht als zuvor, so ist es mit der Gnade Gottes; sie hat auch ihre Stunden goldig heitern Lichtes, ihre Tage des Überströmens, wo der HERR seine Güte besonders groß und herrlich erweist und seine Liebe vor den Menschenkindern überschwänglich kundtut. C. H. Spurgeon 1882.
  Und lehre mich. David hatte seine Propheten, Nathan und Gad, daneben noch die Priester und schriftkundigen Leviten, um ihn zu unterweisen. Er las emsig im Worte Gottes und sann nach über dem Gesetze Tag und Nacht. Aber er muss bekennen, dass dies alles nichts fruchtet, wenn der HERR selbst ihn nicht unterweist. Andere Lehrer sprechen zum Ohre, Gott zum Herzen. So predigte Paulus der Lydia, aber der HERR tat ihr das Herz auf. Bitten wir auch um diese Gnade. William Cowper † 1619.


V. 126. Es ist Zeit, dass der HERR dazu tue. Zu jeder Zeit hat die Gemeinde Gottes des persönlichen Eingreifens ihres Gottes bedurft und sich danach gesehnt, danach gerufen. Ohne dieses persönliche Wirken Gottes müsste die Gemeinde dem gänzlichen Verderben verfallen. Größer ist die Welt als die Kirche ohne Gott; ist aber Gott bei ihr, dann vermag alle Welt nichts gegen sie. Gott stehe ihr bei, und das in einer Kürze. - Aber wenn er sich aufmacht, so wissen wir noch nicht, in welcher Weise er wirksam sein will. Er wirkt nach seinem eigenen Rat und Willen. Wenn der HERR einmal erwacht und sich umgürtet mit seiner Stärke, wer weiß, ob dann sein Eingreifen beschränkt bleibt auf ein mächtiges Erwecken des geistlichen Lebens seiner Gemeine, ob es nicht vielmehr zu gottgefügten Stürmen und Umwälzungen kommt, die das Herz der Weltkinder mit Furcht und Schrecken erfüllen. Das unsichtbare Gottesreich steht in engen Beziehungen zu der sichtbaren und greifbaren körperlichen Welt, zur menschlichen Gesellschaft, zum Völkerleben. Und es hat Zeiten gegeben, da Gottes Eingreifen sich äußerte in gewaltsamen Erschütterungen, im Aufruhr ganzer Geschlechter, im Sturz gewaltiger Throne, in der Befreiung von Völkern, die lange unter hartem Drucke schmachteten. Zu anderen Zeiten hat er seine Kraft geoffenbart in allerlei Naturerscheinungen, in Frost und Hagel, Feuers- und Wassersnot, Erdbeben, Pestilenz und teurer Zeit. Diese alle sind seine Diener, die seinen Willen ausrichten. Wenn aber solch ein Tag des HERRN kommt, so lasset uns nicht verwundert sein, wenn der Tag des HERRN Zebaoth geht über alles Hoffärtige und Hohe und über alles Erhabene, dass es erniedrigt werde, auch über alle hohen und erhabenen Zedern auf dem Libanon und über alle Eichen in Basan, über alle hohen Berge und über alle erhabenen Hügel, über alle hohen Türme und über alle festen Mauern, über alle Schiffe im Meer und über alle köstliche Arbeit, dass sich bücken muss alle Höhe der Menschen und demütigen, die hohe Männer sind, und der HERR allein hoch sei zu der Zeit (Jes. 2,12-17). Dieses Eingreifen Gottes äußert sich jedoch in mancher anderen Weise. Wenn die Gemeinde erfüllt ist vom lebendigen Glauben an ihr Bekenntnis, sofern dieses auf das Wort Gottes gegründet ist, von ihm bestätigt und verbürgt wird, ist dies etwa kein "Dazutun" des HERRN? Aber glaubt auch die Kirche wirklich mit dem Herzen, was sie mit dem Munde bekennt in Wort und Schrift, in Predigt und Gesang und Liturgie? Sind nicht die Wahrheiten, welche den Inhalt ihres Glaubensbekenntnisses bilden, vielen zu bloßen Überlieferungen geworden ohne lebendige Kraft, zu Sätzen, deren altehrwürdige Form ihnen nur noch um ihres geschichtlichen Wertes willen heilig ist, während sie ganz vergessen haben, dass Wahrheiten unvergänglich sind, dass das, was für unsere Väter lebendige Wahrheit war, es auch heute noch ist? Die Wahrheit hat mit dem Wandel der Zeiten nichts zu schaffen, sie ist unabhängig vom Glauben oder Unglauben der Welt, von dem Eifer oder der Gleichgültigkeit in der Kirche, denn sie ist ein Ausfluss des göttlichen Wesens. Von ihr gilt, was die Kirche von dem Herrn der Kirche bekennt: Jesus Christus, gestern und heute und derselbe in Ewigkeit. Enoch Mellor † 1881.
  Es ist Zeit, dass der HERR dazu tue. Wie du in Zeiten der Krankheit, wenn das Fieber zugenommen hat und der Zustand des Kranken bedenklich geworden ist, zum Arzt eilst, damit er nur schnell komme und es nicht zu spät sei, um etwas dagegen zu tun, ebenso tut auch der Prophet hier. Da er den Abfall des Volkes sieht, läuft er und sucht Hilfe beim HERRN, von dem er weiß, dass er allein etwas gegen den Schaden vermag; er bittet ihn, sofort zu kommen, und will keinen Verzug gelten lassen. Ambrosius † 397.
  Freilich dürfen wir dir, o HERR, die Zeit zum Eingreifen und Handeln nicht vorschreiben. Auch sind wir nicht so vermessen, in deine geheime Ratskammer eindringen zu wollen, um die Zeiten und Stunden zu wissen, die du, o Vater, deiner Macht vorbehalten hast. Doch hat dein Sohn uns gemahnt, dass wir, die wir das Aussehen des Himmels zu beurteilen verstehen, auch über die Zeichen der Zeit urteilen sollen. Wir wissen wohl, dass du bist ein Gott, barmherzig und huldvoll, langsam zum Zorn und groß von Gnade, und dass du viel Unrecht der Menschen erträgst und lange zu ihren Übeltaten schweigst. Aber wenn sie gar nicht davon ablassen wollen und des Sündigens immer mehr machen, wenn die Sünde frech wird und keine Scham mehr kennt, wenn die Schuld ins Ungeheuerliche anschwillt und die Freveltaten immer lauter nach Rache schreien, dann ziehst du dein Schwert und spannst den Bogen, denn dann ist es Zeit, dass du, HERR, dreinfahrest. Und ist das Maß unserer Sünden nicht schon voll bis zum Überlaufen? Ja, die Frucht ist reif, überreif, sie ruft nach der Sense. George Webbe 1610.
  Sie haben dein Gesetz zerrissen, zunichte gemacht. In V. 122 klagt der Psalmist darüber, dass die Stolzen ihm Gewalt antun wollen; jetzt klagt er, dass sie Gottes Gesetz zerstören. Davids Feinde sind also solche, die auch Gottes Feinde sind und sein Gesetz zu zerreißen trachten. Darin liegt etwas sehr Tröstliches für uns, dass wir, wenn wir den HERRN lieben und in Aufrichtigkeit darauf bedacht sind, ihm zu dienen, keine andern Feinde haben können, als die auch Gottes Feinde sind. Will. Cowper † 1619.
  Nicht nur, dass sie das Gesetz brechen, indem sie es übertreten, sondern sie wollen es ganz und gar zerbrechen, nicht nur sich selbst vom Gehorsam dagegen lossagen, sondern es aus der Welt schaffen; sie möchten Gottes heilige Offenbarungen vernichten, damit ihr eigenes böses Tun unangefochten bleibe. Damit das Gesetz nicht Macht über sie habe, sie zu strafen, so leugnen sie seine Macht überhaupt. Das ist der volle Sinn des hier gebrauchten Ausdruckes; ihre Sünde ist Hochverrat an Gott und seinem Gesetz. Jos. Caryl † 1673.


V. 128. Darum halte ich stracks alle deine Befehle. Einen jeden einzelnen, so schwer er sein mag; ein jedes Gebot, jede Vorschrift, jede Aufforderung, so hart, so widerwärtig, so gegen die Natur sie mir auch erscheinen mag. "Haue deine rechte Hand ab, reiß dein rechtes Auge aus, gehe aus von deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause, nimm dein Kreuz auf dich täglich, stündlich, verkaufe, was du hast." Ja, HERR, das ist’s, was du forderst; alle deine Gebote sind richtig, sie müssen alle gehalten werden. Und welche Gnade für einen Menschen, wenn er so weit gekommen ist, das von sich sagen zu können und darin Trost und Glück zu finden. Barton Bouchier † 1865.
  Der Gottesfürchtige legt an all sein Tun den einzig richtigen Maßstab. Weltklugheit kann ihn nicht vom rechten Wege abbringen, die verkehrte Weise der anderen beeinflusst ihn nicht, er richtet sich einzig nach Gottes heiligem Worte. Darum hegt er auch die gleiche Achtung vor allen göttlichen Vorschriften, er geht allem Bösen aus dem Wege, er tut alles Rechte ohne Ausnahme, er hält stracks alle Befehle Gottes, denn sie gelten ihm alle für heilig, recht und gut. Darum ist er auch überall und immer derselbe, weil er bei allen Gelegenheiten sich immer nur nach einer Regel richtet. Abr. Wright † 1690.
  Ich hasse allen falschen Weg. Wer das Gute so recht von Herzen liebt, muss ebenso sehr auch das Böse hassen. Diese beiden Gefühle, weit davon entfernt, unverträglich zu sein, gehören vielmehr enge zusammen, sie bedingen sich geradezu gegenseitig. John W. Haley 1875.
  Allen falschen Weg. Wenn Satan dich bei irgendeiner einzelnen Sünde gepackt hat, so reicht das schon völlig aus, dich ins Verderben zu ziehen. Wie der Metzger die Tiere zur Schlachtbank bringt, bald an allen Vieren gefesselt, bald nur an einem Gliede festgebunden, so macht es auch der Satan. Wenn du auch nicht ein Sklave aller Sünden bist, sondern nur einer einzigen, so genügt der Strick, mit dem er dich an jener einen festhält, um dich zu seinem Sklaven zu machen. William Cowper † 1619.
 


1. So sucht Stier den zum mindesten höchst auffälligen masoretischen Text, der an Jes. 44,30 nur scheinbar eine Stütze hat, zu übersetzen. Gewöhnlich setzt man mit Luther nach LXX statt des zweiten lk das hier unentbehrlich scheinende Suff. Kf: deine Befehle.

2. Unsere indogermanischen Sprachen haben bekanntlich keinen Laut, der diesem semitischen Kehllaut entspricht, dessen härtere und weichere Aussprache überdies beträchtlich verschieden sind. - James Millard


129. Deine Zeugnisse sind wunderbar;
darum hält sie meine Seele.
130. Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es
und macht klug die Einfältigen.
131. Ich sperre meinen Mund auf und lechze nach deinen Geboten;
denn mich verlangt danach.
132. Wende dich zu mir und sei mir gnädig,
wie du pflegst zu tun denen, die deinen Namen lieben.
133. Lass meinen Gang gewiss sein in deinem Wort
und lass kein Unrecht über mich herrschen.
134. Erlöse mich von der Menschen Frevel,
so will ich halten deine Befehle.
135. Lass dein Antlitz leuchten über deinen Knecht
und lehre mich deine Rechte.
136. Meine Augen fließen mit Wasser,
dass man dein Gesetz nicht hält.


129. Deine Zeugnisse sind wunderbar - voll wunderbarer Offenbarungen, Gebote und Verheißungen. Sie sind wunderbar ihrer Natur nach, denn sie sind frei von allem Irrtum und tragen in sich ein überwältigendes Zeugnis ihrer Wahrheit; und wunderbar sind sie in ihren Wirkungen auf die Seele, diese unterweisend, erhebend, stärkend und tröstend. Jesus, das ewige Wort, heißt Wunderbar, und alle Worte aus Gottes Munde sind, wenn auch in verschiedenem Maße, wunderbar. Gerade diejenigen, die sie am besten kennen, finden sie am wunderbarsten. Ist es schon erstaunlich, dass Gott überhaupt zu sündigen Menschen geredet, ihnen seinen Rat geoffenbart hat, so staunen wir noch viel mehr, wenn wir erwägen, welcher Art diese heiligen Bezeugungen seines Willens sind, wie klar, wie inhaltsreich, wie voller Gnade und Kraft. Darum hält (oder beachtet, betrachtet mit liebender, eindringender Aufmerksamkeit) sie meine Seele. Das Wunderbare an ihnen machte so tiefen Eindruck auf den Psalmisten, dass er die Zeugnisse fest in dem Gedächtnis behielt, und ihre Erhabenheit entzückte sein Herz so, dass er sie zur Richtschnur seines Lebens machte. Manche Menschen führt die Verwunderung über das Wort Gottes nur zu unfruchtbarem Grübeln und spitzfindigen Lehrstreitigkeiten; des Psalmisten Theologie hingegen beeinflusste mächtig seinen Wandel: je wunderbarer ihm Gottes Zeugnisse wurden, desto eifriger ward sein Gehorsam. Seine Frömmigkeit war ganz Herzenssache; nicht mit Kopf und Hand nur, mit dem Gedächtnis und dem äußerlichen Tun hielt er Gottes Zeugnisse, sondern seine Seele, das beste und eigentliche Stück seines Selbst, klammerte sich an sie.

130. Meist wird der Anfang dieses Verses übersetzt: Die Eröffnung (Erschließung, Offenbarung) deiner Worte erleuchtet. Dass der Mensch das Bibelbuch öffnet, um darin zu lesen und zu forschen, genügt nicht; Gott selbst muss uns die Tür zur Schrift auftun, uns die Geheimnisse seiner Worte erschließen. Dann wird es hell in der Seele. Dem natürlichen Menschen aber ist die Tür des Wortes verschlossen, mag er noch so hoch gelehrt sein, ja mag er so fromm sein wie einst Bruder Martinus. Und macht klug die Einfältigen. Gemüter, die für die Wahrheit offenstehen, sind die rechten Schüler des Worts. Ihnen verleiht es nicht nur Wissen, sondern Verständigkeit. Die Welt verachtet nur zu gerne diese einfältigen Herzen und gibt sie, indem sie ihrer Einfalt die üble Nebenbedeutung des Wortes unterschiebt, dem Gespötte preis. Aber was tut’s? Die vor der Welt als Toren gelten, das sind dennoch die wahrhaft Klugen und Weisen, wenn sie von Gott gelehrt sind. Welch wunderbare Kraft hat doch das göttliche Wort, da es nicht nur Licht ausstrahlt, sondern uns auch das rechte geistige Auge verleiht, das allein das Licht zu sehen vermag: "es macht klug". Darin liegt sein großer Wert für die Einfältigen, die die Geheimnisse Gottes nicht in sich aufnehmen können, wenn ihre Sinne nicht erleuchtet werden, sie zu sehen, und ihr geistiges Fassungsvermögen nicht dazu zubereitet wird, sie zu ergreifen.

131. Ich sperre meinen Mund auf und lechze. (Grundtext) So heftig ist sein Verlangen, dass er sogar zu einem Bilde aus der Tierwelt greift, um es recht ausdrucksvoll zu beschreiben. Wie ein Hirsch, dem die Meute unablässig auf den Fersen ist, nach Luft schnappt, so lechzt der Psalmist nach Erquickung seiner Seele durch das göttliche Wort. Nichts sonst vermochte sein Sehnen zu befriedigen. Alles, was die Welt ihm bieten konnte, vermochte sein Lechzen nicht zu stillen. Denn mich verlangt nach deinen Geboten. Ich begehre sie zu kennen, begehre ihnen zu gehorchen, begehre ihrem Sinn und Geiste ähnlich zu werden. Er war ein Knecht Gottes, und seine Dienstwilligkeit verlangte danach, Befehle zu empfangen; er war ein Schüler in der Schule des Geistes Gottes, und sein Lerneifer begehrte nach Unterweisung vom HERRN.

132. Wende dich zu mir. Ein Gotteskind kann nicht lange ohne Gebet sein. In den vorhergehenden Versen hatte der Psalmdichter seiner Liebe zu Gottes Wort Ausdruck gegeben; nun finden wir ihn wieder auf den Knien. Sein Gebet ist ganz kurz und doch kräftig. Mitten in dem tiefen Sehnen seines Herzens nach Labung durch Gottes Wort blickt er flehend zum Himmel auf, der HERR möge sich doch gnädig zu ihm kehren und sein Schmachten, seine unausgesprochenen Bitten, seine Seufzer zu seinem Herzen reden lassen. HERR, gedenke an mich und sei mir gnädig! Als Jesus sich wandte und Petrus ansah, o welch ein Blick heiliger Gnade war das! Wenn der HERR sich nur als strenger Richter uns zuwendete, so würden seine Augen unseren Anblick gar nicht ertragen; aber er wendet sich zu uns in Gnade und Erbarmen, er sieht uns mit Vateraugen an, und wenn er uns schmachten und nach Gnade und Heil lechzen sieht, so kann er nicht anders, als uns seine Huld widerfahren lassen. Wie du pflegst zu tun denen, die deinen Namen lieben. HERR, wende dich zu mir mit jenem Blick der Liebe, den du denen schenkst, die dich lieben; sei mir gnädig, wie es deine Art ist, denen gnädig zu sein, die dir in Treue dienen. Gott hat eine bestimmte Handlungsweise, die er denen gegenüber beobachtet, die ihn lieben, und der Psalmist begehrt sehnlich, eben dieselbe Behandlung zu erfahren. Er verlangt nichts anderes für sich, weder Besseres noch Geringeres, als was der HERR allen den Seinen zuteilwerden lässt - Geringeres konnte ihm nicht helfen, Besseres war undenkbar. Ich bin dein Knecht; so handle an mir, wie du an deinen Knechten zu handeln gewohnt bist. Ich bin dein Kind, so halte mich als deinen Sohn! Der Grundtext, der zu übersetzen ist: "nach dem Recht derer, die deinen Namen lieben", enthält diese Gedanken in noch klarerer und köstlicherer Weise. Ja, diejenigen, die den Namen des HERRN, d. i., wie Hengstenberg es ausdrückt, Gott in seiner geschichtlichen Herrlichkeit, lieben, die haben ein Recht auf die Erweisungen der göttlichen Gnade; Gott selber hat ihnen durch das Bundesverhältnis, in das er sie zu sich gesetzt hat, dies Recht gegeben.
  Und du, lieber Leser, liebst du den Namen des HERRN? Ist Gottes geoffenbartes Wesen in deinen Augen herrlich, deinem Herzen teuer? Sieh, das ist ein untrügliches Merkmal des Gnadenstandes; denn niemand hat je den HERRN wahrhaft geliebt, es sei denn in Kraft der Liebe, die er zuvor vom HERRN erfahren und empfangen.

133. Lass meinen Gang gewiss sein (wörtl.: Festige meine Schritte) in deinem Wort. Das ist eines der Vorrechte, auf welche die Auserwählten ein Anrecht haben. Er behütet die Füße seiner Heiligen (1. Samuel 2,9). Seine Kraft setzt uns in den Stand, unsere Füße Schritt für Schritt eben dahin zu setzen, wo sein Wort es vorschreibt. Die Bitte erfleht eine hohe Gnade, nämlich dass jede einzelne Handlung, jeder Schritt durch den Willen Gottes geordnet und regiert werde. Das kommt auf vollkommene Heiligkeit hinaus, und in der Tat kann das innerste Begehren des Gotteskindes mit nichts Geringerem als dieser Vollendung gestillt werden. Und lass kein Unrecht über mich herrschen. Das ist die Kehrseite, die Ausschließung alles dessen, was dem erbetenen Segen entgegensteht. Wir bitten um die Gnade, alles zu tun, was recht ist, und unter keinerlei Gewalt des Bösen zu kommen. Gott ist unser Fürst und Herrscher, und wir möchten, dass jeder Gedanke sogar seinem Willen untertan sei, nach seiner Denkweise sich richte. Wer ein Kind Gottes sein will, darf keine Lieblingssünde hegen, darf nichts Ungöttlichem eine Herrschaft über sich einräumen. Der wahre Gläubige lechzt nach völliger Freiheit von der Gewalt des Bösen, und da er wohl weiß, dass er diese nicht aus eigener Kraft erlangen kann, so fleht er zum HERRN.

134. Erlöse mich von der Menschen Bedrückung. (Grundtext) David hatte die ganze Bitterkeit dieses großen Übels durchkosten müssen. Die Bedrückung der Menschen hatte ihn in die Fremde getrieben, fern von der geliebten Heimat und dem noch mehr geliebten Heiligtum des HERRN; darum fleht er, davon errettet zu werden und fernerhin davon verschont zu bleiben. Man sagt, Gewalttat und Bedrückung könnten auch einen Weisen zum Wahnsinn treiben, und ohne Zweifel hat sie schon manchen Gerechten zu schwerem Fall gebracht. Unterdrückung ist sündig und führt in Sünde. Wir haben wenig Ahnung, wieviel von unserer sittlichen Kraft und Tugend wir der Freiheit, die wir genießen, zu verdanken haben; wären wir unter stolzen Tyrannen in Banden gewesen, es wäre wohl möglich, dass wir dem Druck nachgegeben hätten und jetzt statt mutiger Bekenner armselige Abtrünnige wären. Er, der uns gelehrt hat beten: führe uns nicht in Versuchung, wird auch die Bitte unseres Verses billigen, die jener so ähnlich ist, da ja unterdrückt werden versucht werden ist. So will ich halten deine Befehle. Wenn der Druck der frevelhaften Gewalt von ihm genommen sein wird, will er unbeirrt seinen Weg weiterwandeln, und dieser Weg werde der Weg des HERRN sein. Wiewohl wir uns durch die Drohungen der Menschen nicht sollten nachgiebig machen lassen, so geschieht das doch oft. Manche Frau wird durch den Mann gezwungen, gegen ihr Gewissen zu handeln; Kinder und Dienstboten, ja ganze Völker schon sind in die gleiche schwere Lage versetzt worden. Ihre Sünden werden dereinst zu einem großen Teil ihren Bedrückern zur Last gelegt werden, und der HERR stürzt oft schnell die Gewaltigen, welche andere zum Bösen nötigen. Das Schlimmste ist, dass manche Menschen, wenn der Druck der Machthaber von ihnen genommen ist, nun doch aus freien Stücken fortfahren, Unrecht zu tun. Damit beweisen sie, dass sie in der Wolle gefärbte Übeltäter sind. Den Gerechten hingegen geht es wie einst den Aposteln, von denen es heißt: Als man sie hatte lassen gehen, kamen sie zu den Ihren (Apg. 4, 23). Wenn die Heiligen vom Druck des Tyrannen befreit sind, huldigen sie mit Freuden ihrem König.

135. Lass dein Antlitz leuchten übe deinen Knecht. Die gewalttätigen Frevler drohen; du aber, o HERR, blicke mich freundlich an. Sie machen mein Leben dunkel, du aber leuchte hinein in die Finsternis, so wird alles licht und helle sein. Wieder spricht der Psalmist es aus, dass er Gottes Knecht ist, und er sucht von niemand Gunst als allein von ihm, seinem Herrn und Meister. Und lehre mich deine Rechte. Das ist die Gnade, die er begehrt, das meint er mit dem Leuchten des göttlichen Angesichts. Will der HERR sich ihm ganz besonders gnädig erzeigen, so weiß er nichts Besseres zu begehren, als dass er immer weiter noch in den Rechten des königlichen Herrn unterwiesen werde. Sieh, wie mächtig sein Verlangen nach Heiligung ist; dieses dünkt ihn das köstlichste aller Kleinode. Halten wir schon eine gute menschliche Erziehung für ein größeres Gut als Reichtum, so ist die göttliche Erziehung ein noch unvergleichlich wertvollerer Schatz. Und auch der schon reich begnadete Gläubige bedarf noch immer der Unterweisung vom HERRN; selbst wenn er in dem Lichte des göttlichen Angesichts wandelt, müssen ihn immerfort Gottes Rechte gelehrt werden, wenn er nicht doch noch irregehen soll.

136. Meine Augen fließen mit Wasser (wörtl.: Von Wasserbächen strömen meine Augen über), dass man dein Gesetz nicht hält. Er weint aus Liebe zu Gott, da er sehen muss, wie sein heiliges Gesetz schnöde verachtet und gebrochen wird. Er weint aus Mitleid mit den Menschen, die durch ihr frevelhaftes Tun Gottes Strafgerichte auf sich herabziehen. Sein Schmerz war so groß, dass er ihm kaum Luft schaffen konnte; nicht Tropfen, nein Ströme von Tränen stürzten ihm aus den Augen. Darin wurde er unserem Heiland ähnlich, der da weinte, als er die Stadt ansah, ja dem heiligen Gott selbst, der nicht Gefallen hat an dem Tode des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe. Der Blick, den dieser Vers uns in das Innere des Psalmisten tun lässt, enthüllt einen großen Fortschritt gegenüber allem, was wir bisher gelesen; der Psalm und der Psalmdichter, sie beide wachsen augenscheinlich an innerer Tiefe. Das ist ein gereifter Frommer, der Leid trägt um die Sünden anderer. In dem 120. Vers erschauerte sein Fleisch vor der Gegenwart des heiligen Gottes, hier zerschmilzt und zerfließt es in einer Flut von Tränen aus heiligem Kummer. Niemand wird so tief vom Göttlichen erfasst und bewegt wie diejenigen, denen das Wort Gottes ihr täglicher Umgang ist und die sich von ihm zu der Erkenntnis des wahren Wesens aller Dinge führen lassen. Die fleischlich gesinnten Menschen fürchten sich vor äußeren Gewalten und weinen über Verluste und Heimsuchungen; geistlich gesinnte hingegen werden von heiliger Furcht vor dem HERRN selbst erfasst und wehklagen vor allem darüber, wenn sie seinen heiligen Namen verachtet und verunehrt sehen.


V. 129-136. Das achtfache p (P oder Ph): Umso sehnsüchtiger verlangt er nach dem Lichte und der Speise des Wortes Gottes, je tiefer er sich über dessen Verächter betrübt.

129. Fernab von Alltäglichem sind deine Zeugnisse,
Darum nimmt sie meine Seele wahr.
130. Falten deine Worte sich auseinander, wird es helle,
Indem Einfältige Verstand gewinnen.
131. Fassungsbegierig tat ich weit den Mund auf,
Denn nach deinen Geboten verlang’ ich.
132. Füge dich zu mir und begnade mich,
Wie es recht ist gegen die Liebhaber deines Namens.
133. Festige meine Schritte durch dein Geheiß
Und lass nicht herrschen über mich etwelches Unheil.
134. Frei mache mich von Menschendrucke,
Und beobachten will ich deine Ordnungen.
135. Freudig lichte dein Antlitz deinem Knechte
Und lehre mich deine Satzungen.
136. Fluten von Wasser rinnen nieder meine Augen
Darob, dass man nicht beobachtet dein Gesetz.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890


V. 129. Deine Zeugnisse sind wunderbar. Die ganze Schrift ist ein Wunder. Entstanden stückweise, ein Buch nach dem andern, im Verlaufe von nicht weniger als anderthalb Jahrtausenden, in gar verschiedenen Entwicklungsstufen der Menschheit, bei Völkern verschiedener Zunge, geschrieben von Männern, sehr verschieden an Charakter, Temperament, Anlage und Bildung, von Gelehrten und Ungelehrten, Vornehmen und Geringen, Knechten und Freien, in den verschiedensten Formen, lehrhaft und erzählend, geschichtlich, prophetisch, allegorisch, poetisch, als Predigt oder Brief, kurz in allen nur denkbaren Formen sprachlicher Darstellungskunst, dabei die schwierigsten, entlegensten Gebiete des Denkens behandelnd, und trotz der vorhandenen Verschiedenheiten doch keine Widersprüche aufweisend, wie sie sonst unausbleiblich sind, wenn so verschiedene Verfasser sich nebeneinander äußern, sondern die erhabenste Harmonie im Ganzen wie in den einzelnen Punkten. James Mac Lagan † 1852.
  Zum König Tarquinius Priscus von Rom kam, so erzählt die Sage, eine weise Frau, die Sibylle von Cumae, und bot ihm 12 Bücher zum Kauf an, die Schätze der Weisheit enthielten. Sie forderte aber dafür einen sehr hohen Preis, so dass der König den Kauf ablehnte. Da warf die Sibylle sechs der Bücher ins Feuer und bot dem Könige die übrigen zum nämlichen Preise an. Natürlich weigerte sich dieser abermals, und wieder verbrannte die Sibylle die Hälfte, und dann noch einmal ein Buch, stets denselben Preis fordernd. Da wurde Tarquinius stutzig und bezahlte den geforderten hohen Preis für das eine Buch, und dieses galt den Römern in der Folge als ein kostbarer Schatz und wurde in allen schwierigen Lagen des Staates zu Rate gezogen. Wenn Rom und sein König jene sibyllinische Weisheit so hoch schätzten, wie teuer sollte uns erst die Weisheit des lebendigen Gottes sein! Dem Könige Eduard VI. von England († 1553) sollten bei der Feier seiner Krönung drei Schwerter vorangetragen werden als Zeichen seiner Macht über die drei Reiche England, Schottland und Irland. Er sagte aber, es fehle noch eins. "Welches soll denn das vierte sein?" fragte man ihn, und er antwortete: "Das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes." Und der König Robert von Sizilien († 1343) äußerte einst gegen seinen Freund, den Dichter Petrarca: "Ich erkläre ausdrücklich, dass mir das Wort Gottes teurer ist als mein Königreich und dass ich lieber dieses als jenes verlieren möchte." Thomas Watson † 1690.


V. 130. xtp übersetzen Symmachus und Hieronymus richtig ostium, Tür, also: Das Tor deiner Worte (Genet. der Apposition) leuchtet. Die Worte Jahves selbst werden ein leuchtendes Tor genannt, durch das man zur Erkenntnis eingeht, vergl. Hos. 2,17 Tor der Hoffnung und Off. 21,12-21 die zwölf Perlentore zur Gottesstadt. Weil dieser bildliche Ausdruck nicht verstanden wurde, glaubten LXX (h(dh/lwsij) und die Neueren xtapI" hier in der Bedeutung Eröffnung, Offenbarung verstehen zu müssen, und auch die massoretische Vokalisation mit Zere statt Segol beruht auf dieser Voraussetzung, ist aber tatsächlich eine bloße Künstelei. Prof. Friedrich Baethgen 1904.
  Die Erschließung deiner Worte erleuchtet. (Wörtl.) Da [als Luther während der Romreise der Sinn der Worte: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben" erschlossen ward] fühlte ich alsbald, dass ich ganz neu geboren wäre und nun gleich eine weite ausgesperrte Tür, in das Paradies selbst zu gehen, gefunden hätte, sah auch die liebe Heilige Schrift nunmehr viel anders an, denn zuvor geschehen war, lief derhalben bald durch die ganze Bibel, wie ich mich derselbigen erinnern konnte, und sammelte auch in andern Worten nach dieser Regel alle ihre Auslegung zusammen. Wie ich nun zuvor dieses Wörtlein "Gottes Gerechtigkeit" mit rechtem Ernste hasste, so fing ich auch dagegen an, dasselbe als mein allerliebstes und tröstlichstes Wort teuer und hoch zu achten, und war nun derselbige Ort in St. Paulo in der Wahrheit die rechte Pforte des Paradieses! Martin Luther † 1546.
  Ein gottloser Krämer findet in seiner Tasche ein Blatt einer Bibel. Sein Auge fällt auf das Wort, das den Schluss des Propheten Daniel bildet: "Gehe hin, bis das Ende komme, und ruhe, dass du aufstehest zu deinem Erbteil am Ende der Tage", und er beginnt darüber nachzudenken, was wohl sein Erbteil sein werde am Ende der Tage. - Ein Göttinger Professor schlägt ein Buch auf, um daran die Schärfe seiner Augen zu prüfen; es ist "zufällig" eine Bibel, und er trifft "zufällig" auf den Vers
Jes. 42,16: "Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen", und wie er dieses Wort liest, da werden die Augen seines Verständnisses aufgetan. - Ein Soldat wird in der Schlacht von einer Kugel getroffen, gerade in die Brust. Er fühlt den Stoß, bleibt aber unversehrt; die Kugel ist in seiner kleinen Bibel stecken geblieben. Nach der Schlacht nimmt er sie heraus, die Kugel ist gerade bis zu dem Spruche Pred. 11,9 gedrungen: "Freue dich, Jüngling, deiner Jugend, tue was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt, und wisse, dass dich Gott um dies alles wird vor Gericht führen", und dieser Satz verfehlte seine dauernde Wirkung nicht. James Hamilton † 1867.
  Der Grund, den die römisch-katholische Kirche gegen das Bibellesen der Laien geltend macht, dass sie von ungelehrten und einfältigen Leuten missverstanden werde, wird einfach durch dieses Zeugnis Gottes widerlegt: Es macht klug die Einfältigen. William Cowper † 1619.
  Keiner ist so gelehrt und klug, dass Gott ihn nicht verblenden, keiner so blind und unwissend, dass Gottes Geist sein Herz und seinen Geist nicht aufschließen und erleuchten kann. Der Gottesgeist, der über den Wassern schwebend diese wüste und leere Masse in die herrliche Schöpfung wandelte, die wir jetzt sehen, der aus dem finsteren Chaos das wundervolle Weltgebäude hervorgehen ließ, den Himmel mit seinem Heer von Lichtern, vermöchte der nicht auch Leben in deine tote Seele zu bringen und sie hell zu machen, wenn sie auch so dunkel wäre wie die Welt am Vorabend des ersten Schöpfungstages, ehe der HERR sein mächtiges "Es werde Licht!" gesprochen? Mancher Lehrer ist genötigt, den Unterricht an einem Schüler aufzugeben, weil er nicht imstande ist, ihm etwas beizubringen; wenn aber der Geist Gottes die Unterweisung eines Menschen in Angriff genommen, dann bleibt der Erfolg nicht ans, der Schüler mag so hoffnungslos unbegabt sein, wie er will, dein Wort macht klug die Einfältigen. Sobald eine Seele in diese Schule aufgenommen ist, fangen die Fortschritte an. William Gurnall † 1679.


V. 132. Wende dich zu mir, wie der barmherzige Samariter zu dem unter die Mörder Gefallenen. Siehe, auch ich bin bloß ausgezogen, aller meiner Tugenden und Vortrefflichkeiten bin ich entkleidet, die Sünden haben mir Wunden geschlagen, sei du mir gnädig, habe Erbarmen mit mir, pflege mein in der Herberge deiner Gemeinde, damit ich nicht wieder unter die Mörder falle, damit die Wölfe, welche deine Herde heulend umringen, mir nichts zuleide tun. Wende dich zu mir, blick mich an; ich bin ja nicht wert, dass ich dein Sohn heiße, doch sei mir gnädig, handle an mir nicht wie der neidische ältere Bruder es tun würde, sondern lass mich teilhaben am Mahle und am Reigen der Deinen. Siehe mich an, den Zöllner, der von ferne steht im Tempel deiner heiligen Kirche, und sei mir gnädig, schaue mich nicht an wie der stolze Pharisäer, sondern wie du pflegst zu tun denen, die deinen Namen lieben. Siehe mich an wie den weinenden Petrus und sei mir gnädig, wie du ihm gnädig warst, der dich trotz allem so lieb hatte, wie er in der dreimaligen Antwort bekannte, mit der er seine dreimalige Verleugnung austilgte. Sieh mich an wie die Sünderin, die reuige und weinende, und sei mir gnädig, nicht so wie der murrende Pharisäer, vergib mir, wie du ihr vergabst, die da viel liebte, indem du sprichst: "Dein Glaube hat dir geholfen, gehe hin mit Frieden." James Millard Neale † 1866.
  Wie du pflegst zu tun. David wollte nicht auf ein einziges der Vorrechte verzichten, die Gott seinen Kindern zugesagt. Tue mit mir, wie du zu tun pflegst, spricht er. Was ich begehre, ist nur, dass ich teilhabe an den Vorrechten deiner Familie; lass mich teilhaben an deinem Tische mit allen, die dich lieben, und lass mich nicht schlechter gekleidet gehen als meine Brüder. William Gurnall † 1679.
  Es ist immer ein gutes Zeichen für unser Empfinden und Wollen, ein Zeichen, dass beides unter der Wirksamkeit des Geistes Gottes steht, wenn wir bereit sind, nach Gottes Ordnung behandelt zu werden. Und worin besteht diese? Gottes Ordnung ist, dass er seine Wohltaten niemals vereinzelt, aus dem Zusammenhange gerissen gewährt, keine Rechtfertigung ohne Heiligung, kein Anrecht auf den Himmel ohne vorhergehende Zubereitung. Und wer in der Zucht des Heiligen Geistes steht, der wird auch nicht das eine ohne das andere begehren. Darum wird er auch nicht auf Segen ohne Gehorsam rechnen; denn Gott pflegt je und je die Gnadengabe des Heiligen Geistes an die Furcht des HERRN zu knüpfen und die Übertretungen seiner Kinder mit der Rute zu züchtigen. Kein Lohn ohne vorhergehende Anstrengung; es wird niemand gekrönt, er kämpfe denn recht. Kein Gnadenbeweis, kein Segen ohne Gebet; Gott lässt zuerst die Seinen ihre Bedürftigkeit fühlen, dann kommt die Antwort auf ihr Bitten. Gott hatte einen einzigen Sohn ohne Sünde, aber nie einen ohne Kummer. Er stäupt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Und der Psalmist spricht: "Ganz recht, lass mir nur ihr seliges Los zuteil werden, so bin ich gerne bereit, den Kelch zu trinken, den sie tranken, und mich mit der Taufe taufen zu lassen, da sie mit getauft wurden. Ich begehre nicht einen eigenen, besonderen Weg zur Herrlichkeit, ich bin zufrieden mit der öffentlichen, jedem Bettler zugänglichen Landstraße." W. Jay † 1853.

  Non parem Paulo veniam requiro,
  Gratiam Petri neque posco, sed quam
  In crucis ligno dederas latroni
  sedalus oro.

  Nicht begehre ich eines Pauli Gabe,
  Nicht die Gnade, die Petro ward verliehen,
  Nur des Schächers Los dort am Stamm des Kreuzes,
  Das sei mein Erbteil.

   Aus Aenneas Sylvius, De passione Domini; die Grabschrift des Kopernikus † 1543.


V. 133. Lass meinen Gang gewiss sein in deinem Wort. Gottes Kindern genügt es nicht, sich auf dem rechten Wege zu wissen, sie wollen auch einen gewissen, festen Tritt haben. Sie scheuen nicht weniger einen unsicheren Gang als ein Wandeln in der Irre, ihr Weg zum Himmel soll geradeaus gehen, ohne Umwege, ohne Krümmungen. Thomas Manton † 1677.


V. 135. Lass dein Antlitz leuchten über deinen Knecht. Da die Erneuerung schon hienieden beginnen soll, wird das Schauen von Gottes Angesicht auch hier auf Erden seinen Anfang nehmen, wenn es auch zurzeit noch ein Sehen durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort ist, während das vollkommene Schauen erst drüben stattfindet, von Angesicht zu Angesicht. Dann wird es auch mehr als ein bloßes Schauen, es wird ein unmittelbares Erkennen sein. Wir werden ihn sehen, wie er ist. Nach Aurel. Angustin † 430
  Lass dein Antlitz leuchten ... und lehre ... Gott hat mancherlei Weise, die Menschen zu lehren: durch die Schrift, mit seiner Hand, mit der Zuchtrute; am sanftesten und eindringlichsten aber lehrt er mit dem Lichte seines Angesichtes. Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berge und zu deiner Wohnung.
(Ps. 43,3.) Rich. Alleine † 1681.


V. 136. Von Wasserbächen strömen meine Augen über, dass man dein Gesetz nicht hält. Der Orientale vergießt viel leichter und häufiger Tränen als der Europäer. Wenn der Psalmist hier vom Fließen der Augen mit Wasser spricht, so ist das nicht bloß als ein poetisches Bild anzusehen, sondern sicherlich wahr. Man kann dies z. B. bei den Arabern beobachten. John Gadsby 1862.
  Sein eigenes Leid, dass er vor dem Sohne fliehen musste, presste ihm nicht so viele Tränen aus als die Sünden anderer, der Ungehorsam der Gottlosen gegen den HERRN. Nichts griff ihm so ans Herz, als die Missachtung Gottes und seiner Gebote, dessen Ehre und Ruhm, wie sie aus seinem Worte und seinen Geboten hervorleuchten, dem Frommen teurer sind als sein eigenes Leben. Elia begehrte zu sterben, als er Gott so geschändet sah durch Ahab und Isebel. Das Auge hat zweierlei Bestimmung, das Sehen und das Weinen. Wenn wir sehen müssen, wie man Gott Schande bereitet, dann müssen sich unsere Augen mit Tränen füllen. W. Greenhill † 1677.
  Solches Trauern um fremde Sünde verlangt der HERR von uns, weil es dazu hilft, unser Herz und Gewissen im rechten Zustande zu erhalten. Das hält uns fern von der Versuchung. Es gleicht dem Löschen eines Brandes im Nachbarhause; du schaffst das Wasser herbei, ehe der Brand bei dir ausbricht. Nichts schützt uns so gut vor der Ansteckung wie das Leidtragen um die Verderbnis unserer Mitmenschen. Die Seele wird sich nie verleiten lassen, etwas zu tun, was ihr an anderen Schmerz bereitet. Und wie es uns im rechten Zuge erhält, so auch demütig gehorsam in der Furcht des HERRN, ängstlich besorgt, dass wir nicht selbst Gottes Gericht auf uns herabrufen. Wer schon zittert, wenn er die Schlange einem anderen nahekommen sieht, wie wird der sich fürchten, wenn sie auf ihn selbst zuschleicht. Wer in der Fremde kämpft aus Tatendurst, wird sicherlich auch zu Hause tapfer sein, wenn es die eigene Sicherheit gilt. Thomas Manton † l 677.
  Die Sünden der Sünder sind die Schmerzen der Frommen. Was wir nicht bessern können, das können wir doch beweinen. Matthew Henry † 1714.
  Wenn wir nicht um die Sünden anderer Leid tragen, so kann es geschehen, dass ihre Schuld auf unser Haupt fällt. W. Nicholson † 1671.


137. HERR, Du bist gerecht,
und dein Wort ist recht.
138. Du hast die Zeugnisse deiner Gerechtigkeit
und die Wahrheit hart geboten.
139. Ich habe mich schier zu Tode geeifert,
dass meine Widersacher deiner Worte vergessen.
140. Dein Wort ist wohl geläutert,
und dein Knecht hat es lieb.
141. Ich bin gering und verachtet;
ich vergesse aber nicht deiner Befehle.
142. Deine Gerechtigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit,
und dein Gesetz ist Wahrheit.
143. Angst und Not haben mich getroffen;
ich habe aber Lust an deinen Geboten.
144. Die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig;
unterweise mich, so lebe ich.

Dieser Abschnitt handelt von der vollkommenen Gerechtigkeit Jehovahs und seines Gesetzes und schildert die Kämpfe einer frommen Seele um diese Gerechtigkeit. Schon Hieronymus hat bemerkt, dass der Buchstabe, mit dem im Hebräischen jeder der acht Vers beginnt, das Z, auch der Anfangsbuchstabe des hebräischen Wortes für Gerechtigkeit ist.

137. HERR, Du bist gerecht. Der Dichter hat den Namen Jehovah in diesem umfangreichen Psalm nicht oft gebraucht.1 Der ganze Psalm zeigt uns den Verfasser als einen Mann von tief religiösem Gemüt, der mit dem Göttlichen wohl vertraut ist, und solche Menschen gebrauchen den Namen Gottes nicht leichtfertig und unnütz, ja im Vergleich mit den gedankenlos und gottlos dahinlebenden Menschenkindern geradezu selten. Je näher wir Gott kennen, desto mehr wird unser Herz von Ehrfurcht vor ihm erfüllt. An unserer Stelle nennt der Psalmist den heiligen Namen in Anbetung. Er preist Gott, indem er seine vollkommene Gerechtigkeit rühmt. Gott ist immer im Recht, in all seinem Tun ist er gerecht. Diese Eigenschaft gehört unlösbar zum Gottesbegriff; den Gedanken eines ungerechten Gottes ist uns undenkbar. Und dein Wort ist recht (Grundtext: deine Rechtsordnungen sind recht). Nun rühmt er Gottes Rechtsentscheidungen und Anordnungen, wie sie in seinem Wort enthalten sind, als recht, gerade wie ihr Urheber gerecht ist. Was von dem gerechten Gott kommt, muss recht beschaffen sein. Jehovah sagt und tut, was recht ist, und nur solches. Das ist ein fester Halt für die Seele in Zeiten der Anfechtung. Wenn wir schwer geprüft werden und nicht einsehen können, warum Gott solches Leiden über uns verhängt, dann bleibt uns doch die Gewissheit, dass Gott gerecht ist und darum auch alles, was er mit uns tut, recht ist. Wir sollten unsere Ehre dareinsetzen, dies kühn und frei zu bekennen, wenn alle Umstände den Anschein erwecken, als ob das Gegenteil wahr wäre. Das ist so recht wahrhaftige Anbetung, wenn der Glaube Gott preist, während die fleischliche Vernunft über unverdiente Härte und Ungerechtigkeit zu murren versucht ist.

138. Du hast in Gerechtigkeit deine Zeugnisse geboten und in Treue gar sehr. (Grundtext) Alles, was Gott uns in seinem Worte bezeugt hat, ist von seiner Gerechtigkeit bestimmt und sucht mit überaus großer Treue das Beste der Menschenkinder. Weil Gottes Worte der Ausfluss seiner Heiligkeit sind, können wir uns auf sie stützen für die Gegenwart, und weil sie zuverlässige, treue Wahrheit sind, dürfen wir uns auf sie verlassen für alle Zukunft. Jedes Stück der von Gottes Geist gegebenen Zeugnisse ist mit der Würde göttlicher Autorität bekleidet, sie sind auf Gottes Befehl ergangen und den Menschen verkündigt und tragen den unverkennbaren Stempel des Göttlichen, den Charakter der Allmacht an sich. Nicht allein die Gebote jedoch, auch die Verheißungen sind vom HERRN erlassen, und so auch alle die lehrhaften Zeugnisse der Schrift. Es ist nicht unserem Belieben überlassen, ob wir sie anerkennen wollen oder nicht; sie sind durch königlichen Befehl ergangen, und sie in Frage zu stellen sollte niemand wagen. Was sie vor allem kennzeichnet, ist, dass sie dem HERRN, von dem sie ausgehen, ähnlich sind, nämlich durch und durch gerecht und wahr. Gottes Wort ist unanfechtbar in seiner Gerechtigkeit und unbezweifelbar in seiner Wahrheit und Zuverlässigkeit; wahrhaftig ist es von Anbeginn und wird es bleiben bis ans Ende.
  Verweile noch einen Augenblick, lieber Leser, bei dem Wörtlein "gar sehr" - in Treue gar sehr. Wie gut, da wir es mit einem Gott zu tun haben, der mit äußerster Genauigkeit Treue hält, der seine Verheißungen bis aufs kleinste wahr macht, mit strengster Pünktlichkeit die rechte Stunde einhält und durch alle Zeiten hindurch unwandelbar derselbe ist. Mit einem solchen Herrn, einem solchen Worte dürfen wir’s wohl wagen!

139. In den letzten beiden Versen sprach der Psalmist von seinem Gott und dessen Gesetz; nun spricht er von sich selbst und sagt: Ich habe mich schier zu Tode geeifert (wörtl.: mein Eifer verzehrt mich), dass meine Widersacher deiner Worte vergessen. Dies kam aber ohne Zweifel daher, dass er eine so klare Einsicht in das bewundernswürdige Wesen des Wortes Gottes besaß. Sein Eifer war wie ein Feuer, das in seiner Seele glühte, und der Anblick der Gottvergessenheit der Menschen wirkte wie ein Sturmwind, der die Glut seines Eifers zur lodernden Flamme entfachte, die ihn selbst zu vernichten drohte. Es war ihm ein unerträglicher Gedanke, dass Menschen das Wort des Höchsten vergessen sollten. In seinem Eifer um Gottes Wort und wider dessen Verächter vergaß er sich selbst und achtete sogar seines eigenen Lebens nicht. Die Gottlosen waren des Psalmisten Feinde: seine Feinde, denn sie hassten ihn um seiner Frömmigkeit willen; seine Feinde, denn auch er verabscheute sie wegen ihres widergöttlichen Wesens und Treibens. Diese Menschen waren so tief in Gottlosigkeit versunken, dass sie Gottes Gebote nicht nur übertraten und hintansetzten, sondern sie schienen sie tatsächlich ganz vergessen zu haben. Das brachte den Psalmisten in großen Zorn und Eifer; er brannte vor Entrüstung. Wie dürfen sie es wagen, das Heilige so mit Füßen zu treten! Wie können sie die eigensten Gebote Gottes so völlig missachten? Er war darüber entsetzt und wurde von heiligem Zorn erfüllt.

140. Dein Wort ist wohl geläutert. Es ist abgeklärte, völlig unvermischte, lautere Wahrheit, von ungetrübter Heiligkeit. Keine Spur von Sünde oder Irrtum ist an Gottes Wort zu finden. Es ist rein in seinem Inhalt, keusch in seiner Sprache, heiliger Geist weht darin, und heilig ist darum auch der Einfluss, der von ihm ausgeht, und das alles in vollkommenem Maße: es ist wohl geläutert, lauter und rein durch und durch. Und dein Knecht hat es lieb. Das beweist, dass er selber lauteren Herzens war, denn nur die Reinen, Lauteren lieben Gottes Wort um seiner Lauterkeit und Reinheit willen. Sein Herz hing fest am göttlichen Wort wegen der Herrlichkeit seiner Wahrheit und Heiligkeit. Er bewunderte es, es war seine Wonne, er suchte es mit ganzem Eifer in die Tat umzusetzen und gab sich seinem heiligenden Einfluss völlig hin.

141. Ich bin gering und verachtet; ich vergesse aber nicht deiner Befehle. Der Vorwurf der Vergesslichkeit, dieses Fehlers, den er an andern mit Recht so streng tadelte (V. 139), konnte gegen ihn nicht erhoben werden. Seine Widersacher missachteten ihn, sie hielten ihn für einen unbedeutenden Menschen ohne Einfluss, Macht oder Fähigkeiten und sahen darum verächtlich auf ihn nieder. Er schickt sich darein und nimmt in Demut mit dem untersten Platz vorlieb; aber Gottes Wort bleibt sein Gefährte in jeder Lage. Wie mancher hat sich schon verleiten lassen, etwas Böses zu tun, nur um der Verachtung seiner Feinde zu steuern, hat, um Beachtung für sich zu gewinnen, in einer Weise geredet oder gehandelt, die er nicht rechtfertigen konnte. Das gerade ist so ansprechend an der Frömmigkeit des Psalmisten, dass er sich durch nichts aus seiner gemessenen Ruhe und dem inneren Gleichgewicht bringen ließ; wie ihn Schmeichelei nicht zu berücken vermochte, so ließ er sich auch durch Schmach und Scham nicht überwältigen. Gehörte er zu den kleinen Leuten, so ließ er es seine Sorge sein, umso mehr im Kleinen treu zu sein; war er verachtet, so war er umso eifriger darauf bedacht, die von seinen Feinden nicht minder verachteten Gebote Gottes in Ehren zu halten.

142. Deine Gerechtigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit. Hatte er im ersten Vers der Gruppe den HERRN gerecht genannt, so schreitet er jetzt zu der Erklärung fort, dass Gottes Gerechtigkeit unwandelbar sei und von einer Ewigkeit zur andern währe. Das ist gerade die Freude der Gottseligen und ihr Ruhm, dass Gott immerdar der sein wird, der er ist, und dass seine Art, gegen die Menschenkinder zu verfahren, stets dieselbe ist. Hat er bisher seine Verheißungen gehalten und den Seinen Gerechtigkeit und Gericht geschafft, so wird er es auch tun bis an der Welt Ende. Die Gerechtigkeit wie die Ungerechtigkeit der Menschen, beide haben Schranke und Ziel, Gottes Gerechtigkeit aber ist unendlich, ewig. Und dein Gesetz ist Wahrheit. Wie wir Gottes Wesen in das eine Wort zusammenfassen dürfen: Er ist Liebe, so dürfen wir von seinem Gesetz, seinem Worte, sagen: Es ist Wahrheit, Wahrheit durch und durch, die Wahrheit im höchsten Sinne, die Wahrheit, angewandt auf unser sittliches Handeln, die Wahrheit in kraftvoller Wirksamkeit, die Wahrheit auf dem Richterthron. Zu unserer wie zu allen Zeiten ist es eine viel besprochene Frage: Was ist Wahrheit? Die Bibel ist die Antwort auf diese Frage, und zwar die einzige. Merken wir: Sie ist nicht nur wahr, wir dürfen nicht nur sagen, sie enthalte Wahres, nein, sie ist die Wahrheit schlechthin. Nirgends findet sich im Gesetz oder der Schrift überhaupt, in den Vorschriften, die sie uns für unser sittliches Handeln gibt, etwas Irriges. Wer dem Gesetz des HERRN gehorsam ist, wird finden, dass er in der Wahrheit wandelt, während diejenigen, die ihm widerstreben, nur ein Leben eitlen Scheins führen.

143. Angst und Not haben mich getroffen. Diese Trübsal mag in seiner äußeren Lage ihren Grund gehabt haben, sie mag durch den Hass seiner Feinde oder durch seine eigenen inneren Kämpfe veranlasst gewesen sein - gewiss ist, dass er in großer Drangsal war, dass schwere Not ihn gepackt hatte und fest umfangen hielt. Wie wütende Hunde hatten diese Nöte ihn überfallen, er spürte ihre Zähne in seinem Fleische. Er litt doppelte Qualen: Not von außen, Angst im Innern, wie der Apostel Paulus sagt: Auswendig Streit, inwendig Furcht
(2. Kor. 7,5). Und doch fährt der Psalmdichter fort: Ich habe aber Lust an deinen Geboten. So ward er den Leuten ein Rätsel: in Angst und doch voll Lust, in Not und doch hocherfreut. Dem Kinde Gottes löst sich dieser Widerspruch im Lichte der Erfahrung, denn es kennt mit dem Apostel sehr wohl jenes wundersame "als die Traurigen, aber allezeit fröhlich"
(2. Kor. 6,10) in seiner mannigfaltigen Anwendung. Äußerlich traurig, innerlich fröhlich. Wiederum traurig, wenn ich in mein Inneres schaue, fröhlich in Anschauung dessen, was das Wort mir verbürgt. Der Christ hat Lust an Gottes Geboten, doch macht es ihm Kummer, dass er sie nicht ganz erfüllen kann. Er entdeckt eine Fülle himmlischen Lichtes in ihnen, das ihn mächtig anzieht, und in diesem Lichte erkennt er seine eigene Finsternis und wird darüber voll Trauerns. Nur wer in den Kämpfen des geistlichen Lebens erfahren ist, kann solche Worte in ihren Tiefen verstehen. An unserem Psalmwort hast du, lieber Leser, eine Waage, auf der du deinen inneren Wert wägen magst. Erscheint es dir, selbst wenn du tief in Kummer und Anfechtung steckst, als etwas Köstliches, Seliges, den Willen Gottes zu tun? Empfindest du mehr Freude an deiner Heiligung als Schmerz an der Züchtigung, durch die jene in dir bewirkt werden soll? Dann ist das Siegel der Gotteskindschaft auf dir.

144. Die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig. Erst hatte der Psalmist von Gottes Zeugnissen gesagt, dass sie gerecht seien, dann, dass sie ewig, fest und zuverlässig seien, und nun bezeugt er, beides verbindend, dass sie Gerechtigkeit seien ewiglich. So kommt er zu immer größeren und eingehenderen Aussagen, je länger er sich mit dem Gegenstand aller seiner Ausführungen beschäftigt. Je mehr wir zum Lob der Heiligen Schrift sagen, desto mehr haben wir zu sagen. Das Thema ist tatsächlich unerschöpflich. Gottes Willensbezeugungen an die Menschen sind unanfechtbar, sie sind gerecht von Anfang bis zu Ende; ob ungöttlich gesinnte Menschen auch je und je Gottes Gerechtigkeit, namentlich auch was seinen Heilsrat betrifft, zu bemäkeln versucht haben, so ist es ihnen doch stets misslungen, eine stichhaltige Anschuldigung gegen den Allerhöchsten und sein Wort vorzubringen. Solange die Erde steht, solange es nur noch ein einziges vernunftbegabtes Wesen im Weltall gibt, wird das Bekenntnis erschallen, dass Gottes Gnadenratschlüsse in jeder Beziehung wunderbare Proben seiner Liebe zur Gerechtigkeit sind; denn selbst um gnädig sein zu können, wird der Ewige nie ungerecht sein. Unterweise mich, so lebe ich. Das ist ein Gebet, das der Dichter unseres Psalms beständig zum HERRN emporsendet, dass Gott ihm Verständnis, Einsicht zuteilwerden lassen möge. An dieser Stelle zieht er dabei besonders in Betracht, dass solche Gabe vom HERRN ihm zum Leben seines Geistes durchaus nötig ist. Ohne Unterweisung, ohne Einsicht leben heißt kein menschenwürdiges Dasein führen, heißt bei lebendigem Leibe tot sein. Erst wenn wir die göttlichen Dinge kennen und begreifen lernen, kann von einem Anfang des wahren Lebens bei uns die Rede sein. Je mehr der HERR uns für die ewige Gerechtigkeit seines Wortes die Augen öffnet und je mehr er in uns die Liebe zu solcher Gerechtigkeit erweckt, umso glücklicher und umso besser werden wir. Und da wir alle leben und gute Tage sehen wollen, geziemt es uns, Unsterblichkeit zu suchen in dem lebendigen Worte, das da ewiglich bleibt, und das Gute für Zeit und Ewigkeit in der Erneuerung unseres ganzen Wesens, die da beginnt mit der Erleuchtung des Verständnisses und fortschreitet zur Wiedergeburt des ganzen Menschen. Das ist der Grund, warum wir den Heiligen Geist nötig haben, den Urquell und Spender alles Lebens und den Führer aller zum Leben Erweckten, der uns in alle Wahrheit leiten wird. O dass seine Gnade uns zu dieser Stunde heimsuche!


V. 137-144. Das achtfache ( (Z); Gerecht und treu waltet Gott nach seinem Worte, für welches der Dichter deshalb eifert, obwohl jung und verachtet. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  
137. Sehr gerecht bist du, Jehovah,
Und richtig sind deine Gesetze.
138. Selber gebietest du Gerechtigkeit in deinen Verordnungen
Und große Wahrheit.
139. Schier zu Tode habe ich mich geeifert,
Dass meine Feinde deine Worte vergessen.
140. Sehr wohl geläutert ist dein Wort,
Und dein Knecht hat es lieb.
141. Schlicht bin ich und verachtet,
Deiner Befehle vergess’ ich nicht.
142. So gar ewig ist deine Gerechtigkeit,
Und dein Gesetz ist Wahrheit.
143. Sorge und Angst treffen mich,
Deine Gebote sind meine Freude.
144. Siehe, die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig;
Unterweise mich, so lebe ich. - E. R.
  


V. 137. HERR, Du bist gerecht. Kummer und Schmerz erfüllen des Psalmisten Seele ob der Bosheit seiner Feinde, ja er muss sich, wenn er sieht, wie es ihnen trotz ihrer Gottlosigkeit so wohl ergeht, mit Gewalt gegen allerlei Anfechtungen, Ungeduld und Zweifel wehren. Aber er zeigt uns hier die drei Quellen, aus denen er in dieser Zeit der Prüfung Trost schöpft. Er findet Trost erstlich in dem Gedanken daran, was Gott selbst an sich ist, nämlich gerecht und untadelig; zweitens in dem Gedanken an die Gerechtigkeit und Lauterkeit seines Wortes, und drittens in dem Gedanken an die Beständigkeit seiner Wahrheit, wie sie uns sein Wort in seinem Wirken und Tun darstellt. Wenn wir beim Anblick des Wohlergehens der Gottlosen zu Misstrauen und Zweifel versucht werden, so lasset uns auf Gott schauen und seine Natur, sein Wort, seine Werke betrachten, so werden wir Trost und Stärkung finden. William Cowper † 1619.
  HERR, Du bist gerecht, und dein Wort ist recht. In diesen Worten, in diesem Gedanken liegt genug, um ein Kind Gottes in heiliger Ehrfurcht erschauern zu lassen. Der HERR ist ein gerechter Gott, und wenn wir auch in Gnaden angenommen sind, so ist und bleibt der HERR doch unparteiisch in seiner Gerechtigkeit. Gott, der der Engel nicht verschonte, da sie sündigten, ja nicht einmal seines einigen Sohnes, da er unsere Sünden auf sich genommen, der wird auch uns nicht verschonen, und wenn wir noch so sehr die Geliebten seiner Seele sind. Die Sündenwege, auf die Gottes Kinder geraten, führen immer zu den schmerzlichsten Folgen. Die Auserwählten können sich nie ohne den größten Schaden mit der Sünde einlassen. Wie viele Beispiele in der Heiligen Schrift bezeugen das! Thomas Manton † 1677.
  Der vom Empörer Phokas entthronte oströmische Kaiser Mauritius wurde (602 n. Chr.) mit seinen fünf Söhnen hingerichtet. Der unglückliche Vater musste den Tod seiner Kinder mit ansehen, und bei jedem Schlage des Schwertes rief er aus: HERR, Du bist gerecht, und dein Wort ist recht. James Millard Neale † 1866.


V. 138. Das Wort Gottes wird hier seine Zeugnisse genannt, weil es uns bezeugt, was er will, dass wir tun sollen, sowie, was aus uns wird, ob wir auf dem Wege zur Seligkeit oder zur Verdammnis wandeln. Die Menschen möchten ja alle gerne wissen, was ihre Zukunft sein wird, so wenig sie es sich auch angelegen sein lassen, ihr Leben zu ändern. Viele suchen Auskunft da, wo ihnen nie eine richtige zuteilwerden kann. Wenn sie sich doch nur an Gottes Wort und Zeugnisse halten wollten, dann brauchten sie keine andere Weisheit und Orakelsprüche. Wenn Gottes Wort ihnen Gutes bezeugt, dann dürfen sie sich freuen; wenn es ihnen schlimme Auskunft erteilt, dann gilt es sich beeilen, um dem zu entgehen, sonst ist ihr Schicksal besiegelt. William Cowper † 1619.


V. 139. Ich habe mich schier zu Tod geeifert. Eifer bezeichnet eine besondere Wärme der Empfindung, eine Glut, ein heiliges Feuer, das unsere Gefühle der Liebe und des Zornes für Gott und seine Ehre aufs höchste steigert. Um der Gottlosen willen aber ist eine Steigerung unserer Liebe zu Gott und seinen Wegen wie unseres Hasses gegen alles Böse unvermeidlich. Matte, düstere Farben in einem Gemälde lassen die frischen, lebhaften nur umso leuchtender und schöner hervortreten. Die Sünden anderer müssen dir Gott und Gottesfurcht nur umso liebenswerter erscheinen lassen. Dein Herz muss Funken geben, wenn es auf solchen harten Kiesel schlägt. Fremde Kälte fachte, so widersinnig das klingen mag, Davids Eifer zur Glut an, die ihn schier verzehrt hätte, weil die Widersacher Gottes Wort vergaßen. Aber auch ein kalter Windstoß entfacht ja die Glut zu sengender Hitze. George Swinnock † 1673.
  Es gibt mancherlei Eifer, Eifer um die Güter der Welt, fleischlichen Eifer, falschen religiösen Eifer, den Eifer des Ketzers, und es gibt einen rechten Eifer um das wahre Gotteswort. Der weltliche Eifer treibt die Menschen an, Tag und Nacht zu arbeiten, sich zu sorgen und abzumühen um vergänglichen Gutes willen. Der fleischliche Eifer erfüllt die Sinne und lässt sie nicht zur Ruhe kommen über dem Trachten nach Befriedigung augenblicklicher Lust. Der religiöse Eiferer umzieht Land und Wasser, dass er einen Genossen seiner Anschauungen mache. So hat jeder Mensch etwas, darum er eifert, dem er nachtrachtet, an das er sein ganzes Können setzt. Muss uns das nicht beschämen, dass wir so wenig Eifer zeigen um das liebe Gotteswort? Und dabei bringt uns noch der göttliche Eifer einen Gewinn, einen Lohn, den die, welche um weltliche und fleischliche Dinge eifern, nicht kennen. Wenn diese alle Kräfte des Leibes und des Geistes im Dienste ihres Eifers erschöpft haben, so tragen sie als einzigen Lohn dafür ein beschwertes, strafendes Gewissen davon. Der Fromme aber, der sich um göttliche Dinge zu Tod eifert, trägt als Gewinn davon, dass, wenn auch sein Leib, sein äußerer Mensch vom Eifer verzehrt zu Grunde geht, doch sein innerer Mensch frisch und erquickt dasteht und in Ewigkeit nicht vergeht. Welch ein Vorteil ist es doch, sich zu Tode zu eifern um göttliche Dinge! R. Greenham † 1591.


V. 140. Dein Wort ist wohl geläutert, wie Gold im Schmelzofen, ganz rein und gediegen, ohne die Schlacken der Eitelkeit und des Irrtums, welche menschlichen Schriftwerken anhaften. Je mehr wir Gottes Verheißungen auf die Probe stellen, umso mehr bewähren sie sich uns. Lauteres Gold ist so unzerstörbar, dass, wie der Naturforscher Boerhaave († 1738) berichtet, ein in die Schmelzglut des Ofens einer Glashütte gebrachtes Stückchen Gold nach zwei Monaten noch nicht ein Milligramm seines Gewichtes eingebüßt hatte. Bischof G. Horne † 1792.
  Das Wort Gottes ist nicht nur selber lauter, frei von allen Beimengungen, es ist selbst ein Läuterer, es reinigt von Sünde und Untugend ein jedes Herz, mit dem es in Berührung kommt. "Ihr seid jetzt rein", sagt Jesus Christus, "um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe" (Joh. 15,3). Diese eigene Reinheit im Vereine mit der reinigenden Kraft, welche sich an jeglichem Dinge äußert, das unter ihren Einfluss kommt, das ist’s, was das Wort jedem Kinde Gottes so teuer und wert macht. Der Fromme wünscht gar nicht, dass das Wort Gottes zu ihm herabsteige, auf dieselbe Stufe, die er in seiner Unvollkommenheit einnimmt, er begehrt vielmehr, dass sein eigenes Wesen allmählich erhoben werde bis zur Übereinstimmung mit diesem heiligen Worte. Darum geht er unablässig damit um. John Morison 1829.
  Und dein Knecht hat es lieb, eben weil es so rein und lauter ist, und das ist von allen Gründen, die wir für unsere Liebe zum Worte anführen können, der edelste und trefflichste, und beweist, dass wir in der Tat teilhaftig worden sind der göttlichen Natur. Denn wenn wir das Böse hassen, weil es böse, das Gute lieben, weil es gut ist, dann, merken wir wohl, dann haben wir dieselbe Liebe, denselben Hass wie Gott. Thomas Manton † 1677.


V. 138-141. Die Forderungen des geoffenbarten Gesetzes Gottes gehen von einer Gesinnungs- und Handlungsweise gegen die Menschen aus, welche genau und streng von seiner Heiligkeit bestimmt (gerecht) ist und überaus treu und redlich das Beste der Menschen meint. Dieses gute Gesetz Gottes von seinen Verfolgern missachtet zu sehen versetzt den Dichter in einen Eifer, der ihn seitens derselben an den Rand des äußersten Verderbens bringt. Gottes Selbstaussage ist ohne Makel und also nicht zu bemäkeln, sie ist gediegenes, feuerbeständiges edelstes Metall; darum hat er sie lieb und kehrt sich, obwohl jung und gering geschätzt, nicht an die Einreden seiner älteren, gelehrteren stolzen Gegner. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 141. Ich bin gering und verachtet. Die Gott lieben, mögen wohl in niederem und bedrängtem Stande leben, dem HERRN deucht das gut so aus verschiedenen Gründen. 1. Damit sie wissen, dass ihr Glück nicht von dieser Welt ist und sie sich desto mehr nach dem Himmel sehnen und an himmlischen Dingen ihre Freude finden. 2. Es ist notwendig, dass die Triebe des Fleisches beschnitten, dass den Lüsten ihr Nährboden entzogen werde. Ein unbebauter Boden bringt allerlei Unkraut hervor, und wenn wir mit voller Strömung dahin fahren, so werden wir gar leicht fortgerissen. 3. Damit sie aber auch umso mehr innewerden, wie ihr sündhaftes, verkehrtes Leben Gott verhasst, seinen reinen Augen widerwärtig ist. 4. Damit sie lernen von den Verheißungen leben, und dass die Tugenden des duldenden Gehorsams und der frommen Ergebung bei ihnen zur Entfaltung kommen. 5. Damit auch die Feinde einsehen lernen, dass es Leute gibt, die Gott aufrichtig dienen und nicht aus fleischlichen, selbstsüchtigen Zwecken (Hiob 1). 6. Damit seine Herrlichkeit umso deutlicher sichtbar werde, wenn er seine Kinder erlöst. Thomas Manton † 1677.
  Ich vergesse aber nicht deiner Befehle. Wir wissen aus Erfahrung, dass unsere Liebe ein Ende hat, wenn der Gegenstand derselben aus unserem Gedächtnis schwindet. Wir hören auf zu lieben, wenn wir aufhören zu gedenken; wirkliche Liebe erneuert immerfort das Gedächtnis des geliebten Gegenstandes. Der erste Schritt auf dem Wege, der zum Abfall von Gott führt, ist das Vergessen seiner Gebote. Von da bis zum Zuwiderhandeln und zum Beleidigen Gottes durch tatsächliche Übertretungen ist es nicht mehr weit. William Cowper † 1619.
  Man kann vielleicht die (im Grundtext asyndetisch, ohne "aber" angefügte) zweite Vershälfte auch als Angabe des Grundes der ersten auffassen, als ob dastände: Ich vergesse nicht deiner Befehle; darum bin ich gering und verachtet. E. R.


V. 142. Deine Gerechtigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit. Genauer dem Grundtext entsprechend: Gerechtigkeit auf ewig, so auch die LXX und Vulgata. Die gewöhnliche Übersetzung hebt mehr die ewige Dauer der göttlichen Gerechtigkeit hervor, der Grundtext sagt auch etwas aus von dem Wesen, der Beschaffenheit derselben. Gottes Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach die Gerechtigkeit an sich. Es gibt keine andere Gerechtigkeit, wie es auch keine andere Wahrheit gibt. J. Stephen 1861.


V. 142.143. Hier wird zur Ehre des Gesetzes Gottes ein weiteres Lob ausgesprochen, nämlich dass es ewige Gerechtigkeit und Wahrheit sei. Darin liegt, dass alle anderen Lebensregeln, mögen sie auch noch so warm und dringend empfohlen und angepriesen werden, nur vergänglichen Wert besitzen, der wie ein Schatten dahinschwindet. Der Psalmist will offenbar die Vorschriften des Gesetzes allen menschlichen Verordnungen gegenüberstellen, damit alle Gläubigen sich jenen unterordnen, denn sie sind die Schule der vollkommenen Weisheit. Manchem mögen die scharfsinnigen und spitzfindigen Ausführungen menschlicher Weisheit überzeugender vorkommen, aber sie entbehren einer festen, sicheren Grundlage, wie sie das Gesetz Gottes besitzt. Die Beständigkeit des göttlichen Gesetzes weist der Psalmist im folgenden Verse
(V. 143) an einem Beispiele nach: Es ist die Stärkung, die er unfehlbar stets darinnen fand, wenn ihm die Versuchungen aufs empfindlichste zusetzten. Und eine sichere Probe, ob wir auch aus dem Worte rechten Gewinn gezogen haben, ist es, wenn wir allen Kümmernissen, von woher sie auch kommen mögen, den Trost des göttlichen Wortes entgegenhalten, das alle Traurigkeit aus unseren Herzen wegnehmen kann. Hier V. 143 geht er darin etwas weiter als im 141. Verse. Dort hatte er nur ausgesprochen, dass er Gott in ehrerbietigem Gehorsam diene, obwohl es bei seinen schweren Erfahrungen wohl den Anschein haben konnte, als ob all seine Zuversicht auf Gottes Wort vergeblich sei. Nun aber erklärt er, dass er in Angst und Not in Gottes Gesetz den größten Trost, die höchste Lust finde, die allen Kummer lindert und nicht nur sein Bitteres mäßigt, sondern es sogar in Süßigkeit zu wandeln vermag. Jean Calvin † 1564.

V. 142. Dein Gesetz ist Wahrheit. In den Gesetzen und sonstigen geistigen Erzeugnissen der Menschen, selbst der Heiden, findet sich manches Wahre, aber das sind immer nur einzelne, zerstreute Wahrheiten, dürftige Überreste, die sich aus dem ursprünglichen Stande der Unschuld über den Sündenfall hinaus bis auf unsere Tage gerettet haben. Das Gesetz aber ist die vorzüglichste Wahrheit. Es ist ferner aber auch die einzige Wahrheit. Gott hat seine Gedanken nirgends sonst uns geoffenbart, es gibt außer dem Worte nichts, worauf wir uns verlassen können. Zum Dritten aber ist es auch lauter Wahrheit, nichts als Wahrheit, ohne eine Spur von Falschem in allen seinen Teilen, mag es verheißen oder drohen, mag es lehren oder erzählen, mag es gebieten oder verbieten. Und schließlich ist es die ganze Wahrheit. Es enthält einfach alles, was zur Seligkeit zu wissen nötig ist. Th. Manton † 1677.


V. 143. Angst und Not haben mich getroffen. Wir haben es nicht nötig, selber uns zu bemühen, um Angst und Not zu treffen, die werden uns schon heute oder morgen zu finden wissen. Dann müssen Gottes Offenbarungen bei uns an die Stelle aller Lust und Freuden der Welt treten, die uns verlassen haben. Wie einsam und verlassen werden wir uns dann fühlen, wenn wir keine andere Lust und Freude kennen, die jene ablösen können und uns in die Ewigkeit das Geleit geben. J. Stephen 1861.
  Ist das nicht sonderbar, dass der Psalmist inmitten von Angst und Not von Lust, von Freude, von Ergötzen sprechen kann? Aber die Süßigkeit von Gottes Wort schmeckt man am besten in der Bitterkeit des Kreuzes. Die Freude Christi und die Freude der Welt können nicht nebeneinander bestehen. Ein Herz, das an den Freuden der Welt seine Lust hat, kann nichts von den Tröstungen des Geistes verspüren, das eine vernichtet das andere. In göttlicher Traurigkeit aber wird man den Trost des göttlichen Wortes lebendig erfahren dürfen. Gar manches Mal hat David von seiner Lust am Worte Gottes gesprochen, und es ist auch fürwahr ein großer Beweis von Gottesfurcht, wenn ein Mensch dahin gekommen ist, nicht nur Ehrfurcht, sondern auch Liebe und Lust dazu zu empfinden. Das sollen sich die Unglücklichen gesagt sein lassen, die das Wort gewohnheitsmäßig vernehmen, denen es aber nur eine Last und Bürde ist. Abraham Wright † 1690.


V. 144. Unterweise mich, so lebe ich. Das gehört zum Vorhergehenden. Denn wenn auch der Psalmist begehrt, dass der HERR seinen Geist erleuchte, so weiß er doch von keinem anderen Wege, zu solcher Einsicht zu gelangen, als durch eifriges Studium des Gesetzes. Weiter lehrt der Psalmist, dass man von einem Menschen nicht sagen kann, er lebe, solange ihm das Licht himmlischer Weisheit fehlt. Da die Bestimmung der Menschen nicht ist, wie unvernünftige Tiere sich bloß den Bauch zu füllen, sondern fortzuschreiten in der Erkenntnis Gottes, um ihm immer besser zu dienen, so ist es schlimmer als ein tausendfacher Tod, wenn einer sich von solcher Anwendung seines Lebens abkehrt. Darum spricht es David offen und bestimmt aus, dass ihm leben etwas mehr bedeute als essen und trinken und sich irdischen Genüssen hinzugeben; es gilt nach einem besseren Leben zu trachten. Das ist eine sehr bedeutungsvolle Mahnung für uns, denn wenn es auch allgemein anerkannt ist, dass die Bestimmung des Menschen ihn in geistiger Begabung weit über die Tiere emporhebt, so erstickt doch die große Mehrzahl jeden Funken göttlichen Lichtes, der ihnen von oben zukommt. Gewiss wollen alle Menschen scharfsinnig sein, aber wie wenige trachten nach dem Reiche Gottes, wie wenige bedenken, dass der Anfang der Weisheit die Furcht des HERRN ist! Wenn so die Beschäftigung mit den göttlichen Dingen durch die Sorgen um das Irdische unmöglich gemacht wird, so besteht eigentlich das menschliche Leben nur aus einem ins Grab Sinken; der Welt leben heißt Gott sterben. Mit dem Worte Leben bezeichnet der Psalmist den Gipfel aller seiner Wünsche. Es ist, als ob er sagte: Wenn ich auch schon tot wäre, HERR, sobald es dir gefällt, meinen Geist mit der Erkenntnis himmlischer Wahrheit zu erleuchten, so ist das genug, um mich zum Leben zu erwecken. Jean Calvin † 1564.
 


1. Zweiundzwanzigmal als Anrede.

 

145. Ich rufe von ganzem Herzen; erhöre mich, HERR,
dass ich deine Rechte halte.
146. Ich rufe zu dir; hilf mir,
dass ich deine Zeugnisse halte.
147. Ich komme in der Frühe und schreie;
auf dein Wort hoffe ich.
148. Ich wache auf, wenn’s noch Nacht ist,
zu sinnen über dein Wort.
149. Höre meine Stimme nach deiner Gnade;
HERR, erquicke mich nach deinen Rechten.
150. Meine boshaften Verfolger nahen herzu
und sind ferne von deinem Gesetze.
151. HERR, du bist nahe,
und deine Gebote sind eitel Wahrheit.
152. Längst weiß ich aber,
dass du deine Zeugnisse für ewig gegründet hast.


  Dieser ganze Abschnitt handelt vom Beten. Der Psalmist schildert Zeit und Art seines Betens und fleht zum HERRN um Erlösung aus seinen Nöten. Wer in seinem Kämmerlein mit Gott Gemeinschaft gepflogen hat, der wird ihn auch im feurigen Ofen bei sich haben. Haben wir zu Gott gerufen, so werden wir auch Antwort bekommen. Verzieht die Antwort, so mag uns das wohl zu dringlichem, ja ungestümem Flehen treiben; aber wegen des schließlichen Erfolges brauchen wir keine Angst zu haben, denn Gottes Verheißungen sind nicht unsicher, sondern "für ewig gegründet" (V. 152). Aus dem Abschnitt ersehen wir, wie der Psalmist betete (V. 145), was er betete (V. 146), wann er betete (V. 147), wie lange er betete (V. 148), worauf er sich bei seinem Flehen stützte (V. 149), was sich dann ereignete
(V. 150), wie er errettet wurde (V. 151) und was sein Zeugnis über die ganze Angelegenheit ist (V. 152).

145. Ich rufe von ganzem Herzen. Sein Beten war das aufrichtige, ernstliche, flehende und klagende Rufen, wie es dem Geschöpf in der Not natürlich ist. Wir wissen nicht, ob er immer seine Stimme laut werden ließ, wenn er so zum HERRN flehte; aber es wird uns etwas gemeldet, das von viel größerer Bedeutung ist, nämlich dass er mit dem Herzen zu Gott rief. Dies Rufen des Herzens ist das Wesentliche alles wahren Betens. Und er betont, dass sein ganzes Herz dabei war. All sein Verlangen und Sehnen strömte zum Herzen des lebendigen Gottes. Wohl dem, der solches von seinem Beten sagen kann! Wir fürchten, es gibt viele, die noch nie in ihrem Leben von ganzem Herzen zu Gott gerufen haben. Ein solches Gebet bedarf keiner vollendeten Form, keiner wortreichen Ergüsse, keiner gesuchten Tiefe der Gedanken, ja nicht einmal einer fehlerfreien Ausdrucksweise; ergießt sich unser ganzes Herz in unseren Gebeten, dann finden diese sicher ihren Weg zum Herzen Gottes.
  Erhöre mich, HERR. Er begehrt vom HERRN, dass sein Rufen nicht in der Luft verhalle, sondern Gott es beachte. Rechte Beter begnügen sich nicht damit, allerlei Bitten als fromme Übung herzusagen, nein, ihr Bitten soll einen Erfolg haben, sie wollen damit etwas erlangen und schauen nach der Gabe aus. Wenn Gott unser Beten nicht hört, so bitten wir umsonst. Manchmal bitten die heiligen Beter, die uns in der Schrift vorgeführt werden, nur: Höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens (Ps. 130,2). Hier (und an vielen Psalmstellen) fleht der Psalmist aber ausdrücklich: Erhöre mich, d. i. antworte auf meinen Hilferuf! Und sein Flehen, das Gebet eines ganzen, ungeteilten Herzens, wendet sich an den HERRN allein; er kennt keine andere Hoffnung, keinen anderen Helfer. "Erhöre mich, Herr", das ist es, was er erbittet und worauf er wartet. Deine Rechte will ich halten. (Wörtl.) Natürlich könnte er nicht erwarten, dass der HERR ihn erhören werde, wenn er nicht auf den HERRN hörte; auch wäre seine Behauptung, dass er von ganzem Herzen zum HERRN rufe, unwahr, wenn sich nicht zu erkennen gäbe, dass er mit allen Kräften sich bemühte, dem Willen des HERRN gehorsam zu sein. Der Zweck, wozu er Befreiung begehrte, war, ungehindert seinem Gott zu dienen und alle Befehle desselben auszuführen. Dazu wünschte er ein freier Mann zu sein. Beachten wir, dass männlich feste heilige Entschiedenheit gar wohl mit herzinnigem Flehen zusammenpasst. Der Psalmist ist fest entschlossen, ein heiliges Leben zu führen, sein ganzes Herz ist bei diesem Vorsatz so gut wie bei seinem Beten. Er will Gottes Rechte bewahren, sie festhalten in seinem Gedächtnis, in seiner Gesinnung und in seinen Handlungen. Er will auch nicht eines der göttlichen Gesetze wissentlich versäumen oder brechen.

146. Ich rufe zu dir (oder wörtl.: dich). Aufs Neue spricht er aus, dass er sich an Gott allein wende. Er ruft ihn als seinen Helfer herbei, er bittet mit Ungestüm, er hat es getan und tut es noch, es ist eine der wichtigsten Beschäftigungen seines Lebens geworden, zu Gott zu rufen. Hilf mir! Das ist seine Bitte; so kurz und doch so inhaltreich. Er bedarf der Hilfe, und niemand als der HERR kann ihm helfen, darum ruft er zu ihm: Hilf mir, rette mich! Hilf mir aus den Gefahren, die mich ringsum bedrohen, von den Feinden, die mich verfolgen, von den Versuchungen, die auf mich eindringen, von den Sünden, die mich anklagen. Er macht nicht viele Worte; das tut man nicht, wenn es einem dringend ernst ist. Er bringt auch nicht eine lange Reihe von Wünschen vor; das tut selten ein Mensch, wenn er auf das eine, was nötig ist, von Herzen bedacht ist. Dass ich deine Zeugnisse halte. Eben dazu bedurfte und begehrte er des Allmächtigen gnädige, rettende, heilvolle Hilfe, dass er imstande sei, ein untadeliges Leben des Gehorsams vor dem HERRN zu führen, den göttlichen Zeugnissen zu glauben und selber ein Zeuge Gottes zu werden. O es ist etwas Großes, wenn Menschen Gottes Hilfe zu solch erhabenem Zwecke suchen. Nicht dazu bat er um Errettung aus der Not, um ungestraft weitersündigen zu können; nein, er rief um Hilfe, um von der Sünde selbst loszukommen. Er hatte im vorhergehenden Vers (nach dem Grundtext) gelobt, die Rechte, die Befehle des HERRN zu beachten, und nun erfleht er Gottes Gnade zur Ausführung des Entschlusses, die Zeugnisse oder Lehren zu halten. Er will einen klaren Kopf und auch reine Hände haben. Gottes Heil hat alles dies Gute im Gefolge. Dem Psalmisten war der Gedanke an ein Heil, das ihm erlaubt hätte, in der Sünde zu leben oder im Irrtum zu verharren, fremd; er wusste sehr wohl, dass ein Mensch nicht gerettet ist, solange er in Ungehorsam und Unwissenheit dahinlebt.

147. Ich komme in der Frühe (wörtl. wohl: Ich komme der Morgendämmerung zuvor) und schreie. Noch vor der Sonne stand er auf, und er begann sein Flehen, noch ehe der Nachttau vom Grase schwand. Was überhaupt wert ist getan zu werden, das ist es auch wert, dass wir es hurtig beginnen. Zum dritten Mal erwähnt er sein Rufen, ja diesmal sagt er, er schreie. Seine Gebetsseufzer waren so häufig geworden, sein Flehen war so anhaltend, so inbrünstig, so dringend, dass er den ganzen Tag sozusagen nichts anderes mehr tat als zu Gott rufen. Sein Verlangen nach Hilfe war so stark und heftig, dass es ihn nicht auf seinem Lager duldete; er konnte nicht früh genug auf seine Knie niedersinken. Auf dein Wort hoffe ich. Die Hoffnung ist das beste Mittel, uns im Beten stark zu machen. Wer möchte auch wohl beten, wenn er nicht hoffen dürfte, dass Gott ihn erhören werde? Und wer wollte nicht beten, wenn er eine gegründete Hoffnung hat, dass sein Flehen in gutem Erfolg enden wird? Seine Hoffnung ruhte auf Gottes Wort, und das ist ein fester Ankergrund; denn Gott ist getreu und ist noch in keinem einzigen Falle von einer Zusage zurückgetreten, hat noch nie das geändert, was aus seinem Munde gegangen. Wer im Gebet eifrig ist, dem wird es nie an Hoffnungsfreudigkeit fehlen. Der Grundtext betont übrigens das Harren: indem ich harre auf dein Wort. Dies Harren ruht auf der Hoffnung, es ist die kraftvolle, ausdauernde Betätigung des Glaubens.

148. Ich wache auf, wenn’s noch Nacht ist, wörtl.: Meine Augen kommen den Nachtwachen zuvor, er ließ sich von keiner derselben schlafend überraschen. Noch ehe der Wächter die erste, die mittlere oder die Morgen-Wache ausrief, rief er schon zu seinem Gott. Ihn brauchte man nicht daran zu mahnen, wie die Stunden dahineilten, denn zu jeder Stunde eilten seine Gedanken und Bitten himmelwärts. Er fing den Tag mit Gebet an und hielt an am Gebet durch all die Tages- und Nachtzeiten hindurch. Die Wachen der Krieger lösten sich ab, der Psalmist aber hielt aus bei seiner heiligen Beschäftigung. Besonders aber bei Nacht hielt er die Augen offen und verscheuchte den Schlaf, um mit seinem Gott Gemeinschaft zu pflegen. Er betete an von Wache zu Wache, wie Reisende von Station zu Station weiter wandern. Zu sinnen über dein Wort. Dieses war ihm Speise und Trank geworden. Das Sinnen über Gottes Wort bot ihm Stärkung seiner Hoffnung und Erquickung im Leide. All sein Denken ging auf dieses teure Wort, das er immer wieder erwähnt und das seines Herzens Freude ist. Sich dahinein zu versenken war ihm erquickender als der Schlummer, und er lernte, den doch auch ihm nötigen Schlaf abzubrechen um des noch viel nötigeren Umgangs mit Gott willen. Es ist sehr lehrreich, dass wir das Sinnen und Forschen in Gottes Wort so oft unmittelbar mit dem inbrünstigen Beten zusammen genannt finden: jenes ist der Brennstoff, der dieses Feuer unterhält. Ach, wie rar ist es in unseren Tagen geworden!

149. Höre meine Stimme nach deiner Gnade. Es ist uns Menschen oft eine große Hilfe beim Beten, wenn wir es laut tun; wir finden es schwer, die Inbrunst der Andacht längere Zeit anzuhalten, wenn wir nicht unsere Stimme dabei gebrauchen. Darum brach auch der Psalmist zuletzt sein Schweigen, verließ seine stillen Betrachtungen und fing an, mit seiner Stimme ebenso wie mit seinem Herzen zu dem HERRN, seinem Gott, zu rufen. Beachten wir, dass er sich nicht auf irgendein eigenes Verdienst beruft, auch nicht einen Augenblick an einen Lohn für seine Leistungen denkt, sondern sich einzig an die freie Gnade wendet. Wenn Gott ein Gebet nach seiner Gnade erhört, so übersieht er alle Unvollkommenheiten des Gebetes wie des Betenden und gewährt das Erbetene in barmherziger Liebe, so wenig der Beter sich dessen auch wert halten mag. Gottes Gnade entsprechend ist es, schnell zu antworten, immer wieder zu helfen und reichlich zu geben, ja überschwänglich mehr zu tun als alles, was wir erbitten oder erdenken (Eph. 3,20). HERR, erquicke (belebe) mich nach deinen Rechten. Hier haben wir noch einen von den ebenso verständigen wie inbrünstigen Bittseufzern des Psalmisten vor uns. Das ist oft das allerbeste Mittel, uns aus allerlei Übel zu helfen, wenn uns frische Lebenskraft verliehen wird, so dass wir dem Tode entrinnen und unter den Bürden des Lebens nicht zusammensinken. Merken wir: er begehrt, erquickt zu werden nach Gottes Rechten, also wie es der höchsten Weisheit und Klugheit entspricht. Die mancherlei Weisen, wie Gott unserem geistlichen Leben mehr Kraft zuführt, sind sehr weise gewählt; es würde wohl vergeblich sein, wenn wir versuchen wollten, sie zu verstehen, und wir tun wohl, wenn wir Gnade zu empfangen begehren nicht nach unseren Vorstellungen davon, wie sie uns zukommen sollte, sondern nach Gottes himmlischer Weise, sie zu gewähren. Es steht ja das Lebendigmachen so gut wie das Töten ausschließlich in der Machtbefugnis des HERRN; darum überlassen wir die Art, wie er sein königliches Vorrecht ausüben will, am besten seinem Ermessen. Hat er uns nicht schon ein immer reicheres Maß von Leben geschenkt?

150. Meine boshaften Verfolger nahen herzu. So Luther nach den alten Übers.; der hebr. Text lautet: Es nahen sich (mir feindlich) Leute, die dem Verbrechen nachjagen. Er konnte ihre Schritte dicht hinter sich vernehmen. Sie nahten ihm nicht in wohlwollender Absicht, sondern um ihm Schaden zuzufügen; darum war alle Ursache vorhanden, das Geräusch ihrer Tritte zu fürchten. Sie verfolgten nicht eine gute Sache, sondern einen guten Menschen. Als ob sie nicht schon böse Anschläge genug im Herzen, Schandtaten genug auf dem Gewissen hätten, laufen sie noch neuen nach. Er sieht ihre tolle Jagd über Stock und Stein, um Unheil über ihn zu bringen, und er weist Gott auf sie hin und bittet ihn, sein Auge auf sie zu richten und sie zu Schanden zu machen. Und weil er sich schon fast von ihnen gepackt fühlt, ruft er um so dringlicher um Hilfe. Und sind ferne von deinem Gesetze. Ehe diese Menschen die Verfolger des Psalmisten werden konnten, mussten sie sich von den Schranken des göttlichen Gesetzes frei machen. Man kann doch nicht zugleich einen Gottesmann hassen und das Gesetz Gottes lieben. Die Leute, die Gottes Gebote halten, fügen weder sich noch andern Schaden zu. Die Sünde ist’s, was so viel Unheil auf Erden anrichtet. Der Psalmdichter findet offenbar einen gewissen Trost in der Tatsache, auf die er darum auch in seinem Gebet hinweist, dass diejenigen, die ihn hassten, auch Gott hassten und es für nötig fanden, sich erst von Gott loszumachen, ehe sie ihr schlimmes Vorhaben gegen ihn ins Werk setzen konnten. Wenn wir wissen, dass unsere Feinde auch Gottes Feinde sind, und dass sie unsere Feinde eben deswegen sind, weil sie seine Feinde sind, so dürfen wir ganz getrost sein.

151. HERR, Du bist nahe. So nahe der Feind ihm auch sein mochte, Gott war noch näher. Gibt es einen köstlicheren Trost für das verfolgte Gotteskind? Der HERR ist nahe; nahe genug, um unser Schreien zu hören und uns schleunigst Hilfe zu bringen, nahe genug, um unsere Feinde zu verjagen und uns Ruhe und Frieden zu geben. Und deine Gebote sind eitel Wahrheit. Gott gebietet keine Lüge und lügt auch selber nicht in seinen Geboten. Die Tugend ist in die Tat umgesetzte Wahrheit, und das ist’s, was Gott gebietet. Die Sünde ist in die Tat umgesetzte Lüge, und das ist’s, was Gott verbietet. Wenn alle Gebote des HERRN Wahrheit sind, so wird der wahrhaftige Mensch sich gerne nahe an sie halten, und bei diesem Bestreben wird er den wahrhaftigen Gott sich nahe finden. Der Inhalt unseres Verses ist die Schutzwehr des bedrängten Gotteskindes gegen die Falschen, die es boshaft verfolgen: Gott ist nahe, und Gott ist wahrhaftig, darum sind die Seinen sicher. Wenn wir je einmal dadurch in Gefahr geraten, dass wir Gottes Geboten gehorchen, so dürfen wir daraus nicht den Schluss ziehen, dass wir unklug gehandelt haben; wir dürfen im Gegenteil ganz sicher sein, dass wir uns auf dem richtigen Wege befinden, denn Gottes Befehle sind recht und wahrhaftig. Gerade darum greifen uns die Gottlosen an; sie hassen die Wahrheit, darum hassen sie auch diejenigen, die die Wahrheit tun. Ihre Gegnerschaft soll uns ein Trost sein, und dass Gott auf unserer Seite ist und uns nahe ist, das ist unser Ruhm und unsere Wonne.

152. Längst weiß ich aus deinen Zeugnissen, dass du sie für ewig gegründet hast. (Wörtl.) Der Psalmist hatte schon lange die Erkenntnis gewonnen, dass Gott seine Gebote vor alters gegründet hatte und dass sie durch alle Zeiten feststehen würden. Es ist ein köstlich Ding, wenn man frühe in Gottes Schule kommt, so dass man die Grundzüge der biblischen Wahrheit schon von Jugend auf kennt. Diejenigen Ausleger, welche meinen, der Psalmist sei ein junger Mann gewesen, als er diesen Psalm geschrieben, dürften ihre Schwierigkeit haben, diesen Vers mit ihrer Ansicht zu vereinigen; es dünkt uns viel wahrscheinlicher, dass der Psalmist ein bereits ergrauter Mann war, der zurückschaut auf die Erfahrungen eines langen Lebens und auf das, was er schon in der Jugend gelernt. Er wusste von Anfang an, dass die Wahrheitslehren des göttlichen Wortes festgesetzt waren, ehe der Welt Grund gelegt ward, dass sie niemals abgeändert worden waren und auch niemals durch irgendeine eintretende Möglichkeit geändert werden würden. Er hatte den Bau seiner Lebensweisheit damit begonnen, dass er auf einen Felsen den Grund legte, indem er erkannte, dass Gottes Zeugnisse "gegründet", das ist fest und unerschütterlich, errichtet seien, nicht nur für die Gegenwart, sondern für alle noch kommenden Zeiten, allen Wechsel der Dinge überdauernd. Darum, weil der Psalmist dies wusste, setzte er so großes Vertrauen ins Gebet und war so kühn, zuversichtlich und dringlich in seinem Flehen. Es ist etwas Herrliches, es mit einem unwandelbaren Gott zu tun zu haben, dem man seine unwandelbaren Verheißungen vorhalten darf. Auf diesem Wege war der Psalmist auch ein so hoffnungsfreudiger Mann geworden. Auf einen wetterwendischen Freund kann man keine großen Erwartungen setzen; wohl aber dürfen wir gute Zuversicht haben zu dem Gott, der sich nicht wandeln kann. Deshalb wollte der Psalmist auch so gerne in seiner Nähe weilen; ist es doch so herrlich, mit einem Freunde, der sich niemals ändert, innigen Verkehr zu pflegen. Möge, wer dazu Lust hat, der Weisheit der modernen Theologie folgen und auf neues Licht harren, das mit seinem neuen Scheine das alte verdunkeln und auslöschen soll - uns genügt die Wahrheit, die so alt ist wie die Berge und so fest gegründet wie die Felsen. Mögen die Weisen unserer Tage, die sich ihres verfeinerten Verstandes rühmen, einen anderen Gott ersinnen, einen mildherzigeren, weichlicheren als den alten Gott Abrahams - wir sind es ganz zufrieden, Jehovah anzubeten, den ewig Unwandelbaren. Die Frommen, die selber fest gegründet sind, haben ihre Freude an dem, was ewig gegründet ist. An Seifenblasen mögen Knaben sich ergötzen, aber Männer schätzen das, was fest und gediegen ist, was auf einem Grunde steht, der die Probe der Zeiten aushält.


V. 145-152. Das achtfache q (K): Treue gegen Gottes Wort und Errettung nach dessen Verheißung ist der Inhalt seines unablässigen Gebetes.

145. Kraft ganzen Herzens rufe ich - erwidre mir,
Jahve, deine Satzungen will ich wahren!
146. Komm mir zu Hilfe, wenn ich zu dir rufe,
Und beobachten will ich deine Zeugnisse!
147. Kaum dass der Morgen graute, fleht’ ich schon;
Auf dein Wort harrte ich.
148. Keine Nachtwache beginnt, der meine Augen nicht zuvorkämen,
Zu sinnen über deine Aussage.
149. Kunde nimm von meinem Ruf nach deiner Gnade;
Jahve, deinen Rechten gemäß belebe mich.
150. Kommen heran Schandbarem Nachjagende,
Die von deinem Gesetze sich entfernen:
151. Kommst umso näher du, o Jahve,
Und all deine Gebote erwahren sich.
152. Klar ist vorlängst mir aus deinen Zeugnissen,
Dass du für ewig sie gegründet.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 145. Ich rufe von ganzem Herzen. Wenn du die Pflichten des Gebetskämmerleins erfüllst, so denke daran, dass es dem lieben Gott zuerst und zumeist auf dein Herz ankommt. "Gib mir, mein Sohn, dein Herz" (Spr. 23,26). Gott sieht nicht auf die äußere Formenschönheit oder Maß und Zahl deiner Gebete; was er verlangt, ist, dass dein Gebet dir Herzenssache sei. Ihm gefällt ein geängstetes und zerschlagenes Herz, aber ein halbes Herz ist ihm ein Gräuel. Du sollst lieben den HERRN, deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Gebet, bei dem das Herz nicht beteiligt ist, ist nur ein tönendes Erz, eine klingende Schelle. Nicht das Erheben der Stimme, das Falten der Hände, das an die Brust Schlagen hat bei Gott einen Wert, sondern einzig das Rufen aus der Tiefe des Herzens. Gott hört keine andere als diese Stimme, und solange das Herz stumm bleibt, solange bleibt auch er taub. Th. Brooks † 1680.


V. 145.146. Erhöre mich, hilf mir! So kurz diese Bitten auch sind, mit allen Worten unseres Sprachschatzes könnten wir sie nicht ausdrucksvoller gestalten. Da ist wirklich das ganze Herz mit beteiligt. Und in dem "Hilf mir" ist alles enthalten, was ein Sünder braucht, Vergebung, Zugang zum Thron der Gnade, Heiligung, Stärkung, Trost, alles in allem. Erhöre mich, im Namen meines Fürsprechers, der alles bei dir gilt; hilf mir durch ihn, dessen Name ist Heiland, Helfer, Erlöser. Solches Rufen dringt durch alle Himmelsweiten. Es bedarf keines lauten Geschreis, der HERR hört das leiseste Seufzen des bedrängten Herzens. Aber auch wenn unter den Qualen äußerer und innerer Nöte das leise Flehen zum lauten Rufen, zum Schreien wird, so wendet sich der HERR nicht in Missfallen ab, sondern hat auch dafür ein offenes Ohr. (Ps. 3,5.) Charles Bridges † 1869.


V. 146. Die Knechte Gottes sehen den Hauptwert des Lebens und seinen Hauptzweck darin, Gott dienen zu können: Hilf mir, dass ich deine Zeugnisse halte, das ist das Gebet eines wahren Gläubigen in Zeiten der Not und Anfechtung. Christus, spricht er, ist mein Leben. Wie anders doch als bei den Gottlosen, deren ganzes Wünschen und Verlangen in Zeiten der Not und des Kummers nur auf Erlösung von dem äußeren Übel gerichtet ist. Sie haben kein Verlangen, von der Sünde frei zu werden, und das Sehnen, Gott ähnlich zu werden, ist ihnen fremd. John Morison 1829.


V. 147. Ich komme der Morgendämmerung zuvor (Grundtext) und schreie. Zum rechten Beten gehört vor allem Wachsamkeit und Treue. Freilich, wer das Beten nur als Gewohnheitssache betreibt, wird davon nichts empfinden; er besorgt es so nebenbei, gelegentlich, wenn er gerade nichts Besseres zu tun weiß, aber nicht als eine unerlässliche Pflicht. Wem das Beten aber eine Herzenssache ist, der wird sich nicht frühe genug daran machen können, und von früh bis spät, Tag und Nacht wird es seine Lieblingsbeschäftigung sein, Verkehr mit seinem Gott zu pflegen. Dies Verlangen lässt ihm keine Ruhe, so steht er denn frühe am Morgen auf, um mit ihm zu reden: Ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich (Ps. 88,14). Thomas Manton † 1677.
  Es ist betrübend, wenn die Strahlen der Sonne dich träge auf deinem Lager finden, wenn das helle Tageslicht auf Augen fällt, die noch vom Schlafe der Weichlichkeit und Faulheit schwer sind. Weißt du nicht, o Mensch, dass du jeden Tag die Erstlinge deines Herzens und deiner Stimme Gott schuldest? Du hast eine tägliche Ernte, so hast du auch täglich Gott deinen Tribut darzubringen. Der Herr Jesus blieb die ganze Nacht im Gebet und hat dir damit ein Beispiel gegeben, dem du nachahmen sollst. Ambrosius † 397.
  Und schreie. Dies ist das dritte Mal (V. 145.146.147), und diesmal verstärkt. Wir klopfen dreimal an die Tür, dann gehen wir wieder hinweg. Unser Herr und Heiland betete zum dritten Male und redete dieselbigen Worte (Mt. 26,44). Der Apostel Paulus sagt: Dafür ich dreimal dem HERRN gefleht habe
(2. Kor. 12,8). Und Elia streckte sich über dem Kinde dreimal aus und rief den HERRN an (1. Könige 17,21). Dies war augenscheinlich die Zahl von Bitten, von der man in wichtigen Fällen einen Erfolg erwartete. Aber ich möchte das Bitten nicht auf diese Anzahl beschränken, vielmehr sollen wir es für eine und dieselbe Sache so oft wiederholen, wie es in jedem Falle nötig ist, bis wir Antwort bekommen. Thomas Manton † 1677.
  Indem ich auf dein Wort harre. (Wörtl.) Selbst wenn das Beten uns je und dann keinen Genuß gewährt, so lasset uns wenigstens Gott ehren durch den Geist zuversichtlichen Wartens. Charles Bridges † 1869.


V. 147.148. Wir ersehen aus dieser Stelle erstens, dass der Psalmist ein Frühaufsteher war. Dem verdankte er vielleicht einen Teil seiner Erfolge. Er gehörte nicht zu denen, die sprechen: Ich will noch ein wenig schlafen und ein wenig schlummern. Wir sehen ferner, dass er seinen Tag mit Gott anfing; sein erstes Geschäft war das Beten, er tat es, solange sein Geist noch frisch war. Wenn unsere ersten Gedanken jeden Morgen auf Gott gerichtet sind, so wird uns das helfen, den Tag über in seiner Furcht zu bleiben. Drittens aber sehen wir, dass sein Geist so von Gott erfüllt war, dass ihm auch ein kurzer Schlaf genügte. Selbst wenn er erwachte, da es noch Nacht war, wollte er lieber über Gottes Wort sinnen, als sich auf die andere Seite legen und weiter schlafen. Zum Vierten wusste er sich Zeit für die Erfüllung seiner religiösen Pflichten zu verschaffen. Er hatte den ganzen Tag zu tun, vom Morgen bis zum Abend. Das entbindet einen Menschen aber nicht von der Pflicht des Gebetes und der stillen Andacht. Es ist besser, den Schlaf abzubrechen, um Zeit dazu zu gewinnen, als keine Zeit zum Gebet zu finden. Und ist es nicht ein erhebender Gedanke, dass wir uns nie zu unpassender Zeit Gottes Thron nahen können, wir mögen kommen, zu welcher Nachtstunde wir wollen? Baal mag schlafen, aber der Gott Israels schläft noch schlummert nicht, zu ihm darf man zu jeder Stunde kommen. Matthew Henry † 1714.


V. 148. Ich wache auf, wenn’s noch Nacht ist, zu sinnen über dein Wort. Hier haben wir einen Gottesmann, der von Jugend an ein eifriger Bibelleser und Bibelforscher gewesen ist. Jahr um Jahr hat er sich dieser Aufgabe gewidmet, obwohl seine Bibel noch einen sehr kleinen Umfang hatte. Sollte man da nicht denken, er musste schließlich damit "durch" sein, die Schrift könne ihn nichts Neues lehren? Aber wie spricht der königliche Forscher und Schriftkundige? Er sieht mehr Arbeit vor sich, als er in seinen ganzen Leben wird bewältigen können; er nimmt die Nachtstunden zu Hilfe, damit er über Gottes Wort sinnen möge. Kein Gottesgelehrter wird je seine Forschungen als abgeschlossen ansehen können, so dass er in Verlegenheit käme, womit er sich weiter zu beschäftigen habe. Henry Melville † 1871.
  Mein Auge kommt den Nachtwachen zuvor. (Wörtl.) Die Juden teilten (wie die Griechen und Römer) die Nacht in "Wachen", den Zeitraum, den eine Wache auf ihrem Posten zuzubringen hatte. Bei den Juden gab es drei solcher Wachen, also von Sonnenuntergang bis etwa 10 Uhr die erste Wache (vergl. Klgl. 2,19), die mittlere Nachtwache etwa von 10 bis 2 Uhr (Richter 7,19), und die häufiger erwähnte Morgenwache bis zum Sonnenaufgang (2. Mose 14,24; 1. Samuel 11,11.) Während dieser Zeit scheinen Wächter die Straßen der jüdischen Städte begangen zu haben (Hohelied 3,3; Ps. 127,1; 130,6). Im Neuen Testament begegnen wir der römischen Einteilung von vier Wachen (vergl. Mt. 14,25; vergl. auch Mk. 13,35; Apg. 12,4). W. L. Bevan 1863.


V. 149. Erquicke, d. i. belebe mich. Manche verstehen hierunter ein Wiederfrohmachen nach der Zeit des Kummers; denn ein bekümmerter, ein unglücklicher Mensch ist wie einer, der tot und begraben ist unter tiefen, schweren Sorgen, und die Erlösung aus diesen ist gleich einem Wiederaufleben (vergl.
Ps. 71,20, wo im Grundtext dasselbe Wort gebraucht ist). Andere wollen in dem Erquicken die Erneuerung des geistlichen Lebens sehen; der Psalmist bitte den HERRN, er möge das Leben, das er ihm verliehen, wiedererwecken und stärken, damit es zur herrlichen Vollendung gelange. Th. Manton † 1677.


V. 150. Meine boshaften Verfolger sind ferne von deinem Gesetz. Wenn unsere Widersacher so ferne sind vom Gehorsam des Gesetzes, so darf es uns nicht wundern, wenn sie gleich ferne sind von der Liebe zu uns. Trösten wir uns also darüber, dass wir so häufig auf die Teilnahme und das Mitgefühl unserer Nächsten verzichten müssen, mit dem Bewusstsein, dass auch Gott auf seine Ehre bei ihnen verzichten muss. William Cowper † 1619.


V. 150.151. Unsere geistlichen Feinde liegen ebenso wie Davids Verfolger stets auf der Lauer. Der Löwe, der zu verschlingen sucht, und die falsche, hinterlistige Schlange, diese boshaftigen Verfolger nahen herzu, und sie sind doppelt gefährlich, da sie ungesehen sich heranschleichen. Es naht sich auch die Welt mit ihren Verlockungen und Schlingen, und ganz nahe bei uns ist unsere eigene Sündhaftigkeit, die uns von unserem Gott scheidet. Wenn wir uns aber daran gewöhnt haben, uns immer wieder "zur Festung zu kehren" (Sach. 9,12), dann können wir mit freudiger Zuversicht bekennen: HERR, Du bist nahe. Obwohl du bist der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet, des Name heilig ist, obwohl du bist der gerechte, der furchtbare Gott, so bist du doch den Deinen nahe, und sie sind dir nahe durch das Blut der Versöhnung. Und du offenbarst uns dieses Nahesein in deinem Sohne, dem Geliebten. Charles Bridges † 1869.
  Von dem Gedanken an die Bosheit seiner Feinde wendet er sich ab zu dem Gedanken an Gottes huldreiche Gnadennähe. Und das ist auch das Beste, was wir tun können, wenn wir nicht beim Anblick der Zahl und Stärke und Bosheit unserer Feinde den Mut verlieren sollen. Darum hebet eure Augen auf zum HERRN, dann werdet ihr auch sehen, dass eure Verfolger nicht so nahe sind, euch zu verderben, wie der HERR nahe ist, euch zu helfen, und dass für jedes Übel, das wir von ihnen zu fürchten haben, Gott als Gegenmittel ein Gutes hat, das ausreicht, uns zu schützen. William Cowper † 1619.


V. 151. HERR, du bist nahe. Einst war es des Menschen größte Seligkeit, dieses zu wissen, es war die Quelle allen Trostes, die schönste Blume, die der Garten Eden hervorbrachte. Die Sünde hat sie verdorren gemacht. Aber dieser selige Zustand muss wiederkehren, die Blume muss wieder aufblühen, und das auch noch hienieden. HERR, du bist nahe. Schon in den Werken der Schöpfung, in der Pracht der Sonne in dem milden Glanze des Mondlichtes, in dem Grün der Wälder, dem Duft der Blumen, dem Gesang der Vögel spüren wir, o HERR, etwas von deiner Gegenwart; nicht mit den Augen des Leibes, aber mit den Augen des Geistes nehmen wir dich wahr in deinen Werken. Und im Buche deiner Vorsehung, so dunkel seine Schrift mir auch erscheinen mag, habe ich Zeugen deiner Gegenwart. Dort lese ich von deiner Weisheit, wie sie sich in der Welt, der Kirche, dem Leben des Frommen offenbart, von deiner Macht, deiner Gerechtigkeit, deiner Treue, deiner Heiligkeit, deiner Liebe. Aber am deutlichsten erkenne ich deine Nähe in deinem lieben Sohne. In ihm bist du uns ganz nahe gekommen, nahe als ein die Sünden vergebender, seine Verheißungen haltender Gott, als ein Gebet erhörender, ein seinen Bund haltender Gott, als ein gütiger, freundlicher Vater. Ja, nahe geworden sind wir nun auch durch das Blut Christi, und durch dieses allein, und wir sollten vor dir wandeln unter deinen Augen in heiliger Furcht, in kindlicher Liebe, in einfältigem Glauben. Wenn Sünde, Welt und Satan uns mit ihren Verführungen von dir hinweg ziehen wollen, o so gib, dass wir immer dessen eingedenk seien: HERR, du bist nahe. Und wenn alles mich im Stiche lässt, worauf ich mich verlassen hatte, wenn meine Freunde sich von mir abwenden, wenn die festesten, innigsten Bande sich lösen, dann will ich doch mich daran halten: HERR, du bist nahe. Und wenn sich auch Leib und Seele scheiden, wenn mein brechendes Auge die Dinge dieser Erde nicht mehr zu erkennen vermag, dann darf ich noch in Gewissheit des Glaubens, in Lebendigkeit der Hoffnung, in Glut der Liebe es mir vorhalten: HERR, du bist nahe. J. H. Evans † 1849.
  Deine Gebote sind eitel Wahrheit. Sein Gedankengang an dieser Stelle ist: Wenn schon, o HERR, die Bosheit der Gottlosen mich verfolgt, weil ich dir nachfolge, so weiß ich doch, dass deine Gebote wahr sind, und dass es nicht möglich ist, dass du deine Knechte verlassest, die im Gehorsam deiner Gebote leben. David fand eben seinen Trost nicht in eitlem Vertrauen auf seine eigene Kraft oder Weisheit, sondern in der Wahrheit von Gottes Verheißungen, von welchen er sicher wusste, dass sie ihn nie im Stiche lassen würden. Er stellt hier in versteckter Weise das Wort des HERRN und das Gerede seiner Feinde einander gegenüber. Menschen mögen befehlen, drohen, es ist in den Wind geredet. Aber Gottes Taten bleiben nie hinter seinen Worten zurück, im Gegenteil, seine Knechte dürfen stets erfahren, dass die Erfüllung seiner Verheißungen noch viel herrlicher ist als alles, was sie zu hoffen gewagt hatten. Aber auch seine Feinde werden zu ihrem Schrecken erfahren müssen, dass seine Gerichte noch viel schrecklicher sind, als sie nach seinen Drohungen erscheinen. William Cowper † 1619.


V. 152. Dieser Abschnitt (V. 145-152) endet mit einem Triumphlied des alle Gefahren und Versuchungen überwindenden Glaubens. Längst weiß ich aus eigener und fremder Erfahrung, dass du deine Zeugnisse, die Offenbarungen deines Willens, deinen ganzen Heils- und Erlösungsplan, für ewig gegründet hast, so dass sie nun fest und unverrückt dastehen als Offenbarungen deiner Göttlichkeit, die in Zeit und Ewigkeit diejenigen nicht betrügen, die sich auf sie verlassen. Bischof G. Horne † 1792.
  Längst weiß ich. Er ist nicht erst neuerdings zu dieser Überzeugung gekommen, er weiß es, solange er überhaupt von Gott weiß, dass Gott sein Wort dazu bestimmt hat, als unverbrüchliche Regel für sein Verfahren mit den Menschenkindern zu gelten. Davids Überzeugung von der Wahrheit und Unwandelbarkeit des Wortes entspringt nicht einer Laune, ist nicht ein plötzlicher Einfall, sie ist ihm in langjähriger Erfahrung zur Gewissheit geworden. Ein oder zwei Erlebnisse wären noch kein genügender Beweis für die Wahrheit des göttlichen Wortes, es könnte da ein zufälliges Zusammentreffen vorliegen; aber Gottes Wort erweist sich als wahrhaftig von Ewigkeit her, nicht ein- oder zweimal, sondern immer. Die Septuaginta hat an dieser Stelle kat) a)rca/j von Anbeginn. Das könnte heißen: von der frühesten Jugend an, wie Paulus von Timotheus sagt, dass er von Kind auf die Heilige Schrift wisse, oder: von der Zeit an, da er sich mit ernsteren Dingen beschäftigte, oder aber: von Alters her, nach allem, was er von vergangenen Zeiten gehört hat; die Väter haben auf ihn gebaut, sich auf ihn verlassen, und er hat sie erlöst, sie vertrauten auf ihn, und er errettete sie (Ps. 22,5.6). Thomas Manton † 1677.


153. Siehe mein Elend und errette mich;
hilf mir aus, denn ich vergesse deines Gesetzes nicht.
154. Führe meine Sache und erlöse mich;
erquicke mich durch dein Wort.
155. Das Heil ist ferne von den Gottlosen;
denn sie achten deine Rechte nicht.
156. HERR, deine Barmherzigkeit ist groß;
erquicke mich nach deinen Rechten.
157. Meiner Verfolger und Widersacher sind viele;
ich weiche aber nicht von deinen Zeugnissen.
158. Ich sehe die Verächter, und es tut mir wehe,
dass sie dein Wort nicht halten.
159. Siehe, ich liebe deine Befehle;
HERR, erquicke mich nach deiner Gnade.
160. Dein Wort ist nichts denn Wahrheit;
alle Rechte deiner Gerechtigkeit währen ewiglich.


In diesem Abschnitt dringt der Psalmist noch näher an Gott heran mit Gebet und Flehen, um dem HERRN die Lage, in der er sich befindet, vorzustellen und seine allmächtige Hilfe mit noch größerer Kühnheit und Zuversicht als bisher zu erbitten. In herzbewegendem Kindesflehen schüttet er sein Herz vor Gott aus, und der Grundton des Ganzen ist in dem Wort "Siehe", womit der Abschnitt anfängt, und das in dem vorletzten Vers wiederkehrt, gegeben. Mit großer Freimut beruft der Psalmist sich auf seine innige Verbindung mit der Sache des HERRN als Grund, weshalb ihm geholfen werden solle. Die Hilfe, die er vor allem begehrt, ist Erquickung, das ist Neubelebung; um diese fleht er immer wieder (V. 154.156.159).

153. Siehe mein Elend und errette mich. So traurig es um die Sache des Psalmisten steht, es ist dennoch eine gute Sache, und er ist bereit, ja von dem eifrigen Wunsche beseelt, sie vor Gott zu bringen und seiner Entscheidung zu übergeben. Er tritt ganz auf wie einer, der sich dem Richter gegenüber sicher weiß. Doch ist er nicht ungeduldig; er begehrt nicht ein überstürztes Handeln zu seinen Gunsten, sondern zunächst Erwägung seines Falles. "Siehe mein Elend, schau dir’s zuerst an, dann urteile selbst, ob du mir nicht heraushelfen musst. Aus der Erkenntnis meiner traurigen Lage heraus entscheide du dich für die beste Weise und die geeignete Zeit zu meiner Errettung." Zweierlei also ist’s, was der Psalmist begehrt: erstens eine gründliche Berücksichtigung seines Elends und zweitens Errettung, und diese Errettung solle eben aus der Erwägung seiner Trübsal hervorgehen. Es sollte das Verlangen jedes Frommen sein, der in Unglück ist, dass der HERR seine Not ansehe und ihr in einer solchen Weise abhelfe, die am besten Gottes Ehre und dem wahren Vorteil des Bedrängten entspricht. Bezeichnend ist der Ausdruck "mein Elend". Der Psalmist hat wie jeder sein besonderes Leid, das ihm eigentümlich zugehört; genau diese Last hat niemand sonst zu tragen. Wie gut, dass der HERR sich um jeden Einzelnen und seine besonderen Trübsale persönlich kümmert! Die Bitte des Psalmisten ist aber auch ganz seinem tatsächlichen Bedürfnis angepasst; er fleht um Errettung, er begehrt, dass ihm aus der Not herausgeholfen und er vor allen üblen Folgen derselben bewahrt werde. Sieht Gott unser Elend an, so heißt das, dass er zur rechten Stunde auch eingreift. Menschen sehen oft viel Elend und tun doch nichts; nicht so unser Gott. Hilf mir aus (dies ist ein wiederholender Zusatz von Luther), denn ich vergesse deines Gesetzes nicht. Sein Elend mit allem Bitteren, das damit verbunden war, genügte doch nicht, um die Erinnerung an Gottes Gesetz aus seinem Herzen zu tilgen, noch vermochte es ihn dazu zu bringen, dem Gebote Gottes zuwider zu handeln. Des Glücks mochte er vergessen (Klgl. 3,17), nicht aber den Gehorsam, den er Gott schuldig war. Wohl dem, der dies wie der Psalmist ehrlich geltend machen kann. Haben wir uns, dank der göttlichen Gnade, den Geboten des HERRN gegenüber treu erwiesen, dann dürfen wir auch bestimmt erwarten, dass Gott sich seinen Verheißungen gegenüber als treu erweisen wird. Er wird den nicht lange in Anfechtung und Not lassen, dessen einzige Besorgnis in der Anfechtung die ist, dass er vom rechten Wege abkommen könnte.

154. Führe meine Sache und erlöse mich. Im letzten Vers bat er: Errette mich, und hier gibt er genauer an, wie er sich diese Errettung denkt: der HERR solle ihm seine Sache führen. Gott hat vielerlei Wege, um die von Verleumdung Betroffenen von den gegen sie erhobenen Beschuldigungen zu reinigen. Er kann die Wahrheit offenbar machen, so dass alle merken, dass sie betrogen worden sind, und das ist in der Tat die beste Art, jemandes Sache zu führen. Er kann den Gottesfürchtigen Freunde erwecken, die kein Mittel unversucht lassen, bis ihre Unschuld erwiesen ist; er kann die Herzen ihrer Feinde so mit Furcht erfüllen, dass sie ihre Falschheit bekennen müssen und der Gerechte so errettet wird, ohne dass er eine Hand zu rühren braucht. Ja, HERR, kämpfe du meinen Kampf und erlöse mich, nimm du meine Stelle ein, stehe an meiner Statt, trage meine Last, bezahle mein Lösegeld und mach mich frei. Wenn wir vor dem Feinde verstummen und nicht für uns selber reden können, hier ist ein Gebet, das für solche Fälle wie geschaffen ist. Welch ein Trost liegt doch darin, dass wir, selbst wenn wir fehlen, doch einen Fürsprecher haben und dass, wenn uns keine Schuld trifft, derselbe Sachwalter auf unserer Seite steht. Erquicke, d. i. belebe mich. Diese Bitte kam auch im letzten Abschnitt vor
(V. 149), und sie findet sich in diesem Abschnitt noch zweimal (V. 156.159). Es ist ein Wunsch, der nicht zu oft in uns auftauchen, nicht zu oft laut werden kann. Die Seele ist der Mittelpunkt alles Lebens, und Belebung ist der Mittelpunkt alles Segens. Was liegt doch alles darin: mehr Liebe, mehr Gnade, mehr Glauben, mehr Mut, mehr Kraft, und wenn wir dies alles erhalten, dann können wir schon den Kopf aufrecht halten vor unseren Gegnern. Gott allein vermag so zu erquicken; aber ihm, dem Herrn und Spender alles Lebens, ist solches eine Kleinigkeit, und er tut es so gerne. Durch dein Wort, Grundtext: deinem Worte gemäß. Der Psalmist hatte solch herrlichen Segen in Gottes Wort verheißen gefunden, oder es war ihm wenigstens klar geworden, dass es dem allgemeinen Sinn des Wortes Gottes entspreche, dass solche, die in schwerer Prüfung Glauben halten, erquickt und aus dem Staube wieder aufgerichtet würden. Darum beruft er sich auf das Wort; und wahrlich, was könnte er besseres tun?

155. Das Heil ist ferne von den Gottlosen. Indem sie vom Bösen nicht ablassen wollen, haben sie sich eigentlich selbst jeder Hoffnung beraubt. Mancher weiß wohl gar fromm über das Seligwerden zu schwatzen, aber sie können unmöglich etwas davon begriffen haben, sonst würden sie nicht gottlos bleiben. Jeder Schritt vorwärts auf dem bösen Wege hat sie weiter vom Reich der Gnade entfernt, sie schreiten von einem Grade der Verhärtung zum anderen, bis ihre Herzen ganz von Stein sind. Wenn sie ins Elend geraten, dann ist es heilloser Jammer. Doch führen sie große Worte im Munde, als ob sie entweder gar keine Erlösung brauchten oder aber sich retten könnten, sobald es ihnen einfallen sollte. Denn sie achten deine Rechte nicht, sie fragen nichts danach. Sie geben sich nicht die geringste Mühe, gehorsam zu sein, im Gegenteil, sie fragen nur nach dem, was ihre Lüste befriedigt; sie suchen eifrig, was böse ist, darum finden sie auch nie den Weg der Heiligkeit und Gerechtigkeit. Ist es einmal geschehen, dass der Mensch die Gesetze des HERRN gebrochen hat, so ist das Beste, was er dann noch tun kann, in aufrichtiger Reue Vergebung, im Glauben Heil zu suchen. Dann ist das Heil ihm nahe, so nahe, dass er es nicht verfehlen kann. Wenn die Gottlosen aber immer weiter nach Üblem trachten, so wird das Heil ihnen immer ferner. Heil und Gottes Rechte gehen immer Hand in Hand. Wer vom König der Gnaden erlöst worden ist, der liebt die Gebote des Königs der Herrlichkeit.

156. Dieser Vers gleicht außerordentlich dem 149., ohne darum eine bloße nutzlose Wiederholung desselben zu sein. Die beiden unterscheiden sich vielmehr schon in ihren Grundgedanken wesentlich. In jenem, dem 149. Verse, erwähnt er sein Beten und überlässt es der Weisheit und dem Urteil Gottes, wie dasselbe erhört werden soll. Hier hingegen beruft er sich gar nicht auf sein Flehen, sondern einfach auf die Gnade des HERRN, und bittet um Belebung nach den Rechtsordnungen des HERRN, damit er nicht geistlicher Schlaffheit verfalle. Wer wie der Psalmist vom göttlichen Geiste erfüllt ist, der kommt gewiss nie mit seinem Gedankenvorrat zu kurz, so dass er genötigt wäre, sich zu wiederholen. Jeder Vers in diesem Psalm ist eine besondere köstliche Perle, jeder Grashalm in diesem Gefilde trägt seinen eigenen Tropfen Himmelstau. HERR, deine Barmherzigkeit ist groß. Der Psalmist beruft sich hier auf die Größe von Gottes Barmherzigkeit, die Unendlichkeit seiner Liebe, und stützt damit die eine große Bitte, die ihm so auf dem Herzen liegt, nämlich die Bitte um Belebung von oben. Diese ist in der Tat eine große Gnadenerweisung. Wie sollte der herrliche Jehovah, dessen Barmherzigkeit so reich ist, seinen Knecht verschmachten lassen! Erquicke, belebe mich nach deinen Rechten, deinen ewigen Ordnungen, die du in deinem Wort und deinen Taten kundgetan hast. - Die Größe der Barmherzigkeit Gottes ist auch der Größe seiner Not gewachsen, auf die er nun wieder zurückkommt.

157. Meiner Verfolger und Widersacher sind viele. Groß ist die Zahl derer, die mich offen angreifen oder im Geheimen hassen. Diese Tatsache stellt er der großen Barmherzigkeit Gottes gegenüber. Es könnte befremdlich erscheinen, dass ein so wahrhaft gottesfürchtiger Mensch viele Feinde gehabt haben solle; aber solches ist ganz unvermeidlich. Sie werden den Jünger nicht lieben, wenn sie den Meister hassen. Es muss Feindschaft bestehen zwischen dem Samen der Schlange und dem des Weibes, das liegt in der Natur der Sache. Ich weiche aber nicht von deinen Zeugnissen. Er bog nicht eine Handbreit ab von Gottes Wahrheit, sondern blieb auf dem geraden Wege, wie viele Widersacher ihm denselben auch zu verlegen trachteten. Schon mancher hat sich um eines einzigen Feindes willen dazu verleiten lassen, krumme Pfade einzuschlagen, hier aber ist ein Heiliger, der einer Schar von Verfolgern zum Trotz auf seinem Wege ausharrte. In den Zeugnissen Gottes findet sich genug, was uns zum kühnen Vordringen gegen alle Heerscharen veranlassen kann, die sich uns entgegenstellen. Solange uns unsere Feinde nicht zum Abfall von Gott und seinem Wort treiben oder verlocken können, haben sie uns noch keinen großen Schaden zugefügt und alle ihre Bosheit vergeblich verschwendet. Weichen wir nicht ab, so müssen sie weichen. Können sie uns nicht zum Sündigen verführen, so haben sie ihr Ziel verfehlt. Treue gegen die Wahrheit bedeutet gewissen Sieg über die Feinde.

158. Ich sehe (oder: sah) die Verächter. Ich sah diese Verräter, ich erkannte ihre Gesinnung, ihre Ziele, ihre Handlungsweise und den Ausgang, den sie nehmen werden. Ich konnte sie ja nicht übersehen, denn sie stellten sich mir in den Weg, und da ich sie bemerken musste, so betrachtete ich sie mir genau, um von ihnen zu lernen, was zu lernen möglich war. Und es tut mir wehe (oder: und empfand Ekel). Es schmerzte mich, solche Sünder zu sehen, sie erregten meinen Widerwillen, meinen Abscheu. Ich fand an ihnen kein Gefallen, ach nein, sie waren für mich ein trauriger Anblick, so glänzend ihr Auftreten auch war und so witzig sie zu reden wussten. Selbst wenn sie am fröhlichsten waren, machte ihr Anblick mir das Herz schwer, ich konnte weder sie noch ihr Tun und Treiben ertragen. Dass sie dein Wort nicht halten. Mein Kummer und Abscheu ward viel mehr durch ihre Sünde wider Gott als durch ihre Feindschaft gegen meine Person hervorgerufen. Dass sie meine Worte missachten und verdrehen, könnte ich tragen, nicht aber, dass sie deine Worte in den Wind schlagen und verunehren. Dein Wort ist mir so köstlich, dass tiefe Entrüstung in mir erregt wird gegen diejenigen, die es nicht halten wollen. Ich kann mit solchen nicht Gemeinschaft halten, die Gottes Wort nicht halten. Dass sie mich nicht lieben, das hat wenig zu sagen, dass sie aber die Lehren des HERRN verachten, ist abscheulich.

159. Siehe, ich liebe deine Befehle. Schon einmal in diesem Abschnitt bat er den HERRN, doch zuzusehen. Sieh mein Elend, hatte er V. 153 gebeten, und hier: Sieh meine Liebe zu dir. Er liebt Gottes Befehle, er liebt sie unaussprechlich, so dass er sich grämt über die, die sie nicht lieben. Daran erkennt man, wer es ernst meint. Es gibt viele, die ihr Herz zu Gottes Verheißungen hinzieht, aber von den Befehlen wollen sie nicht recht etwas wissen, sie sind ihnen zu sehr gegen ihren Geschmack, sind ihnen zu schwer. Aber der Psalmist liebte alles Gute und Treffliche so sehr, dass er an allem Gefallen hatte, was Gott geboten hat. Alle Gebote des HERRN sind weise und heilig, darum liebte sie der Mann Gottes, er hörte sie gerne, er dachte viel an sie, er verkündigte sie mit Freuden, und vor allem übte er sie gerne aus. Er bittet den HERRN, daran zu gedenken und das zu berücksichtigen, nicht als ob er sich ein Verdienst daraus gemacht hätte, sondern gewissermaßen als Erwiderung auf die verleumderischen Beschuldigungen, die ihm zu jener Zeit besonders viel Kummer bereiteten. HERR, erquicke (belebe) mich nach deiner Gnade. Er kommt abermals auf seine frühere Bitte (V. 154.156) zurück: "Erquicke mich". Er betet zum dritten Mal und redet dieselben Worte. Wir können wohl verstehen, dass es dem Psalmisten bei den unablässigen Angriffen seiner Feinde zumute war wie einem, der halb ohnmächtig ist, der im Begriff steht, ganz die Besinnung zu verlieren und hinzusinken, um nicht wieder aufzustehen. Was er da brauchte, war eben Erquickung, neue Lebensfreudigkeit. HERR, der du mir das neue Leben geschenkt, da ich tot war in Sünden, erquicke mich nun auch, damit ich nicht wieder zu den Toten gehöre, damit ich die Kraft habe, die Angriffe meiner Feinde auszuhalten, die Schwäche meines Glaubens, die betäubende Gewalt von Kummer und Sorge zu überwinden. Dieses Mal aber spricht er nicht: "Erquicke mich nach deinen Rechten" (V. 156), sondern: "Erquicke mich nach deiner Gnade". Das ist das schwerste, das Hauptgeschütz, das er noch zu guter Letzt auffahren lässt, seine ultima ratio, sein letztes Mittel; wenn dieses wirkungslos bliebe, dann wäre alles verloren. Schon lange hat er an die Gnadenpforte geklopft; bei diesem letzten Versuch wendet er seine äußerste Kraft an. Nach seinem schweren Sündenfalle war Davids Gebet: HERR, sei mir gnädig nach deiner Güte (oder Gnade), und nun, da er in großer Trübsal ist, nimmt er zu demselben Flehen seine Zuflucht. Weil Gott die Liebe ist, will er uns Leben schenken; weil er so gütig ist, wird er diese himmlische Flamme wieder in uns anfachen, dass wir in Kraft wandeln und kämpfen können.

160. Der Sänger schließt den Abschnitt ähnlich wie den vorhergehenden, nämlich indem er die Gewissheit der göttlichen Wahrheit hervorhebt. Der Leser beachte die Übereinstimmung zwischen den Versen 144.152.160. Dein Wort ist nichts denn Wahrheit. Was auch die Übertreter sagen mögen, Gott ist wahr, und sein Wort ist wahr. Die Gottlosen sind falsch, aber Gottes Wort nicht. Überrechnen wir den Inhalt des ganzen Gotteswortes, so ist das Ergebnis, die Summe (wie es im Grundtext eigentlich lautet): Wahrheit. Alle Rechte deiner Gerechtigkeit währen ewiglich. Was du einmal verfügt hast, bleibt unwiderruflich bestehen für alle Zeiten. Gegen die Entscheidungen des HERRN kann keine Berufung wegen Rechtsirrtums eingelegt werden, und es gibt auch keine Zurücknahme der geringsten Verfügung, die er erlassen hat. Weder in seinem Worte noch in seinem Tun kommt ein Irrtum vor. Weder in dem Buche der Natur noch in dem Buche der Offenbarung ist ein Druckfehler zu berichtigen. Der HERR hat nichts zu bereuen oder zurückzunehmen, nichts zu verbessern oder aufzuheben. Alle Rechte Gottes, alle seine Erlasse, Befehle und Ordnungen sind gerecht, und als solche sind sie auch beständig, jedes einzelne von ihnen wird bestehen, wenn Sonne, Mond und Sterne längst vergangen sind. Bis dass Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. Gottes Gerechtigkeit währet ewiglich. Das ist ein Gedanke, der das gläubige Herz tief erfreut. Doch gibt es einen, der noch viel süßer und lieblicher ist. Die Priester sangen’s schon in alten Zeiten im Tempel Gottes, und es soll auch unser Lied sein: Seine Gnade währet ewiglich.


V. 153-160. Das achtfache r (R): Weil Gott die seinem Wort Getreuen nicht unterliegen lassen kann, erfleht er dessen Hilfe gegen seine Verfolger.

153. Richte deinen Blick auf mein Elend und reiß’ mich heraus,
Denn deines Gesetzes vergesse ich nicht.
154. Rechtsbeistand sei mir und erlöse mich,
Deiner Verheißung gemäß belebe mich!
155. Ruchlosen ist fern das Heil,
Denn sie fragen nichts nach deinen Rechten.
156. Reich ist deine Barmherzigkeit, o HERR,
Deinen Rechten gemäß belebe mich!
157. Rudel von Verfolgern bedrängen mich,
Doch von deinen Zeugnissen weiche ich nicht.
158. Rechter Abscheu erfüllt mich, wenn ich die Treubrüchigen sehe,
Die dein Wort nicht achten.
159. Rücksicht nimm, dass ich deine Ordnungen liebe,
HERR, nach deiner Gnade belebe mich!
160. Rechne ich nach, so ist deines Wortes Summe Wahrheit,
Und ewig währen deine gerechten Ordnungen.
  James Millard, zum Teil nach Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 153. Siehe mein Elend und errette mich. Gott sieht auf den Menschen in mancherlei Weise und zu verschiedenen Zwecken. Entweder um ihm Licht zu geben, wie Jesus tat, da er vorüber ging und sah einen, der blind war (Joh. 9,1). Oder um ihn zu bekehren: Er sah einen Menschen am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir (Mt. 9,9). Um ihn wieder anzunehmen: Und der Herr wandte sich und sah Petrus an
(Lk. 22,61). Um ihn frei zu machen: Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten (2. Mose 3,7). Um ihn zu erhöhen: Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen
(Lk. 1,48), und um ihn zu belohnen: Der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer (1. Mose 4,4). Hugo v. St. Viktor † 1141.
  An Elend fehlt es der Gemeinde des HERRN nicht; doch erfährt sie auch des HERRN erbarmende Hilfe. Sie ist der feurige Busch, der brennt und doch nicht verzehrt wird. Ein Trost im Elend ist es uns, wenn wir wissen, dass unsere Lieben unsere Not kennen; es mildert unser Leid, wenn sie mit uns trauern, auch wenn sie uns nicht helfen können. Ein Christenmensch hat aber noch besseren Trost; er weiß, dass der HERR ihn in allen seinen Nöten im Auge behält, gleich einem König, der mit Freuden zusieht, wie sein Knecht mit seinem Feind ringt. Er blickt voll Mitleid auf die Seinen, wenn er ihre Schwäche erkennt, und ist bereit, ihnen mit starker Hand zu helfen. William Cowper † 1619.


V. 154. Dieser Vers enthält drei Bitten, sämtlich auf dieselbe Sache gegründet. Erstens weist der Psalmdichter auf die Gerechtigkeit seiner Sache und auf die ungerechte Behandlung seitens der Gottlosen hin, darum bittet er unter der Last ihrer Verleumdungen den HERRN: Führe meine Sache. Weiter stellt er dem HERRN vor, wie hilflos und jammervoll seine Lage ist, und unter dem Druck fremder Gewalttaten spricht er: Erlöse mich. Zum Dritten bekennt er seine eigene Schwachheit, wie leicht er bereit ist, unter solcher Last zu erliegen. Darum spricht er. Erquicke mich. Und worauf beruft er sich bei seinen Bitten, worauf begründet er seine Ansprüche? Nach deinem Worte. Dieser Zusatz gilt für alle Teile des Gebetes: Führe meine Sache nach deinem Worte, erlöse mich nach deinem Worte, erquicke mich nach deinem Worte; denn Gott hat sich in seinem Worte zu dem allen verpflichtet, Fürsprecher, Erlöser, Brunnquell des Lebens zu sein. Thomas Manton † 1677.
  Eine große Zuversicht spricht aus diesem Gebet; der Fromme kennt Gottes Weise, und im Glauben richtet er sich danach. Wie sehr tut es doch in Zeiten großer Trübsal Not, dass wir die Gerechtigkeit Gottes voll erkennen. Der HERR tritt selbst für die Sache der Seinen ein durch die Macht der Wahrheit, durch die Weisheit seiner Führungen; er fasst die Herzen der Menschen an durch Furcht und Hoffen. Er erlöst seine Heiligen von allem Übel, wenn auch nicht völlig von allem diesseitigen, so doch sicher von allem Übel, welches das jenseitige Leben berührt. J. Stephen 1861.


V. 155. Das Heil ist ferne von den Gottlosen. Wohl kann der HERR, der Allmächtige, auch die schwersten Sünden vergeben; aber er wird diese seine Macht nie für dich Unbußfertigen gebrauchen. Du hast keinen Freund oder Fürsprecher vor seinem Richterstuhl und darfst nicht auf Gnade oder Barmherzigkeit rechnen. Die allgewaltige Hand des HERRN, die stets bereit ist, den reuigen Sünder zu erretten, ist ebenso durch des HERRN eigenes Wort verpflichtet, den Verstockten zur Richtstätte zu bringen. Gott selber hat den Unbußfertigen Strafe zugeschworen. Wenn der HERR den Ungläubigen in Israel schwört, sie sollten nicht zu seiner Ruhe kommen, so geht das auf jeden Ungläubigen bis ans Ende der Tage. William Gurnall † 1679.


V. 156. HERR, deine Barmherzigkeit ist groß. Ja, der HERR ist reich an Mitleid und voll Erbarmen (Jak. 5,11). Wenn seine Gnade es schon bei Menschen bewirken kann, dass sie, die doch arg sind, barmherzig werden und den Vorstellungen und Bitten ihrer Mitmenschen mitleidig Gehör schenken, und wenn er von uns Sündern verlangt, dass wir unserem Bruder siebzigmal siebenmal vergeben, was dürfen wir erst von ihm selber erwarten? William Cowper † 1619.
  Es ist sehr natürlich, dass eine Betrachtung des elenden Loses der Gottlosen den Psalmisten dazu führt, die Barmherzigkeit des HERRN rühmend anzubeten; denn ihr allein verdankt er es, dass es mit ihm anders steht. Gottes Barmherzigkeit ist allein die Ursache, dass wir nicht auch fallen in dasselbige Exempel des Unglaubens und des göttlichen Zornes. Charles Bridges † 1869.


V. 157. Verfolger von hinten her, Widersacher, wörtl. Bedränger von vorn her: Feinde ringsum in zahlloser Menge. - E. R.
  Nur Menschen, die wie von einer Hundemeute wie wilde Tiere von ihren Feinden gehetzt werden, die es mit übermächtigen und gewissenlosen Gegnern zu tun haben, können sich einen Begriff machen von dem angstvollen Seelenzustand des Psalmisten, den dieser hier schildert. Dennoch lässt er sich dadurch nicht einen Fingerbreit von seiner Treue und Frömmigkeit abbringen. William Swan Plumer † 1880.


V. 158. Hält uns Gott ein so herrliches Kleinod vor, wie es die ewige Ruhe seiner Heiligen ist, macht er uns teilhaftig solch unaussprechlicher Seligkeit, warum sind die Kinder dieses Reiches nicht ernstlicher bemüht, anderen zum Genuss dieser Seligkeit zu helfen? Das geistliche Elend unserer Brüder muss uns mit Betrübnis erfüllen. Ihre Leiden müssen wir mitfühlen und nach ihrer Bekehrung und Begnadigung inbrünstig verlangen. O wer kann sich einen Christen nennen und hier den Fußstapfen unseres Heilandes nicht nachfolgen? Was trieb ihn denn vom Himmel auf die Erde? So spricht der HERR: Niemand jammerte dein, dass er sich über dich hätte erbarmt, sondern du wurdest auf das Feld geworfen. Ich aber ging vorüber und sah dich in deinem Blute liegen und sprach zu dir: Du sollst leben! (Hes. 16, 5.6) Und als er nun erschienen war unter dem verkehrten und undankbaren Geschlecht, da war es sein Geschäft von früh bis spät, dass er umherzog und machte gesund alle, die vom Teufel überwältigt waren. Wie jammerte ihn des Volkes, wie weint er voll Milde und Erbarmen über die verlorene Stadt. Dort siehe hin, du kalter, träger, unempfindlicher Christ, und hast du selbst Anteil an der Gnade dieses Heilandes, dann zünde deine Bruderliebe an diesem Feuer an. R. Baxter † 1691.
  Das hier mit wehe tun übersetzte Wort hat eigentlich die Bedeutung verabscheuen, Widerwillen empfinden. Ich sehe die Verächter und empfinde Widerwillen, Ekel, Abscheu vor ihnen, weniger weil es meine als weil es deine Feinde sind. Th. Brooks † 1680.


V. 159. Siehe, ich liebe deine Befehle. Der Psalmist sagt nicht: Siehe, ich halte, sondern, siehe, ich liebe deine Befehle. Der Trost der streitenden Kirche, des noch im Fleische wallenden Christen, liegt viel mehr in der Aufrichtigkeit und Inbrunst seiner Liebe als in der vollkommenen Tadellosigkeit seiner Handlungen. Er mag in seinem Tun oft etwas versehen an Gehorsam gegen Gottes Gebote, aber seine Liebe bleibt davon unberührt, und er empfindet so vor wie nach der Versuchung nur Schmerz über den Hang zum Bösen und das Widerstreben gegen den heiligen Willen Gottes, das er in seinem Innern wahrnehmen muss, - ein Beweis mehr für die allgewaltige Liebe zu Gottes Geboten. William Cowper † 1619.
  Siehe, ich liebe deine Befehle. Siehe mich an, erforsche mich, so wirst du die Beweise meiner Liebe finden. Das ist die zuversichtliche Berufung eines aufrichtigen Knechtes Gottes, der in Wahrheit von sich sagen kann, dass er seinen Herrn wahrhaftig lieb hat. Ganz ebenso spricht auch Petrus: Herr, Du weißt, dass ich dich lieb habe (Joh. 21,17). So gut ein Mensch sich seinen nächsten Angehörigen, seinen Eltern, seinem Weibe, seinen Kindern gegenüber auf seine Liebe zu ihnen berufen darf, denn er soll sie lieb haben, und er soll sich auf solche Liebe berufen können, ebenso wohl müssen wir Gott so lieben, dass wir dies mit gleicher Sicherheit und Glaubwürdigkeit aussprechen können. Albert Barnes † 1870.
  HERR, erquicke mich nach deiner Gnade. So oft auch in diesem Psalm der Dichter von Erquickung redet und darum bittet (V. 25.37.40.50.88.93.107.149.154.156.159), so ergeht er sich damit doch nicht in leeren Wiederholungen. Jedes Mal ist das Wort getragen, durchdrungen von mächtigem Glauben, heftigem Verlangen, brünstiger Liebe. Und wenn wir im Gefühl unserer Unzulänglichkeit und Schwäche und Ohnmacht hundertmal am Tage zu solchem Gebet veranlasst würden, so würde es nicht ein einziges Mal unerhört bleiben. Charles Bridges † 1869.


V. 160. Dein Wort ist nichts denn Wahrheit. Hebräisch: Die Summe deines Wortes, der Gesamtinhalt; andere übersetzen, und dem Wortlaut nach ist es gestattet: der Anfang deines Wortes, und sehen darin eine rednerische Gegenüberstellung zu dem Gedanken der zweiten Vershälfte: alle Rechte deiner Gerechtigkeit währen ewiglich. Luthers Übersetzung schließt sich der ersteren Auffassung an. - E. R.
  Dein Wort ist nichts denn Wahrheit; alle Rechte deiner Gerechtigkeit währen ewiglich. Der Psalmist will sagen: Ich glaube, dass du mich erquicken, mir neues Leben schenken willst (V. 159), weil dein Wort von Anfang bis zu Ende eitel Wahrheit und Gerechtigkeit ist. Vom ersten Augenblicke an, da du in einen Bund mit mir tratest, habe ich erfahren, dass du mich nicht mit leeren Verheißungen hintergangen hast. Und als dein Geist mich dazu brachte, an deinen Bund zu glauben, da erfand dieser sich als eitel Wahrheit. Ich weiß, dass deine Verheißungen Ja und Amen sind, denn du bist nicht, wie so viele Menschen, größer im Versprechen als im Halten; jedes Wort aus deinem Munde ist Wahrheit, und so weiß ich, dass du mich bewahren und beschirmen wirst, so dass deine Rechtsordnungen und Rechtshandlungen ebenso wahrhaftig und gerecht erscheinen werden wie du selbst. Richard Greenham † 1591.


161. Die Fürsten verfolgen mich ohne Ursache;
und mein Herz fürchtet sich vor deinen Worten.
162. Ich freue mich über deinem Wort
wie einer, der eine große Beute kriegt.
163. Lügen bin ich gram und habe Gräuel daran;
aber dein Gesetz habe ich lieb.
164. Ich lobe dich des Tages siebenmal
um der Rechte willen deiner Gerechtigkeit.
165. Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben,
und werden nicht straucheln.
166. HERR, ich warte auf dein Heil
und tue nach deinen Geboten.
167. Meine Seele hält deine Zeugnisse
und liebt sie sehr.
168. Ich halte deine Befehle und deine Zeugnisse;
denn alle meine Wege sind vor dir.


161. Fürsten verfolgen mich ohne Ursache. (Grundtext) Das sind doch Leute, die es besser wissen sollten, und handelt es sich dabei um David, so hätte man von ihnen eine gewisse Teilnahme für den Standesgenossen erwarten dürfen. Jeder Mensch rechnet auf eine billige Behandlung von seinesgleichen. Auch ist es niedrig, sich von Vorurteilen leiten zu lassen. Und wenn das Ehrgefühl aus jeglicher Menschenbrust gewichen wäre, so sollte es doch bei Königen und Edlen noch immer eine Stätte haben; und die rechte Ehre verbietet die Verfolgung von Schuldlosen. Fürsten sind berufen, die Unschuldigen zu beschützen und den Unterdrückten Recht zu schaffen; Schmach über sie, wenn sie stattdessen selber die Angreifer der Gerechten werden. Es war schlimm, als der Mann Gottes sich von denen, die das Richteramt auf Erden innehatten, verfolgt sah, denn ihre hohe Stellung verlieh ihrer Feindseligkeit besondere Wucht und Schärfe. Wohl ihm, dass er bei seinem schweren Leiden in Wahrheit beteuern konnte, dass sie ihn ohne Ursache verfolgten. Er hatte ihre Gesetze nicht übertreten, hatte sie nicht beleidigt, hatte nicht einmal den Wunsch gehegt, dass ihnen etwas zuleide geschehe; Gedanken an Aufruhr und gesetzwidrige Selbsthilfe hatten in seinem Herzen keinen Widerhall gefunden, weder offen noch heimlich hatte er der Gewalt der Machthaber Widerstand geleistet. Während dies freilich die Handlungsweise der Fürsten gegen ihn umso unentschuldbarer machte, nahm es doch für ihn dem Leiden in gewissem Sinne den Stachel und half dem wackeren Knechte Gottes, mutig auszuhalten. Und mein Herz fürchtet sich vor deinen Worten. Er hätte wohl von der Furcht vor den Gewaltigen der Erde überwältigt werden können, wenn nicht eine höhere Furcht diese geringere ausgetrieben hätte; so aber ward er ganz von der heiligen Ehrfurcht vor dem Worte Gottes beherrscht. Wie gering werden doch Zepter und Kronen in der Schätzung eines Mannes, der eine so viel höhere Majestät in den Geboten seines Gottes erkennt. Wir werden nicht leicht durch Verfolgung entmutigt oder zu sündiger Selbsthilfe verführt werden, wenn das Wort des Höchsten stets die Obermacht über unser Inneres besitzt.

162. Ich freue mich über deinem Wort wie einer, der eine große Beute kriegt. Jene heilige Scheu hinderte ihn nicht an der Freude; seine Furcht vor Gott war nicht von jener Art, die durch die völlige Liebe ausgetrieben wird, sondern wurde im Gegenteil durch diese gefördert. Er zitterte vor Gottes Wort, und doch freute er sich darüber. Er vergleicht seine Freude mit derjenigen eines Kriegshelden, der nach langer Schlacht endlich den Sieg errungen hat und nun seine Beute mustert. Dies Letztere ist ja gewöhnlich ein Geschäft der Fürsten (V. 161), und wiewohl David ihnen in Gesinnung und Handlungsweise sehr unähnlich war, hatte er für sein Teil doch auch Siege zu verzeichnen, und seine Beute wog ihren reichsten Raub auf. Der Gewinn, den der Psalmist durch die Erforschung der Schrift eroberte, war kostbarer als große Kriegsbeute. Auch wir müssen die göttliche Wahrheit uns erkämpfen; jede Wahrheit kostet eine Schlacht. Wenn wir uns aber durch persönliche Kämpfe zu einem vollen Verständnis derselben durchgerungen haben, wird sie uns zwiefach kostbar. In unseren Tagen haben diejenigen, die die Wahrheit hochhalten, ein reichliches Maß von Kampf um Gottes Wort; möge uns als Beute ein desto festerer Besitz an diesem unschätzbaren Schatze zuteilwerden. Vielleicht ist der Gedanke des Psalmdichters jedoch der, dass er sich freut wie einer, der auf einen verborgenen Schatz gestoßen ist, um den er gar nicht gekämpft hat. Dann zeichnet das Bild uns den Mann Gottes, der beim Bibellesen große, herrliche Entdeckungen macht von Schätzen der Gnade, die für ihn darin niedergelegt sind; eine köstliche Überraschung, denn solchen Reichtum zu finden hatte er gar nicht erwartet. Ob wir der Wahrheit habhaft werden, indem wir unvermutet auf sie treffen oder indem wir sie in hartem Kampf erringen, immer sollte dieses Himmelskleinod uns gleich teuer sein. Mit welch großer, aber auch still verborgener Freude kehrt der Pflüger heim mit dem goldenen Schatz, den er im Acker gefunden! Wie jauchzen die Sieger, während sie sich in die Beute teilen! Und wie fröhlich sollte der Mann sein, der seinen Anteil an den Verheißungen der Heiligen Schrift entdeckt hat und sich nun an dem Reichtum weiden kann, da ihm der Geist Zeugnis gibt, dass es alles für ihn bestimmt, alles sein eigen ist!

163. Lügen bin ich gram und habe Gräuel daran. Ein Ausdruck genügt dem Psalmisten nicht, um seinen Abscheu kräftig genug zu bezeichnen. Lüge in der Lehre, im Leben, in Wort und Gedanken, kurzum in jeder Gestalt war ihm aufs äußerste verhasst geworden. Das ist für einen Morgenländer etwas Außerordentliches, denn im Allgemeinen ist das Lügen bei allen orientalischen Völkern sehr beliebt, und tadelnswert erscheint ihnen eigentlich nur die Ungeschicklichkeit, die sich dabei ertappen lässt. Ist es David selber, der hier redet, so sehen wir hierin bei ihm einen großen Fortschritt gegen frühere Zeiten. Doch meint der Psalmist wohl nicht nur die Lüge im gewöhnlichen Sinne, die Falschheit im Reden, sondern jegliche Unwahrhaftigkeit und Verderbtheit, auch im Glauben und in der Lehre. Er erklärt alles Widerstreben gegen den Gott der Wahrheit für Lüge, und seine ganze Seele empört sich dagegen und bricht aus in heiliger Entrüstung. Wer gottselig ist, sollte falsche Lehre geradeso hassen, wie er gemeine Lüge verabscheut. Aber dein Gesetz habe ich lieb, darum weil es lauter Wahrheit ist. Seine Liebe war so feurig wie sein Hass. Wahrhaftige Menschen lieben die Wahrheit und hassen die Lüge. Es ist für uns wichtig, zu wissen, worauf unser Lieben wie unser Hassen gerichtet ist, und wir können oft auch andern damit einen sehr wertvollen Dienst leisten, dass wir sie deutlich wissen lassen, wie es damit bei uns steht. Liebe sowohl als Hass sind ansteckend, und sind sie geheiligt, dann je einflussreicher, umso besser.

164. Ich lobe dich des Tages siebenmal um der Rechte willen deiner Gerechtigkeit, um deiner gerechten Ordnungen willen. Er mühte sich, den Gott der Vollkommenheit auch in vollkommener Weise zu preisen, und machte darum die heilige Zahl voll an Lobgesängen. Die Sieben mag auch allgemeiner die Häufigkeit bezeichnen sollen. Oft am Tage erhob er sein Herz zu Gott, um ihm zu danken für die göttlichen Lehren in seinem Worte wie für sein göttliches Walten in der Regierung der Geschicke. Mit lauter Stimme pries er die Gerechtigkeit des Richters aller Welt. Sooft immer er an Gottes Rechtsordnungen und Rechtstaten gedachte, kam ein Loblied über seine Lippen. Musste er an seinem eigenen Leibe erfahren, wie die Fürsten Unschuldige verfolgten, und musste er sehen, wie die Lüge ringsumher im Schwange ging, so fühlte er sich dadurch umso mehr angetrieben, Gott, der in allem lauter Wahrheit und Gerechtigkeit ist, anzubeten und zu verherrlichen. Berauben andere uns unseres Ruhms und unserer Ehre, so sei uns das eine Warnung, dass wir Gott gegenüber, der so viel mehr als wir würdig ist, zu nehmen Preis und Ehre, nicht in den gleichen Fehler verfallen. Lobsingen wir dem HERRN, wenn wir unter Verfolgung und Verleumdung stehen, so wird ihm solches Lob desto lieblicher sein, als es davon ein Zeugnis ist, dass wir im Leiden Glauben halten. Halten wir uns frei von allem Lügenwesen, so wird unser Lobgesang dem HERRN umso mehr wohlgefallen, als er von reinen Lippen kommt. Schmeicheln wir nie den Menschen, so werden wir desto besser befähigt sein, den HERRN zu ehren. Preisen wir Gott siebenmal des Tages? Oder tun wir’s vielleicht in sieben Tagen einmal?

165. Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben. Welch ein liebliches Wort ist doch dies! Es redet nicht von denen, die das Gesetz vollkommen halten - denn wo würden solche zu finden sein? - sondern von denen, die es lieben, deren Herzen und Hände sich nach seinen Vorschriften und Forderungen zu richten bedacht sind. Mögen sie auch, gerade weil sie in allen Stücken im Gehorsam des Wortes zu wandeln suchen, viel angefeindet werden, so haben sie doch Frieden, ja großen Frieden; denn ihnen hat sich das Geheimnis von der Versöhnung durch des Lammes Blut enthüllt, sie erfahren die Kraft des Trostes des Heiligen Geistes und stehen zu Gott dem Vater in dem seligen Kindesstand. Der HERR hat ihnen seinen Frieden zu schmecken gegeben, der höher ist denn alle Vernunft. Wohl haben sie viele Trübsale und werden von den Stolzen bitter verfolgt; doch ist ihre gewöhnliche Gemütsverfassung die eines tiefen Friedens, eines Friedens, der viel zu groß ist, als dass diese kleine Welt ihn ihnen nehmen könnte. Und werden nicht straucheln. Sind auch der Steine viele, die ihnen im Wege liegen, so werden sie ihren Fuß doch nicht daran stoßen; die Versuchungen und Anfechtungen werden sie nicht zu Fall bringen. Denen, die Gott lieben, müssen vielmehr alle Dinge zum Besten dienen, ihnen, die nach dem Vorsatz berufen sind. Es ist ja unmöglich, dass nicht Ärgernisse kommen; aber diese Liebhaber des göttlichen Gesetzes sind rechte Friedenskinder, die selber kein Ärgernis geben und durch den Frieden Gottes, der in ihren Herzen regiert, bewahrt werden, dass sie nicht Ärgernis nehmen. Der rechte Seelenfriede, der auf dem Gehorsam des Glaubens, auf der Übereinstimmung unseres Willens mit dem heiligen, seligen Gotteswillen beruht, ist ein lebensvoller, dauernder Friede, wohl wert, dass man von ihm mit warmer Begeisterung rede, wie es der Psalmist hier tut.

166. HERR, ich warte auf dein Heil, wie der Erzvater Jakob (1. Mose 49,18), und tue nach deinen Geboten. Da haben wir das Heil aus Gnaden, samt seinen Früchten. Seine ganze Hoffnung setzte der Psalmist auf Gott, zu ihm allein schaute er um Hilfe aus für Leib und Seele; und zugleich bemühte er sich aufs ernstlichste, die Vorschriften seines Gesetzes zu erfüllen. Gerade jene Leute, die am wenigsten auf gute Werke ihr Vertrauen setzen, haben oft am meisten davon aufzuweisen. Die gleiche göttliche Erleuchtung und Gnade, die uns von aller Selbstgerechtigkeit freimacht, lehrt uns auch und macht uns fähig, bereit zu sein zu jeglichem guten Werk, zur Verherrlichung Gottes. In Zeiten der Trübsal und Anfechtung gilt es zweierlei: erstens dass wir die Hoffnung ganz auf Gott setzen, und sodann, dass wir tun, was recht ist. Das erste ohne das zweite wäre Anmaßung, das zweite ohne das erste toter Werkdienst. Wohl uns, wenn wir wie der Psalmist das Zeugnis unseres Gewissens haben, dass unser Tun sich nach den Kundgebungen des göttlichen Willens richtet. Handeln wir recht vor Gott, so dürfen wir überzeugt sein, dass er an uns gnädig handeln wird.

167. Meine Seele hält (oder: hat beobachtet) deine Zeugnisse. Mein äußeres Leben richtet sich nach deinen Geboten, und mein Innenleben, meine Seele, bewahrt deine Zeugnisse. Gott hat viele heilige Wahrheiten bezeugt, und sie halten wir fest wie das Leben selbst. Der Gottselige sammelt die Wahrheit Gottes in seinem Herzen auf als einen überaus köstlichen Schatz. Sein Innerstes wird ein getreuer Hüter dieser göttlichen Lehren, die seine einzige Richtschnur sind in allem, was Seele und Seligkeit betrifft. Und liebt sie sehr: danach war dies der Grund, warum er sie hielt. Aber eigentlich heißt es: Und ich gewann sie sehr lieb. Somit war inbrünstige Liebe zu Gottes Zeugnissen die Folge davon, dass er sich treulich bemühte, sie zu halten. Er beobachtete die geoffenbarte Gotteswahrheit nicht bloß aus Pflichtgefühl, sondern es erfasste ihn eine tiefe, unwiderstehliche Neigung zu denselben. Er ward davon durchdrungen, dass er lieber sterben würde als ein Stück der Offenbarung Gottes preisgeben. Je mehr wir unser Inneres mit der himmlischen Wahrheit füllen, desto lieber werden wir sie gewinnen; je mehr wir den unausforschlichen Reichtum der Heiligen Schrift erkennen, desto mehr wird unsere Liebe zu ihr alles Maß überschreiten, dass wir vergeblich nach einem Ausdruck ringen, diese tiefe Neigung in Worte zu fassen.

168. Ich halte (oder: habe beobachtet) deine Befehle und deine Zeugnisse. Alles, was ihm von Gott gegeben worden, die Unterweisungen in der göttlichen Wahrheit und die Anweisungen zum göttlichen Wandel, hatte der Psalmist in seinem Herzen behalten und in seinem Leben gehalten. Es ist ein köstlich Ding, wenn diese beiden Teile der göttlichen Offenbarung gleicherweise erkannt, anerkannt und bekannt werden; bei Gottes Wort soll es kein Auslesen und Auswählen geben. Wir kennen Leute, die sich bestreben, den sittlichen Vorschriften der Bibel nachzukommen, die aber zu meinen scheinen, bei der Lehre der Schrift handle es sich um Ansichten, die jeder nach seiner eigenen Meinung gestalten und umgestalten dürfe. Das ist ein sehr unvollkommener Stand. Und wiederum sind wir anderen begegnet, die in allen Punkten der Lehre von ängstlicher Strenge sind, sich dabei aber den sittlichen Forderungen der Schrift gegenüber in ganz trauriger Weise gehen lassen. Auch dies ist vom Richtigen sehr weit entfernt. Nur wo beide gleich gewissenhaft gehalten werden, haben wir den vollkommenen Mann. Denn alle meine Wege sind vor dir, sie sind dir gegenwärtig. Der Psalmdichter will damit wohl sagen, dass dies der Beweggrund ist für sein Streben, in Lehre und Leben stets auf der rechten Linie zu bleiben, weil er weiß, dass Gott ihn allezeit sieht, und er eben in dem Bewusstsein der Gegenwart Gottes sich vor jedem Abweg scheut. Oder ruft er vielleicht Gott zum Zeugen an, dass er soeben wahr geredet habe in dem, was er über sich selbst ausgesagt hat? Auf jeden Fall gewährt es nicht geringen Trost, zu wissen, dass unser Vater im Himmel alles weiß, was uns betrifft, und dass er, wenn Fürsten wider uns sind und die Kinder dieser Welt uns mit Lügen anfeinden, uns rechtfertigen kann, weil vor ihm nichts heimlich und verborgen ist.
  Auffällig ist der Gegensatz zwischen dem Schlussverse dieser Gruppe und dem der nächsten, mit welchem zugleich der Psalm endet. Hier, V. 168, ein Bekenntnis der Unsträflichkeit: Ich halte deine Befehle; dort, V. 176, ein Sündenbekenntnis: Ich bin wie ein verirrtes und verlorenes Schaf. Beides ist richtig, beides aufrichtig. Die Erfahrung lässt uns manchen scheinbaren Widerspruch verständlich erscheinen, und dies hier ist ein Beispiel dafür. Wir können uns vor Gottes Angesicht von offenkundigen Fehlern frei wissen und uns dennoch dabei zu gleicher Zeit vieler Abirrungen unseres Herzens schmerzlich bewusst sein, von denen nur seine Hand uns je und je wieder zurechthilft.


Erläuterungen und Kernworte
zum Psalm als Ganzem.

Dieser Psalm leuchtet und strahlt unter den übrigen velut inter ignes luna minores (Horaz, Oden I, 12) wie unter den kleineren Himmelslichtern der Mond, am Himmel der Psalmen, ein Stern der ersten Größe, sowohl hinsichtlich seiner Form als seines Inhaltes, denn hier ist die gefälligste Form mit dem trefflichsten Inhalt verbunden. Der Psalm ist überreich an Stellen von größter Erhabenheit, an tiefen Mysterien, an fesselnder Lebendigkeit, an hochfliegender Begeisterung. W. Simmons 1661.
  Alle übrigen Psalmen habe ich ausgelegt.1 Den (nach der Zählung der Vulgata) 118. aber legte ich zurück, weniger wegen seiner wohlbekannten Länge als wegen der nur wenigen erkennbaren Tiefsinnigkeit. Obwohl meine Brüder mir das sehr übel nahmen und mich heftig drängten, diese schuldige Pflicht zu erfüllen, gab ich doch lange ihrem Bitten und Heischen nicht nach, weil ich, sooft ich über die Sache nachdachte, fand, dass sie die Kräfte meines Geistes überschreite. Denn je mehr er aufgeschlossen erscheint, desto tiefer kommt er mir vor, so dass ich gar nicht zeigen kann, wie tief er ist. Denn bei anderen, die schwer zu verstehen sind, ist, wenn auch der Sinn in Dunkelheit verborgen ist, doch diese Dunkelheit offenbar. Bei diesem Psalm aber ist nicht einmal dies der Fall; denn er erscheint oberflächlich betrachtet so, dass er gar keines Auslegers, sondern nur eines Lesers und Hörers bedarf. Aurelius Augustinus † 430.
  Mein Vater gab mir den Rat: Nimm jeden Morgen einen Vers dieses Psalms vor und denke im Laufe des Tages darüber nach. So kommst du im Laufe des Jahres zweimal durch den Psalm, und das wird dir die ganze übrige Schrift lieber und teurer machen. Und alle Gnade wächst in dem Maße, wie die Liebe zu Gottes Wort wächst. Matthew Henry † 1714.
  Es ist sonderbar, dass von allen Bibelabschnitten, die mich meine Mutter lehrte, der, der mir die meiste Mühe beim Lernen machte und der meinen kindlichen Geist am meisten abstieß, der 119. Psalm, nun mir der allerköstlichste geworden ist in seiner überströmenden herrlichen und leidenschaftlichen Liebe zu Gottes Wort. John Ruskin.
  Die meisten Hauptstellen dieses Psalms über das Wort Gottes sind jedem Kinde im Gedächtnis. Es ist das schönste Kennzeichen einer Lehre, wenn sie auch ein Kind unterrichtet. Joh. G. von Herder † 1803.
  Es haben sich über diesen Psalm allerlei falsche Ansichten festgesetzt. Köster, v. Gerlach, Hengstenberg, Hupfeld verzichten auf Nachweisung irgendwelcher Planmäßigkeit und finden hier eine Spruchreihe ohne inneren Fortschritt und Zusammenhang. Ewald beginnt gleich mit dem Irrtum, dass wir das lange Gebet eines alten, erfahrenen Lehrers vor uns haben. Aus V. 9 f. ist aber klar, dass der Dichter selbst ein Jüngling ist, was sich auch durch V. 99.100.141 bestätigt. Er ist ein junger Mann, der sich in einer deutlich beschriebenen Lage befindet: er wird gehört, verfolgt, umhergetrieben, und zwar von Verächtern des göttlichen Worts (denn Abfall umgibt ihn ringsum), insbesondere von einer der wahren Religion feindlichen Regierung (V. 23.46.161); er hat schon in Banden gelegen (V. 61, vergl. V. 83), muss immer des Todes gewärtig sein (V. 109), und zwar erkennt er in seinem Leiden Gottes heilsame Demütigung, und Gottes Wort ist darin sein Trost und seine Weisheit, aber er sehnt sich auch nach Hilfe und fleht darum - der ganze Psalm ist ein Gebet um Beständigkeit inmitten einer gottlosen Umgebung und in großer Trübsal, welche durch den Schmerz über den herrschenden Abfall gesteigert wird, und Gebet um endliche Errettung, welche in der Gruppe K. (V. 81-88) sich bis zu dem inständigen "Wie lange!" steigert. Hat man diese scharf ausgeprägte Physiognomie des Psalms erkannt, so wird man nicht allen inneren Fortschritt vermissen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Man hat aus einzelnen Sprüchen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Verfassers gezogen; er sei noch jung (V. 9.99f.141), er sei gefangen (V. 61.83) usw. gewesen. Allein jene Aussagen sind nur scheinbar individuell. Zwar tritt das Ich des Psalmisten - im Unterschied von der eigentlichen Spruchdichtung - stark hervor; aber was er von sich sagt, ist ganz überwiegend so allgemein gehalten, spiegelt auch in so zahlreichen Fällen das Interesse wieder, das die Gemeinde der Frommen an dem Gesetze Gottes hat, dass man kein Recht hat, die wenigen Stellen, die sich allenfalls auf rein persönliche Erlebnisse oder Lagen deuten lassen, in diesem Sinne zu verwerten, zumal sie auch durchweg eine andere Deutung vertragen. Nur dass man freilich nicht so weit gehen kann zu sagen, es rede überall "die Gemeinde"; dies verbietet die Rücksicht auf Vers wie 63.74 u. a. Der Psalmist ist - eine nicht seltene Erscheinung - eine mit den Empfindungen eines größeren Kreises eng verbundene Persönlichkeit; und dieser größere Kreis ist deutlich der der Gesetzestreuen, denen eine anscheinend nicht unbeträchtliche Zahl abtrünniger Volksgenossen feindselig gegenübersteht, und die auch in die Lage kommen, ihre Glaubensüberzeugung vor Fürsten und Königen (doch wohl heidnischen) zu vertreten. - Ob der Psalm der letzten persischen oder der ersten griechischen Zeit entstammt (ca. 330 v. Chr.), wird sich kaum entscheiden lassen. Lic. Hans Keßler 1899.
  Psalm 119 ist eine zur Unterstützung des Gedächtnisses alphabetisch geordnete Sammlung von Sprüchen, in welcher im Ganzen eine planmäßig fortschreitende Gedankenentwicklung schwerlich beabsichtigt ist, so scharfsinnig Ötinger, Burk und Delitzsch eine solche nachzuweisen versucht haben, wogegen es allerdings lehrreich ist, der Ideenassoziation in der Gruppierung der einzelnen Sprüche nachzugehen. Der Preis des göttlichen Wortes als des alleinigen Führers zu Glück und Frieden, die Ermahnung zur unerschütterlichen Treue gegen dasselbe auch unter Schmach und Verfolgung, die Bitte zu Gott um Erleuchtung zur Erlangung des Verständnisses seiner Gebote und um Kraft zur Erfüllung derselben - dies und Verwandtes bildet den Inhalt dieser Sprüche, die ein schönes Zeugnis dafür sind, wie in dem durch Esras Wirksamkeit geweckten Gesetzeseifer eine lebendige Frömmigkeit wurzeln konnte. Daneben weist der Psalm freilich auch in mehreren Stellen auf feindseligen Widerspruch, ja auf Verfolgungen hin, denen die Treue gegen das Gesetz ausgesetzt war. Prof. Gustav Öhler † 1872.
  Jeder Vers enthält entweder eine besondere Lobpreisung des Wortes Gottes nach einer oder der anderen Seite seines Wesens hin, oder ein Bekenntnis Davids von seiner herzlichen, aufrichtigen Liebe zu demselben, oder schließlich ein Gebet um Verleihung der Gnade, stets in Gemäßheit desselben leben zu können; denn auf eines dieser drei, Lobpreisung, Bekenntnis, Bitte, können alle Verse dieses Psalms zurückgeführt werden. W. Cowper † 1619.
  Gottes Gesetz, dieser erhabene Ausdruck und Ausfluss der Heiligkeit seiner Natur mit der Forderung der Heiligkeit an seine Geschöpfe, erscheint durch den ganzen Psalm hindurch als der eine große Gegenstand der Liebe, der Bewunderung, der Freude eines dankerfüllten Gemütes, dem Gottes Gebote köstlicher sind als Gold, ja als viel feines Gold, und süßer denn Honig und Honigseim. J. Ewards † 1716.
  Gegenstand der Sprüche dieses Psalms ist durchweg das geoffenbarte Wort Gottes, dessen Herrlichkeit gepriesen, dessen in den mannigfachen Lagen des Lebens heilsam wirkende Kraft bezeugt, dessen dauernder und immer völligerer Besitz erstrebt und erbeten wird. Die Gesinnung des Verfassers bestimmt sich im Wesentlichen als Treue und Zuversicht; er hält an dem Wort seines Gottes, weiß sich aber ebenso sehr von ihm gehalten. Und zwar ist ihm das "Wort Gottes" göttliche Offenbarung im umfassenden Sinn: es ist ihm ebenso göttliche Willensäußerung, verpflichtend, richtend, regierend, wie Mitteilung göttlichen Lebens, erleuchtend, erhebend, erquickend. Der Umstand, dass der erstere Gesichtspunkt erheblich überwiegt, und demgemäß die praktische Bedeutung des Wortes Gottes für den Psalmisten beinahe darin aufgeht, dass es eine heilige und heiligende Lebensordnung ist, die bewahrt, befolgt, studiert, geehrt, geliebt sein will, weist dem Gedicht seine Stelle innerhalb der nachexilischen, in das eigentliche Judentum einmündenden Entwicklung der Religion Israels an. Dabei darf aber nicht unbemerkt bleiben, dass, abgesehen von dieser judaisierenden Richtung im Ganzen und Großen, die Sprüche im Einzelnen spezifisch Jüdisches in kaum nennenswertem Maße bringen; gerade Charakteristika des späteren pharisäisch gerichteten Judentums, Selbstgenügsamkeit und Selbstüberhebung, toter Traditionalismus u. a. deuten sich entweder nur vereinzelt an oder sind überhaupt nicht vorhanden. Lic. H. Keßler 1899.
  Dieser Psalm versetzt uns ganz in die Zeit Esras. Als Israel aus Babel zurückgekehrt war, fühlte es die große und schwere Schuld, welche ihm so großes Unheil zugezogen hatte, erkannte aber auch, dass ein Hauptgrund, warum es in dieselbe geraten war, in der großen Unkenntnis des Gesetzes, welche unter dem Volke herrschte, lag, und drang selbst auf die Verlesung desselben. (Siehe Neh. 8.) Wie die von dieser Zeit durch das Land hin gestifteten Synagogen bezeugen, war überhaupt das Volk in einen Geisteszustand getreten, wo es in dem sinnbildlichen Gottesdienst kein Genüge fand, sondern nach Erkenntnis der göttlichen Offenbarung auf Grund des geschriebenen Wortes trachtete. Da lag den wahrhaft geistlich gesinnten Männern vorzugsweise daran, dass dem Volke das Wort des HERRN nicht bloß recht nahegebracht und verständlich gemacht, sondern sein hoher Wert, seine Bedeutung für das innere und äußere Leben, seine in der Erfahrung erst recht sich auftuenden Schätze ihm ans Herz gelegt würden. Aus solchem Wunsche ist die lange Spruchsammlung dieses alphabetischen Psalms hervorgegangen. Prof. O. von Gerlach 1849.
  Diese Sammlung von Gebetssprüchen soll ausschließlich der Privatandacht dienen; darum fehlt hier jeder unzweideutige Hinweis auf irgendein Ereignis aus der Geschichte des Volkes, auf ein Fest, eine Stätte der gemeinsamen Gottesverehrung. David, Salomo, Moses, Aaron, Ägypten und der Zug durch die Wüste, Jerusalem, der Berg Zion, Ephrata, der Tempel oder Altar, Priester oder Volk, von all diesem findet sich keine Spur. Das ganze Lied enthält nur die inbrünstigen Herzensergießungen einer frommen Seele, im verschlossenen Gebetskämmerlein, allein mit ihrem Gotte, redend und singend von seiner Heiligkeit und von dem Troste, den der Mensch bei aller Trübsal in seinem Worte, in der Offenbarung seines Willens findet. - Was die eigentümliche alphabetische Aneinanderfügung einer Reihe einzelner Stücke zu einem Ganzen betrifft, so gehören noch jetzt derartige Dichtungen im Orient nicht zu den Seltenheiten, so namentlich bei den persischen Dichtern. Das einzelne Lied heißt da Ghasel, und die zusammengehörigen bilden einen "Divan". Der arabische Dichter Temoa hat dafür den glücklichen Namen Perlenschnüre gewählt. James Millard Good † 1827.
  Das Prinzip der Zusammenstellung ist das rein äußerliche der alphabetischen Anordnung. Wie entfernt der Verfasser gewesen ist, weitergehende logische oder stilistische Anforderungen an sein Werk zu stellen, geht schon daraus hervor, dass in der b Strophe die Präposition bI: nicht weniger als siebenmal, in der d Strophe K:redIe fünfmal an den Anfang des Verses gesetzt ist; die h Strophe wird durch siebenmalige Anwendung einer Imperativform des Hiphil, die w Strophe durch achtmalige Benutzung der Konjunktion w: hergerichtet; in der + Strophe eröffnet das Wort bw+ vier Verse, in der l Strophe die Präposition l: ihrer sieben, usw. Lic. H. Keßler 1899.
  "Mit Sicherheit behaupten lässt sich," sagt Hitzig, "dass der Psalm im makkabäischen Zeitalter von einem in heidnischer Gefangenschaft befindlichen namhaften Israeliten verfasst ist." Möglich allerdings, dass das Flechtwerk eines so langen Psalms, welches bei aller Pünktlichkeit von Anfang bis zu Ende uns in die sanfte Schmerzensmiene eines Konfessors blicken lässt, die Arbeit eines Eingekerkerten ist, welcher sich mit dieser Zusammenflechtung seiner Klagen und Trostgedanken die Zeit kürzte. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Dieser Gebetspsalm ist viel länger als irgendeiner der anderen. Auch der Herr straft ja Mt. 6,7 und Mk. 12,40 nicht das lange Beten an sich, sondern das heidnische Plappern, die Vielrederei, und die pharisäische Heuchelei, die zum Vorwande lange Gebete spricht. An sich kann langes Beten unter Umständen gut und lobenswert sein, vergleiche Hanna 1. Samuel 1,12 und Jesus selbst Lk. 6,12. Mir scheint übrigens der Psalm eine Sammlung von vereinzelten Gebetsseufzern zu sein, die der Psalmist erst später zu einem Ganzen zusammenstellte. Daraus erklärt sich, dass nur wenig Zusammenhang zwischen den einzelnen Versen besteht. Wie in den Sprüchen Salomos, haben wir hier nicht so sehr eine Kette als vielmehr eine Truhe voll kostbarer goldener Ringe. Auch wir sollen uns daran gewöhnen, oft solche kurzen Seufzer und Dankesworte zu Gott emporzusenden; denn sie finden treffliches Mittel, den Verkehr mit Gott lebendig zu erhalten und unser Herz in der rechten Verfassung zu bewahren. Und da können uns gerade die Worte dieses Psalms trefflich dienen, sei es zur Erweckung, sei es als Ausdruck unserer Andacht. Jemand hat gesagt, wer diesen Psalm nachdenkend lese, dem werde er entweder das Herz warm machen von Liebe zum HERRN und seinem Wort, oder er werde ihm zur demütigenden Beschämung dienen. Matthew Henry † 1714.
  Der Psalm ist nach seiner Einrichtung nicht bestimmt, in einem Zuge gelesen zu werden; er soll so benutzt werden, wie etwa die Losungen und Lehrtexte aus der Brüdergemeinde. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.
  Diese und jene der Sinnsprüche aus der Zahl der übrigen herauszunehmen leidet die Natur des Psalms gar wohl; ob ich gleich, wenn ich ihn ganz durchlese, so viel wesentlich verschiedene Gedanken, obgleich immer über denselben Gegenstand, und auch wo der gleiche Hauptgedanke wiederkommt, so viel neue wichtige Nuancen antreffe, dass ich die "unaufhörliche Tautologie", die in diesen 176 Versen selbst nach eines Mendelssohns Urteil sein soll, nicht mehr finden kann. Mich dünkt, seine eigene vortreffliche Übersetzung zeige, dass ganze Tiraden von Sätzen nichts weniger als tautologisch sind, so dass sie, in einem kürzeren Psalm gelesen, sich nicht nur durch den verschiedenen Inhalt, sondern selbst durch einen leichten und schönen Zusammenhang empfehlen würden. Zuweilen machen mehrere Verse nur einen Hauptgedanken aus, z. B. V. 97-100. So ist V. 33-39 ein Gebet, das sich gar wohl in einem fort lesen lässt, dergleichen man auch in anderen Psalmen antrifft. Übrigens glaube ich freilich auch, dass hier nicht an künstlichen Zusammenhang zu denken sei. Antistes J. J. Heß 1789.
  Inhalt der 22 Gruppen: 1) Der Segen des Wandels nach Gottes Wort. 2) Dieses Wort ist der einzige Schutz der Jugend gegen die Sünde. 3) Darum will ich an diesem Worte festhalten, trotz dem Hohn der Welt. 4) Sehnsucht nach dem Troste des Wortes Gottes. 5) Verlangen nach der Gnade, stets dem Wort gehorsam zu sein. 6) Festes Vertrauen auf das Wort, innige Freude daran. 7) Der Trost des göttlichen Wortes in bösen Tagen. 8) Die Freude, Teil an Gott, Gemeinschaft mit anderen Gläubigen zu haben. Denen, die ihn lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. 9) Aus Gottes Wort lernen wir den Segen der Trübsal, die uns von der Welt weg und zu Gott hinzieht. 10) Das Beispiel der Ergebung des Frommen in Anfechtung führt auch andere zu dem HERRN. 11) Inbrünstiges Sehnen nach dem Kommen des Reiches Gottes, dem alle Dinge untertan sein sollen, wie sein Wort verheißt. 12) Das Wort Gottes ist ewig, unwandelbar, von unendlicher Vollkommenheit. 13) Darum ist es die einzige Schatzkammer der rechten Weisheit, sowie 14) die einzige Leuchte in der Finsternis und den Stürmen der Welt. 15) Alle Angriffe der Zweifler sind verwerflich und schaden der Seele; sie werden zu Schanden machen, die damit umgehen. 16) Gebet um Standhaftigkeit und Verstand. 17) Das Wort Gottes bringt Erleuchtung und Trost denen, die ernstlich darum bitten, und erfüllt die Seele mit Mitleid gegen die Verächter. 18) Selbst die endliche Seele vermag fest zu stehen, wenn sie Glauben hat an die Reinheit, Wahrheit und Gerechtigkeit von Gottes Gesetz. 19) Ernstliches Gebet um die Gnadengabe des Glaubens, 20) besonders in Zeiten der Anfechtung und 21) der Verfolgung durch die Mächtigen dieser Welt, denn selbst dann ist Friede, Freude und Wonne bei denen, die Gottes Wort lieben. 22) Schluss: Bitte um Verständnis sowie um Beistand und Gnade von Gott für die Seele, die ihre Schwachheit kennt und allein auf Gottes Hilfe vertraut. Christopher Wordsworth 1868.
  Die Namen des Wortes Gottes. Besehen wir die Gruppen x, y, k, p, auch w, so finden wir in jedem der 8 Vers jeder Gruppe ein anderes der 8 Synonyma hrfOtI, rbfdIf, hrfm:)Ii, tWd(", tOc:mi, MydiqIiupIi,
My+ipIf$:mi, MyqIixu angewendet.
In den übrigen Gruppen sind kleine Abweichungen (zusammen 22), aber es fällt trotzdem die Regelmäßigkeit des Baues so auf, dass man versucht wird, die Abweichungen (nach H. Müller 1898 und Bäthgen 1904) den Abschreibern zuzuschieben. Wir verweisen hier nur auf etliche auffällige Erscheinungen. In einigen Versen nimmt ein anderes Wort die Stelle ein, die nach dem Schema einem der obigen acht zukäme. Lesen wir aber V. 37 Krbdb für Kbrdb, V. 90 Ktrm) für Ktnwm), so werden die Gruppen h und l regelrecht, denn gerade diese so ähnlichen Wörter, und nur sie, fehlen. Stellt man in dem 122. Verse, der auffallenderweise keinerlei Namen für das Wort Gottes enthält, für Krb( das fehlende Krbd ein, so wird auch die Gruppe (regelrecht, ebenso b, wenn man für das auffallende Ktqxb (sonst stets Myqx), Ktrwtb liest So könnte es sich auch in den übrigen Fällen um Verwechslungen der immer wiederkehrenden, für das Auge so ähnlichen Formen handeln. Freilich mag aber auch der Dichter selbst sich nicht peinlich genau an die Regel gehalten haben. Nur das scheint uns fast sicher, dass die folgenden 8 Synonyma dem Gruppenbau zu Grunde liegen, während derek und emunah als solche wegfallen.
  1). trfOtI (LXX: no/moj, Luther. Gesetz) eigentlich die Weisung, Unterweisung, Lehre, vorzugsweise die göttliche, durch Mose vermittelte Unterweisung und Anweisung, welche das Gesetz, d. h. die in göttlicher Kraft allgemein gültige, das Leben des Einzelnen wie das Gemeinwesen gestaltende Ordnung Israels geworden ist, und zwar vom Deuteronomium ab ständig (außer in den Sprüchen) als Kollektivbegriff: das Gesetz Jahves, in der Gesamtheit seines Umfangs und seines fordernden und züchtigenden wie auch verheißenden Inhalts, mit der göttlichen Energie seines Segens und seines Fluchs.
  2). rbfdf das (lebendig ausgesprochene) Wort, das, was Gott dem Menschen in seinem Gesetz gesagt hat. Ähnlich das nur in dichterischer Sprache verwandte
  3). hrfm:)i Wort, Rede.
- Das Gesetz als das Wort Gottes anzusehen scheint dem Dicher die ihm geläufigste und liebste Anschauungs- und Ausdrucksweise gewesen zu sein, denn außer der 1. Gruppe, in der naturgemäß der Hauptname, torah, voransteht, beginnt er alle anderen Gruppen außer fünf mit dabar oder imrah. LXX: lo/goj und lo/gion (lo/gia), Luther ohne Unterschied: Wort.
  4). twd:(" und tOd(", die (nicht bloß bekräftigenden, sondern auch ermahnenden und anordnenden) Bezeugungen, die positiven, zum Gehorsam verpachtenden göttlichen Willenserklärungen, wie sie besonders in dem Zweitafelgesetz (daher Tafeln, Lade, Hütte des Zeugnisses), dann überhaupt in dem mosaischen Gesetz niedergelegt sind. LXX: ta` martu/ria, Luther: Zeugnisse.
  5). twc:mi von hwc verordnend feststellen, Satzungen Jahves. Luther: Gebote.
  6). MydiqIupIi von dqp in der Bedeutung Auftrag geben: Die Anforderungen Gottes, seine Aussagen über des Menschen Obliegenheiten. Luther: Befehle. LXX: für 5) und 6): e)ntolai/.
  7). +pIf$:mi Richterspruch, Recht, Plur.: die jura des Gesetzes als corpus juris divini (Del.), alles, was nach Jahves Entscheidung recht ist und zu Recht besteht, die rechtlich bindenden Anordnungen Gottes. LXX: ta` cri/mata, Luther meist: die Rechte.
  8). MyqIixu von qxo etwas Bestimmtes, daher gesetzeskräftiges Dekret. LXX: dikaiw/mata, Luther: die Rechte.
  Es mag auch kein Zufall sein, dass der Name Jahve in dem Psalm zweiundzwanzigmal vorkommt. - James Millard


V. 161-168. Das achtfache # (S u. Sch): Mitten in Verfolgung blieb Gottes Wort seine Furcht, Freude und Liebe, der Gegenstand seines Dankes und der Grund seines Hoffens.

161. Schuldlos verfolgen Fürsten mich,
Aber vor deinen Worten schauert mein Herz.
162. Schwelgend in Freude bin ich über deine Aussage
Wie einer, der große Beute findet.
163. Scheinglauben hass’ ich und habe davor Abscheu,
Dein Gesetz hab’ ich lieb,
164. Schwinge siebenmal täglich preisend zu dir mich auf
Ob der Rechte deiner Gerechtigkeit.
165. Schatz des Friedens besitzen die Liebhaber deines Gesetzes,
Und an nichts kommen sie zu Falle.
166. Schauend in Hoffnung auf dein Heil, Jahve,
Üb’ ich aus deine Gebote.
167. Scheu hält meine Seele ob deinen Zeugnissen,
Und lieb gewonnen hab’ ich sie sehr.
168. Scheu halt ich auf deine Ordnungen und Zeugnisse,
Denn all meine Wege sind dir gegenwärtig.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  


V. 161. Fürsten verfolgen mich. Wenn die Anfechtung von hoher Stelle herkommt, wenn gerade diejenigen, die uns schützen sollten, ihre Macht dazu gebrauchen, uns zu schaden, so meint der Betroffene leicht, dass es Gott sei, der ihn züchtige, dass Gott selbst sich wider ihn gestellt habe. Das macht die Trübsal soviel schwerer zu ertragen. Jean Calvin † 1564.
  Ohne Ursache. Wir wissen wohl, welche Verfolgungen der Leib Christi, die heilige Kirche, von den Königen dieser Erde zu erdulden hatte. Darum erkennen wir auch hier die Worte der Kirche: Die Fürsten verfolgen mich ohne Ursache. Wie haben wohl je die Christen den Reichen dieser Erde Schaden getan? Obwohl ihr König ihnen das Himmelreich verhieß, wie, so frage ich nochmals, haben sie irdische Reiche geschädigt? Verbot etwa dieser König aller Könige seinen Streitern, den Königen der Erde den schuldigen Dienst und Gehorsam zu erweisen? Sprach er nicht zu den Juden, die ihn verleumden wollten: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist? Gab er nicht in eigener Person die Abgabe aus dem Munde des Fisches? Und als die Kriegsknechte seinen Vorläufer fragten, was sie tun sollten, damit sie selig würden, antwortete dieser etwa: Ziehet eure Rüstung aus, werfet eure Waffen weg, verlasset euren irdischen König, damit ihr dem HERRN dienen möget? Nein, er sprach: Tut niemand Gewalt noch Unrecht, und lasset euch genügen an eurem Solde. Und sprach nicht einer seiner vornehmsten Streiter: Jedermann sei untertan der Obrigkeit? Gebietet er nicht sogar der Kirche, für die Könige zu beten? Also was haben die Christen den Fürsten zuleide getan? Wo haben sie ihre Schuldigkeit nicht erfüllt? Worin sind sie den irdischen Königen ungehorsam gewesen? Die Fürsten haben die Gemeinde Gottes ohne Ursache verfolgt. Aurelius Augustinus † 430.
  Und mein Herz fürchtet sich vor deinen Worten. Es gibt eine Furcht vor dem Worte Gottes, welche uns nicht scheu davor macht, sondern ängstlich besorgt, es ja nicht zu verletzen oder dagegen zu handeln. Das ist nicht die knechtische Furcht, sondern eine, die die Frucht heiliger Liebe ist. Da geht man dem Worte nicht aus dem Wege, sondern hat seine Freude daran, weil man den Sinn und den Willen Gottes darin erkennt; wie es im nächsten Vers heißt: Ich freue mich über deinem Wort. Diese Furcht heißt treffend Ehrfurcht oder Gottesfurcht. Wenn wir bedenken, wessen Wort es ist, nämlich das Wort des HERRN, unseres Gottes, welcher ein Recht hat, zu befehlen nach seinem Gutdünken, dessen Willen und Gebot wir Gehorsam gelobt haben, zu wandeln würdiglich nach seinem Wohlgefallen, der uns kennt mit allen unseren Fehlern und Schwächen, der unsere Gedanken von ferne versteht, vor dem alle unsere Wege offen daliegen, des Gottes, von dem geschrieben steht: Er ist ein heiliger Gott, ein eifriger Gott, der unserer Übertretungen und Sünden nicht schonen wird (Jos. 24,19), wenn wir in unbußfertigem Sinne darin verharren, - ich sage, wenn wir daran denken, so stehen wir dem Worte mit einem heiligen Beben gegenüber, das dem HERRN wohlgefällig ist. Thomas Manton † 1677.


V. 162. Ich freue mich über deinem Wort wie einer, der eine große Beute kriegt. Euripides, sagt der Orator1, hat in seinen so trefflichen Trauerspielen mehr Empfindungen als Worte; Thukydides hat jede Silbe seines Geschichtswerkes so mit Inhalt angefüllt, dass keine Zeile der andern nachsteht; die Schriften des Lysias sind so abgefasst, dass du nicht das kleinste Wort herausnehmen kannst, ohne den Sinn ganz zu zerstören; Phokion besaß die Gabe, viel in wenig Worten zu sagen; und von Timanthes rühmte man, dass er in seine Gemälde viel mehr hineinlege, als man herauslesen könne. Wieviel berechtigter und passender würden diese hohen Lobsprüche auf die Heilige Schrift anzuwenden sein, auf das Buch Gottes, ganz richtig Bibel, das Buch genannt, um auszudrücken, dass sie um ihrer treffenden Ausdrucksweise und der unbedingten Wahrheit ihres Inhalts willen das einzige Buch ist, ein Buch, neben dem, wie Luther einmal gesagt hat, alle übrigen Bücher nichtsnutziges Papier sind. Man nennt es das Wort im ausgezeichneten Sinn, denn es soll Inhalt und Umfang unserer eigenen Worte bilden; man nennt es die Schrift, als die vornehmste, alle menschlichen Bücher und Schriften weit überragende Leistung, da ein ganzer Berg von Gedanken über jedem Zeichen oder Tüttel hängt, wie die Rabbinen sagen; da man Blumen pflücken kann, um die eigene Rede damit zu schmücken, und verständige Reden, die einen ganz anders heilsamen Einfluss haben als alle wohl gewählten Sätze menschlicher Beredsamkeit. Th. Adams 1614.


V. 163. Lügen bin ich gram und habe Gräuel daran. Lügen. sind nach dem Sprachgebrauche der Schrift nicht bloß Worte, die den Gedanken nicht entsprechen, sondern auch Gedanken, die den Tatsachen, der Wahrheit, widersprechen, so namentlich auch, wenn wir einem anderen die Ehre geben, die Gott allein gebührt. Lüge ist alles, was in Gedanken, Worten und Werken der göttlichen Wahrheit widerstreitet. Die Menschen, die diesen Frommen verfolgten, hatten ganz ungehörige Ansichten von irdischem Glück und Ansehen, ihr Urteil über den Knecht Gottes war ganz verkehrt und böse, gerade wie ihre Gedanken über Gott selbst. Diese Bosheit und Verkehrtheit erkannte der Fromme, und so spricht er: Lügen bin ich gram, aber dein Gesetz habe ich lieb. Von allen Sünden, allem Irrsal der Menschen, von des Teufels und der Sünde Trug und List, von den Verführungen, die am Königshofe und bei den ihn umgebenden heidnischen Völkern auf ihn lauerten, wendet er sein Herz ab, um seine Lust zu sehen an den schönen Gottesdiensten des HERRN, an seinem heiligen Gesetze, an allen Offenbarungen der göttlichen Gnade. J. Stephen 1861.


V. 164. Ich lobe dich des Tages siebenmal. Was in der Seele glüht und brennt, kann nicht lange verborgen bleiben, es muss hervorbrechen in Wort und Tat. Auch die Gottesliebe ist solch ein Feuer im Menschenherzen, das zu seiner Zeit hervorlodert und im Gehorsam gegen seine Gebote, im Danksagen für seine Wohltaten offenkundig wird. Das bekennt auch der Psalmist hier, dass die Liebe zu Gott in seinem Herzen so lebendig sei und sein Herz so sehr in Glut versetze, dass er siebenmaliges Tages Gott lobe. Diese Zahl soll nur das Gewicht, welches er auf diese Übung legt, und die Glut seiner heiligen Liebe ausdrücken. William Cowper † 1619.
  In der Frühe schon kam er vor den HERRN (V. 147), und so den Tag hindurch, bis noch die Mitternacht ihn auf den Knien fand, um dem HERRN zu danken (V. 62). Das war das Gebetsleben dieses alttestamentlichen Frommen; wie folgen wir Christen solchem Vorbilde? Barton Bouchier † 1865.
  Auf diese Stelle gründet die römische Kirche die Einrichtung der sieben kanonischen Gebetsstunden. Auch die frommen Juden wollten diese Stelle wörtlich verstanden wissen und schrieben darum sieben tägliche Gebete vor. Das ist pharisäischer Missverstand. Wohl aber kann das Einhalten von gewissen Gebetszeiten eine feine äußerliche Zucht sein, die uns hilft, unsere Trägheit und Vergesslichkeit überwinden. Betete der Psalmdichter siebenmal des Tages, d. h. immer und immer wieder, so war er, da dies sein Beten bei ihm nicht ein gesetzliches, verdienstliches Werk war, sondern aus seiner inneren Stellung zu Gott hervorging, auf dem Wege zu dem Ziel, das uns das Neue Testament vorhält, wenn es uns sagt: Betet ohne Unterlass. Nach William Gurnall † 1679 und andern.


V. 165. Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben. Unter den Stürmen und in dem Getümmel der Welt haben, die dem Willen Gottes mit Lust gehorsam sind, großen Frieden in ihrem Herzen und Gewissen, durch Bezähmung aller der Lüste, die gegen die Seele streiten; großen Frieden auch mit den Menschen durch den Geist brüderlicher Liebe, und die ganze Kreatur ist im Stande tiefsten Friedens mit ihnen, so dass alle Dinge zu ihrem Besten dienen. Keine äußeren Anfechtungen und Trübsale können ihnen ihren großen Frieden rauben, kein Anstoß bringt sie zum Straucheln, keine Steine, die ihnen Verfolgung oder Versuchung, die Bosheit der Feinde oder der Abfall von Freunden in den Weg werfen, nichts, was sie sehen oder hören oder fühlen, wird sie je von ihrem Ziele abwendig machen. Die Liebe, die vom Himmel stammt und auf das Himmlische gerichtet ist, besiegt alle Hindernisse und läuft mit Freuden den Weg der Gebote Gottes. Bischof G. Horne † 1792.
  Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben. Klarheit im Gewissen schafft trostreiche Gedanken. Aber eigentlich Frieden schaffen kann auch ein gutes Gewissen nicht, es vermag ihn nur zu bewahren. Gewiss kann und wird die heilige Freude vom Himmel, die Freude im Heiligen Geiste nur in einem reinen, aufrichtigen Herzen ihren Sitz aufschlagen; doch ist es nur das Blut Jesu Christi, das den Frieden verleihen kann, wie geschrieben steht Röm. 5,1: Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden. Aber ein sorgfältiger Wandel bewahrt das Gewissen rein. Bequemes Schuhwerk kann auch nicht wunde Füße heilen, wohl aber schützt es gesunde Füße vor dem Wundwerden. Ein göttlicher, ein evangelischer Wandel hat die Verheißung des Friedens, und dieser Friede ist ein so köstlicher Schatz, dass sein Besitz dem Christen eine unversiegbare Quelle der Freude ist. Sein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein, und kein Hunger und kein Dürsten, kein’ Armut, keine Pein, kein Zorn des großen Fürsten soll ihm ein’ Hinderung sein, oder diese Freude des Friedens stören. Und zu allen Zeiten hat es Gottesmänner gegeben, welche diesen Frieden kannten und besaßen und ihn sich bewahrten durch die schwersten Stürme. Ein Hiskia findet in seinem Gewissen Trost, da er dem Tode ins Angesicht schauen muss (Jes. 38,3), ein Paulus desgleichen in Todesgefahr, sein Ruhm ist das Zeugnis seines Gewissens (2. Kor. 1,8-12), und der heilige Bernhard findet in einem guten Gewissen die Freuden der Engel und des Paradieses. Nach Oliver Heywood † 1702.
  Ein Gesetz lieb haben, das mag befremdlich erscheinen; aber es ist das einzig Richtige für einen, der ein göttliches Leben führen will. Das Gesetz halten aus Furcht vor Strafe oder um des eigenen Rufes oder des Bestandes und Gedeihens der Gesellschaft willen, das ist ja gewiss ehrbar; aber es sind das doch lauter weltliche, menschliche Erwägungen, die am letzten Ende in der Selbstsucht begründet sind. Aber das Gesetz halten aus Liebe zu demselben, das zeigt, dass es zu unserer Natur gehört, einen Teil unseres Wesens bildet. Dann wird uns die Sünde widerwärtig, und die Versuchungen verlieren ihre Macht. W. M. Statham 1879.
  Und werden nicht straucheln. Ist jemand eine neue Kreatur, so liebt er Gottes Gesetz, und von einem solchen Manne kann man die rechte Weisheit lernen. Wer wirklich zu Christo gekommen, wer zu seinem Bilde gebildet ist, der liebt auch seine Gebote. Die Befehle des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz (Ps. 19,9). Die Welt bedauert den rechten Christen, der mit seinem Christentum recht ernst macht, dass er keine Freude kenne; er meide ja selbst die harmlosesten Vergnügungen der Geselligkeit und Unterhaltung. Aber jener erwidert: Das alles brauche ich nicht. Auch Christus, unser Vorbild, kannte nichts davon, aber er wusste, was rechte Lebensweisheit ist, die wahrhaft glücklich macht. Er war am freiesten von allen Wesen, und doch kannte er keine Sünde. Jesu, hilf mir dazu, dass ich frei sei wie du, mehr begehre ich nicht. R. Murray Mac Cheyne † 1843.


V. 166. HERR, ich warte auf dein Heil. Ob wohl der Psalmist daran gedachte, dass vor Jahrhunderten der Erzvater Jakob dasselbe Wort gebraucht hatte, als es zum Sterben ging? So wartete auch Simeon, und so sollen alle Knechte Gottes warten auf das Heil Gottes, die Erlösung, die von einer Gnade kommt, und bis dahin seine Gebote lieb haben und ihnen gehorsam ein. Und beides hängt eng zusammen. Unser Gehorsam, unser heiliger Wandel gibt uns Grund zu solcher Hoffnung, und die Hoffnung stärkt uns immer wieder zu erneutem Befolgen der Gebote. J. Morison 1829.
  Und tue nach deinen Geboten. Wer die Gebote dahinten lässt, der hat kein Recht auf die Verheißungen. Hoffnung ohne Gehorsam lässt zu Schanden werden. Wer das Wort Gottes recht kennt, weiß auch, dass das Gesetz durch den Glauben nicht aufgehoben, sondern erst recht aufgerichtet wird (Röm. 3,31). Christus, das Haupt seiner Gemeine, hat in der Bergpredigt gezeigt, wie weit sich die Forderungen des Gesetzes erstrecken, indem Reinheit des Herzens und der Gedanken, nicht nur der Worte und Taten, verlangt wird. Und wie viele nach dieser Regel einhergehen, denen wird Friede und Barmherzigkeit verheißen, denn sie sind wahrhaftig der Israel Gottes. Nath. Vincent † 1697.


V. 168. Ich halte deine Befehle und deine Zeugnisse, denn alle meine Wege sind vor dir. Solange Menschen nicht unter den Augen ihres Königs sind, lassen sie sich wohl etwa gehen; wenn sie aber in seine Gegenwart kommen, in den Audienzsaal, so nehmen sie sich zusammen. Die Frommen fühlen sich immer in ihres Gottes Gegenwart, unter seinen Augen, darum muss auch all ihr Tun und Lassen fromm und gottgefällig sein. George Swinnock † 1673.
  Alle meine Wege sind vor dir. Ja, Gott sieht alle unsere Wege, die geheimsten Regungen unseres Herzens. Das ist ein schrecklicher Gedanke für die Gottlosen, aber ein Grund der Freude für die Frommen. Jenen ist es widerwärtig, dass ihr Herz so offen daliegen soll. Schon dass ein Mensch ihre Worte und Taten alle kennen solle, ist ihnen peinlich; aber was ist das gegen die furchtbare Tatsache, dass ihr verhasster Richter ihre Gedanken sieht? Wenn sie das nur ableugnen könnten! Aber wer von ihnen noch an das Vorhandensein eines Gottes glauben und dasselbe zugeben muss, den erfasst auch immer wieder das Entsetzen bei dem Gedanken, dass dieser allsehend, allwissend ist. Andere freilich machen kurzen Prozess, sie leugnen die Gottheit überhaupt und glauben damit das peinigende Bewusstsein seiner Allwissenheit los zu werden. Aber vergebens verhärten sie ihre Herzen in Gottlosigkeit, die Furcht vor dem, was kommt, bleibt; je mehr sie ihr Gewissen zu betäuben suchen, umso mehr quält es sie, indem es ihnen die furchtbare Vergeltung, die ihrer wartet, vorhält, und zwingt sie so wider ihren Willen, eine Allwissenheit zuzugeben. Der Fromme aber freut sich im Gedanken daran, es ist ihm eine Richtschnur für sein Tun und Lassen, sein ganzes Denken und Fühlen; sein Wollen und Wünschen und Empfinden ist dem Einfluss des Bösen entzogen. Wo dieses Licht scheint, wird alles nach dem Bilde Gottes gebildet, würdig vor seinem, des Allsehenden, Angesichte zu erscheinen. W. Struther 1633.


1. Titel einer Schrift von Cicero. Euripides, Trauerspieldichter in Athen, † 402 v. Chr.; Thukydides, athenischer Geschichtsschreiber, † 402 v. Chr.; Lysias, athenischer Redner, † 378 v. Chr.; Phokion, athenischer Staatsmann, † 317 v. Chr.; Timanthes, griechischer Maler, † um 350. v. Chr.


169. HERR, lass meine Klage vor dich kommen;
unterweise mich nach deinem Wort.
176. Lass mein Flehen vor dich kommen;
errette mich nach deinem Wort.
171. Meine Lippen sollen loben,
wenn du mich deine Rechte lehrest.
172. Meine Zunge soll ihr Gespräch haben von deinem Wort;
denn alle deine Gebote sind recht.
173. Lass mir deine Hand beistehen;
denn ich habe erwählt deine Befehle.
174. HERR, mich verlangt nach deinem Heil,
und ich habe Lust an deinem Gesetz.
175. Lass meine Seele leben, dass sie dich lobe
und deine Rechte mir helfen.
176. Ich bin wie ein verirrtes und verlorenes Schaf; suche deinen Knecht,
denn ich vergesse deiner Gebote nicht.


  Der Psalmist nähert sich nun dem Ende seiner Psalmdichtung. Da nehmen seine Bitten noch an Kraft und Innigkeit zu; wir gewinnen den Eindruck, er dringe in das innerste Heiligtum der Gottesgemeinschaft ein und liege dem erhabenen Gott, dessen Hilfe er erfleht, unmittelbar zu Füßen. In der Gegenwart der höchsten Majestät kommt ihm die eigene Unbedeutenheit und Unwürdigkeit aufs stärkste zum Bewusstsein, und er beschließt seinen Psalm in tiefster Demut, indem er den HERRN als seinen treuen Hirten anfleht, ihn, wenn er auf Abwege geraten, wie ein verlorenes Schäflein heimzuholen.

169. HERR, lass meine Klage (meinen gellenden Hilferuf) vor dich kommen. Er zittert bei dem Gedanken, er könnte ungehört bleiben. Er weiß, dass sein Beten nur ein Schreien ist, gleich dem Aufschrei eines armen bedrängten Kindes, dem Klagegestöhn eines wunden Tieres. Wird sein Rufen bei dem Allerhöchsten ein offenes Ohr finden? Er fleht kühn um Gehör, bittet, dass Gott sein Flehen, so schrill es klingen möge, doch gnädig beachte; ja er macht, in dichterischer Redewendung, sein Gebet zu einem persönlichen Wesen, das bei dem Höchsten Zutritt begehrt, gleich Esther, die es wagte, vor des Königs Angesicht zu kommen, um sich Gehör zu verschaffen. Es ist für einen Bittsteller sehr tröstlich und erfreulich, wenn er die Gewissheit hat, dass sein Gebet zu dem Thron des Allerhöchsten gedrungen ist, des erhabenen Herrschers, dem Himmel und Erde dienen muss. Bei ihm und keinem andern begehren wir Gehör; denn zu ihm allein steht unser Vertrauen.
  Unterweise mich (lass mich einsichtig werden) nach deinem Wort. Das ist die Bitte, die den Psalmisten so bewegt. Was er auch schon erlangt hat, Einsicht, Verständnis zu gewinnen, ist ihm noch wichtiger; und worauf er auch mag verzichten müssen, dieses köstliche Gut will er nimmer entbehren. Er begehrt geistliche Erleuchtung und Unterweisung, wie sie in Gottes Wort verheißen ist, wie sie aus Gottes Wort uns kommt und wie sie zum Gehorsam gegen Gottes Wort führt. Er spricht, als ob er aus sich selbst gar keine Einsicht besäße, bittend, dass ihm welche geschenkt werde. Natürlichen Verstand hatte er freilich, Verständnis nach Menschenweise fehlte ihm nicht; aber was er begehrt, das ist Einsicht nach Gottes Wort, und das ist etwas ganz anderes. Geistliche Dinge verstehen zu können ist Gottes Gabe. Einen Verstand zu besitzen, der durch das Licht vom Himmel her erleuchtet und nach der göttlichen Wahrheit gebildet ist, das ist ein Vorrecht, das nur die Gnade verleihen kann. Mancher Mensch, den die Welt für weise hält, ist im Lichte des Wortes Gottes betrachtet ein Tor. Mögen wir zu den glücklichen Kindern gehören, die den Vorzug haben, dass sie alle von Gott selbst gelehrt werden (Jes. 54,13).

170. Lass mein Flehen vor dich kommen. Dieselbe Bitte in wenig veränderter Form. Kann er auch nur mit Flehen wie ein Bettler kommen, so bittet er dennoch um Zutritt und Gehör. Vielleicht steht meinem Nahen zu dir etwas hindernd im Wege; o dann räume die Hindernisse hinweg! Andere Glaubende finden ja Erhörung; o lass auch mein Flehen vor dein Angesicht kommen! Errette mich nach deinem Wort. Befreie mich von meinen Widersachern, hilf mir von meinen Verleumdern, schütze mich vor meinen Versuchern und führe mich aus aller Anfechtung; dein eigenes Verheißungswort ist es ja, was mich zu der Erwartung berechtigt, dass du es tun werdest. Eben zu dem Zweck, um zu entrinnen, begehrt er Einsicht von oben. Denn wenn seine Feinde gegen ihn erfolgreich sind, werden sie es nur durch seine Torheit sein; kann er ihnen aber mit kluger Besonnenheit und Umsicht entgegentreten, dann werden sie zu Schanden werden und er siegreich aus dem Kampfe Hervorgehen. Der HERR erhört häufig das Gebet seiner Kinder um Befreiung dadurch, dass er sie, die ohne Falsch sind wie die Tauben, auch klug macht wie die Schlangen.

171. Meine Lippen sollen loben (oder besser: Lobpreis ausströmen, Lob sprudeln), wenn du mich deine Rechte lehrest. Er will nicht immerfort nur mit Bitten sich zum HERRN nahen; auch über die feinere Selbstsucht will er sich erheben und dem HERRN den Dank darbringen für die empfangenen Wohltaten. Er gelobt, Gott zu preisen, nachdem er von ihm in der Ausübung der Gottseligkeit unterwiesen ist; denn wahrlich, das ist eine Gnade, die des Dankens wert ist. Gibt es wohl einen köstlicheren Segen? Das beste Lob ist jenes, das von solchen Menschen kommt, die Gott nicht mit den Lippen allein, sondern mit einem gottgefälligen Wandel preisen. Die himmlische Musik lernen wir in der Schule der Gottseligkeit. Wessen Leben Gott ehrt, dessen Mund wird sicher auch vom Lobe Gottes überströmen. Der Psalmist wollte nicht nur in der Stille Gott danken, sondern seiner Dankbarkeit auch den rechten Ausdruck verleihen; seine Lippen sollten das Lob verkündigen, das er in seinem Leben ausübte. Ein Jünger wird, auch wenn er selbst schon Meister geworden, doch stets mit Liebe von seinem Lehrmeister sprechen, dem er sein bestes Wissen und Können verdankt; so gelobt auch der Psalmist, wenn der HERR ihn in seinen Rechten unterwiesen habe, alle Ehre ihm zu geben, dem sie gebührt.

172. Meine Zunge soll ihr Gespräch haben von deinem Wort. Nachdem er den HERRN mit seinem Liede gepriesen, will er von Gottes Wort predigen. Von Gottes Gnade soll man singen und sagen; sie eignet sich für beides gleich gut. Gäbe es für das Gespräch unserer Zunge wohl einen dankbareren Gegenstand als Gottes Wort? Solches Reden ist wie das Holz des Lebens, dessen Blätter zur Gesundheit der Heiden dienen. Das Predigen der Wahrheit zieht auch immer wieder Menschen heran, die dann das Gehörte behalten und bewegen in ihrem Herzen. Das Schlimmste ist, dass wir oft so voll sind von unseren eigenen Worten und nur wenig von Gottes Wort reden. Ach, dass wir zu dem gleichen Entschlusse kämen wie der Dichter unseres Psalms und gelobten: Meine Zunge soll ihr Gespräch haben von deinem Wort! Dann würden wir auch unser sündiges Schweigen brechen, würden alle Feigheit und Halbherzigkeit überwinden und treue Zeugen für unseren Heiland werden. Nicht nur von Gottes Werken und Taten sollen wir reden, sondern auch von seinem Worte. Wir können die Wahrheit und Weisheit des Wortes Gottes, seinen Reichtum, seine Vollkommenheit und Köstlichkeit, seine Holdseligkeit und Kraft rühmen, und dann dürfen wir reden von allen seinen Offenbarungen, seinen Verheißungen, seinen Geboten und den Gnadenwundern, die es vollbracht hat. Es ist ein unermessliches Gebiet, mit vollen Segeln können wir hinausfahren; immer wieder können wir davon reden, ohne je ein Ende zu finden. Und nie wird solch Gespräch seinen Reiz für heilsbegierige Herzen verlieren. Denn alle deine Gebote sind recht. Der Psalmist scheint ganz besonders von den gebietenden Teilen der Schrift angezogen worden zu sein, und zwar war es offenbar die Reinheit und Vollkommenheit der Gebote des HERRN, woran er seine Lust hatte. Kann ein Mensch das aufrichtig sagen, dann ist sein Herz in Wahrheit ein Tempel des Heiligen Geistes. Eigentlich lauten die Worte hier: denn alle deine Gebote sind Gerechtigkeit. Das Gesetz Gottes ist nicht nur die mustergültige Regel des Rechts, sondern es ist Gerechtigkeit selbst seinem innersten Wesen nach. Dies behauptet der Psalmist von jedem einzelnen der Gebote ohne Ausnahme. Er denkt davon wie Paulus, der sagt: Das Gesetz ist ja heilig, und das Gebot ist heilig, recht und gut (Röm. 7,12). Bei einem Manne, der eine so hohe Meinung von Gottes Geboten hat, kann es uns nicht Wunder nehmen, dass auch seine Lippen stets bereit sind, den Namen des erhabenen Gesetzgebers zu verherrlichen.

173. Lass mir deine Hand beistehen. Verleihe mir tatkräftige Hilfe. Überlass mich nicht meinen und deinen Freunden, sondern lege du selbst Hand ans Werk. Deine Hand besitzt beides, Geschicklichkeit und Stärke, Gewandtheit und Ausdauer; lass alle diese Eigenschaften zu meinem Besten sich erweisen. Ich will wohl gerne selbst alles tun, was ich vermag; aber wieweit komme ich damit? Dringend bedarf ich deines Beistandes, sonst versinke ich rettungslos; darum versage mir deine Hilfe nicht. So erhaben deine Hand ist, neige sie doch zu mir herab. Die Bitte erinnert uns an den auf dem Meer wandelnden Petrus; als er zu sinken begann, da schrie er auch: Herr, hilf mir! Und alsbald reckte des Meisters Hand sich aus, ihn zu retten. Denn ich habe erwählt deine Befehle. Wohl dem, der dies betend vor Gott geltend machen kann. Der mag ja mit Fug und Recht von der Hand Gottes Beistand erwarten, wer die eigene Hand ganz dem Gehorsam des Glaubens geweiht hat. Der Psalmist hat seine Wahl getroffen, sein Entschluss steht fest. Gottes Gebote gehen ihm über alle Gebote und Lebensregeln und Meinungen der Menschen, ja auch seinem eigenen Willen entsagt er und erwählt, einzig den göttlichen Befehlen zu gehorchen. Wird einem solchen Mann nicht Gott beistehen in seinem heiligen Wirken, in diesem vernünftigen Gottesdienst? Sicherlich! Hat die Gnade uns das Herz zum Wollen verliehen, so wird sie uns auch die Hand zum Vollbringen geben. Allemal wenn wir, von einem göttlichen Ruf getrieben, an einer großen, erhabenen Aufgabe arbeiten und dabei fühlen, dass das Werk unsere Kräfte übersteigt, dürfen wir mit dem Psalmisten die rechte Hand des Höchsten mit Worten gleich diesen zu unserem Beistand herbeirufen.

174. HERR, mich verlangt nach deinem Heil. Er spricht ähnlich wie der Erzvater Jakob auf seinem Sterbebette (vergleiche auch V. 166). Ein Beispiel von der tiefen Übereinstimmung, die überhaupt zwischen den Heiligen Gottes besteht und besonders in ihrem Gebetsleben und in ihren Sterbenshoffnungen offenbar wird. Bei allen Unterschieden der Zeit und der Offenbarungsstufen und aller Mannigfaltigkeit der Charaktere sind sie doch eins in ihrem Denken, Streben, Hoffen und Glauben. Der Psalmist kannte Gottes Heil aus Erfahrung, und doch streckte er sich sehnend danach aus; was er davon bereits empfangen und erfahren hatte, war ihm ein Angeld von noch viel Höherem und Herrlicherem, nach dem er mit voller Erwartung des Glaubens verlangte. Es ist noch ein großes Heil zukünftig, da uns, wie Paul Gerhard singt, unser Gott wird lösen und wird uns reißen aus den Banden dieses Leibs und allem Bösen, und wird uns bringen zu den Scharen der Erwählten und Getreuen, die hier mit Frieden heimfahren, sich auch nun im Frieden freuen. Und dann werden wir nicht nur all der Unruhe und den Trübsalen dieses sterblichen Lebens entnommen und allen Anfechtungen und Angriffen des Satans entrückt sein, sondern unseren Gott und Heiland schauen von Angesicht zu Angesicht, ihm ähnlich sein und bei dem Herrn sein allezeit. HERR, mich verlangt nach deinem Heil! Und ich habe Lust an deinem Gesetz. Nennt die erste Vershälfte uns den Gegenstand der Sehnsucht des Psalmisten, so sagt uns diese zweite, was schon in der Gegenwart seine Freude, sein Ergötzen ist. Gottes Gesetz im engeren Sinne, wie es in den Zehn Geboten zusammengefasst ist, kann in der Tat dem Glaubenden zu tiefer Freude werden; und Gottes Gesetz im weiteren Sinn des Wortes, d. h. die Heilige Schrift in ihrer Gesamtheit, ist ein Brunnquell des Trostes und der Freude für alle, die daraus schöpfen wollen. Wiewohl wir noch nicht die Fülle des Heils erlangt haben, die unser wartet, finden wir doch in Gottes Wort schon ein so großes gegenwärtiges Heil geoffenbart, dass unser Herz jetzt schon von seliger Lust und Freude erfüllt wird.

175. Lass meine Seele leben. Erfülle sie mit Lebenskraft, bewahre sie vor dem Abirren auf die Wege des Todes, gib, dass sie sich der Innewohnung des Heiligen Geistes in ganzer Kraft erfreue. Lass sie leben die Fülle deines Lebens, lass sie erfahren die ganze Wundermacht der Neugeburt, die du in ihr gewirkt hast. Dass sie dich lobe. Erhörst du die Bitte, so wird sie dich loben; dich wird sie preisen für das Leben, das neue, das ewige Leben, dessen Kraft sie durchströmt; denn du bist der Herr des Lebens, der königlich darüber verfügt, dessen Odem allein alles Leben wirkt. Je mehr Leben in meine Seele quillt, desto mehr Lob wird aus ihr hervorströmen, und wenn du sie einst zum vollkommenen Leben erhöht hast, wird auch ihr Loben ein vollkommenes sein. Der Atem des geistlichen Lebens ist Beten und Loben. Und (mögen) deine Rechte (Gerichte) mir helfen. Wenn ich lese, was du von alters her getan, wie du an deinen Feinden Gericht geübt und deinen Auserwählten Heil geschafft hast in Gerechtigkeit, so lass mir das zur Förderung dienen. Wenn ich wahrnehme, wie deine Hand an mir selbst und an andern am Werk ist, wie sie die Sünde heimsucht und sich dem Trachten nach Gerechtigkeit hold erweist, so hilf mir dazu, dass ich mit meinem Leben dich ehre und mit meinen Lippen dich preise. Gib, dass all dein Tun, alle die Führungen deiner Vorsehung mich unterweisen, und hilf mir dadurch in den Kämpfen wider die Sünde und bei dem Streben, ein heiliges Leben zu führen. Zum zweiten Mal in diesem Abschnitt erbittet der Psalmist sich den Beistand von oben; er fühlte sich stets seiner bedürftig, es ging ihm da gerade wie uns.

176. Nun kommt das Finale, der Schluss des Ganzen. Bin ich abgeirrt.1 Ach, wie manches Mal ist das schon geschehen, wie oft bin ich in leichtsinnigem Übermut meine eigenen verkehrten Wege gegangen und wäre hoffnungslos verloren gewesen, wenn nicht deine Gnade immer wieder ins Mittel getreten wäre. Früher, ehe ich gedemütigt war (V. 67), ehe du mich völlig deine Rechte gelehrt hattest (V. 71), ging ich in der Irre. Ich wich ab von den sittlichen Forderungen deines Wortes, von seinen Wahrheitslehren und auch von dem, was du mir schon an herrlichen Gnadenerfahrungen zu schmecken gegeben hattest. Ich verlor den rechten Weg und ging irre in der Wüste. Aber selbst jetzt, wo ich so lange schon unter deinem treuen Hirtenstabe stehe, bin ich nur zu leicht geneigt, abzuweichen und so mich in meinen eigenen Wegen zu verlieren; ja wie manches Mal habe ich, ehe ich mich’s versehe, schon einen Fehltritt getan und bin nie sicher davor, in die Irre zu schweifen; darum, HERR, habe Acht auf mich und bringe mich immer wieder zurecht! Du kennst mich besser, als ich selbst mich kenne, und siehst alle meine Wege; bin ich verirrt, so suche wie ein verlorenes Schaf deinen Knecht. Zweierlei liegt in diesem Bilde. Er gleicht nicht einem Hund, der dank seinem Scharfsinn sich immer wieder zu seinem Herrn zurechtfindet, sondern er ist wie ein Schaf, das, einmal verirrt, immer weiter von der Herde abkommt und ohne den Hirten rettungslos verloren ist. Aber er ist trotz alledem des HERRN Schäflein, sein eigen, und teuerwert in seinen Augen, und darum darf er die gewisse Hoffnung hegen, dass des Hirten Treue ihn suchen und heimbringen werde. Ja noch mehr, wie weit er sich auch verirrt haben mag, er ist nicht nur ein Schäflein, sondern Gottes Knecht, und er sehnt sich wieder zurück dahin, wohin er gehört, in seines Herrn Haus, und ein inniges Verlangen ist in ihm, wieder mit Aufträgen für seinen Herrn beehrt zu werden. Erbarmt sich der Schöpfer eines irrenden Schäfleins, so darf er, der das hohe Vorrecht hat, dass er beten kann: "Suche deinen Knecht", desto mehr die Gewissheit hegen, dass sein gnadenreicher Herr ihn suchen wird, und zwar also suchen, dass ihm voll vergeben, er wieder in Gnaden an- und aufgenommen und zu neuer Arbeit in dem seligen Dienst verwendet werden wird.
  Beachten wir wohl das Bekenntnis dieses Verses! So oft hatte der heilige Sänger in dem Psalm gegenüber den Verleumdern und Lästermäulern seine Unschuld beteuert; wo er aber dem HERRN, seinem Gott, gegenübersteht, da ist er ganz bereit, seine Verfehlungen zu bekennen. Er legt hier nicht nur die Vergangenheit, sondern sein gegenwärtiges Leben offen dar unter dem Bilde eines Schafes, das aus der Hürde ausgebrochen, sich von der Herde verlaufen, den Hirten verlassen hat und durch eigene Schuld in die Wildnis geraten ist, wo es nun verirrt und verloren ist. Das arme Schäflein blökt in seiner Not, und der Psalmist betet: Suche deinen Knecht! Und er hat etwas, worauf er sich berufen kann: Denn ich vergesse deiner Gebote nicht. So jämmerlich seine Verirrungen sind, so schwer er unter seinen Fehltritten leidet, so sehr er darin den Gottlosesten gleicht, dass er sich selber nicht retten kann, es ist dennoch ein Unterschied zwischen ihm und den Abtrünnigen, die Gottes Wort schnöde hinter sich werfen und aus Herz und Sinn tilgen. Ich kenne dein Wort, ich weiß, was recht ist, ich stimme ihm bei und finde es schön, und was mehr ist, ich liebe es und sehne mich danach, es auszuüben. Ich kann nicht in Sünden leben, ich finde keine Ruhe, bis ich wieder zurückgebracht bin zu den Wegen der Gerechtigkeit. Ich habe Heimweh nach meinem Gott, ich verzehre mich vor Sehnsucht nach deinem Frieden, ich muss zurück zu deinem Heil. Ich vergesse deiner Gebote nicht und kann sie nicht vergessen. Ich weiß, dass ich immer am glücklichsten und sichersten bin, wenn ich ihnen genau gehorche, koste es was es wolle, und meine ganze Freude darin suche, ihnen in allem nachzuleben. - Wahrlich, wenn Gottes Gnade uns dazu fähig macht, in unserem Herzen das liebende Gedenken seiner Gebote festzuhalten, so wird sie uns auch vollends wiederherstellen zur wirklichen Ausübung der Gottseligkeit im Leben. Der Mann kann noch nicht rettungslos verloren sein, dessen Herz noch bei Gott ist. Mag er in vielen Stücken irren und fehlen, wenn nur das innerste Begehren seines Herzens aufrichtig ist, so wird er wieder zurechtgebracht werden. Doch möge der Leser sich bei dem Betrachten dieses letzten Verses des ersten Verses unseres Psalms erinnern: die größere Glückseligkeit liegt nicht im Zurechtkommen aus vielen Verirrungen, sondern darin, wenn der Gläubige in einem unsträflichen Wandel bewahrt wird bis ans Ende. Wir tun wohl, wenn wir stets die Mitte des Fahrdamms einhalten und uns nicht nahe an den Abgrund heranwagen. Lasst uns nie die Reichsstraße verlassen, um die (von Bunyan so anschaulich geschilderte) blumenreiche, sanfte "Abwegswiese" zu betreten. Der HERR erhalte uns auf dem rechten Wege, bis wir ans Ziel gelangen. Aber auch dann werden wir uns nie mit dem Pharisäer rühmen dürfen, sondern müssen immer mit dem Zöllner sprechen: "Gott, sei mir Sünder gnädig", und mit dem Psalmisten: "Suche deinen Knecht".


V. 169-176. Das achtfache t (T). Möge Gott wie seinen Lobpreis so dieses sein Flehen erhören und seines Knechtes, des in großer Gefahr befindlichen Schäfleins, sich annehmen.

169. Thronauf zu dir, Jahve, nahe mein Hilfeschrei,
Nach deinem Worte gib mir Verständnis.
170. Thronauf zu dir komme mein Flehen,
Nach deiner Zusage rette mich.
171. Tauen von Lobpreis sollen meine Lippen,
Dass du deine Satzungen mich lehrest.
172. Tut sich mein Mund auf, so gelte es deiner Aussage,
Denn all deine Gebote sind Rechtgemäßheit.
173. Tatkräftig mir zu helfen zeige deine Hand sich,
Denn deine Ordnungen hab ich erwählet.
174. Teilzuhaben an deinem Heil, Jahve, ersehn’ ich,
Und dein Gesetz ist mein Ergötzen.
175. Teilhaft neuen Lebens werde meine Seele, zu preisen dich,
Und deine Rechte mögen mir beistehn.
176. Tät’ ich mich verirren - wie ein verloren Schaf suche deinen Knecht,
Denn deiner Gebote vergess’ ich nicht.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 169. Der Psalmist hat in diesem Psalme gar manche Bitte an den HERRN gerichtet; jetzt sind diese seine Gebete selbst der Gegenstand einer Schlussbitte: HERR, lass meine Klage, mein Flehen vor dich kommen. So manches Gebet findet keine Gnade vor Gott, er lässt es nicht vor sein Angesicht kommen. Darum bittet der Psalmist, dass das seinige angenommen werde. William Cowper † 1619.
  Unterweise mich. Unterweisung, Belehrung, um zum Verständnis der Schrift zu gelangen, das ist ein Hauptwerk des Heiligen Geistes in unseren Seelen. So bittet der Psalmist
(V. 34): Unterweise mich, dass ich bewahre dein Gesetz; und im Epheserbrief (Kap. 1,17 f.) bittet der Apostel den Herrn, dass er der Gemeinde verleihe den Geist der Weisheit zur Erkenntnis und erleuchtete Augen des Verständnisses. Der Psalmist weiß sehr wohl, dass ohne dies kein Segen, kein Heil, keine Rettung und Erlösung selbst im Wort Gottes für uns zu finden ist, darum ruft er in inbrünstigem Verlangen danach in V. 144 aus: Die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig; unterweise mich, so lebe ich. Denn er wusste, dass er anders keinen Anteil an der ewigen Gerechtigkeit der Zeugnisse Gottes haben würde. Überhaupt ist ja aller Verstand eine Wirkung des Geistes Gottes, mag er auch noch so sehr missbraucht und entstellt werden (Hiob 32,8): Der Geist ist es in den Leuten, und der Odem des Allmächtigen, der sie verständig macht. In ganz besonderem Grade ist aber der geistliche Verstand eine Frucht der göttlichen Unterweisung. Dass auf der einen Seite die Heiligen Gottes zu allen Zeiten mit soviel Inbrunst den HERRN um Unterweisung gebeten haben, um seinen Willen und seine Absichten, die Ziele seines Schaffens und Wirkens in der Welt zu erkennen, und auf der anderen Seite Gott immer und immer wieder die Erfüllung dieser Bitten zugesagt hat, diese Tatsache ist für mich von höchster Bedeutung. Sie liefert mir den unwiderleglichen Beweis dafür, dass der Mensch den Sinn des HERRN, wie er in der Schrift niedergelegt ist, nicht erfassen kann, und alle Behauptungen vom Gegenteil, dass man in den Geist der Schrift eindringen könne ohne besondere Unterweisung des Heiligen Geistes, sind hinfällig und stehen im Widerspruch zu den ausdrücklichen, unzweideutigen Zeugnissen des Wortes Gottes. John Owen † 1683.
  Nach deinem Wort. David möchte unterwiesen werden nicht in fleischlicher Weisheit, denn diese bringt den Tod; er begehrt Unterweisung nach Gottes Wort. Ohne dieses ist alle menschliche Weisheit nur Torheit, und je scharfsinniger und klüger der Mensch auf seinen eigenen Wegen erscheint, umso tiefer gerät er in die Schlingen des Teufels. Was können sie Gutes lehren, weil sie des HERRN Wort verwerfen (Jer. 8,9)? Aber David war doch ein erleuchteter Prophet, und er hat es in diesem Psalm ausgesprochen, dass er gelehrter sei als seine Lehrer, klüger denn die Alten (V. 99.100), wieso bittet er doch noch um Unterweisung? Es ist eben ein großer Unterschied zwischen den Gaben der Natur und den Gaben der göttlichen Gnade. Wohl verleiht uns die Natur herrliche Fähigkeiten: ein gutes Gedächtnis, Kenntnisse, raschen Verstand, körperliche Kraft und vieles mehr, aber sie zeigt uns nicht, worin es uns noch fehlt, was uns mangelt; und so verführt sie uns mit ihren Gaben zu Selbstüberhebung und Eitelkeit. Der natürliche Mensch bildet sich oft auf die geringsten Gaben sehr viel ein; erst die Gnade Gottes, die dem Menschen Gaben verleiht, herrlicher und besser, als es die Natur vermag, lehrt ihn auch das erkennen, was ihm fehlt, damit er nicht aufgeblasen werde, sondern in aller Demut des Herzens um das noch Mangelnde bitte. Abr. Wright † 1690.


V. 170. Lass mein Flehen vor dich kommen. Der wahrhaft Gottesfürchtige, der von Herzen seinem Gott dienen will, gibt sich erst zufrieden, wenn er in persönlichen Verkehr mit dem HERRN getreten ist. Eine bloße Erfüllung der äußeren religiösen Gebräuche kann ihm nicht genügen, wenn der Geist der Gnade und des Gebetes sich nicht fühlbar gemacht hat. Und wer sich als Kind seinem himmlischen Vater gegenüber fühlt, der sehnt sich nach inniger Gemeinschaft mit ihm. Die Hoffnung aber auf gnädige Erhörung kann sich nur auf das feste prophetische Wort des HERRN und seine Verheißung gründen. Und gemäß diesem Worte, in Übereinstimmung damit rechnet das Kind Gottes auf Erhörung. Alle seine Erlösung, das weiß es, kommt vom HERRN, dorthin richtet es sein Gebet darum, und von daher erwartet es sie mit fester Zuversicht. HERR, schenke uns mehr von dem Glauben, der sich auf die Wahrheit der göttlichen Verheißungen verlässt und das Auge unverrückt darauf gerichtet hält. J. Morison 1829.


V. 171. Meine Lippen sollen Lob sprudeln (Grundtext), wenn du mich deine Rechte lehrest. Wenn der HERR selber ein Herz unterwiesen hat, kann es sich nicht mehr zurückhalten, es bricht in laute Lobgesänge aus. So äußert sich die göttliche Erleuchtung, und der so Begnadigte erkennt dies auch mit Dank als eine hohe Gnade und als eine heilige Pflicht, die ihm daraus erwächst. Und solche Äußerungen sind Zeichen eines erneuerten Herzens, eines Herzens, das eben durch seine Dankbarkeit seine Erneuerung beweist. John Stephen 1861.


V. 172. Meine Zunge soll ihr Gespräch haben von deinem Wort. Das ist auch eine von den Pflichten der Dankbarkeit, die der Psalmist anerkennt, nämlich zur Erbauung anderer von Gottes Wort zu reden. Jeder Christ ist ein Priester, um Gott Dank zu opfern, aber auch ein Prophet, um des HERRN Namen zu predigen (Ps. 116,17); denn uns allen gilt das Gebot: Bauet einer den andern (1. Thess. 5,11). Aber wie viele Christen gibt es, die in Gesellschaft sehr gewandt und fließend über alle möglichen Gegenstände zu sprechen verstehen, nur über geistliche Dinge, über das, was der Seelen Seligkeit am nächsten angeht, versagt ihnen das Wort, da sind sie stumm. William Cowper † 1619.


V. 173. Lass mir deine Hand beistehen. Nachdem er sein Gelübde der Dankbarkeit ausgesprochen, bittet der Psalmist nunmehr den HERRN um seinen Beistand, damit er dieses Gelübde auch erfüllen könne. Wollen und Vollbringen muss uns vom HERRN geschenkt werden. Schon in zeitlichen Dingen ist alle Arbeit der Menschen oft vergebliche Mühe, weil sie sich von ihrem Gewissen nicht beraten lassen und den HERRN nicht zum Beistand haben; da geht es ihnen nicht besser als Petrus, der die ganze Nacht fischte und nichts fing, bis er sein Netz im Namen des Herrn, auf sein Wort, auswarf. Noch viel weniger dürfen wir in geistlichen Dingen auf Erfolg rechnen, wenn wir Gott nicht um seine Hilfe anrufen. Mit unserer Macht, unserem Können ist nichts getan, wenn Gottes Segen nicht bei uns ist. Wir hören die Predigt des göttlichen Wortes, wir beten, aber es ist vergeblich, wir werden nicht erbaut, denn wir haben nicht ernstlich gebeten, dass seine Hand uns beistehe. Abr. Wright † 1690.
  Ich habe erwählt deine Befehle. Wenn dir Gott ins Herz gegeben hat, seine Befehle zu erwählen, o so danke ihm dafür. Es hat ja einmal eine Zeit gegeben, da du die Freuden des Fleisches erwähltest und nichts Besseres begehrtest, bis der HERR dir zeigte, dass es doch Köstlicheres gebe und dich auf den besseren Weg führte, da deine Seele anderen Trost und Befriedigung und volle Genüge fand. Dafür preise du Gott, wie der Psalmist tut, da er spricht: Ich lobe den HERRN, der mir geraten hat (Ps. 16,7). Und wie einst Pilatus sagte: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben, so sprich auch du: Was ich erwählt habe, das habe ich erwählt. Jerem. Burronghs † 1646.


V. 174. HERR, mich verlangt nach deinem Heil, und ich habe Lust an deinem Gesetz. Dass der Psalmdichter diese beiden Dinge, das Verlangen nach Gottes Heil und die Lust am Gesetz, in Verbindung bringt, das lehrt uns, dass es nicht genug ist, wenn wir unser Verlangen nach Errettung aussprechen, wir müssen auch die ernstliche Absicht haben, die Mittel, die uns dazu gegeben sind, zu benutzen. Es wäre von dem Psalmisten Heuchelei gewesen, wenn er das Erste ausgesprochen hätte, ohne ein Recht zu haben, auch das Zweite zu bekennen. Es ist eitel Spiegelfechterei, wenn einer behauptet, dass er Gott alle Tage um sein Brot bitte, und er dabei keinen Finger rührt, um durch seiner Hände Arbeit, durch einen rechtschaffenen Beruf sich dasselbe zu verdienen, oder gar es auf unrechte Weise zu erwerben sucht. Und der Kranke, der ernstlich um seine Gesundheit besorgt ist, der wird die Ratschläge und Mittel des Arztes gewiss nicht missachten. Gott hat in seiner Weisheit für jede erlaubte Sache die erlaubten Mittel geschaffen, und wenn wir solche recht gebrauchen, dann dürfen wir auch auf Erfolg rechnen; Anmaßung aber wäre es, wollten wir die Mittel nicht gebrauchen und doch den Erfolg erwarten. Gottes Wille war es, Noah zu erretten, aber Noah musste vorher durch seinen Glauben Gott ehren und die Arche bauen. Samuel Hieron † 1617.
  HERR, mich verlangt nach deinem Heil. Vergl. 1. Mose 49,18 und in unserem Psalm V. 81.123.166. Das ist die Sehnsucht des Alten Bundes, die ihre Erfüllung findet, da Simeon sprechen konnte: HERR, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben dein Heil gesehen. Nun bedarf es keines Hoffens, Wartens, Sehnens mehr. - E. R.
  Die Kraft und Wirkung der Religion auf uns hängt ganz von unserer Stellung zu ihr ab, ob sie uns bloß eine Last oder aber eine Lust ist. Der Geist ist unfähig, auf die Dauer die Last einer bloßen Pflicht zu tragen, während es ihm ganz leicht wird, wo die Lust dazu kommt. Dann wird jede Pflicht zu einem köstlichen Vorrecht, das der HERR uns selbst verliehen hat. Chr. Bridges † 1869.


V. 175. Lass meine Seele leben, dass sie dich lobe. Was anders begehrt jetzt der Psalmist, wenn er um Leben bittet, als was er im vorhergehenden Vers aussprach: Mich verlangt nach deinem Heil? Was er bis jetzt davon hat schmecken dürfen, erweckt in ihm den Hunger nach weiterem und höherem Genuss, nicht zur Befriedigung selbstischer Lust, sondern damit er seinen Herrn nur umso besser preisen könne. Charles Bridges † 1869.
  Dem Frommen müssen alle irdischen Dinge zu heiligem Zwecke dienen. Du aber, wozu sammelst du dir Schätze, wozu legst du sie an? Was soll dir das Leben mit den Kräften und Gaben, die dir verliehen sind? Brauchst du deine Reichtümer, um deine Begierden zu befriedigen, oder verwendest du sie zur Notdurft deiner armen Brüder und Schwestern? Und deine Stellung, dein Ansehen? Förderst du damit die Bestrebungen der Frommen oder der Gottlosen? Und so ist es mit allen zeitlichen Gütern. Ein Frommer heiligt sie, indem er sie im Dienst des HERRN gebraucht, und wenn er darum betet, so ist es zu einem geheiligten Zwecke. Wenn der Psalmist bittet, dass seine Seele leben möge, so setzt er hinzu: dass sie dich lobe. William Gurnall † 1679.
  Lass deine Rechte mir helfen. Hier scheint der Psalmist, der in dieser argen Welt so vielem Ungemach von den Gottlosen ausgesetzt ist, wie ein Schaf unter Wölfen, Gott um seine Hilfe anzurufen, dass der HERR den Gottlosen wehren möge, ihm Schaden zu tun. Es ist ein tröstliches Bewusstsein, dass wir inmitten der Anfechtungen und Stürme dieser Welt, die die Frommen bedrohen, unsere Augen zu den Rechten, den Gerichten Gottes erheben und bei ihnen Schutz finden können. Jean Calvin † 1564.


V. 176. Ich bin wie ein verirrtes und verlorenes Schaf, suche deinen Knecht. Das ist also das Ende dieses längsten aller Psalmen! Ein verirret und verloren Schaf, das ist der Schluss aller dieser Anrufungen, Lobpreisungen, Gelübde, hochfliegenden Hoffnungen - ein verlorenes Schaf! Aber halt! Eine Hoffnung wenigstens ist geblieben: Suche deinen Knecht. Der Fromme weiß, dass er in der Irre ging, als Gottes Gnade ihn fand, dass er noch oft irregegangen wäre, wenn Gottes Gnade es nicht verhindert hätte, er entsinnt sich der und jener ganz besonderen Gelegenheit, dieses und jenes sonderlich unseligen Falles, er fühlt, dass er sogar in diesem Augenblicke in der Irre geht. Darum folgt der Ruf: Suche deinen Knecht, denn trotz alledem vergesse ich deine Gebote nicht. Ist das nicht ein sprechendes Zeugnis von der Verderbnis, die der menschlichen Natur anhaftet? Er ist nicht ein Gottloser, er vergisst den HERRN nicht, der rechte Grund ist vorhanden, der göttliche Same ist in ihm, aber doch kommt das Irregehen, darum die Bitte: Suche deinen Knecht. Ähnlich sagt Jesaja: Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg. Und das gilt für das ganze Menschengeschlecht. Der Psalmist spricht von persönlicher Erfahrung, wie sie auch Paulus kennt: Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. Und der Psalmist des Alten Bundes hatte dasselbe Gegenmittel gegen diese Not wie der Apostel des Neuen Bundes, denn Gottes Heil ist eins. Suche deinen Knecht, fleht der Psalmist, und der Apostel ruft aus: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Ich danke Gott durch Jesum Christ, unseren Herrn. J. Stephen 1861.
  Gotthold sah, dass ein Hausvater seine Schäflein, als sie aus dem Felde kamen, mit Fleiß zählte und zum Stall brachte. Weil er nun eben voll Betrübnis und Sorgen war, brach er bei sich selbst heraus und sagte: Was betrübst du dich nun, meine Seele, und was plagst du dich selbst mit solch ängstlichen Gedanken? Vermeinst du nicht, dass du dem Allerhöchsten so lieb bist als diesem Manne seine Schäflein? Oder bist du nicht besser als viele Schafe? Ist denn nicht Christus Jesus dein Hirte? Hat er nicht sein Blut und Leben an dich gewagt? Geht’s denn nicht auch dich an, dass er sagt: Ich gebe meinen Schafen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen? (Joh. 10,28) Dieser Mann zählt seine Schafe; sollte mein Gott nicht seine gläubigen und auserwählten Kinder zählen und in Acht haben, zuvoraus, da mich sein liebster Sohn versichert, dass auch die Haare auf unserem Haupt gezählt sind? (Mt. 10,30.) Gesetzt, dass ich mich den Tag über verirrt und meinen Gedanken etwas unvorsichtig nachgewandelt hätte, mein getreuer Gott wird zu Abend bei der Einzahlung seiner Schäflein, wenn er meiner vermissen wird, mich in Gnaden wieder suchen und zurechtbringen. Herr Jesu, ich bin wie ein verirrt und verloren Schaf, suche deinen Knecht, denn ich vergesse deiner Gebote nicht. Christian Scriver 1671.
  Wer wird in der Schrift der Mann nach Gottes Herzen genannt? David, der Hebräerkönig, war in Fehler genug gefallen, ja in Verbrechen schwerster Art; an Sünde mangelte es in seinem Leben wahrlich nicht. Drum rümpfen die Ungläubigen die Nase und fragen: "Ist das euer Mann nach Gottes Herzen?" Dieser Spott dünkt mich aber sehr oberflächlich. Was bedeuten Fehler, was all die äußeren Einzelheiten eines Lebens, wenn das Verborgene dieses Lebens, die Reue, die Versuchungen, der oft von Niederlagen durchbrochene und doch nimmer aufhörende Kampf dieses Lebens bei der Beurteilung desselben vergessen wird? Ich halte Davids Lebensgeschichte, wie sie uns in seinen Psalmen niedergeschrieben ist, für das getreueste Bild, das uns je von den sittlichen Fortschritten und dem Lebenskampf eines Menschen hienieden gegeben worden ist. Alle aufrichtigen Herzen werden darin stets das redliche Ringen eines aufrichtigen menschlichen Herzens nach dem Guten und Besten erkennen - einen Kampf mit vielen Niederlagen, manchem schweren Fall, dass es scheint, als läge der Kämpfer mit gänzlich zerbrochener Kraft für immer überwunden am Boden; und dennoch erhebt er sich stets wieder zu neuem Ringen mit Tränen, mit Buße, mit wahrhaft unbesiegbarem Heldentum. Thomas Carlyle † 1881.
 


Homiletische Winke

  Mir. 1) Ich bedarf Gnade. 2) Mir kann sie widerfahren. 3) Dein Heil ist ganz meinem Bedürfniss entsprechend. 4) Doch habe ich auch meine besonderen Bedenklichkeiten, die mich im Glauben entmutigen möchten. 5) Jedoch dein Wort ermutigt mich.

V. 1. Wahre Glückseligkeit ist für uns darin zu finden, dass wir uns durch das Wort in Unsträflichkeit bewahren und an dem Wandel nach dem Worte unsere Lust haben.
  Geistliche Wanderer werden in dem Psalm oft erwähnt, und in diesem ersten Vers werden uns solche beschrieben, deren Wandel vorbildlich ist. Betrachten wir 1) ihr Wesen: ohne Tadel. Dies sind sie a) in Christo: in ihm erfunden, in ihm vollkommen, in ihm angenehm gemacht, Phil. 3,9; Kol. 2,10; Eph. 1,6. b) Durch Christum: sein Geist, seine Wahrheit, seine Gnade sind in ihnen wirksam. - Betrachten wir 2) den Weg, den sie wandeln: sie wandeln im Gesetz des HERRN. Dieser Weg ist a) deutlich, ein gebahnter, gut erkennbarer, von jedem anderen Wege unterschiedener Weg; b) alt: es ist der uralte Weg Jer. 6,16. Die Heiligkeit ist älter als die Sünde, die Weisheit älter als die Torheit, das Leben älter als der Tod, die Freude älter als das Leid. c) Sicher: Christus hat ihn wieder gangbar gemacht. Abgesehen von seinem Werk kann niemand ihn sicher wandeln. Er hat Berge erniedrigt, Täler erhöht, krumme Pfade zu geraden und rauhe zu ebenen Wegen gemacht. Er hat den Löwen vertrieben. d) Schmal: Dieser Weg hat einen Zaun von Geboten auf der einen, von Verboten auf der anderen Seite. Man gelangt auf ihn durch eine enge Pforte, die die Großen nötigt, wie Kinder zu werden und alles dahinten zu lassen. - Betrachten wir 3) ihre Fortschritte: sie wandeln. Sie reden nicht nur fromm, sondern treten in die Fußtapfen Jesu. Sie folgen dem Erfüller des Gesetzes nach. Sie schreiten fort in der Anwendung seiner Gnadengaben, in der Ausübung seiner Tugenden, in der Erfüllung seiner Befehle und in dem Genuss seiner Huld. - Betrachten wir 4) ihre Glückseligkeit: Wohl dem. Sie genießen nimmer fehlenden Beistand, passende Gesellschaft und ermutigende Ausblicke auf dem Wege. William Jackson 1882.
V. 2. Eine zwiefache Seligpreisung, ausgesprochen 1) über das Halten der Zeugnisse des HERRN, 2) über das Suchen des HERRN.
  1) Das heilige Suchen. Man hat Gott gesucht unter den Bäumen, auf den Bergen, in den Planeten, den Fixsternwelten. Man hat ihn gesucht in seinem entstellten Ebenbilde, dem Menschen. Man hat ihn gesucht in den geheimnisvollen Bahnen der Weltgeschichte, der Menschen- und Völkergeschicke. Aber dieses Suchen ist oft nur einseitig von dem Verstande abgegangen oder nur durch vorübergehende Regungen des Gewissens erzwungen worden und hat darum nur wenig Licht gebracht, das zur Genüge weder das Herz erwärmen noch den Sinn erleuchten konnte. Man hat Gott auch gesucht in dem von dem Dichter unseres Psalms so hoch gepriesenen Worte, wenn es zu den von Rauch bedeckten, flammenden Gipfeln des Sinai führte. Dasselbe Wort führt aber weiter, unter die Ölbäume Gethsemanes, wo wir Zeugen werden eines geheimnisvollen Kampfes in blutigem Schweiß und Todesgrauen, und auf Golgatha, wo an der Richtstätte Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht worden sind. Hier erst beginnt so recht das heilige Suchen. 2) Die Art des rechten Suchens. Gott suchende Seelen könnten leicht irrtümlicherweise entmutigt werden, indem sie den Ausdruck "von ganzem Herzen" allzu buchstäblich deuten. Wir sagen unbedenklich, ein Strom fließe mit seiner ganzen Wassermasse dem Meer zu, wiewohl es kleine Seitenbuchten gibt, wo das Wasser sich zurückstaut; desgleichen, dass die Flut komme, obwohl die Wogen an der Brandung zurückschlagen; oder dass der Frühling im Anzug sei trotz April-Hagelschauern und beißender Märzluft. Der Ausdruck deutet auf Hingabe des Herzens, Zielbewusstheit und Anspannung der Kräfte hin. Niemand treibt dieses Suchen recht, wer nicht durch den Geist der Gnade dazu gebracht und darin wacker erhalten wird. 3) Das Glück, das sowohl schon in dem Streben selbst als auch besonders in dessen Erfolg für uns liegt. a) Glück, Seligkeit mitten in den Schmerzen der Reue. Wenn er uns den Riegel am Schloss auftut, so triefen seine Hände mit Myrrhe (Hohelied 5,5). Die aufgehende Sonne sendet zündende Strahlen auf die höchsten Spitzen. b) Glück in dem beseligenden Finden von Heil und Kindschaft. c) Glück in der beharrlichen Nachfolge. William Anderson 1882.
  Wohl denen, die ihn von ganzem Herzen suchen. 1) Was suchen sie? Gott selber. Es gibt keinen Frieden für uns, bis wir ihn gefunden. 2) Wo suchen sie ihn? In seinen Zeugnissen. 3) Wie suchen sie ihn? Von ganzem Herzen. George Rogers 1882.
  Erinnern wir uns an sechs Stücke, die bei denen, die den HERRN recht suchen wollen, vorhanden sein müssen. Wir müssen ihn suchen: 1) in Christo, dem Mittler, Joh. 14,6; 2) in Wahrheit, Joh. 4,24; 3) mit Heiligung des Lebens, 2. Tim. 2,19; Hebr. 12,14; 1. Joh. 3,3; 4) über alles und um seiner selbst willen; 5) bei dem Licht seines eigenen Wortes; 6) mit Eifer und Ausdauer, nimmer rastend, bis wir ihn finden, wie die Braut im Hohelied (3,1-4). W. Cowper † 1619.
V. 2.4.5.8. Das Halten der Gebote Gottes: befohlen V. 4, als glückselig gepriesen V. 2, ersehnt und erbeten V. 5, beschlossen V. 8. Charles A. Davis 1882.
V. 3. Die tun kein Übel: 1) vorsätzlich, 2) mit Lust, 3) beharrlich, 4) überhaupt nicht, wenn das Herz völlig Gott geweiht ist, da Christus in ihren Herzen wohnt durch den Glauben und er die Sünde austreibt. Adam Clarke † 1832.
  Der Wandel mit Gott der beste Schutz gegen das Übeltun, oder: Wie Wachstum in der Gnade und Meiden des Bösen Hand in Hand gehen.
V. 4. 1) Beachte, wer der Gesetzgeber ist: nicht deinesgleichen, nicht einer, den man hintergehen kann, sondern der Allsehende, Allwissende, Allmächtige. 2) Er verlangt mit göttlicher Hoheit unseren vollen, eifrigen Gehorsam. 3) Gehorsam gegen seine Befehle verlangt er, nicht selbsterwählten Gottesdienst usw. Thomas Manton † 1677.
  Das Gebot über die Gebote. Nachdem Gott das Sittengesetz gegeben, setzt er ein Gebot hinzu, das die Art vorschreibt, wie es zu halten ist. 1) Gott ist also nicht gleichgültig dagegen, wie die Menschen sein Gesetz behandeln, ob sie es halten oder vernachlässigen oder ihm gar Hohn sprechen. 2) Auch wenn Gottes Befehle beobachtet werden, macht Gott doch scharfen Unterschied, in welcher Gesinnung sie gehalten werden, ob in knechtischem Zwang, ob nur stückweise, wählerisch, ob nachlässig oder fleißig. 3) Nur die letztgenannte Art des Gehorsams entspricht Gottes Anforderung. Fleißig, das bedeutet einen Gehorsam, der darauf bedacht ist, festzustellen, was Gottes Wille ist, der bereit ist, ihn sofort zu erfüllen, der keine Vorbehalte macht, sondern einen Eifer entwickelt, der aus der Liebe kommt (vergl. V. 47.97.113). 4) Fragen wir uns denn, ob unser Gehorsam diesem Maßstabe entspricht. Charles A. Davis 1882.
  Unser Gehorsam muss eifrig, sorgfältig und ausdauernd sein; sonst wird er nicht aufrichtig und nicht gleichmäßig sein und die Schwierigkeiten nicht überwinden.
  Wie wir gehorchen sollen: fleißig. 1) Nicht teilweise, sondern völlig; 2) nicht zweifelnd, sondern zuversichtlich; 3) nicht widerstrebend, sondern willig; 4) nicht kalt, sondern eifrig; 5) nicht hie und da einmal, stoßweise, sondern regelmäßig. William Jackson 1882.
V. 4.5.6. 1) Willige Anerkennung der Pflicht (V. 4). 2) Inbrünstiges Verlangen, sie zu erfüllen (V. 5). 3) Eine glückliche Folge (V. 6). W. Durban 1882.
V. 5. Der heiße Gebetswunsch des Psalmisten, angeregt 1) durch die vorhergehenden Seligpreisungen, 2) durch das Bewusstsein der Schwächen des eigenen Wollens und Vollbringens, 3) durch die Liebe zum HERRN.
  Die Sehnsucht, die Rechte des HERRN mit ganzem Ernst zu halten. 1) Das ist ein edles Streben. Es gibt nichts Größeres als dies Verlangen, außer dem Halten selbst. 2) Es ist ein geistliches Streben. Es kommt nicht aus unserer fleischlichen Natur, sondern aus dem erneuerten Herzen. 3) Es ist ein Streben nach Erreichbarem. Der Mensch wünscht sich oft Unmögliches, diesen Wunsch aber können wir erlangen durch Gottes Gnade. 4) Es ist ein inbrünstiges Verlangen, wenigstens bei dem Psalmisten; möge es das auch bei uns sein. 5) Es ist ein wirkungsvolles Streben, das nicht in Seufzern verfliegt. Es ist ein mächtiger Trieb, durch die Gnade Gottes uns eingepflanzt, der uns nicht rasten lässt, bis wir das Ziel, die vollkommene Heiligung, erreicht haben. William Jackson 1882.
V. 6. Heiliger Freimut eine Frucht des völligen Gehorsams.
  Ein stich- und hiebfester Harnisch. I. Völliger Gehorsam würde uns eine unbeschämbare Zuversicht geben 1) gegenüber den Urteilen der Welt,. 2) vor dem Richtstuhl des eigenen Gewissens, 3) am Gnadenthron, 4) im Blick auf das Jüngste Gericht. II. Aber unser Gehorsam ist von ferne nicht vollkommen; darum stehen wir offen 1) den Wurfspeeren der Welt, 2) den Stichen des Gewissens; 3) darum wird auch unser Gebet oft gelähmt, und 4), wir können damit nicht bestehen vor dem Richterstuhl Gottes. III. Darum lasst uns durch den Glauben uns bergen in dem vollkommenen Gehorsam Christi. Dieser ist unsere Antwort auf die Tadelsucht der Welt. Wir sind nicht fehlerlos, und unsere ganze Hoffnung der Seligkeit ruht nicht auf uns, sondern einzig auf Christo. Seine Gerechtigkeit ist 1) der Balsam für das verwundete Gewissen, 2) unser mächtiger Stützgrund beim Gebet, 3) unsere triumphierende Rechtfertigung am Jüngsten Tage. Charles A. Davis 1882.
  Thema: Die rechte Selbstachtung ist abhängig von der Achtung vor einem Größeren, als wir selber sind. W. Durban 1882.
V. 7. Ich will dich mit rechtem Herzen preisen. (Grundtext) 1) Ein Meister heiliger Musik. 2) Der Gegenstand seines Sanges. 3) Sein Instrument (das Herz). 4) Dies Instrument gestimmt (mit rechtem Herzen). 5) Die Akademie, auf der er solche Kunst gelernt hat (die Rechte deiner Gerechtigkeit). W. Durban 1882.
  Lernen und Lobpreisen. 1) Zwei geistliche Übungen. Allerdings kann man bei beiden auch fleischlich, sinnlich sein; in diesem Falle jedoch richten sich beide auf die gerechten Ratschlüsse, Taten und Führungen des HERRN. 2) Zwei geziemende Übungen. Was kann für uns angemessener sein, als von Gott zu lernen und ihn zu loben? 3) Zwei nützliche Übungen. Sie gewähren über Erwarten viel Vergnügen und Vorteil. Herz, Kopf und Leben haben davon Gewinn. 4) Zwei einander unterstützende Übungen. Bei der einen verhalten wir uns empfangend, bei der anderen gebend. Durch die eine werden wir angespornt und ausgerüstet für die andere. Wie wundersam wird aus der Lektion ein Lied, aus dem Schüler ein Sänger! William Jackson 1882.
V. 8. 1) Ein hoffnungsvoller Entschluss fürs Leben. 2) Eine schreckliche Befürchtung. 3) Eine Reihe von Erwägungen, durch welche diese Furcht beseitigt wird.
  I. Der Entschluss: Deine Rechte will ich halten. II. Die Bitte: Verlass mich nimmermehr (wörtl.: nicht völlig). Sie zeugt 1) von kindlicher Unterwürfigkeit (Ich verdiente es wohl manchmal, dass du mich verließest); 2) von kindlichem Vertrauen ("nicht völlig"). III. Der Zusammenhang zwischen beiden. Gehorsam ohne Gebet und Gebet ohne Gehorsam sind beide gleich unnütz. Um vorwärts zu kommen, muss man beide Ruder gebrauchen. Gott hat nichts übrig für bettelnde Müßiggänger, die nicht arbeiten wollen, solange sie noch etwas durchs Betteln erlangen können. George Rogers 1882.
  Verlass mich nicht völlig. (Grundtext) I. Die angsterfüllte Bitte. 1) Gott hat unumschränkte Macht, mit seinen Geschöpfen zu tun, was er will. Aber seine souveräne Freiheit ist nicht Willkür und Launenhaftigkeit; am besten umschreiben wir sie vielleicht als geheimnisvoll waltende königliche Liebe. Wir erkennen sie jetzt noch nicht; aber sie wird völlig gerechtfertigt erscheinen, wenn sie uns ihre Rätsel einst enthüllt. 2) Es gibt ein stellvertretendes Verlassenwerden. 3) Es gibt ein Verlassenwerden um der Sünde willen. David, Jona, Petrus, die meisten Gemeinden der sieben Sendschreiben, das Volk Israel sind davon Beispiele. Um aber zu wissen, was völliges Verlassenwerden bedeutet, müssen wir in die Hölle gehen. In der Tat betet der Psalmist, und manches Kind Gottes nach ihm, zitternd und bebend wie am Rande des Höllenabgrundes. Er klagt wie ein Wanderer, der in endlosem Walde verirrt und von wilden Tieren umgeben über das Schwinden der Abenddämmerung seufzt. Er gleicht einem Schiffbrüchigen auf notdürftig gezimmerten Floß, der das Schiff, das anzuhalten er sich heiser geschrien, am Horizonte verschwinden sieht. II. Die Wahrheit, die dieser Bitte zu Grunde liegt: die Treue Gottes. Wo Gott sich eine Wohnstätte erwählt hat, da bleibt er. Er könnte uns völlig nur verlassen, weil er sich in uns getäuscht hätte. Er könnte uns völlig nur verlassen, weil er zu Schanden geworden. Beide Gedanken wären lästerlich. O du, der du noch nie irgendeinen, der auf dich vertraute, völlig verlassen hast, lass mich nicht die einzige Ausnahme werden! III. Die Gewissheit der Erhörung. Sie steht geschichtlich fest. Der einzelne Gläubige und die Gemeinde des HERRN sind noch immer errettet worden. Wohl mag die Hilfe verziehen, wohl mag es erst um den Abend licht werden, wie bei manchen schwer geprüften Gotteskindern, oder mag das Licht erst am Morgen der Ewigkeit wieder aufgehen, aber kommen muss es (wie bei dem geistlichen Dichter William Cowper, der siebenunddreißig Jahre lang bis zu seinem Heimgang im Jahre 1800 durch Schwermut und Geisteskrankheit viel bedrückt war; sein Antlitz trug im Tode den Ausdruck seligster Überraschung). W. Anderson 1882.
V. 9. 1) Des Jünglings Frage. 2) Des Weisen Antwort.
  Das Wort Gottes hilft dem Jüngling, seinen Wes unsträflich zu gehen, indem es 1) ihm die Gefahren seines Lebensweges zeigt, 2) ihm ein untrügliches Heilmittel darbietet für die Gefahren, die in seiner eigenen Natur liegen, und 3) ihm ein Wegweiser ist für alle die Pfade der Pflicht, zu denen er berufen werden mag. So ist denn die Bibel recht ein Buch für junge Leute. Wilson 1828.
  Wir finden in dem Worte Gottes 1) Licht über die Irrwege und den rechten Weg, 2) Kraft, jene zu meiden und diesen zu gehen, 3) Ermutigung und Freude auf dem Wege.
  Ein Wort an die Jugend. I. Jünglinge sind in besonderer Gefahr, ihren Weg zu beflecken 1) wegen ihrer starken Triebe und Neigungen, 2) wegen der Unreife ihres Urteils, 3) wegen ihrer Unerfahrenheit, 4) wegen ihrer Geneigtheit, eine hohe Meinung von sich selbst zu hegen, 5) weil sie sich leicht von andern, z. B. von leichtfertigen Genossen, beeinflussen lassen, 6) wegen ihrer allgemeinen Flüchtigkeit und Unbedachtsamkeit. II. Die Selbstzucht, die ein Jüngling ausüben sollte, um seinen Weg unsträflich zu gehen. Er muss sich hüten 1) vor seinen bösen Neigungen, 2) vor den Gefahren des Umgangs, 3) vor den Gefahren, die in seinem Streben liegen, 4) vor den unbedachten Folgen, die sein Tun haben kann. III. Der unfehlbare Führer, mit dessen Hilfe er sich bewahren kann. Er soll sein Tun regeln 1) nach den Vorschriften des Wortes Gottes, 2) nach den Vorbildern, die es ihm vorführt, 3) nach den Beweggründen, die die Schrift ihm empfiehlt, 4) unter Beachtung der Warnungen und 5) der lockenden Verheißungen des Wortes Gottes. C.A. Davis 1882.
V. 9-16. Die Lebensregeln des Psalmisten zur Erreichung eines unsträflichen Wandels (V. 9), abgeleitet aus seiner eigenen Erfahrung: 1) Suche Gott von ganzem Herzen, V. 10a. 2) Werde dir deiner Mängel aufrichtig bewusst, V. 10b. 3) Birg in deinem Herzen alles, was Gott sagt, V. 11a, und wende es aufs Leben an, V. 11b. 4) Preise Gott anbetend für alles, was er gegeben, V. 12a. 5) Bitte um mehr, V. 12b. 6) Sei bereit, seine Erkenntnis anderen mitzuteilen, V. 13. 7) Lass diese Erkenntnis an deinem eigenen Herzen die rechte Wirkung haben, V. 14. 8) Forsche viel in Gottes Wort und sinne tief darüber nach, V. 15. Wie unverdaute Speise den Körper nicht nährt, so stärkt auch das Wort Gottes die Seele nicht recht, wenn es nicht ernstlich erwogen und ins Herz aufgenommen wird. 9) Hast du diese Weise angenommen, so beharre dabei - vergiss der Worte des HERRN nicht, sondern lass sie allezeit deine Lust sein, V. 16, so wird dein Lebensglück besiegelt sein, denn Heiligkeit ist Freude. Adam Clarke † 1832.
V. 10. Die zwei großen Anliegen des Gläubigen. 1) Was er zu finden bemüht ist: Ich suche dich von ganzem Herzen. 2) Was er zu verlieren fürchtet: den Weg der Gebote Gottes. W. Durban 1882.
  Aufrichtigkeit kein Grund zum Selbstvertrauen. 1) Der Gläubige soll sich dessen bewusst sein, dass er Gott von ganzem Herzen sucht. 2) Aber dies Bewusstsein der Aufrichtigkeit rechtfertigt nicht Selbstgenügsamkeit, sondern 3) auch der aufrichtigste und ernsteste Christ muss sich ganz an die Gnade halten, um vor dem Abirren bewahrt zu werden. Charles A. Davis 1882.
  Das Suchen Gottes. I. Wie der Psalmist Gott suchte. 1) Er suchte ihn mit dem Herzen. Nur das Herz kann Gott finden. Das Auge lässt uns im Stich. Die wissenschaftliche Methode führt nicht zum Ziel. Aller Verstand versagt. Nur Liebe und Glaube sind erfolgreich. Die Liebe sieht viel, wo alle andern Fähigkeiten nichts wahrnehmen. Der Glaube hat stets Glück im Entdecken, und nirgends in so reichem Maße, als wenn er Gott selber findet. 2) Er suchte Gott von ganzem Herzen. a) Mit halbem Herzen findet man selten etwas, das des Besitzens wert ist. b) Halbherzigkeit ist ein Zeichen von Geringschätzung Gottes. c) Gott offenbart sich keinem, der ihn nur mit halbem Herzen sucht. Das hieße ja der Gleichgültigkeit den höchsten Preis gewähren. II. Das Gebet des Gott suchenden Psalmisten: Lass mich nicht irren von deinen Geboten. 1) Gottes Gebote führen uns alsbald in seine Gegenwart. Jedes der Zehn Gebote führt uns weg von Welt und Sünde in jene heilige Abgeschiedenheit, in der Gott wohnt. So ist es aber mit allen Geboten der Schrift. 2) Die Aufrichtigkeit der Gott suchenden Seele, die sich in dieser Bitte ausspricht, gilt an sich schon bei Gott als Rechtsgrund, dass er sich wird von uns finden lassen. Gott, der es überhaupt liebt, dass wir kühn und dringend bitten, wird solch dringendes Flehen nicht weniger lieben, wenn es sich dabei darum handelt, dass wir ihn selbst von ganzem Herzen suchen. Wer aber Gott von ganzem Herzen sucht, der darf mit besonderer Zuversicht bitten: Lass mich nicht abirren von deinen Geboten. F. G. Marchant 1882.
V. 11. 1) Das beste Ding, 2) am besten Ort, 3) zum besten Zweck.
V. 12. Der Psalmist 1) rühmt Gott anbetend und 2) erbittet eine große Gnade von Gott. Matthew Henry † 1714.
  Das Verlangen nach göttlicher Unterweisung erweckt durch die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes. 1) Was für Grund haben wir, Gott anbetend zu preisen? 2) Wie können wir Gottes herrlichen Vollkommenheiten ähnlich werden? Welche Bitte legt sich uns dadurch aufs Herz? Charles A. Davis 1882.
V. 12b. 1) Wie lehrt uns Gott? a) Auf die von ihm verordneten Weisen durch den Dienst von Menschen (Bibel, Eltern, Lehrer, Prediger usw.). b) Innerlich durch die Erleuchtung und all das Wirken seines Geistes. 2) Wie notwendig es ist, dass Gott uns lehre. 3) Wie segensreich solch göttliches Lehren ist. Thomas Manton † 1677.
V. 13. Die trefflichste Anwendung der Gabe des Sprechens. 1) Ein köstlicher Gegenstand. 2) Unerschöpflicher Stoff. 3) Ein Gesprächsthema, das den Menschen nützlich ist und 4) Gott verherrlicht.
V. 14. Praktisches Christentum, im rechten Sinn des Wortes, eine Quelle von Lebensgenuss, die davon mehr als aller Reichtum gewährt. Es gibt dem Menschen Freiheit von Gram und Sorge, macht ihn unabhängig von andern, befreit ihn von dem Bedürfnis nach Einfluss und vielem anderen, was man gewöhnlich als Vorzüge des Reichtums ansieht.
  1) Wessen sich der Psalmist freut: nicht nur der Zeugnisse des HERRN an sich, sondern auch des Weges, den diese Zeugnisse gebieten. 2) Warum er sich dessen freut: a) um des Friedens willen, den sein Herz da findet; b) um der Bewahrung willen, die ihm bei seinem Wandeln auf diesem Wege zuteilwird; c) um des Zieles willen, zu dem dieser Weg ihn immer näherbringt. 3) Wie groß seine Freude ist: als über allerlei Reichtum.
  Der Reichtum und Gottes Wort, gegeneinander abgewogen. Alles, wozu der Reichtum gut ist, dazu dienen uns auch Gottes Zeugnisse, auf einer höheren Stufe. 1) Die Menschen begehren den Reichtum, um dadurch die Bedürfnisse des Lebens zu haben; Gottes Zeugnisse aber gewähren das, was die Seele am Leben erhält. 2) Die Menschen trachten nach Reichtum, weil sie sich davon Freude versprechen; Gottes Zeugnisse aber führen uns zu den höchsten Freuden. 3) Der Reichtum erscheint begehrenswert als Mittel, um Bildung und Vervollkommnung aller Art zu erlangen; Gottes Zeugnisse aber gewähren die beste und höchste Erziehung. 4) Mancher möchte gerne reich sein, um, wie er sagt, viel Gutes stiften zu können; Gottes Zeugnisse aber befähigen uns, das höchste Gute zu wirken. Charles A. Davis 1882.
V. 15. (Grundtext) Beschauliches Sinnen und tätiges Wirken. Ihre gemeinsame Quelle der Kraft, ihr gemeinsames Ziel und ihr gemeinsamer Lohn.
V. 16. 1) Was gewährt uns an Gottes Rechten solche Wonne? 2) Was ergibt sich aus solchem Ergötzen "Ich vergesse deiner Worte nicht". 3) Was kommt aus solchem Gedenken? Mehr Lust.
V. 17. 1) Ein guter Meister. 2) Ein bedürftiger Knecht - der sogar das Leben sich erbitten muss. 3) Ein geziemender Dank: Dass ich dein Wort halte.
  Wir werden hier gelehrt, 1) dass wir unser Leben der Gnade Gottes verdanken, 2) dass wir darum unser Leben in Gottes Dienst verwenden sollten. Matthew Henry † 1714.
V. 18. 1) Das wertvolle Schatzkästlein: Dein Gesetz. 2) Die unsichtbaren Kleinodien: Wunder. 3) Das wunderbare Sehvermögen: Dass ich sehe. 4) Der göttliche Augenarzt: Öffne mir die Augen.
  Die verborgenen Wunder der Bibel. Es gibt viele verborgene Dinge in der Natur, viele in unseren Mitmenschen, aber auch viele in der Bibel. Die Wunder der Bibel sind dem Menschen verborgen, weil er von Natur blind ist. 1) Der Kummer des Blinden. Ich kann nicht sehen. Ich habe Augen und sehe nicht. Der Schmerz eines Menschen, wenn er sich seiner geistlichen Blindheit wirklich bewusst wird. 2) Die Überzeugung des Blinden: Es gibt Wunder im Worte zu schauen. Ich bin dessen gewiss. Es gibt darin wunderbare Blicke a) auf die Sünde, b) in die Hölle, als die verdiente Strafe der Sünde, c) auf einen, der mächtig ist zu erretten, d) in eine vollkommene Vergebung, e) in Gottes Liebe, f) in eine allgenugsame Gnade, g) in den Himmel. 3) Der weise Schluss des Blinden. Der Fehler liegt an meinen Augen, nicht an deinem Worte. Öffnest du meine Augen, so wird alles in Ordnung sein. Der Grund, warum meine Augen nicht sehen können, ist der, dass sie durch die Sünde verblendet sind. An der Bibel ist kein Makel noch Mangel. 4) Die Bitte des Blinden: Öffne du meine Augen. a) Ich kann sie mir nicht selber auftun. b) Auch meine besten Freunde vermögen es nicht. c) Du allein kannst es. HERR, ich bitte dich, öffne sie mir jetzt! - Viele werden dich in solchem Bitten hindern wollen; da mach du es wie der blinde Bartimäus, der nur desto lauter rief (Lk. 18,39). 5) Die gespannte Erwartung und Vorahnung des Blinden ("dass ich sehen möge"). a) Die Freude eines geheilten Blinden, wenn er beginnt, die Schönheiten der Natur zum ersten Mal wahrzunehmen. b) Die Freude des geistlich Geheilten, wenn er anfängt, auf Jesum zu blicken. c) Die ganz persönliche Art dieser Freude ("meine Augen"). Bisher habe ich mit Hilfe der Augen anderer sehen müssen. Ich möchte hinfort nicht mehr von anderer Augen abhängig sein. Vergleiche die frohe Erwartung Hiobs: Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden ihn schauen, und kein Fremder (Hiob 19,27). F. G. Marchant 1882.
  Gottes Wort ist, wie allen Fähigkeiten des Menschen, so auch dem Sinn des Menschen für das Wunderbare angepasst. 1) Wir wollen zunächst einige Bemerkungen machen über diesen Sinn des Menschen für das Wunderbare und darüber, was ihn gewöhnlich anregt. Eine der ersten Ursachen der Verwunderung ist das Neue oder Unerwartete. Die zweite Quelle findet sich in dem Schönen und Erhabenen. Eine dritte ist das Geheimnisvolle, das den Menschen umgibt; es gibt Dinge, die uns eben darum so anziehen, weil sie in ihren Tiefen unerkennbar sind. 2) Gott hat in seinem geoffenbarten Worte für diesen Wundersinn des Menschen Vorsorge getroffen. Die Bibel regt unser tiefstes Erstaunen an, indem sie uns stets Neues und Unerwartetes darbietet. Sie führt uns ferner Schönes und Erhabenes in einzigartiger Weise vor Augen. Und kommen wir zu der dritten Quelle der Verwunderung, zu dem, was die Verwunderung zu ehrfurchtsvoller Scheu steigert, so ist dies ja das besondere Fach, mit dem es die Bibel zu tun hat: sie offenbart uns das sonst Unerforschliche und lässt uns dabei doch in immer größere, unerforschlichere Tiefen blicken. 3) Besehen wir nun das Mittel, das wir anwenden sollen, um Gottes Wort uns also erschlossen zu bekommen. Da sei das Gebet des Psalmisten unser Leitstern: Öffne du mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. John Ker 1877.
  Wunderblicke für geöffnete Augen. 1) Die Wunder in Gottes Gesetz. Eine wunderbare Lebensregel. Ein erstaunlicher Fluch gegen die Übertretung derselben. Eine wunderbare Erlösung von dem Fluch, vorgebildet in dem Opfergesetz usw. 2) Ein besonderes Augenlicht ist aber nötig, um diese Wunder wahrzunehmen. Es sind geistliche Dinge, und der Mensch ist geistlich blind (1. Kor. 2,14). 3) Die Bitte des Glaubens, gerichtet an den, der allein die Augen zu öffnen vermag. Charles A. Davis 1882.
V. 19. Einsicht in Gottes Willen eine vorzügliche Hilfe für unsere Wanderschaft durch die Welt. Oder: Was bin ich? Wo bin ich? Wohin gehe ich? Wie kann ich ans Ziel gelangen?
  Der Gast auf Erden. I. Eine kurze Auslegung. Unser Textwort will uns sagen: 1) Das Gotteskind stammt nicht von der Erde, es ist. seiner Geburt nach nicht von dieser Welt. 2) Der Gläubige ist darum auf Erden ein Fremdling, die Welt kennt ihn nicht. 3) Sein Teil ist nicht auf Erden. 4) Er ist hienieden von Beschwerden und Anfechtungen umgeben. 5) Er wird bald diese Welt verlassen. II. Eine kurze Anwendung. 1) Darum stelle dich nicht der Welt gleich. 2) Sei bereit, auf Erden Ungemach aller Art zu leiden. 3) Lass nichts Irdisches dich binden. 4) Pflege Verkehr mit der Heimat. 5) Übe brüderliche Liebe gegen deine Mitpilger auf Erden. 6) Trachte nach Hause. 7) Suche andere zu bewegen, dass sie mit dir kommen. Duncan Macgregor 1869.
  Des Fremdlings Gebet. 1) Wie war es gekommen, dass er auf Erden ein Fremdling war? Er hatte eine Wiedergeburt erlebt. Er lernte in göttlicher Erziehung die Sitten seiner neuen Heimat. Er redete die Sprache seines himmlischen Vaterlandes. So ward er auf Erden nicht mehr verstanden und wurde missachtet. 2) Nun hatte er ein Sehnen nach allem Heimatlichen. Nach den Lebensregeln seiner Heimat (deine Gebote), nach heimatlicher Unterweisung und Beratung, in Sonderheit nach seines Vaters Stimme. 3) Wie tröstete er sich in seiner Einsamkeit? Durch Verkehr mit seinem Vater. 4) Möchtest du nicht solch ein Fremdling werden auf Erden? Charles A. Davis 1882.
V. 20. Eines der besten Kennzeichen davon, was ein Mensch ist, und eine Weissagung, was aus ihm werden wird, ist, was den Gegenstand seines Verlangens bildet. I. Was war es, das den Psalmisten so ganz in Anspruch nahm? Die Rechte des HERRN. Damit ist hier das Wort Gottes gemeint. 1) Der Psalmist hatte eine hohe Meinung von dem Worte Gottes. 2) Er begehrte inbrünstig, seinen Inhalt zu wissen. 3) Er verlangte, sich an dem Wort zu nähren. 4) Er wünschte, ihm zu gehorchen. 5) Er sehnte sich danach, die Kraft des Wortes Gottes an seinem Herzen zu erfahren. II. Das inbrünstige Verlangen des Gottesmannes. 1) Es zeugt von geistlichem Leben. 2) Es zeugt von demütigem Bewusstsein der Unvollkommenheit. 3) Es zeugt von vorgeschrittener Erfahrung. 4) Solch Verlangen ist eine bittersüße Erfahrung. 5) Es wirkt, wenn es übermächtig wird, auf die Seele des Menschen aufreibend. III. Ermunternde Erwägungen. 1) Gott ist offenbar in einer solchen Seele am Werk. 2) Die Frucht dieses göttlichen Wirkens ist sehr kostbar. 3) Es führt zu noch Köstlicherem. 4) Das Verlangen selber ist dir heilsam. 5) Es macht dir Christum überaus köstlich.
V. 21. 1) Das Wesen der Stolzen. 2) Gottes Verhalten gegen sie. 3) Unsere eigenen Beziehungen zu ihnen.
  1) Die Sünde: Abirren von Gottes Geboten a) durch Fahrlässigkeit oder b) durch Verwerfung derselben. 2) Ihr Ursprung: der Stolz; Stolz der Vernunft, des Herzens oder des Lebens. 3) Ihre Strafe: a) Göttliches Schelten, b) die Verdammnis. George Rogers 1882.
V. 23. Stilles Forschen in Gottes Wort 1) unsere beste Beschäftigung, wenn andere uns schmähen, 2) unser bester Trost bei ihrer Falschheit, 3) unser bester Schutz gegen die Anwandlungen der Rachsucht, 4) unsere beste Weise, zu zeigen, dass wir den Angriffen unserer Feinde überlegen sind.
V. 24. Lasst uns mit dem Psalmisten 1) Gottes Wort als des HERRN heilige Willensbezeugungen ehren, 2) uns an den teuren Gotteszeugnissen als unserer Lust ergötzen, und 3) uns an sie wenden als an unsere Ratsleute.
V. 25. 1) Die Natur und ihre Neigung zum Staube. 2) Gottes Gnade und ihre Weise des Wirkens. 3) Beide Wahrheiten in persönlicher Anwendung.
V. 26. Bekenntnis. Vergebung. Belehrung.
  (Andere Auslegung.) 1) Lasst uns dem HERRN unsere Anliegen darlegen, 2) so wird er uns erhören, indem er a) uns Hilfe sendet, b) uns seine Rechte lehrt.
V. 27. I. Das Gebet eines rechten Schülers der Gottesgelehrtheit. 1) Es hat es mit dem vornehmsten Gegenstand zu tun, der ihn beschäftigen soll, mit dem Wege, den Gottes Befehle verordnen. 2) Es schließt offenbar ein Bekenntnis des Mangels ein. 3) Es erbittet eine große Gabe: Verständnis, nicht nur äußerliches Wissen. 4) Es wendet sich an die Quelle aller Weisheit. II. Die Lebensaufgabe des Unterwiesenen. 1) Er will und soll zeugen von Gottes Wundern, seinen wunderbaren Taten, insbesondere von Christi Werk für uns und dem Werk des Heiligen Geistes in uns, zwei unerschöpflichen Gegenständen, wie des Forschens, so auch des Redens. 2) Davon will er ganz einfach reden, aus dem Herzen zu den Herzen. (Reden die einfachste Sprachweise.) 3) Er will das oft, immer tun. III. Die innige Beziehung zwischen dem Gebet des Schülers der Wahrheit und dem Streben, das ihn hinfort beseelt.
  Zubereitung für den Dienst am Wort. 1) Der Student auf der Hochschule Gottes: Unterweise mich den Weg deiner Befehle. Was er gelehrt wird, wer sein Lehrer ist, die Anwendung des Gelernten. 2) Der Prediger an der Arbeit: So will ich reden von deinen Wundern. Seine Lehrbefähigung, sein Thema, seine Art zu reden. Charles A. Davis 1882.
V. 28. Der Gram, seine Ursachen, seine Wirkungen und seine Heilung.
V. 29. Der falsche Weg, oder der Weg der Lüge. 1) Beschreibe ihn, oder vielmehr das Gewirre von Lügenpfaden, z. B. irrige Lehranschauungen, falsche Gründe des Glaubens, leichtfertige Grundsätze, Zurückweichen vor dem täglichen Kreuz usw. 2) Zeige, warum er so genannt ist. Er gewährt nicht die Lust, die er verspricht. Er führt nicht zu dem Ziel, zu dem zu leiten er vorgibt. Er liegt in dem Herrschaftsgebiet des Vaters der Lüge. 3) Weise an dem Gebet des Psalmisten nach, wie wir von dem Weg der Lüge errettet und vor ihm bewahrt werden können. Charles A. Davis 1882.
V. 29.30. 1) Der Weg der Lüge, unser Verlangen, dass er von uns ferngehalten werden möge, und wie Gott dies Gebet erhört. 2) Der Weg der Wahrheit, unsere Wahl desselben und wie wir diese Wahl behaupten, unseren Vorsatz ausführen können.
V. 31. Gründe, warum wir an Gottes Zeugnissen hangen sollen.
  1) Standhafte Treue. 2) Misstrauen gegen sich selbst. 3) Dringendes Flehen. (Eine sehr zu empfehlende Mischung.) Charles A. Davis 1882.
V. 32. Der gefesselte Wettläufer und seine Befreiung. 1) Die Bahn, die ihn zum Laufe einlud. 2) Die Beinfesseln, die ihn hinderten. 3) Die Begier, die ihn erfasste. 4) Wie der HERR ihn freimachte. 5) Nun frisch auf! Charles A. Davis 1882.
  Freiheit, 1) begehrt, 2) recht angewandt. Oder: Der Einfluss des Herzens auf die Füße.
  Unser Text gibt uns Veranlassung, zu reden 1) von dem Nutzen eines getrosten, freudigen Herzens; 2) davon, dass Gott zuerst an unserem Herzen wirken muss, ehe von einer ernstlichen Neigung zu Gottes Geboten bei uns die Rede sein kann; 3) von dem darauffolgenden Entschluss des Gläubigen, den Weg der Gebote Gottes zu wandeln; 4) davon, mit welch frischem, fröhlichem Eifer, welcher Hurtigkeit und Kraft des Geistes dieser Entschluss ausgeführt werden sollte ("laufen"). Thomas Manton † 1677.
  1) Der Weg des Gehorsams: Deine Gebote. 2) Die Pflicht des Gehorsams: laufen - nicht stille stehen, nicht kriechen, nicht gehen, sondern laufen. 3) Die Kraft des Gehorsams. a) Wo sie sein muss: im Herzen; b) woher sie kommt: wenn du mein Herz tröstest (eigentlich weit, d. i. frei, getrost und freudig machst). George Rogers 1882.
V. 33. Beachten wir an diesem Gebet des Psalmisten: 1) zu wem er betet, 2) für wen, 3) um welche Gnade er bittet, und 4) zu welchem Zweck er diese Gnade begehrt. Th. Manton † 1677.
  Die allem menschlichen Lehren überlegene Wirksamkeit des göttlichen Lehrens: es gewährleistet heiligen Wandel und sichert dessen Beharrlichkeit.
V. 33.34. Licht von oben. I. Die blendende (blind machende) Kraft der Sünde. Wie armselig hat sich die Erleuchtung erwiesen, die die Schlange dem Menschen als Wirkung des Essens von dem Baume der Erkenntnis verhieß! Die Menschen bedürfen der Erleuchtung von oben, um 1) den rechten Weg von dem falschen zu unterscheiden und 2) die Schönheiten des rechten Weges zu erkennen. Solche Schönheiten säumen allerdings den Weg der Wahrheit zu beiden Seiten ein; aber nur ein von Gott gelehrter Sinn vermag sie zu würdigen. Selbst Jesus, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, ist uns unansehnlich wie ein Wurzelreis aus dürrem Erdreich, bis Gott uns das Verständnis für seine Schönheit erschließt. Die Sünde ist die Ursache dieser Blindheit. Je weiter ein Mensch in der Sünde voranschreitet, desto weniger ist er imstande, von den Schönheiten der Heiligkeit etwas wahrzunehmen. II. Die erleuchtende Gnade des HERRN. 1) Um diese Gnade darf man kühn bitten. "So jemand Weisheit mangelt, der bitte von Gott." 2) Sie wird uns gerne gegeben. "Der da gibt einfältiglich." "Bittet, so wird euch gegeben." 3) Sie wird völlig hinreichen: dass ich ihn (den Weg deiner Rechte) bewahre bis ans Ende. Diese Erleuchtung bewirkt Gehorsam; da heißt den Weg sehen ihn gehen. III. Die anspornende Kraft der hell enthüllten Wahrheit: Und halte es von ganzem Herzen. Sie sehen heißt nicht nur sie befolgen, sondern sie aus Liebe und mit Freuden befolgen. Von dem Lichte, das uns vor dem Throne erleuchten wird, heißt es: Wir werden Ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist. O du, der du Joseph leitest wie die Schafe, der du thronst über den Cherubim, glänze auf (Ps. 80,2) über uns schon jetzt, auf dem Wege, der in deine Gegenwart führt! F. G. Marchant 1882.
V. 33-35. Gott das A und das O in unserem geistlichen Leben. Er ist es, der da gibt 1) geistliche Belehrung, V. 33; 2) geistliches Verständnis, ohne welches diese Belehrung vergeblich wäre, V. 34; 3) Gnade zu wirklichem Gehorsam nach empfangener Unterweisung, V. 35; 4) Gnade zu einem Gehorsam von ganzem Herzen, V. 34; 5) Gnade zum Beharren bis ans Ende, V. 33. Charles A. Davis 1882.
V. 33-36. Die Abhängigkeit des Menschen von Gottes Gnadenbeistand. Ihn, der gesagt hat: "Ohne mich könnt ihr nichts tun", bedürfen wir, um den Weg des HERRN zu sehen, V. 33, zu verstehen, V. 34, zu wandeln, V. 35, und zu lieben, V. 36. F. G. Marchant 1882.
V. 33-40. Treue als Frucht des göttlichen Wirkens im Herzen. Der Psalmist bittet, dass der HERR ihn lehre, ihm Einsicht verleihe, sein Herz zum Guten neige und Augen und Herz in Zucht halte, auf dass dadurch anhaltende, ganze Treue bei ihm gesichert werde (V. 33-37). Also in dem Wort des HERRN befestigt, bittet der Psalmist, dass das Wort auch ihm sich als fest erweise (V. 38), bittet um Verhütung der Schmach der Untreue (V. 39) und verstärkt das ganze Gebet durch Betonung des mächtigen Verlangens, aus dem es hervorgegangen. Charles A. Davis 1882.
V. 34. Der Einfluss des Verstandes auf das Herz und die vereinte Macht des Verstandes und des Herzens über das Leben.
  Erkenntnis und Liebe. 1) Sehen führt zum Lieben. 2) Lieben führt zum Sehen. Nur ein liebendes Herz konnte hell genug sehen, um einen solchen Vers zu schreiben. F. G. Marchant 1882.
V. 35. Das Gebet eines Kindes und die Lust eines Kindes (des Vaters Willen zu erfüllen).
  Die Lust unseres inwendigen Menschen an Gottes Gebot als Begründung der Bitte um Gnade.
V. 35.36. 1) Ich habe Lust an deinem Gesetz. 2) Aber mein Herz ist auch andern Neigungen offen. 3) Darum beeinflusse du mächtig mein Herz. 4) Und gib zum Wollen das Vollbringen (mach mich gehen, V. 35).
V. 36. Heiligung in göttlicher Gnade das Heilmittel wider den Geiz.
V. 36.112. Das Zusammenwirken des Göttlichen und Menschlichen bei dem Seligwerden. 1) Gott ist es, der in euch wirket, V. 36. 2) Darum schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern, V. 112. Charles A. Davis 1882.
V. 37. Erquicke mich auf deinem Wege. Dies kurze Gebet 1) betrifft eines der häufigsten Bedürfnisse des Gläubigen, nämlich Neubelebung, 2) weist uns auf den hin, der allein Belebung wirken kann, 3) zeigt das Gebiet an, auf dem sich die erneuerte Kraft betätigen muss, 4) weist darauf hin, dass es besondere Gründe und besondere Zeiten für diese Bitte geben kann: Zeiten der Versuchung, V. 37, Zeiten der Trübsal, V. 25, oder wenn wir zu irgendeiner außerordentlichen Aufgabe berufen werden.
  1) Bekehrung von dem Eitlen. 2) Bekehrung zu dem Wege des HERRN. 3) Bekehrung durch die Leben wirkende Kraft des HERRN. George Rogers 1882.
  I. Der Psalmist bittet hier in einer Hinsicht um Gnade, um zu ersterben, nämlich dem Eitlen in jeder Gestalt, der Leichtfertigkeit, der Sinnlichkeit, der unnützen Lehre, der Gottlosigkeit aller Art. 1) Er betet so, weil er fühlt, dass seine Augen geneigt sind, nach dem Eitlen zu schauen. 2) Er wusste ferner, wie groß die Gefahr ist, immer mehr von dem Eitlen gefesselt zu werden. Darum wollte er nichts damit zu tun haben. 3) Er erwartet von Gott, dass er ihm in einer besonderen Weise helfen werde, nämlich indem er seine Augen von dem Eitlen weg auf etwas Besseres richte. II. Der Psalmist bittet um Belebung in anderer Hinsicht: auf dem Wege des HERRN. 1) Er weiß sich auf Gottes Weg. 2) Er bittet aber um vermehrte Lebenskraft, auf diesem Wege zu wandeln. 3) Niemand als Gott selbst kann diese geben. 4) Wir alle bedürfen oft solcher neuen Kraft. Harte Arbeit kann nur von starken Leuten getan werden; aber auch zum Leiden bedarf es der Kraft von oben.
  Der Psalmist bittet 1) um Gnade, die ihn zurückhalte von allem, was ihn auf dem Wege der Pflicht hindern könnte; 2) um Gnade, die ihn befähige, auf diesem Wege vorwärts zu dringen. Matthew Henry † 1714.
V. 38. Innere Befestigung. Worin? In dem Worte Gottes. Wem soll sie widerfahren? Mir, deinem Knecht, o HERR. Zu welchem Zwecke? Dass ich dich fürchte.
  Die rechte Gottesfurcht erweist sich 1) in der Scheu, Gottes Missfallen herauszufordern, 2) in dem Verlangen nach Gottes Huld, 3) in der Ergebung in seinen Willen, 4) in Dankbarkeit für seine Wohltaten, 5) in gewissenhaftem Gehorsam gegen seine Gebote. Charles Buck † 1815.
  Viererlei Furcht. 1) Die Menschenfurcht, durch die wir verleitet werden, eher Böses zu tun, als dass wir Übel leiden. 2) Die knechtische Furcht, durch die wir angetrieben werden, die Sünde lediglich aus Schrecken vor der Hölle zu meiden. 3) Die unvollkommene Furcht, in der wir die Sünde teils aus Furcht vor den Folgen meiden, teils aber auch aus Liebe zu Gott - dies ist der Stand der meisten Christen. 4) Die kindliche Furcht, wenn wir uns scheuen, Gott ungehorsam zu sein, einzig und allein wegen der Liebe, die wir zu ihm hegen. Jer. 32,40. Michael Ayguan 1416.
V. 39. Schmach, die wir mit Recht scheuen: die Schmach des Abweichens von Gottes guten Rechtsordnungen. 1) Welche Schande wir dadurch uns selbst, aber auch unserem Gott bereiten (2. Samuel 12,14). 2) Wie nahe die Gefahr liegt. 3) Das Gebet um Bewahrung. Charles A. Davis 1882.
V. 40. 1) Ein durch die Gnade erzeugtes Herzensverlangen: Gottes Befehle zu erkennen und ihre heiligende Kraft zu erfahren. 2) Ein mächtiges Bedürfnis: mehr Leben. 3) Eine weise Bitte.
V. 41. 1) Viele Gnadenerweisungen widerfahren uns beständig, auch ungesucht: Erhaltung des Lebens, zeitliche Segnungen usw. 2) Die vorzüglichste Gnadenerweisung ist Gottes Heil. Es ist unser größtes Bedürfnis und seine größte Gabe. 3) Es gilt, dass wir persönlich an Gottes Gnade Anteil haben: Lass mir deine Gnadenerweisungen, dein Heil widerfahren. 4) Bei der Bitte um Gottes Gnadenheil dürfen wir uns auf seine Zusage berufen: nach deinem Wort. Horatio Wilkins 1882.
V. 41-43. Ein viel umfassendes Gebet. Der Psalmist erbittet sich 1) Erfahrung des Heils aus Gnaden, V. 41.42) als beste Verteidigung, V. 42.43) und als Vorbedingung der Bekenntnisfreudigkeit, V. 43. Charles A. Davis 1882.
V. 41-48. Verheißene Gnadenerweisungen begehrt (V. 41) als beste Antwort wider die Lästerer (V. 42.43), als Mittel zur Treue (V. 44), zur inneren Freiheit (V. 45), zum Freimut (V. 46), zur Freude (V. 47) und zu immer innigerem Verlangen nach Gottähnlichkeit (V. 48). Charles A. Davis 1882.
V. 42. Die Antwort des Glaubens auf die Schmähungen der Welt: stilles Gottvertrauen.
V. 42.43.47. Glaube, Hoffnung, Liebe. Der Glaube führt heiligen Krieg, die Hoffnung hält das Banner hoch, die Liebe folgt mit Lust.
V. 43. Das Schwerste, das einem Verkündiger der göttlichen Wahrheit widerfahren kann: dass Gott ihm den Mund schließt. Verschiedenerlei Weisen, wie dies geschehen kann, nebst den Gründen, die es veranlassen können. Die Bitte des Verkündigers, dass ihm das nicht widerfahren möge, und ihre Begründung.
V. 44. Das Leben des Himmels, hienieden begonnen. 1) Was ist des Gläubigen Lebensfreude hienieden? Gottes Willen zu tun. 2) Was ist seine beständige Sorge? Gottes Willen zu tun allewege. 3) Was ist seine Aussicht für die Ewigkeit? Gottes Willen zu tun immer und ewiglich.
V. 45-47. Fröhlicher Wandel. Freimütiges Zeugnis. Ein frohes Herz.
V. 45-48. Worin sich die wahre Freiheit erweist: in der Freiheit heiligen Wandels, V. 45, in der Freiheit mutigen Bekenntnisses, V. 46, und in der Freiheit heiliger Liebe zu Gott und seinem Worte, V. 47.48. W. Durban 1882.
V. 46. Das Motto der Augsburgischen Konfession als unser Wahlspruch.
V. 46-48. Mund, Herz und Hände. Öffentliches Bekennen der Wahrheit muss 1) seine Wurzel haben in Liebe zur Wahrheit und 2) begleitet sein von Gehorsam gegen die Wahrheit, der in der Liebe die Quelle seiner Kraft hat.
  1) Wem Gottes Wahrheit am Herzen liegt, der muss von ihr zeugen. 2) An Stoff, von ihr zu reden, soll es ihm nie fehlen - das Gebiet ist unermesslich, die Mannigfaltigkeit endlos. 3) Er scheut sich vor niemand, wer es auch sei. W. Williams 1882.
V. 48. 1) Der Liebe Verlangen. 2) Der Liebe Nahrung.
  Die Bibel 1) in der Hand, zum Lesen; 2) im Sinn, zum stillen Sinnen und Forschen; 3) im Herzen, zum Lieben und Befolgen.
  Die Frömmigkeit nahm bei dem Psalmisten den ganzen Menschen in Anspruch, Hände, Herz und Kopf. 1) Die aufgehobenen Hände. a) Aufgehoben zum Schwur (1. Mose 14,22; Hes. 20,28) der Treue gegen Gottes Wort, dass er dessen Lehren annehmen, seinen Befehlen gehorchen, seine Warnungen beherzigen, seine Ehre verteidigen wolle. b) Aufgehoben zum Herabflehen des Segens (1. Mose 48,14; 3. Mose 9,22; Lk. 24,50) über das Wort, dass das Licht des Wortes sich ausbreite, sein Einfluss die ganze Welt umfasse. 2) Das treugesinnte Herz. a) Es ist die Ursache der aufgehobenen Hände. Er hatte selber das Wort liebgewonnen. Die Gottseligkeit ist zunächst etwas Innerliches, dann macht sie sich auch nach außen kund. Wir müssen die Frömmigkeit erst selber lieben, ehe es uns anliegt, sie auszubreiten. b) Aber was ist der Grund für seine Treugesinntheit gegen das Wort? Das Wort hatte ihm das Heil gebracht, es gab ihm Kraft und gewährte ihm Leitung. Wir lieben das Wort wegen seiner segensreichen Wirkungen, die wir an unserem eigenen Herzen erfahren. 3) Das sinnende Gemüt. a) Frommes Sinnen ist die köstlichste Beschäftigung. b) Das Wort Gottes bietet dafür ein reiches Feld. c) Um darüber viel zu sinnen, lerne es lieben: Ich habe deine Gebote liebgewonnen - ich will über deine Satzungen nachsinnen. (Grundtext) W. Williams 1882.
  1) Gottes Gebote als Gegenstand unserer Liebe. Wir lieben das Gesetz, wenn wir den Gesetzgeber lieben. Wir lieben seinen Willen nur, wenn wir mit ihm versöhnt und unsere Herzen erneuert sind. Daher die Notwendigkeit der geistlichen Erneuerung. 2) Gottes Gebote als Gegenstand des Gebets: Ich hebe meine Hände auf usw. Der Ausdruck bezeichnet die Handlung des Gebets. Wir können beten um völligere Erkenntnis, tiefere Erfahrung, eifrigeren und vollkommeneren Gehorsam. 3) Gottes Gebote als Gegenstand des Nachsinnens. Vergessen wir über dem vielen Schaffen und Wirken nicht die Notwendigkeit des stillen Sinnens und Forschers! Horatio Wilkins 1882.
V. 49. Das Wort der Hoffnung. 1) Gottes Wort als die Grundlage, auf der die Hoffnung des Menschen ruhen muss. (Die Tatsache der Offenbarung sowie der Inhalt der Offenbarung.) 2) Besondere Gottesworte, die als sonderlich die Hoffnung belebend erfunden worden sind. 3) Das Geltendmachen solcher Worte am Gnadenthron. Charles A. Davis 1882.
  I. Die Bitte. Gedenke des Wortes an deinen Knecht. 1) Dieses Gebet ist nach Menschenweise geredet, denn Gott vergisst nicht. 2) Der Beter meint damit, Gott möge sein Wort erfüllen. 3) Der Wortlaut der Bitte ist aber dennoch geziemend. Es liegt darin: Gedenke deines Worts, nicht aber meines Tuns usw. 4) Gott hat ein starkes, langes, erbarmungsreiches Gedächtnis. II. Die Begründungen der Bitte, in ihr selbst enthalten. 1) Gedenke des Wortes. Es ist ja dein eigenes königliches, unwiderrufliches, allmächtiges Wort. 2) Des Wortes an deinen Knecht. Du selber hast mich zu deinem Knecht gemacht. Der Knecht hat ein Anrecht an seinen Herrn. Er darf erwarten, dass sein Herr ihm alles zur Erfüllung seiner Pflichten Nötige geben werde. 3) Auf welches du mich lässest hoffen. a) Ich habe Glauben. b) Du selbst hast diesen in mir gewirkt.
V. 49-56. Hoffnung in Trübsal gibt Gottes Wort (V. 49), das wahren Trost darreicht (V. 50), selbst in den äußeren und inneren Leiden, die die Gottlosen verursachen (V. 51-53). Es erheitert dem Pilger seine Wanderschaft und seine nächtlichen stillen Stunden (V. 54-56). Charles A. Davis 1882.
V. 50. Jeder Mensch hat sein besonderes Leid und bedarf des besonderen Trostes. Innere Erquickung, Erfrischung des geistlichen Lebens aber ist in allen Fällen die beste Stärkung. Das Wort ist das Mittel dazu.
  1) Wie nötig uns Trost ist. 2) Welcher Trost uns nötig ist. George Rogers 1882.
V. 51. Treu trotz Spott. 1) Die Stolzen verhöhnen die Unterwürfigkeit des Gläubigen unter Gottes Wort. 2) Sie spotten über seine Freude an Gottes Dienst. 3) Aber ihr Spott prallt ab an dem festen Entschluss des Gläubigen, an Gott zu hangen. Vergl. zum Ganzen 2. Samuel 6,20-22. Charles A. Davis 1882.
V. 52. Der Trost, den uns ein Überblick über das Walten des HERRN gegen die Gottlosen und gegen die Seinen gewährt.
  1) Die Sprache der Toten an die Lebenden. 2) Die Lebenden, den Toten lauschend. George Rogers 1882.
  Süßes Wasser aus einem tiefen Brunnen. 1) Gottes Gerichte sind darauf berechnet, Schrecken einzuflößen. 2) Aber sie beweisen auch Gottes königlich waltende Fürsorge über die Welt. 3) Sie kämpfen stets gegen die Sünde und für die Heiligkeit. 4) In allen Gerichtszeiten errettet Gott die Seinen. Noah, Lot u. a. 5) Darum sind Gottes Gerichte für die Gläubigen eine Quelle des Trostes. Charles A. Davis 1882.
V. 53. Die Berechtigung heiliger Zornglut der Gottseligen über die Gottlosen, als heiligen Eifers, entzündet an dem göttlichen Zorneseifer. Die Milderung, Läuterung und auch Verstärkung dieser Zornglut durch die volle Offenbarung Gottes im Neuen Bunde.
V. 54. 1) Licht im Dunkel. 2) Gesellschaft in der Einsamkeit. 3) Tätigkeit in Ruhe. George Rogers 1882.
  Der fröhliche Pilger. 1) Der Gottselige sieht seine Wohnung in dieser Welt nur als das Haus seiner Wallfahrt, als Herberge an. 2) So ungünstig seine Lage hienieden sein mag, hindert sie doch seine Fröhlichkeit nicht. 3) Die Quelle seiner Freude fließt ihm aus Gottes Wort. W. Jay † 1853.
V. 55. Nachterinnerungen und Tagespflichten. Wie eins das andere beeinflusst und auf das andere zurückwirkt.
  Düstere Nächte, lichte Erinnerungen, gute Wirkungen. Charles A. Davis 1882.
  1) Glückliche, wiewohl schlaflose Nächte. 2) Glückliche, wiewohl rastlose Tage. W. Durban 1882.
V. 49.55. Gedenke du - ich gedenke.
V. 56. Der große Erwerb der Gottseligkeit (1. Tim. 6,6), oder: Der Reichtum, den ein Mensch gewinnt durch gottseligen Wandel.
V. 57. 1) Der unermessliche Besitz: Der HERR ist mein Teil. (Grundtext) Beachte: a) Welch bestimmten Unterschied der Psalmist macht zwischen seinem Teil und dem der Gottlosen, schon hienieden und hernach, siehe Ps. 73. b) Er erhebt im Glauben auf diesen Besitz Anspruch: Er ist mein Teil. Dieser Besitz ist unermesslich, bleibend, unserem Bedürfnisse ganz angemessen, gibt darum volle Genüge, adelt, und wird uns ganz aus Gnaden als Geschenk zuteil. 2) Das entsprechende Gelöbnis: Ich habe gesagt, dass ich deine Worte halten will. (Grundtext) Beachte: a) Die Einleitung: Ich habe gesagt. b) Die innere Beziehung zwischen dem Bekenntnis, V. 57a, und dem Gelöbnis, V. 57 b. c) Was heißt das: Gottes Worte halten? Die Lehren, die Befehle und die Verheißungen beobachten; an Jesum glauben, der Kern und Stern des Wortes ist. - Bei diesem lieblichen Thema erinnern wir uns aber auch an einen sehr ernsten Gegensatz: das Teil des Knechtes, der seines Herrn Wort nicht gehalten hat, Mt. 24,48-51.
V. 57a. Der HERR ist mein Teil. (Grundtext) Des Gläubigen Teil. 1) Betrachten wir die Rechtsgültigkeit des Anspruchs: mein Teil. a) Es ist eine Bundesgnade, Hebr. 8,10-13, b) eingeschlossen in der Miterbschaft mit Christo, Röm. 8,17, c) bestätigt durch die Erfahrung des Glaubens. 2) Überblicken wir den alles übertreffenden Wert dieses Besitztums: Es ist der HERR. Ein Besitz, der a) schlechthin gut, b) unendlich kostbar, c) unerschöpflich, d) ewig sicher ist. 3) Fragen wir, wie wir schon gegenwärtig den größten Nutzen aus diesem Besitze ziehen können. a) Sinne viel nach über Gott in der seligen Überzeugung, dass er dein Teil ist. b) Sage ihm alle deine Anliegen und wirf alle deine Bürden auf ihn. c) Stelle jede Versuchung in das Licht seines Gesetzeswortes, jeden Zweifel in das Licht seines Verheißungswortes. d) Schöpfe reichlich aus seinem Reichtum, um jedes Bedürfnis zu befriedigen, sowie es sich geltend macht. John Field 1882.
V. 57.58. Des Gläubigen Teil, Gelöbnis und Bitte.
V. 58. Von ganzem Herzen suche ich deine Gunst; sei mir gnädig nach deiner Zusage. (Grundtext) Der Seele Sonnenschein. 1) Gottes Huld das eine, was Not ist. 2) Dass wir sie von ganzem Herzen suchen, die einzige Bedingung von unserer Seite. 3) Gottes Verheißungswort, der eine, stets mächtige Rechtsgrund, den wir geltend machen dürfen. C. A. Davis 1882.
V. 59. Die rechte Selbstprüfung, und welch gesegnete Folgen sie haben kann, oder: Einkehr und Umkehr.
  Das Bedenken der eigenen Wege. I. Warum wird es so allgemein vernachlässigt? 1) Aus Mangel an Mut. 2) Weil man zu viel beschäftigt ist. 3) Weil es unangenehm ist und es darum eine Hauptsorge vieler ist, solche Gedanken zu verbannen.