Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 12 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Davids, vorzusingen, auf acht Saiten, wörtlich: nach der achten (Tonart?), ist mit derjenigen von Psalm 6 gleichlautend, nur dass das dort im Grundtext noch eingeschaltete "auf Saitenspiel" hier fehlt. Wir verweisen daher aus die Vorbemerkungen zum 6. Psalm. Den vorliegenden bezieht die arabische Übersetzung auf das Ende der Welt, das Wort tynm#h auf "den achten Tag der Welt" deutend. Ohne dass wir uns eine so phantastische Deutung aneignen, können wir doch dieses Lied, worin der Klageruf der Gläubigen über das allgemeine Verderben zum Ausdruck kommt, im Lichte der Zukunft dessen betrachten, der die Unterdrücker seines Volkes zermalmen wird. "Die wahre Gemeinde Jahwes," bemerkt Delitzsch treffend, "war schon damals, wie sie es immer war und vornehmlich in der Endzeit sein wird, eine Gemeinde von heldenmütigen Bekennern und Blutzeugen, und das Seufzen nach der Zukunft Jahwes war damals nicht minder tief als jetzt das "Komm, Herr Jesu!"
  Der Inhalt des Psalms mag sich uns am besten einprägen, wenn wir ihm die Überschrift geben: Gute Gedanken in böser Zeit. Vielleicht ist der Psalm in jener Zeit gedichtet worden, als Saul den David und alle, die dessen Sache begünstigten, verfolgte.

  Einteilung. In Vers 2.3 bringt David seine Klage über die Treulosigkeit seines Zeitalters vor Gott. Vers 4.5 fleht er Gottes Gerichte auf die Falschen und Übermütigen herab. Im 6. Vers lässt Jahwe selbst den Donner seines Zornes rollen gegen die Unterdrücker der Elenden. Der Sänger hört es und singt nun in Vers 7.8 gar lieblich von Gottes Treue und Fürsorge gegen sein Volk, schließt aber im 9. Vers in der alten Tonart der Klage, indem er seinen Blick noch einmal auf die überhand nehmende Gottlosigkeit seiner Zeit richtet. Die gottgeweihten Seelen, denen es schwer fällt, als Fremdlinge unter Mesech zu weilen und in den Hütten Kedars zu wohnen (Ps. 120,5), werden diese heiligen Strophen in tiefinnerlicher Übereinstimmung mit ihrer wechselnden Melodie voll trauernder Klage und frohlockenden Vertrauens betrachten und singen können.


Auslegung

2. Hilf, Herr, die Heiligen haben abgenommen,
und der Gläubigen ist wenig unter den Menschenkindern.
3. Einer redet mit dem andern unnütz Dinge,
und heucheln, und lehren aus uneinigem Herzen.


2. Hilf, Herr! Ein kurzes, aber kräftiges und köstliches, allezeit passendes und förderliches Gebet. Das hebräische Wort, das hier mit helfen übersetzt ist, wird sehr vielseitig unter vielerlei Umständen gebraucht; es heißt retten, helfen, befreien, erlösen, unterstützen, schlitzen usw. So begreift denn diese kurze Bitte viel in sich und ist sehr lehrreich. Der Psalmist sieht die große Gefahr seiner Lage; es wäre in der Tat ja noch besser, unter Löwen als unter Lügnern zu sein. Er fühlt sein Unvermögen, mit solchen Belialsleuten zu kämpfen; denn "wer sie angreifen soll, muss Eisen und Spießstange in der Hand haben" (2. Samuel 23, 7). Darum wendet er sich zu seinem allvermögenden Helfer, zum Herrn, der seinen Knechten nie seinen Beistand verweigert und dessen Hilfe allgenügsam ist für jede Not. Hilf, Herr! Das ist ein gar nützlicher Stoßseufzer, den wir in jeder Lage, in jeder Not und Verlegenheit gen Himmel senden können, bei der Arbeit, beim Lernen, im Leiden, im Kämpfen, im Leben und im Sterben. Wie die kleinen Schiffe sich bei niedrigem Wasserstand als sehr nützlich erweisen und auf dem Meer auch nach solchen Hafen segeln können, in die andere, die einen größeren Tiefgang haben, nicht einlaufen können, so vermögen kurze Seufzer und Hilferufe zum Himmel einzudringen, um dort köstliche Ware einzuladen, wenn unsere Seele von widrigem Winde, von vielen Arbeiten und dergleichen abgehalten wird, gleichsam größere Gebetsfahrten zu unternehmen, oder wenn der Strom der Gnade zu sehr in der Ebbe ist, als dass wir ein wortreicheres Gebet vom Stapel lassen könnten. Die Heiligen oder, wie die meisten Neueren übersetzen, die Frommen 1, eigentlich die gütig, liebevoll Gesinnten, die gegen Gott und Menschen treue Liebe üben, haben abgenommen, oder nach dem starken Ausdruck im Hebräischen; sie sind zu Ende, sie sind alle. Wenn gottesfürchtige Leute sterben, aus einer Gemeinde weggenommen werden oder ihrer gar überhaupt wenig werden, so soll uns das ein Posaunenruf zu brünstigerem Beten sein. Man sagt, wenn Fische verderben, so merke man es zuerst am Kopfe; so wird auch, wenn die Frommen in Verfall geraten, die ganze menschliche Gesellschaft bald genug verfaulen. Immerhin müssen wir uns in diesem Punkt vor allzu raschem Urteil hüten. Elia irrte sich, als er meinte, er wäre allein übergeblieben von Gottes Knechten, während der Herzenskündiger noch Tausende als die Seinen erkannte (1. Könige 19, 10. 14. 18). Die gegenwärtige Zeit erscheint uns immer als ganz besonders gefahrvoll, weil sie unseren besorgten Blicken am nächsten ist und die herrschenden Übel vor jedermann offen liegen, während die Fehler vergangener Zeiten uns ferner stehen und sich daher leichter unserer Beobachtung entziehen. Dennoch erwarten wir, dass in den letzten Tagen einerseits die Ungerechtigkeit überhand nehmen, anderseits die Liebe in der großen Mehrzahl der Christen erkalten wird
(Mt. 24, 12); und angesichts dessen müssen wir immer völliger von den Menschen absehen und glaubensvoll zu dem Herrn der Kirche aufsehen, durch dessen Hilfe die Pforten der Hölle uns nicht überwältigen werden. Der Gläubigen, wörtlich: der Zuverlässigen, der Treuen und Redlichen, der Amensleute nach Luthers Randglosse, ist wenig unter den Menschenkindern, ja sie sind, wie der Grundtext eigentlich lautet, geschwunden unter den Menschen, so dass sie nicht mehr unter ihnen zu finden sind. Wo die wahre Frömmigkeit weicht, schwinden unvermeidlich auch Treue und Redlichkeit. Wer Gott nicht fürchtet, hat auch keine Liebe zur Wahrheit. Gemeinde Ehrbarkeit ist nicht länger gemein auf Erden, wenn allgemeine Gleichgültigkeit in religiösen Dingen zu allgemeiner Gottlosigkeit führt. David hatte hier vielleicht Doeg und die Männer von Siph und Kegila im Auge und dachte anderseits an die ermordeten Priester zu Nob und an die vielen Flüchtlinge, die sich in der Höhle Adullam zu ihm versammelt hatten, und er fragte sich, wohin das Schiff des Reiches Israel treiben würde ohne seine Anker, die gottesfürchtigen und redlichen Männer. Inmitten der allgemeinen Unordnung und Misswirtschaft nahm David aber nicht zu aufrührerischer Verschwörung seine Zuflucht, sondern zu ernstem Bitten und Flehen; ebenso wenig verband er sich mit dem großen Haufen, um Böses zu tun (2. Mose 23, 2), sondern er ergriff die Waffen des Gebets, um den Angriffen auf Tugend und Redlichkeit zu widerstehen.

3. Einer redet mit dem andern unnütze Dinge. Was sie reden, ist unnütz zu hören, denn es ist leichtfertiges, törichtes und nichtswürdiges Geschwätz. Es ist unnütz, es zu glauben, denn es ist nichts als Lug und Trug; sie wollen sich nur bei uns einschmeicheln und uns dadurch fangen. Wir wollen es gar nicht beachten, was sie reden, denn es könnte uns aufblasen und mit stolzem Selbstbetrug erfüllen. Es ist eine traurige Sache, wenn es Mode geworden ist, unnütze Dinge oder, wie wohl eigentlich zu übersetzen ist, Lüge, Falschheit zu reden. Wie du mir, so ich dir; lobst du mich, so lob’ ich dich; gibst du mir einen hochtönenden Titel, so gebe ich dir auch einen. Bücklinge und schmeichlerische Beglückwünschungen sind Biedermännern verhasst; sie wissen, dass sie dieselben, wenn sie sie annehmen, erwidern müssen, und sie halten das eine wie das andere für unter ihrer Würde. Solche Gefälligkeits-Akzepte sind bei solchen am meisten beliebt, die selber an ihrem guten Namen bankrott geworden sind. Das sind böse Zeiten, wo jeder so seinen Nachbar beschwatzt und betrügt. Mit schmeichlerischer, noch wörtlicher: mit glättester Lippe, aus zweierlei Herzen reden sie. (Grundtext) Wer eines anderen Herz aufbläst, hat nichts Besseres als Wind in seinem eigenen. Wenn mich jemand ins Angesicht lobt, zeigt er mir nur die eine Seite seines Herzens; die andere ist schwarz von Verachtung gegen mich, oder sie starrt von schmutzigen Ränken gegen mich. Lobhudelei ist das Schild des Wirtshauses, wo Zweizüngigkeit die Wirtin ist. Ein chinesisches Sprichwort sagt, ein Mensch mit zwei Herzen sei sehr verächtlich, und wir werden gut tun, alle Schmeichler eben so niedrig einzuschätzen.

 


4. Der Herr wolle ausrotten alle Heuchelei,2
und die Zunge, die da stolz redet,
5. die da sagen. Unsere Zunge soll Überhand haben,
uns gebührt zu reden;3 wer ist unser Herr?

Dieser vollberechtigte Wunsch der redlichen Herzen wird in Erfüllung gehen; gänzliche Vernichtung wird alle schmeichlerischen und großsprecherischen Heuchler überfallen. Jetzt freilich schnauben und trotzen und prahlen sie noch. Trefflich hat Judas sie wilde Wellen des Meeres genannt, die ihre eigene Schande ausschäumen (Jud. 13). Menschen, die in ihrem Herzen von Gott los sind, haben meist auch ein loses Maul, und manchen von ihnen ist nie wohler, als wenn sie Gottes Oberherrschaft mit frechem Spott verhöhnen und sich vermessen ihrer ungebundenen Freiheit rühmen können. Es ist seltsam, dass das leichte Joch des Herrn die Schultern der stolzen Menschen so drückt, während sie sich die eisernen Fesseln Satans selber anlegen, als ob es goldene Ehrenketten wären. Großsprecherisch rufen sie Gott zu: Wer ist unser Herr? Und hören nicht die hohle Stimme des Bösen aus dem höllischen Abgrund heraufrufen: "Ich bin euer Herr, und mir dient ihr treulich!" Wehe diesen armen Toren! Ihr Hochmut und ihre Selbstherrlichkeit wird ausgerottet werden, wie man eine verwelkende Blume abschneidet. Gebe Gott, dass unsere Seele nicht mit ihnen hingerafft werde! Es ist bemerkenswert, dass hier die schmeichlerischen Lippen und die großsprecherischen Zungen in eine Reihe gestellt werden. Das ist auch offenbar richtig, denn beide sind desselben Fehlers schuldig: der eine schmeichelt anderen, und der andere schmeichelt sich selber. Beide gehen mit Lügen um; der eine belügt andere, der andere belügt sich selber. Man bildet sich gewöhnlich ein, die Schmeichler, diese niederträchtigen Schmarotzer, die sich so kriecherisch und schwänzelnd benehmen, könnten gar nicht stolz sein; aber weise Leute werden es dir sagen, dass, während aller Stolz in Wirklichkeit Niederträchtigkeit ist, auch in der tiefsten Niederträchtigkeit ein nicht geringes Maß von Hochmut ist. Cäsars Ross ist noch stolzer, dass es Cäsar trägt, als Cäsar, dass er es reitet. Die Matte, auf der der Kaiser seine Schuhe abgeputzt hat, rühmt sich prahlerisch und schreit: Ich habe die kaiserlichen Schuhe gereinigt! Niemand ist so widerlich anmaßend als die kleinen Kreaturen, die sich dadurch in ein Amt schleichen, dass sie vor den Großen kriechen. Das sind in der Tat schlimme Zeiten, wo solch gemeinschädliche Subjekte zahlreich sind und die Macht in Händen haben. Kein Wunder, dass die gerechte Vertilgung dieser heillosen Menschen den Stoff zu einem Psalm darbietet; denn Himmel und Erde sind dieser die göttliche Gerechtigkeit herausfordernden Missetäter müde, deren Dasein eine Plage ist für alle, die mit ihnen etwas zu tun haben. Es steht nicht in Menschenmacht, die Zunge solch prahlerischer Schmeichler zu bändigen; der Herr aber wird gründliche Abhilfe schaffen und ihnen auf ihre schwülstigen Reden eine Antwort geben, die ihnen den frechen Mund für immer schließen wird.


6. Weil denn die Elenden verstöret werden, und die Armen seufzen,
will ich auf, spricht der Herr;
ich will eine Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnet.

Zur rechten Stunde wird Gott seine Auserwählten erhören, die Tag und Nacht zu ihm rufen (Lk. 18,7). Ob er auch lange mit ihren Bedrückern Geduld hat, wird er doch endlich eilend Rache üben. Wegen der Vergewaltigung Elender, wegen des Seufzens der Armen will ich mich nun aufmachen, spricht der Herr, will in Heil versetzen den, der sich darnach sehnt. (Wörtl.) Man beachte, wie die Unterdrückung der Frommen, so still diese sie auch tragen mögen, doch mit lauter Stimme zu Gott schreit. Der Herr empfindet tief mit den Seinen; ihre Leiden dringen mit mächtiger Beredsamkeit an sein Herz. Nach und nach aber fangen auch sie selber unter dem zunehmenden Druck an zu seufzen und ihren Jammer vor ihm auszuschütten, und dann kommt die Hilfe eilend herbei.
  Welche Kraft liegt doch in dem Seufzen des Armen: Es bewegt den Allmächtigen, sich von seinem Thron zu erheben. Vor Unterdrückung und Elend wagte der Arme es nicht, seinen Mund aufzutun, er seufzte nur heimlich; aber der Herr hat es gehört, und nun leidet es ihn nicht in der Ruhe, er steht auf und gürtet sein Schwert zum Kampfe. Das ist ein Tag des Heils, wenn das Sehnen unseres Herzens Gott in unsere Kämpfe hereinzieht; denn wenn sein entblößter Arm sich zeigt, wird Philistäa den Tag verwünschen. Die dunkelsten Stunden der Nacht, in denen die Gemeinde des Herrn seufzt, sind die, welche dem Tagesanbruch vorhergehen. Des Menschen Verlegenheiten sind Gottes Gelegenheiten. Wenn die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten. Der Herr Jesus wird erscheinen, wenn die unterdrückten Seinen seufzen, als ob alle Hoffnung für immer verloren wäre. O Herr, lass die Stunde bald kommen, wo dein Nun ertönt; stehe eilend auf zu unserer Hilfe. Wird es einem unter mancherlei Leid seufzenden Leser gegeben, die Verheißung dieses Verses für sich zu ergreifen, so möge er sich die ganze Fülle des Trostes, die darin verborgen ist, dankbar aneignen. Gurnall († 1679) sagt: "Wie man ein ganzes Ohm Wein aus einem Zapfhahn abziehen kann, so kann sich auch die bedrückte Seele den ganzen Trost des göttlichen Heilsbundes aus einer einzigen Verheißung zuströmen lassen, wenn sie es vermag, dieselbe richtig anzuwenden. Er, der hier verheißt, uns in Heil zu versetzen, meint damit, dass er uns Hilfe schaffen will von allen unseren Feinden, dass er uns auf Erden retten und bewahren und endlich ewiges Heil im Himmel geben will.


7. Die Rede des Herrn ist lauter,
wie durchläutert Silber im irdenen Tiegel,
bewährt siebenmal.

Welch ein Gegensatz zwischen den trügerischen Reden der Menschenkinder (V. 3) und den lauteren Reden Jahwes! Menschenworte sind Ja und Nein zugleich; Gottes Verheißungen sind Ja und Amen. (2. Kor. 1,19 f.) Die Worte des Herrn sind wahr und klar, heilig und zuverlässig, lauter, wie Silber, das im Schmelztiegel geläutert zur Erde niederfließt, siebenfach gereinigt ist. (Dies die wahrscheinlichste Bedeutung des Grundtextes.) Es ist hier auf die schärfste den Alten bekannte Läuterungsweise angespielt. Dabei wurden alle Schlacken von der Hitze verzehrt; nur das klare, kostbare Metall blieb übrig und floss aus dem Schmelzofen zur Erde nieder. So lauter, so frei von aller Beimischung von Irrtum und Unzuverlässigkeit sind die Reden des Herrn. Auch das geschriebene Wort Gottes ist hindurchgegangen durch den Schmelzofen der Verfolgung, der Kritik, der Zweifel, welche die Philosophie aufgebracht hat, und der Entdeckungen der Wissenschaft, und hat nichts dabei verloren als jene menschlichen Auslegungen und Deutungen, die sich daran gehängt hatten wie fremde Stoffe an edles Metall. Die Erfahrung der Gläubigen hat es auf jede erdenkliche Weise erprobt; aber nicht eine einzige Lehre der Schrift und nicht eine einzige Verheißung ist auch durch die größte Hitze der Anfechtung zunichte gemacht worden. Sind Gottes Reden also lauter, so sollten es auch die Reden seiner Kinder sein. Wollen wir im Verkehr mit den Menschen Gott ähnlich sein, so müssen wir unsere Zunge hüten und mit Sorgfalt darauf achten, dass in unseren Gesprächen Redlichkeit und Reinheit gewahrt werden.


8. Du, Herr, wollest sie bewahren,
und uns behüten vor diesem Geschlecht ewiglich!

Du, Herr, wirst sie (was sich wohl auf die Elenden V. 6 bezieht) bewahren und ihn (den, der sich nach dem Heil sehnt, V. 6) oder (nach den LXX4 uns behüten vor diesem Geschlecht ewiglich. Einem bösen Geschlechte in die Hände zu fallen, so dass man durch seiner Mitmenschen Grausamkeit gequält oder aber durch ihren schlechten Einfluss verunreinigt wird, ist ein Übel, das man überaus fürchten muss: aber es ist ein Übel, das in unserm Schriftwort vorausgesehen und für das Vorsorge getroffen ist. Im Leben hat mancher Knecht des Herrn seinem Zeitalter ein Jahrhundert vorausgelebt, als hätte er seine Seele in die hellere Zukunft entsandt und wäre er den Nebeln der düsteren Gegenwart entflohen. Ungeehrt und missverstanden ist er ins Grab gesunken; aber siehe da, Geschlechter kommen und gehen, und auf einmal wird sein Gedächtnis wieder ausgegraben, als Held lebt er wieder auf in der Bewunderung und Liebe der Trefflichsten auf Erden. Nun ist er auf immer beschützt vor dem Geschlecht derer, die ihn als einen Unruhestifter gebrandmarkt oder als einen Ketzer verbrannt haben. Es sollte unser tägliches Gebet sein, dass wir uns über unser Geschlecht erheben mögen wie die Alpenhöhen über die Wolken, und dass wir als gen Himmel weisende Bergesgipfel hoch über die Nebel der Unwissenheit und Sünde, die um uns her fluten, emporragen mögen. O du ewiger Gottesgeist, erfülle au uns nach deiner Treue die Verheißung dieses Verses! Unser Glaube klammert sich an deine Zusicherung. Ja, du wirst es tun.


9. Denn es wird allenthalben voll Gottloser,
wo solche nichtswürdige Leute unter den Menschen herrschen.

Noch einmal betrachtet der Psalmist mit Seufzen die überhand nehmende Ruchlosigkeit, diese bittere Quelle so vielen Elends und Grames, deren Bitterkeit ihn zuerst (V. 2) getrieben hatte, zu dem Born des Heils zu eilen. Die Worte des Grundtextes enthalten zwar (wie so oft, wenn der Psalmist Nachtbilder der menschlichen Sünde malt) manche Dunkelheit, so dass es schwer hält, eine sichere Deutung zu gewinnen. Meist übersetzt man etwa: Ringsum ergehen sich (frei und behaglich, oder: stolzen Hauptes) die Gottlosen, wenn die Gemeinheit unter den Menschen obenauf kommt. Wenn die, welche die Macht in Händen haben, nichtswürdig sind, werden ihre Untergebenen um nichts besser sein. Wie die warme Sonne das schädliche Geschmeiß aus der Erde bringt, so befördert ein gottloser Mensch, der an hoher Stelle steht, ringsumher das Laster. Unsere Rennbahnen z. B. würden nicht so von schändlichen Dingen wimmeln, wenn nicht die, welche nur dem Namen nach vornehm sind, das Treiben unterstützen würden. Wollte Gott, dass im Gegensatz zu der einflussreichen Scheinherrlichkeit der Gottlosen die wahre Hoheit unseres Herrn Jesus uns ermutigen würde, in seinem Geiste einherzuwandeln und ringsumher und allenthalben guten Einfluss auszuüben. Da Gleiches auf Gleiches wirkt und mithin ein hoch stehender Sünder andere Sünder ermutigt, muss doch sicherlich auch unser hoch erhöhter Erlöser seine Getreuen erwecken und zu frischem, fröhlichem Eifer anspornen. Gestärkt durch den Blick auf seine alles Böse überwindende Macht stehen wir der in unserer Zeit sich ringsumher breit machenden Gemeinheit mit heiliger Entschlossenheit gegenüber und beten nur desto hoffnungsfreudiger: Hilf, Herr! Erfülle deine Zusage: Ich will nun auf, spricht der Herr.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Martin Geier († 1681) nannte diesen Psalm die allgemeine Klage der Kirche zu allen Zeiten. Man vergleiche auch Luthers Umdichtung vom Jahr 1523: Ach, Gott, vom Himmel sieh darein usw. Zwei Knaben in Lübeck, die das Lied von einem blinden Bettler gelernt hatten, stimmten es in der Kirche nach dem Gebet des Kaplans an und rissen damit die ganze Gemeinde hin. Das war der Anfang der Reformation in Lübeck. - Als Gustav Adolf am 24. April 1632 in Augsburg einzog, um der Bedrängnis der dortigen Evangelischen ein Ende zu machen, ritt er geradeswegs auf die St. Anna-Kirche zu, wo sein Hof- und Feldprediger Dr. Fabricius alsbald über Ps. 12,6 predigte. - I. M.


V. 2. Und der Gläubigen ist wenig. Das Wort amunim heißet: gläubige, ernste, brünstige, wahrhaftige, rechtschaffene Leute, und wird eigentlich entgegengesetzt der Falschheit und Heuchelei; ein solcher treuer und wahrhaftiger Mensch, der da glaubt und dem man glauben darf. Martin Luther 1530.
  Viele Menschen rühmen ein jeder seine Gütigkeit (dsehe); aber wer will einen treuen Mann (MyniWm)E $y)i) finden? (Spr. 20,6) Siehe genau zu, beschaue dich selbst im Spiegel des göttlichen Wortes. Bist du ein treuer Hausvater, ein treuer Ratgeber und Mahner? Erfahren deine Nachbarn und deine Freunde wahre Treue von dir? Was für ein Zeugnis stellt uns der tagtägliche Verkehr mit den Menschen aus? Bemühen wir uns nicht oft, ihnen Angenehmes zu sagen auf Kosten der Wahrheit? Sind nicht die Bezeugungen von Hochachtung manchmal in unvereinbarem Widerspruch mit unseren wirklichen Empfindungen? Während man sich vor großen Rechtsverletzungen hütet, gelten in Handel und Wandel vielen Menschen tausenderlei kleine Vergehen für erlaubt, die doch die Scheidemauer zwischen Sünde und Pflicht niederreißen und, nach der göttlichen Richtschnur gemessen, in Wahrheit strafbare Schritte auf verbotenem Schritte und Boden sind. Charles Bridge 1850.
  Wie eine zärtliche Mutter, die ihr Kind mitten auf der Straße erblickt, während ein wild gewordenes Gespann in rasendem Laufe dahergesaust kommt, ihren Liebling mit raschem Griff auf den Arm nimmt und ins Haus trägt, oder wie die Gluckhenne, die den raubgierigen Weih über sich erblickt, ihre Küken zu sich lockt und unter ihre Flügel sammelt, so hat auch Gott oft, wenn er ein schweres Unglück über ein Land zu bringen beabsichtigte, solche, die ihm besonders teuer waren zu sich berufen in die Ruhe des Volkes Gottes. Er nimmt seine auserwählten Knechte hinweg, ehe das Übel kommt. So ward Augustinus im Jahre 430 aus der Zeitlichkeit abberufen, kurz bevor Hippo, sein Bischofssitz, von den räuberischen Vandalen erobert wurde. Luther ward hinweggenommen, ehe Deutschland mit Krieg und Blutvergießen erfüllt wurde, und David Pareus (angesehener reformierter Theologe, † 1622) starb in unseren Tagen, ehe Heidelberg geplündert wurde. Aus einer Leichenrede von Edward Dunsterville 1642.

  Lass ab zu jammern, einsam zu vertrauern
  Im Gram dein Leben, wenn gleich Kerkermauern
  Den Ausblick hemmt ein düsteres Geschick.

  Wo alle abgewichen, kennt die Treuen
  Der Herr, die im Verborgnen ihm sich weihen,
  Und schaut auf sie mit väterlichem Blick.

  Lass du dein Brot nur übers Wasser fahren
  Und tu dein Werk - sei’s auch nach langen Jahren,
  Einst spült die Flut ans Land es dir zurück.

   Nach John Keble † l866.


V. 3. Einer redet mit dem andern Trügerisches. (Grundtext) In ihrem heuchlerischen Eifer gleichen sie dem Fährmann, der nach der einen Richtung sieht und nach der entgegengesetzten rudert. Denn Leute dieser Art bezwecken etwas ganz anderes, als was sie vorgeben, wie Jehu (2. Könige 9-10) Eifer um den Herrn vorwandte, während es sein eigentliches Ziel war, das Königtum seines Herrn an sich zu reißen. So schützte auch Demetrius (Apg. 19) großen Eifer für die Göttin Diana vor, während die Triebfeder seines Handelns die Sorge um sein gewinnreiches Handwerk war. Saul verbarg seinen hoffärtigen Ungehorsam unter der Maske des Eifers, schöne Opfer darzubringen (1. Samuel 15). Judas stellte sich gar besorgt um die Armen, um seine Diebesgelüste damit zu verhüllen (Joh. 12,6). So sind auch in unserer Zeit viele, die mit ihrer Frömmigkeit ein großes Gepränge machen, während ihr Herz auf ganz andere Ziele gerichtet ist. Aber sie mögen gewiss sein, dass sie Gott nimmermehr hintergehen können, ob sie auch die ganze Welt täuschen könnten. Griffith Williams 1636.

Längst ist entschwunden die Treu’ von der Erde; selbst aus dem Himmel
Floh die Gerechtigkeit, und Wahrheit gibt es nicht mehr.
  Virgil († 19 v. Chr.), Äneide IV, 373.

  Der Mensch ist nichts als Verstellung, Lüge und Heuchelei, und zwar sowohl gegen sich selbst als gegen andere. Er will nicht, dass man ihm die Wahrheit sage, und er scheut es, sie anderen zu sagen. Und all diese mit der Gerechtigkeit und der Vernunft so unvereinbaren Neigungen haben eine natürliche Wurzel in seinem Herzen. Blaise Pascal † 1662.
  Des Heuchlers Selbstgespräch: Aus nichts lässt sich so gut ein Deckmantel der Bosheit machen, als aus der Frömmigkeit. Nichts ist so in der Mode, nichts so gewinnbringend wie das. Die Religion ist eine Livree, worin der Kluge zwei Herren, Gott und der Welt, dienen und auf beide Weisen ein gutes Geschäft machen kann. Ich diene beiden, und in beiden mir selber, indem ich beide hinters Licht führe. Vor den Leuten dient niemand seinem Gott mit größerer Aufopferung als ich, und eben dadurch führe ich die Besten unter den Menschen am Gängelbande und erreiche meine Zwecke. Im Geheimen diene ich der Welt, - nicht mit solcher Pünktlichkeit, aber mit mehr Lust; und indem ich ihren Dienern zu Willen bin, erreiche ich mein Ziel und diene mir selber. Wer besucht das Gotteshaus regelmäßiger als ich? Wer ist eifriger in der Erfüllung aller Christenpflichten als ich? Ich faste mit denen, die fasten, damit ich essen könne mit denen, die essen. Ich weine mit den Weinenden. Keine Hand ist freigebiger für jede gute Sache als die meine, und niemand hält in der Hausandacht längere und frömmere Gebete. Da mir so der gute Ruf meines heiligen Lebens vor aller Welt den Ruhm eines gewissenhaften Mannes eingebracht hat, kann es meinem Handel nicht an Kundschaft, meinen Waren nicht an einem guten Preise, meinen Worten nicht an Glauben, meinen Taten nicht an Ruhm fehlen. Bin ich habgierig, so legt man es als weise Vorsicht aus; bin ich geizig, so nennt man es Mäßigkeit; bin ich niedergeschlagen, so deutet man es als göttliche Traurigkeit; bin ich gutes Muts, so nimmt man es für geistliche Freude; bin ich reich, so meint man, es sei der Segen meines gottesfürchtigen Lebens; bin ich arm, so vermutet man, es sei die Folge meines gewissenhaften Handelns; spricht man Gutes von mir, so ist es das Verdienst meines heiligen Wandels; spricht man übel von mir, so ist es die Bosheit übel wollender Menschen. So segle ich mit jedem Winde und verfolge meine Ziele in allen Lagen. Dieser Mantel hält mich im Sommer kühl, im Winter warm und verbirgt trefflich den schmutzigen Sack meiner geheimen Lüste. In diesen Mantel gehüllt, wandle ich unter aller Beifall in der Öffentlichkeit und sündige ich frech im Verborgenen, ohne bei jemand anzustoßen. Ich umziehe Land und Wasser, um einen Gesinnungsgenossen zu machen (Mt. 23,15); kaum hab’ ich ihn dazu gemacht, so macht er auch mein Glück. Heut’ ruf ich; Wittenberg, und morgen: Röm. Hab’ ich nichts, so stelle ich mich, als hätte ich Überfluss, um mein geschäftliches Ansehen zu erhalten; hab’ ich viel, so heuchle ich Armut, um Steuern zu ersparen. Am meisten besuche ich die Vorträge von Irrlehrern; das halte ich für äußerst gewinnreich, denn da lerne ich, wie man neue Lehren ausbreitet und verteidigt. Das verschafft mir dreimal die Woche ein leckeres Mahl umsonst. Ich gebrauche manchmal eine Lüge als ein neues Kampfesmittel, um das Evangelium aufrecht zu erhalten; und der Unterdrückung anderer gebe ich den Anstrich von göttlichen Gerichten über die Gottlosen. Mildtätigkeit halte ich für eine außerordentliche Tugend, die daher für gewöhnlich nicht auszuüben ist. Was ich bei andern öffentlich tadle um meines Gewinnes willen, das tue ich heimlich zu Hause um meines Vergnügens Willen. Doch halt, ich sehe auf der Tafel meines Herzens eine Handschrift, die mir allen Mut nimmt. Es sind die traurigen Worte: Wehe euch, ihr Heuchler. (Mt. 23,13 ff.) Francis Quarles † 1644.
  Die Welt behauptet in der Tat, die menschliche Gesellschaft könnte gar nicht bestehen, wenn vollkommene Wahrhaftigkeit und Redlichkeit unter den Menschen waltete. Die Welt weiß ohne Zweifel am besten, wie es in ihr steht. Welche Selbstanklage liegt daher in solchem Urteil! Und was für ein Bild enthüllt es uns von dem Gebäude der menschlichen Gesellschaft, wenn es nur durch Schmeichelei und Falschheit zusammengekittet ist und nur durch sie aufrechterhalten werden kann! Barton Bouchier 1855.
  Als der griechische Dichter Bion v. Smyrna (280 vor Chr.) gefragt wurde, welches Tier er für das schädlichste halte, gab er zur Antwort: "Unter den wilden Tieren den Tyrannen, unter den zahmen den Schmeichler." Schmeichler sind die gefährlichsten Feinde, die wir haben können. Sir Walter Raleigh († 1618 auf dem Schafott), der selber ein Höfling war und demnach in die ganze Kunst der Schmeichelei eingeweiht war, aber auch in seiner eigenen Laufbahn und seinem Schicksal die gefährliche und trügerische Macht der Schmeichelei, ihre tückische Arglist und bodenlose Falschheit erfahren hatte, bemerkt: "Man sagt, der Schmeichler sei eine Bestie, die hinten schwänzle und vorne beiße. Aber es hält schwer, sie von Freunden zu unterscheiden - sie sind so geschmeidig, so ergeben, so voll von Beteuerungen; denn wie der Wolf dem Hunde ähnlich sieht, so der Schmeichler dem Freunde." Buch der Gleichnisse 1844.
  Herz und Herz (wörtl.): eins fürs Gotteshaus, das andere fürs Teufelshaus; eins für den Sonntag, das andere für den Werktag; eins für den König, das andere für den Papst. Ein Mann ohne Herz ist ein Wunder; aber ein Mann mit zwei Herzen ist ein Ungeheuer. So hatte Judas zwei Herzen im Leibe; dagegen lesen wir von der ersten Christengemeine; Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele (Apg. 4,32). Das war ja auch als besonderer Segen verheißen, Jer. 32,39; Hes. 11,19. Thomas Adams 1614.
  Sie haben zwei Herzen in sich, eines zur Verstellung gegen andere, und eines für sich. Darum werden die Kinder Zebulon gelobt, dass sie sich zur Ordnung schicken nicht "mit Herz und Herz" (1. Chr. 12,33). Friedrich Christoph Oetinger 1776.
  Wenn die Menschen aufhören, ihrem Gott treu zu sein, könnte es nur zu arger Enttäuschung führen, wenn jemand sie gegeneinander treu zu finden erwartete. Mit wahrer Frömmigkeit weicht auch die Redlichkeit von der Erde, und statt des Gewissens nimmt dann die Rücksicht auf den Vorteil die Zügel des menschlichen Verhaltens in die Hand, bis ein Mensch dem andern nicht weiter trauen kann, als er ihn all diesem Stricke festhält. Daher kommt es auch, dass von den vielen, die selber ungläubig sind, doch nur wenige wollen, dass ihre Familien und ihre Untergebenen auch nichts glauben. Sie fühlen es, und sie urteilen darin ganz richtig, dass wahre Christen die einzigen Leute sind, auf deren Pflichttreue mau sich völlig verlassen kann. Bischof George Horne † 1792.


V. 4. Die sich eine Freude daraus machen, andere zu betrügen, werden zuletzt sich selber am ärgsten betrogen finden, wenn die Sonne der Wahrheit in ihrem vollen Glanze aufsteigt und alle Heuchelei zugleich offenbar macht und verzehrt. Bischof George Horne † 1792.
  Ausrotten. trakIf, Grundbedeutung: abschneiden. Sollte darin nicht eine Anspielung auf jene schreckliche, aber sehr entsprechende Strafe liegen, welche morgenländische Herrscher an Verbrechern auszuüben pflegten? Wer der Lüge oder Falschheit überführt war, dem wurden die Lippen abgeschnitten und die Zunge ausgerissen. So schrecklich, ja noch unendlich entsetzlicher sind Gottes Strafen über die Sünder. C. H. Spurgeon 1869.


V. 5. Die da sagen: Unsere Zunge soll Überhand haben, unsere Lippen sind mit uns im Bunde. (Grundtext) Ja, so war’s. Zwölf geringe, ungelehrte Männer auf der einen Seite, die ganze Beredsamkeit Griechenlands und Roms in Schlachtordnung wider sie gerüstet auf der anderen Seite. Von den Zeiten des Kirchenvaters Tertullian bis zu dem Tode Julians des Abtrünnigen ward alle Kunst der Beredsamkeit, der Gelehrsamkeit und des Spottes gegen die Kirche des Herrn aufgewendet. Und der Erfolg? Er wird uns trefflich dargestellt in jener bekannten Erzählung von dem Wortwechsel zwischen dem christlichen Landmann und dem heidnischen Weltweisen, wo dieser, als er die versammelten Väter eines Kirchenkonzils aufforderte, ihn zum Schweigen zu bringen, durch den schlichten Glauben des Landmanns zuschanden gemacht wurde, der zu ihm sprach: Im Namen unseres Herrn Jesu gebiete ich dir, zu verstummen. - Wer ist unser Herr? Wer ist Jahwe, dass ich ihm gehorchen sollte? (2. Mose 5,2) Wer ist der Allmächtige, dass wir ihm dienen sollten? (Hiob 21,15.) Lasst sehen, wer der Gott sei, der euch aus meiner Hand erretten werde! (Dan. 3,15.) Michael Ayguan 1416.


V. 6. Fürchtet euch, wer immer ihr seid, die ihr all den Armen Gewalttat übt. Ihr habt Reichtum und Macht und die Gunst bestechlicher Richter; sie aber haben die stärksten Waffen, die es gibt, nämlich Seufzen und Flehen, welche vom Himmel her Hilfe herbeirufen. Diese Waffen reißen Häuser ein, sprengen Grundmauern, werfen ganze Völker über den Haufen. Johannes Chrysostomus † 407.
  Die übermütige und unbarmherzige Unterdrückung der Armen ist eine Sünde, die Verwüstung und Zerstörung als Strafgericht über die Menschen bringt. Gott sandte zehn verheerende Plagen, eine nach der andern, über Pharao, sein Volk und sein Land, zur Rache für die Vergewaltigung des armen Volkes Israel. "Beraube den Armen nicht, weil er arm ist, und unterdrücke den Elenden nicht im Tor. Denn der Herr wird ihre Sache führen und wird ihre Untertreter untertreten." (Spr. 22,22 f.) Reiche zu berauben und zu unterdrücken ist große Sünde; aber den Armen zu berauben und den Unterdrückten zu unterdrücken ist der Gipfel der Unmenschlichkeit. Armut und Elend sollten uns zum Mitleid bewegen; aber die Unterdrücker machen sie zum Wetzstein ihrer Grausamkeit. Darum werden die Bedrücker des armen Volkes Gottes in dem Herrn einen Richter finden, der sich vor niemand scheut und den niemand bestechen kann. Thomas Brooks † 1680.
  In des sel. Dr. Speners Lebensbeschreibung liest man, dass er einmal in betrübten Gedanken über den Zustand der Kirche in die Betstunde zu Frankfurt gegangen sei; da haben ihm die Worte des Gesangs:

  Darum spricht Gott: Ich muss auf sein,
  Die Armen sind verstöret;
  Ihr Seufzen dringt zu mir herein,
  Ich hab ihr’ Klag erhöret,

welche bei seinem Entritt gesungen wurden, einen ungewöhnlichen Eindruck ins Herz gegeben, dass er weder vor noch nach eine solche Lieblichkeit auch nur des Tons, als damals, gespürt; daher er es billig als eine göttliche Antwort auf seinen damaligen Kummer geachtet hat, und weit es sich zugetragen, dass, als er nach Sachsen gezogen und in das Chur - Sächsische Territorium eingetreten, sechs Schüler nebst einem Schulkollegen kamen und, an den Wagen tretend, eben den Vers anstimmten, hat der sel. Mann denselben nachmals in Dresden sich von dem Schülerchor vor seiner Wohnung gewöhnlich singen lassen. R. H. Sieger † 1791.


V. 7. Wie Herrlich werden hier die lauteren Reden des Herrn dem gegenübergestellt, was vorher, V. 3-5, von den Reden der Gottlosen gesagt war. Reden die Sünder unnütze Dinge, wohlan, dann mögen Gottes Kinder von Jesus und seinem Evangelium reden. Nehmen sie unreine Worte in den Mund, dann mögen die Gläubigen die lauteren Worte Gottes brauchen, die gleich dem Silber desto köstlicher werden, je mehr sie im Schmelztiegel der Anfechtung erprobt werden. Mögen immerhin die Verächter Gott und sein Wort für nichts achten; welch unergründlichen Schatz haben wir dennoch an den Worten, den Verheißungen und Bundeszusagen des Herrn! Sie sind köstlicher denn Gold und viel seines Gold; sie sind süßer denn Honig und Honigseim (Ps. 19,11). Robert Hawker † 1827.
  Die menschlichen Worte sind eitel, schmeichlerisch und unbeständig, durch welche sie aber nicht keusch und rein, sondern vielmehr im Geist besudelt werden, und durch welche Wahrheit und Barmherzigkeit bei denen Menschen abnehmen. Gottes Worte aber sind keusch, rein und lauter, obgleich hart, doch rechtschaffen all Treue und fest gegründet, wodurch die Menschen gereinigt werden und Barmherzigkeit und Wahrheit wieder vermehret, Eitelkeit, Betrug und Zwiespalt aber zerstöret werden. Martin Luther 1519.
  Der Schmelzer tut das Silber wieder und wieder ins Feuer, bis es völlig geläutert ist. So geht es auch mit der göttlichen Wahrheit, der sich auf Erden manch Unreines anheftet. Es gibt kaum eine Wahrheit, die nicht einmal ums andere geläutert worden wäre; und hängt ihr noch irgendetwas Menschliches an, so fügt Gott es, dass sie wieder in Frage gestellt wird. Hat man in früheren Zeiten aus Schriftworten für einen Glaubenssatz Beweise aufgestellt, die nicht stichhaltig sind, oder sind die Sätze selbst nicht schriftgemäß, so muss diese Wahrheit wieder ins Feuer, damit alles, was noch von Schlacken daran ist, verzehrt werde. Der heilige Geist ist so genau, so sorgfältig, von so feinem Gefühl, dass er es nimmer dulden kann, dass den göttlichen Wahrheiten irgendetwas Falsches beigemengt werde. Dies ist der Grund, warum Gott noch jetzt, ein Jahrhundert um das andere, früher Festgesetztes zur Verhandlung stellt. Er ruht nicht, bis die Läuterung vollendet ist. Thomas Goodwin † 1679.
  Gerade durch die Versuchungen wird die Wahrheit der göttlichen Verheißung bewährt. In dem Herzen eines jeden Menschen muss das Wort Gottes durch siebenfaches Feuer hindurch, wenn es seinen edlen und ewigen Gehalt offenbaren soll. Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.
  Die Schrift ist der Sonne, die Kirche einer Uhr vergleichbar. Wir wissen, dass die Sonne unbedingt zuverlässig, weil in ihrem Laufe ganz regelmäßig ist. Bei der Uhr aber kann es sich ereignen, dass sie zu schnell oder zu langsam geht. Wie wir denn jemand, der behaupten würde, er glaube der Uhr mehr als der Sonne, der Torheit bezichtigen würden, so können wir auch die Leichtgläubigkeit solcher, die lieber der Kirche als dem Worte Gottes trauen, billig nicht anders denn als Torheit bezeichnen. Bischof Joseph Hall † 1656.
  Es gibt Leute, die losgelöste Stücke der Bibel untersuchen und sich freuen, darin Dinge zu finden, die bei oberflächlicher Betrachtung dem Bösen durch die Finger zu sehen scheinen. Aber mögen sie die ganze Schrift lesen, mögen sie dabei nicht aus dem Auge verlieren, welcherart die Leute waren, an die die verschiedenen Teile gerichtet sind, in welchem Zeitalter und unter welchen Umständen sie geschrieben wurden, und endlich, welchen Zweck auch die Stücke im Auge haben, die dem ungläubigen Gemüt am wunderlichsten scheinen. Beachten sie dies alles, so werden sie davon überführt werden, dass dieses Buch, weit davon entfernt, Betrügern zu entstammen, vielmehr heiligen Menschen Gottes, die von dem heiligen Geist getrieben waren, seinen Ursprung verdankt. Mögen sie es mit so scharfer Genauigkeit durchforschen, wie es ihnen beliebt; wenn sie sich nur gründlich in den Inhalt vertiefen und ihre Untersuchungen mit Weisheit und Wahrheitsliebe führen, so ist uns um den Ausgang nicht bange. Es gibt Teile der Schrift, denen Unwissenheit und Torheit erzwungene und unnatürliche Deutungen gegeben haben und welche unkeusche Gemüter in dem Schatten, den ihre eigene Unreinheit darauf wirft, betrachtet haben. Baron de Montesquieu († 1755) sagt von seinem Bundesgenossen Voltaire: "Wenn er ein Buch liest, macht er daraus, was er will, und dann schreibt er gegen das, was er selber das Buch hat sagen lassen." Es ist nicht schwer, die heiligen Blätter der Schrift zu besudeln und dann die schmutzigen Flecken, welche Menschen mit zerrütteten Sinnen darauf gemacht haben, ihrem makellosen Urheber anzudichten. Aber wenn wir das Wort Gottes ehrlich ansehen, wie es ist, werden wir finden, dass es gleich seinem erhabenen Urheber ohne Tadel ist. Gardiner Spring.


V. 8. Du, Herr, wirst sie (die Reden Gottes, oder; die Heiligen) erhalten. Wir sehen daraus, dass es nicht in unsrer Macht steht, dass die Worte Gottes lauter bleiben und die Heiligen nicht abnehmen auf Erden, sondern in Gottes Macht. Du, Herr, nicht wir Menschen werden bewahren. Martin Luther 1519.


V. 9. Wenn die Gemeinheit unter den Menschen obenauf kommt. Leere Schiffe schwimmen hoch über dem Wasser; wurmstichige Pfähle sind oft mit falschem Gold geziert; das schlimmste Unkraut gedeiht am besten. Die Spreu kommt zuoberst in der Wanne, während das gute Korn zu den Füßen des Worflers niederfällt. John Trapp † 1669.


Homiletische Winke

V. 2a. Hilf, Herr. 1) Die Bitte selbst: kurz und doch inhaltreich und kräftig, passend, an den rechten Helfer gerichtet, brünstig. 2) Die Veranlassung zu solcher Bitte. 3) Die verschiedenen Weisen, wie der Herr darauf antwortet. 4) Gründe, warum wir eine gnädige Antwort erwarten dürfen.
V. 2. 1) Die beklagte Tatsache. Man beschreibe das Wesen der "Heiligen" und "Gläubigen" (an der Hand des Grundtextes) und wie sie schwinden. 2) Die dadurch hervorgerufenen Empfindungen: Trauer um den Verlust, Besorgnis für die Gemeinde Gottes, persönliches Verlangen nach solchen Genossen. 3) Die dadurch erweckten Ahnungen: Zeitweiliger Niedergang der guten Sache, Bevorstehen von Gerichten usw. 4) Die Glaubenszuversicht, die dennoch bleibt: Hilf, Herr. (Vergl. auch Mt. 28,20 b.)
  Der Vers eignet sich als Trauertext bei dem Scheiden besonders begnadeter Gläubigen.
  Der unauflösliche Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und Redlichkeit. Wo das eine schwindet, da auch das andere.
V. 3a. Predigt über das Überhandnehmen und die Verderblichkeit des losen Geschwätzes.
  Die Verwandtschaft zwischen Schmeichelei und Trügerei. (Grundtext)
V. 3b. Herz und Herz. Gute und böse Herzen. Das Übel der Doppelherzigkeit.
V. 4. Gottes Hass gegen die beiden Zwillingssünden der Lippen - Schmeichelei und Stolz, oder: Schmeichelei gegen andere und uns selbst. Warum hasst er sie? Wie zeigt er den Hass? Bei was für Leuten hasst er sie am meisten? Wie können wir davon gereinigt werden?
V. 4-5. 1) Der Aufruhr der Zunge. Ihr Anspruch auf Ungebundenheit und Herrschaft zur Ausübung des Bösen. Gegensatz zu der Regel des Christen: Wir sind nicht unser selbst. 2) Die Mittel, wodurch die Zunge sich zum Herrn aufwirft: schmeichlerische und vermessene Reden. 3) Das Ende der Empörung: Ausrottung.
  Wer ist unser Herr? Die Gottlosen träumen von Freiheit und sind doch Knechte des Verderbens. Beispiele. Sollten wir uns nicht lieber dem sanften Joch des Herrn unterwerfen?
V. 6. Des Herrn Erwachen: Ich will nun auf. 1) Was heißt das: Der Herr erwacht? 2) Wer hat ihn geweckt? 3) Was wird er tun? 4) Warum?
V. 6b. Die göttliche Verheißung: Ich will in Heil versetzen, und wem sie gilt: dem, der sich darnach sehnet.
V. 7. Die Lauterkeit der Reden des Herrn geprüft und bewährt.
  Sieben Schmelztiegel, worin die Gläubigen das Wort Gottes erproben. Mit ein wenig Nachsinnen wird man sie leicht finden.
V. 8. Bewahrung vor "diesem Geschlecht" in Zeit und Ewigkeit. Ein stoffreiches Thema.
V. 9. Das Emporkommen der Gemeinheit und dessen schlimme Folgen.
  Die Sünden der Hohen sind besonders ansteckend. Man wecke in den durch Reichtum, Geburtsadel, Gelehrsamkeit oder Amtswürde Hervorragenden das Gefühl ihrer Verantwortlichkeit. Dankbarkeit für treue Berater und Leiter des Volks. Nach welchen Gesichtspunkten sollte man Abgeordnete und Magistratspersonen wählen?

Fußnoten

1. Manche, z. B. Hupgeld und Riehm, auch Luther, fassen dysixf passivisch = der Geliebte, Begnadigte, es ist aber aktivisch, wie das in unserer Stelle sowie Ps. 18, 26; 43, 1 usw. aus dem Zusammenhang erhellt, also: der dsexe übt, und zwar gegen Menschen, aber auch gegen Gott (Ps. 32, 6; 5. Mose 33, 8), also = pius. Luthers Übersetzung "Heiliger" stammt von dem o{sioj der LXX (so schon Ps. 4, 7). Wir sparen das Wort "Heiliger" aber gerne für $Odqf auf.

2. Wörtl.: alle schmeichlerischen Lippen.

3. Wörtl.: unsere Lippen sind mit uns (im Bunde).

4. Diese werden -enu statt -ennu gelesen haben