Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 131 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Wallfahrtslied. Von David. Der Inhalt dieses Psalms ist ganz aus der Seele Davids geredet, und viele Vorfälle aus dem Leben dieses Mannes nach dem Herzen Gottes können zur Veranschaulichung der Worte dienen. Ist der ganze Psalter ein Schatzkästlein voll herrlicher Kleinodien, so möchten wir diesen Psalm einer Perle mit ihrem milden Glanze vergleichen. Welch wundervolle Zier ist diese Perle für die Seele, die sie sich anzulegen berechtigt ist! Zum Lesen ist der Psalm einer der kürzesten, jedoch einer der längsten zum Lernen. Er spricht von einem Kindlein, doch enthält er die Erfahrung eines zum vollen Mannesalter gereiften Gläubigen. Wir schauen hier tiefe Demut in Verbindung mit einem geheiligten Herzen, einen ganz in Gott gestillten Willen im Verein mit einem starken Glauben, der auf den HERRN allein seine Hoffnung setzt. Wohl dem Manne, der die Worte dieses Psalms ohne Heuchelei zu seinen eigenen machen kann; ein solcher trägt an sich das Bild seines Herrn, der da sagte: "Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig." Der Psalm übertrifft, so gering sein Verfasser von sich denkt, alle die vorhergehenden Wallfahrtslieder an innerer Höhe, sofern die Demut eine der höchsten Tugenden des geistlichen Lebens ist. Auch in sich selber hat der Psalm Stufen. Zwar ist’s nur eine kurze Leiter, wenn wir die Worte zählen; doch erhebt sie sich zu großer Höhe, denn sie reicht von tiefer Demut zu hoher Glaubenszuversicht. - Th. Le Blanc († 1669) hält den Psalm für ein Lied der aus der Verbannung mit gedemütigtem Herzen und von den Götzen entwöhnt ins Land der Väter heimkehrenden Juden, und fast alle Ausleger halten den Psalm für nachexilisch. Wie immer es sich damit verhalte, möge der Psalm die Sprache unserer Herzen sein, wenn wir aus geistlicher Gefangenschaft befreit sind.


Auslegung

1. HERR, mein Herz ist nicht hoffärtig,
und meine Augen sind nicht stolz;
ich wandle nicht in großen Dingen,
die mir zu hoch sind.
2. Ja, ich habe meine Seele gesetzt und gestillt;
so ist meine Seele in mir
wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter.
3. Israel hoffe auf den HERRN
von nun an bis in Ewigkeit!


1. HERR, mein Herz ist nicht hoffärtig. An Jehovah sind diese Worte gerichtet; der Psalm ist ein einsames Gespräch des Herzens vor dem HERRN, nicht eine Rede vor Menschen. Es mangelt uns nicht an einem völlig genügenden Auditorium, wenn wir zu dem HERRN sprechen, und ihm dürfen wir vieles sagen, was sich für die Ohren der Menschen nicht eignen würde. Der gottselige Beter unseres Psalms beruft sich auf den Ewigen, der allein das Herz kennt. Ein Menschenkind bedenke sich wohl, ehe es das in irgendeiner Sache tut, denn dem HERRN können wir nichts vorspiegeln: ehe daher jemand solche Berufung wagt, sei er sich seiner Sache gewiss! Der Psalmdichter fängt, da er von sich redet, bei seinem Herzen an, und mit Recht; denn das Herz ist der Mittelpunkt, das Zentralorgan unseres ganzen Wesens. Ist da Hochmut vorhanden, so wird unser ganzes Wesen und Leben davon befleckt werden, gerade wie Unreinigkeit in der Quelle den ganzen Bach trübe macht. Es will für einen Menschen viel heißen, sein Herz so zu kennen, dass er vor dem HERRN darüber zu reden fähig ist. Ist doch das Herz mehr als alles arglistig und verderbt - wer kann es ergründen (Jer. 17,9), es sei denn, dass der Geist des HERRN selbst ihm in dessen Tiefen hineinleuchte? Und noch etwas Größeres ist es, wenn ein Mensch nach gründlicher Selbstdurchforschung es vor dem Allwissenden feierlich beteuern kann, dass sein Herz nicht stolz sei, das heißt, dass er sich in seiner Selbstbeurteilung nicht überhebe, weder in der Beziehung zu seinen Mitmenschen sich selbst erhöhe und die andern verachte, noch auch in selbstgerechtem Dünkel dem HERRN gegenüber stehe, und dass er weder mit der Vergangenheit sich brüste, noch stolz sei im Blick auf die Gegenwart, noch nach hohen Dingen trachte, was die Zukunft betrifft. Und meine Augen sind nicht stolz. Was dem Herzen gefällt, das suchen die Augen. Wohin unsere Begierden eilen, dahin folgen in der Regel auch die Blicke. Dieser gottselige Mann war sich dessen bewusst, dass er nicht nach erhabener Stellung begehrte, wo der Eigendünkel Befriedigung fände, und dass er nicht von oben her auf andere als Minderwertige herabsah. Hohe Augen hasst der HERR, und in diesem Stück stimmen die Menschen insgemein mit ihm zusammen: denn sogar solche Leute, die selber hochmütig sind, hassen doch die stolzen Gebärden an andern. Die hoffärtigen Augen sind so allgemein unbeliebt, dass manche stolze Leute sich alle Mühe geben, die Gebärden zu meiden, die die Gesinnung ihrer Herzen verraten würden, um sich nicht dem Unwillen und der Feindschaft ihrer Mitmenschen auszusetzen. Der Hochmut, der die Demut nachäfft, hat stets darauf Acht, die Augen niederzuschlagen, da jedermann weiß, ohne dass es ihn jemand lehren muss, dass geringschätzige Blicke das sichere Zeichen einer hoffärtigen Gesinnung sind. In dem 121. Psalm richtete der Psalmist seine Augen allerdings hoch hinauf zu den Bergen, von welchen ihm Hilfe komme; aber das war auch die einzige Weise, in der bei ihm von hochfahrenden Blicken die Rede sein konnte. Ist das Herz rechtschaffen und steht es mit den Augen richtig, dann ist der ganze Mensch in guter, gesunder Entwicklung. Hüten wir uns aber ja, dem Psalmisten die Worte nachzusprechen, es sei denn, dass sie auch in Bezug auf uns selbst wirklich wahr sind; denn es gibt keinen ärgeren Hochmut als den, der sich mit der Demut schmückt, ohne dass sie sein Eigen ist.
  Ich wandle nicht in großen Dingen, ich gehe nicht damit um. Als Bürger maßte David sich, solange Saul noch unter göttlicher Zulassung die Krone trug, nicht die königliche Gewalt an und zettelte keine Verschwörungen gegen jenen an; er war bemüht, zu tun, was seine Pflicht war, und überließ es andern, zu ihren Obliegenheiten zu sehen. Was sein Denken und Forschen betraf, suchte er nicht in Geheimnisse einzudringen, die Gott uns zu offenbaren nicht für gut gefunden hat; er war kein vorwitziger Grübler, der, von hohem Dünkel erfüllt, seine vermeintlichen Weisheitsschätze allen aufnötigt und seine Einfälle starrsinnig festhält. Als Träger der Krone drängte er sich nicht in das Priesteramt ein, wie sein Vorgänger Saul es getan (1. Samuel 13,12) und hernach Usia sich erdreistete (2. Chr. 26,16). Wir tun gut, uns im geistlichen Urteil so zu üben, dass wir wissen, welches der uns von Gott bestimmte Lebens- und Wirkenskreis ist, und uns treu und gewissenhaft daran halten. Wie manche haben, durch den Ehrgeiz verführt, ihren Lebensberuf verfehlt; sie wollten durchaus große Leute werden und wurden eben deshalb nicht gute, nützliche Menschen. Sie waren nicht damit zufrieden, den niedrigen Platz, den der HERR ihnen zugewiesen, geziemend auszufüllen, sondern stürmten zu Größe und Macht, und fanden den Untergang, wo sie Ehre suchten. Und (Grundtext) die mir zu hoch sind. Hohe Dinge mögen andern, denen Gott einen höheren Wuchs gegeben, ganz angemessen sein und doch für uns ganz und gar nicht taugen. Es ist für jeden Menschen wichtig, dass er sein eigenes Maß kenne. Hat er sich darüber Gewissheit verschafft, wie weit seine Fassungskraft reicht, so wäre es töricht, wenn er nach dem strebte, was er nicht erreichen kann; er würde nur Gefahr laufen, sich allzu sehr zu strecken und dadurch zu verrenken. Aber die Eitelkeit mancher Menschen ist in der Tat so groß, dass sie jede Tätigkeit, die in ihrem Bereich liegt, für unter ihrer Würde stehend halten; die einzige Arbeit, die sie zu unternehmen willig sind, ist eine solche, zu der sie nie einen Beruf erhalten haben und für die sie in keiner Weise ausgerüstet sind. Was für ein hochmütiges Herz muss der Mensch doch haben, der Gott überhaupt nicht dienen will, es sei denn, dass ihm fünf Pfund zum mindesten anvertraut werden! Und der hat in der Tat hoffärtige Augen, dem es zu verächtlich ist, unter seinen geringen Freunden und Nachbarn hier unten auf Erden als ein Lichtlein zu leuchten, sondern begehrt, zu einem Stern erster Größe gemacht zu werden, damit er in den oberen Regionen strahle und von einer zu ihm heraufstarrenden Menge bewundert werde! Es ist recht und billig, wenn Gott es so fügt, dass solche, die alles zu sein wünschen, damit enden, dass sie nichts sind. Es ist nur gerechte Vergeltung, wenn sich schließlich alles zu groß erweist für den Mann, der sich nur mit großen Dingen befassen will, und alles zu hoch für den, der sich an lauter Dingen versucht, die ihm zu hoch sind. HERR, mache uns demütig und bewahre uns in der Demut; halte uns für immer fest in ihr. Wirke so an uns durch deine Gnade, dass wir in der Lage seien, das Bekenntnis diesem Verses mit voller Aufrichtigkeit vor dir, dem Richter aller Welt, als unser eigenes abzulegen.

2. Ja, ich habe meine Seele gesetzt und gestillt. Das erste Zeitwort wird Jes. 28,25 vom Einebnen des Ackers zur Aussaat gebraucht. So hatte der Psalmist seine Seele von all den Rauhigkeiten des Eigenwillens, von allen ungehörigen Erhebungen der Hoffart geebnet. Lebhafter und ansprechender ist das Bild, wenn wir dabei an das Beschwichtigen der Wogen eines Meeres, an das Glätten der Wasserfläche denken, wozu das zweite Zeitwort auch trefflich passt. In der Kraft der Gnade hatte er sein Herz von dem Aufruhr der Leidenschaften, des Hochmutes und Ehrgeizes, beschwichtigt, er hatte sein Gemüt besänftigt und gestillt, so dass er weder gegen Gott aufrührerische Gedanken hegte noch auch gegen die Menschen sich stolz erhob, sondern in Gott gelassen und ganz stille war. Es ist wahrlich nichts Leichtes, die Seele so zu setzen und zu stillen; eher möchte einer den Ozean glätten, den Sturm beschwören oder einen Tiger zähmen, als sich selber zur Ruhe zu bringen. Wir sind von Natur voller Unruhe, zu Unzufriedenheit und Anmaßung geneigt, und gar mancher Sturm der Leidenschaft bringt uns in ungestüme Wallung; nichts als die Gnade kann uns still machen unter Leiden, unter so mancherlei Reizungen, die auf uns eindringen, und den vielen Enttäuschungen des Lebens. Aber sie vermag es auch. Hat dieser alttestamentliche Fromme das so mächtig erfahren, wie sollten wir Kinder des Neuen Bundes den Mut sinken lassen? Wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter.1 Er ist völlig ruhig und zufrieden wie ein Kind, dessen Entwöhnung ganz beendigt ist. Im Morgenland entwöhnen die Mütter ihre Kinder viel später, als es bei uns Sitte ist, und wir können uns leicht denken, dass die Sache dadurch nicht leichter wird. Endlich muss aber die Zeit des Säugens doch ein Ende nehmen, und nun beginnt ein Kampf. Dem Kinde wird sein größtes Labsal und sein Trost genommen, und es ärgert sich und härmt sich, es wird unruhig und verdrießlich, es schreit und will sich nicht beschwichtigen lassen. Es macht den ersten großen Kummer seines Lebens durch, und sein kleines Herz ist in nicht geringer Aufregung. Doch bringt die Zeit nicht nur Milderung des Schmerzes, sondern die volle Beendigung des Kampfes. Es geht nicht lange, so ist es das Knäblein ganz zufrieden, seine Nahrung am Tische mit seinen Geschwistern zu bekommen, und es fühlt gar kein Verlangen mehr, zu jenen süßen Quellen zurückzukehren, aus denen es bisher Lebenskraft zog. Es zürnt seiner Mutter nicht mehr, sondern birgt sein Haupt an eben dem Busen, nach dem es einst so schmerzlich schmachtete. Ist auch der Born versiegt, das Kindlein weint nicht mehr, denn auf der Mutter Schoß fällt es in süßen Schlaf. Es ist nicht eigentlich entwöhnt von seiner Mutter, sondern entwöhnt nur von ihren Brüsten, gewöhnt an sie selber, herzlich zufrieden, dass es die Mutter hat. Wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter, sagt der Psalmist. Dem entwöhnten Kinde ist die Mutter selbst Freude und Trost, wiewohl sie ihm das, was bisher ihm des Lebens Freude und Trost war, nun versagt. Es ist ein erfreuliches Zeichen des Heranwachsens aus dem geistlichen Kindesalter, wenn wir die Freuden missen können, die uns einst unentbehrlich schienen, uns das Leben waren, und wir unseres Herzens Trost und Erquickung eben bei dem finden können, der uns jene Freuden versagt. Dann benehmen wir uns vernünftig, und das kindische Schreien und Klagen verstummt. Wir lernen es nach und nach, uns, selbst wenn der HERR uns unsere liebste Freude nimmt, unter seinen Willen zu beugen ohne einen murrenden Gedanken; ja wir finden daran sogar selige Freude, das aufzugeben, was uns ein besonderes Vergnügen war. Wie das entwöhnte Kind ist in mir meine Seele. (Grundtext) Das ist keine von selbst wachsende Frucht unserer Natur, sondern ein mit treuer Sorgfalt herangezogenes Erzeugnis der Gnade; es wächst aus der Demut und Einfalt, und es ist der Stamm, worauf der Friede als liebliche Blume blüht. Nicht jedes Gotteskind kommt schnell zu diesem Stande des Entwöhnt- und an Gott Gewöhntseins. Es gibt Christen, die noch immer wie Säuglinge sind, während sie Väter in Christo sein sollten. Manche sind sehr schlecht zu entwöhnen; sie machen ein ganz unverschämtes Geschrei und lehnen sich unbändig gegen des himmlischen Vaters Zucht auf. Und wenn wir uns glücklich über das Entwöhnen hinaus glauben, dann machen wir mit Schmerzen die Entdeckung, dass die alten sinnlichen Begierden nur zurückgedrängt, nicht ertötet waren, und wir fangen wieder an, nach den Brüsten zu schreien, die wir hatten fahren lassen. Man ruft leicht zu früh Hurrah, noch ehe man aus dem Wald heraus ist, und ohne Zweifel haben da, wo der schöne Psalmengesang noch nicht aus der Mode ist, hunderte diesen Psalm gesungen, lange bevor sie ihn verstanden haben. Gesegnet seien die Trübsale, die unsere Begierden dämpfen, uns von Hoffart und Eitelkeit entwöhnen und zu christlicher Mannhaftigkeit erziehen, die uns lehren, Gott zu lieben nicht nur, wenn er uns labt und tröstet, sondern auch, wenn er uns prüft und in Zucht nimmt. Der Dichter wiederholt mit Recht (nach dem Grundtext) die Bildrede von dem entwöhnten Kinde. Solch ein Kindlein ist unserer Bewunderung und Nacheiferung wert; solch Entwöhntsein ist für uns zwiefach wünschbar und doch so schwer zu erringen. Es entspringt aus der in Gott gelassenen Demut, von der vorhin die Rede war, und erklärt auch wiederum, zum Teil wenigstens, das Vorhandensein dieser lieblichen Tugend. Wo der Stolz davongegangen ist, da zieht gewiss die Ergebung ein, und anderseits, wenn der Hochmut ausgetrieben werden soll, muss auch die Selbstsucht des natürlichen Ich bezwungen werden.

3. Israel hoffe auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit. Siehe, wie liebreich der Mann, der der Selbstsucht entwöhnt ist, an andere denkt! David gedenkt treu seines Volkes und vergisst sich selbst in seiner Sorge für Israel. Wie schätzt er doch die Tugend der Hoffnung! Er hat sich von dem Sichtbaren losgemacht, darum erkennt er den Wert der Schätze, die man nicht sehen kann, außer mit dem Auge des Glaubens. Es ist Raum da für die weiteste Hoffnung, wenn das eigne Ich in den Hintergrund gedrängt ist, und Boden für ewige Hoffnung, wenn die vergänglichen Dinge unsere Seele nicht mehr beherrschen. Dieser Vers ist Erfahrungsweisheit: ein Gottesmann, der selber gelehrt worden war, auf die Welt zu verzichten und in dem HERRN selbst allein sein Leben zu finden, ermahnt hier seine Freunde und Mitauserwählten, das Gleiche zu tun. Er wusste aus Erfahrung, wie selig es ist, ein Leben der Hoffnung zu führen; darum möchte er, dass alle seine Volksgenossen von diesem Vorrechte Israels Gebrauch machten. Möge das ganze Volk hoffen, möge alle ihre Hoffnung sich auf Jehovah gründen, mögen sie damit beginnen von nun an und damit fortfahren immerdar. Das Entwöhnen führt das Kind aus einem nur für einige Zeit berechneten Zustand in denjenigen, in welchem es hinfort sein Leben lang bleiben wird; und erheben wir uns über die vergänglichen Genüsse, die die Welt uns bietet, so treten wir in ein himmlisches Dasein ein, das niemals enden kann. Wenn wir aufhören, uns nach der Welt gelüsten zu lassen, dann fangen wir an, am HERRN zu hangen. O HERR, wie die Mutter ihr Kind entwöhnt, also entwöhne du mich, dann werde ich alle meine Hoffnung auf dich allein setzen!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Der Ton ist so persönlich warm, dass die Annahme, es spreche schon in den ersten beiden Versen der Psalmist aus der Seele des Volkes (De Wette u. a.), ganz unberechtigt ist. Aber eine nähere Beziehung zu demselben ist kaum zu leugnen. Muss man nun zugestehen, dass 1. Samuel 18,18.23 und noch besser 2. Samuel 6,22 hier widerklingen und überhaupt Davids Geschichte, Gemütsart und Herzensstellung völlig zu solchem Bekenntnis persönlichen Verhaltens und zu solcher Sorge für Israels richtige Stellung zu Gott passen, so ist das Festhalten der davidischen Abfassung (Hengstenberg) nicht so unberechtigt, dass man sagen dürfte, solche Annahme bedürfe keiner Widerlegung (Hupfeld). Für die historische Auslegung bietet dies immer noch einen bessern Anhalt, als was von Simon dem Makkabäer (1. Makkabäer 14) erzählt wird und worauf Hitzig hinweist. Alles Dazwischenliegende bewegt sich nur auf dem Felde unbegrenzter Vermutungen. K. B. Moll 1884.
  Der Blick zu Gott (Ps. 130) bringt Ruhe. Die großen Wünsche legen sich, und still und befriedigt wird der Psalmist mit Gottes Willen eins (Ps. 131). Prof. A. Schlatter 1894.
  Sehr passend folgt der Psalm der Demut und Gottgelassenheit auf den Psalm, der Gottes vergebende Gnade preist. Sam. Cox 1874.

  Mein Herz versteigt sich, HERR, nicht mehr,
  Mein Blick fährt auch nicht hoch daher,
  Mein Geist soll nicht nach Dingen stehn,
  Die über meine Kräfte gehn.
  Ich halte meine Seele still
  Und tu’, was Gott, nicht was ich will,
  Bin, wonach auch mein Herz sich sehnt,
  Ein Kind, das man der Brust entwöhnt.
  Verleugn’ ich mich, so hab’ ich Kraft,
  Sieg über meine Leidenschaft,
  Und werd’ einfältig wie ein Kind,
  Das sich entwöhnt und glücklich find’t.
  Mein Volk, vertrau auf Gott allein;
  Sein Wille muss dein Wille sein!
  So hast du Ruh zu aller Zeit
  Und wandelst froh zur Ewigkeit.
   - Matthias Jorissen 1798.


V. 1. Dieses Bekenntnis des Psalmisten erinnert uns an das des Petrus in jener feierlichen Stunde: "Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe!" (Joh. 21,17.) Von denen, die wie David aufrichtig sind, nimmt der HERR solche Berufung an. Wiewohl auch sein Herz nicht völlig frei war von Stolz, so darf er dennoch also zum HERRN sprechen; denn sein Bekenntnis bezieht sich auf seinen aufrichtigen Vorsatz und sein beständiges Bestreben sowie auf den vorherrschenden Zustand seines Innern. Aber wenn David wirklich so demütig ist, warum spricht er davon? Gleicht sein Gebet nicht dem des Pharisäers (Lk. 18,11): Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute? Von ferne nicht. Da kommt es auf den Grund an, aus dem solche Worte hervorquellen, und auf den Zweck. David ist hierin offenbar von dem Geiste Gottes geleitet, sei es zu notwendiger Verteidigung gegenüber Verleumdungen (vergl. schon 1. Samuel 17,28; 22,8 usw.), sei es zur Unterweisung Israels, dass es lerne sich in Gott stillen und auf ihn hoffen. Thomas Manton † 1677.
  Der Hochmut hat seinen Sitz im Herzen, aber zum Ausdruck kommt er namentlich im Auge. Das Auge ist der Spiegel der Seele, darum kann man an ihm viele geistige und sittliche Eigenschaften des Menschen mit einem nicht geringen Grade von Genauigkeit erkennen. Welch eine Welt von Bedeutung kann doch manchmal in einem einzigen Blicke liegen! Aber von allen Leidenschaften prägt sich der Stolz wohl am allerdeutlichsten im Auge aus. Da ist kaum ein Irrtum möglich. N. Mac Michael 1860.
  Er hatte weder einen geringschätzigen, noch einen hochfahrenden Blick. Er sah nicht mit Neid auf solche, die ihm in irgendwelcher Beziehung überlegen waren, noch mit Verachtung auf die, welche geringer waren als er. Matthew Henry † 1714.
  Gegensatz der großen Dinge (Jer. 33,3; 45,5) ist nicht das Kleinliche, sondern das Kleine, und Gegensatz der zu sonderlichen Dinge (1. Mose 18,14) ist nicht das Triviale, sondern das Erreichbare. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Unter den großen und zu wunderbaren Dingen (wörtl.) sind gemeint Gottes verborgene Ratschlüsse und die erhabenen, Gottes Allmacht zustehenden Mittel, um diese hinauszuführen. An diesen göttlichen Geheimnissen ist der Mensch nicht berufen mitzuwirken, sondern in sie hat er sich zu ergeben und damit auch an ihnen sein Herz zu stillen. Jos. A. Alexander † 1860.
  Ich suche nicht, HERR, deine Tiefen zu ergründen. Ich halte meinen Verstand von ferne nicht für ihnen gewachsen. Aber es verlangt mich, in gewissem Maße deine Wahrheit zu verstehen, an die mein Herz glaubt und die es liebt. Denn ich suche nicht, zu erkennen, um zu glauben, sondern ich glaube, damit ich erkennen möge. Erzbischof Anselm von Canterbury † 1109.
  Es ist stets mein Bestreben gewesen und ist mein Gebet, dass ich keiner Plan betreffs meiner selbst haben möge; bin ich doch dessen ganz gewiss, dass der Platz, auf den der Heiland mich zu stellen für gut findet, stets der beste für mich sein muss. Robert M. Mac Cheine † 1843.


V. 1.2. Die Welt ist arg und daher auch argwöhnisch und zieht die Kinder Gottes in keinen Verdacht leichter als in den Verdacht hochmütiger Absichten, dergleichen auch David mehrmalen widerfuhr. Vor den Menschen kann man diesfalls seine Unschuld nicht allemal an den Tag bringen. Aber mit Gott darüber reden ist nie ohne Nutzen. Dabei kann man zwar die Gnade in ihrem Sieg im Herzen rühmen, aber gleichwohl auch zugestehen, dass es Zusprechens, Setzens und Stillens bei unserer Seele brauche, damit sie nicht andern nacheifere, sondern sich darein gebe, ihr Leben beim Verlieren zu erhalten. O wie ist’s einem so wohl, wenn man so unter dem Schatten der Flügel Gottes Zuflucht suchen und darunter auch von allem unverdienten Verdacht ausruhen kann! Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Da nach der gemeinen Erfahrung der Mensch, je mehr er hat, nach desto mehr verlangt, so sind die Großen der Erde noch weniger als die Geringen vor jener allen insgemein anhaftenden Versuchung sicher, mit dem, was ihnen Gott angewiesen, unzufrieden, noch nach höheren Dingen zu streben. Vor allem verdient es bei einem siegreichen und mit Glück und Macht gesegneten Regenten Anerkennung, wenn er an dem sich genügen lässt, was Gott ihm angewiesen hat. Die Versuchung der Leidenschaft, das Wallen und Wogen seines Gemütes stellt auch dieser Sänger nicht in Abrede; aber den Undank fürchtend, dessen er sich schuldig machen würde, und die unausbleibliche Vergeltung der göttlichen Gerechtigkeit, hat er seine Seele geschwichtigt, wie das entwöhnte Kind, welches begehrungslos an der Brust seiner Mutter liegt. Prof. A. F. Tholuck 1843.


V. 2. Ja, ich habe usw. O wie saft- und kraftlos und wie schal wird doch alles, was die Welt bietet, der Seele, die sich für den Himmel bereitet! "Mir ist die Welt gekreuzigt, und ich der Welt" (Gal. 6,14). Vergeblich denkt dies Hurenweib, mich mit ihren Lockungen, durch ihre Vorspiegelungen von Gewinn und Vergnügen verführen zu können. Ich bin dem allen völlig entwöhnt. So verlockend diese Dinge aussehen mögen, mein Gaumen findet daran nicht mehr Geschmack als an dem Weißen vom Ei (Hiob 6,6). Ich habe gelernt, Weib und Kinder und die liebsten Angehörigen zu besitzen, als besäße ich nicht, zu weinen um äußere Verluste, als weinte ich nicht, mich zu freuen über irdische Freuden, als freute ich mich nicht (1. Kor. 7,29-31); meine Gedanken und Wünsche sind von anderem in Anspruch genommen. Die Weltleute behandeln mich geringschätzig, viele scheinen meiner müde zu sein, und auch ich habe von ihnen genug. An nichts von diesen irdischen Dingen hängt mein Herz mehr; meine Seele trachtet nach dem, das droben ist. Mein Schatz ist im Himmel, darum ist mein Herz auch dort. Ich habe all mein Gut in eine andere Welt vorausgesandt und bin im Begriff, sehr bald selber dahin zu ziehen; wenn ich denn um mich blicke, so sehe ich ein ödes, leeres Hans, und sage mit Monika, der Mutter Augustins: "Was soll ich hier noch? Mein Vater, mein Gatte, meine Mutter (das obere Jerusalem), meine Brüder, meine Schwestern, meine besten Freunde sind alle droben!" Ich gönne der Welt nichts von meinem Herzen und halte alle diese zeitlichen sichtbaren Dinge nicht eines Blickes wert im Vergleich mit den ewigen unsichtbaren (2. Kor. 4,18). Oliver Heywood † 1702.
  Unser Vater hat über uns zu befehlen und ist uns an Weisheit und allem weit überleben; darum gebührt es sich, dass wir uns seinem Willen unterwerfen. "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren" - wieviel mehr denn deinen himmlischen Vater! (Hebr. 12,9) Siehe, wie David darin gesinnt ist: Ich will, hören wir ihn im Psalme sagen, in den mir gesetzten Schranken bleiben; ich will nicht über die Schnur hauen, indem ich Gott befehle, sondern will mich seinem Willen untergeben wie ein entwöhntes Kind. Mit diesem Bilde zeigt er an, dass er von allem abstehen wolle, was Gott ihm verweigere. Siehe auch, wie geduldig Isaak sich auf den Altar binden lässt (1. Mose 22,9). Und doch war er schon zum Jüngling herangewachsen, der stark genug war, das zum Brandopfer nötige Holz den Berg hinanzutragen. Da hätte er wohl Kraft genug gehabt, um sein Leben zu ringen; aber dieser gottselige Jüngling hätte den Gedanken, sich wider seinen Vater aufzulehnen, mit Abscheu von sich gewiesen. Und sollten wir uns nicht in den Willen dessen ergeben, der unser Gott und Vater ist in Christo Jesu? John Singleton † 1706.
  Entwöhnt wovon? Von der Selbstgenugsamkeit, dem Eigenwillen und der Selbstsucht; entwöhnt von der Kreatur und den Dingen dieser Welt - nicht zwar so, dass er sich in mönchischer Entsagung ihrem Gebrauch entzieht, aber so, dass er sich von ihnen nicht mehr für sein Glück abhängig weiß. Der Vers zeigt uns, dass es zu dieser inneren Verfassung bei dem Psalmisten nicht ohne Kampf gekommen ist. Es ist darin ein Unterschied zwischen Christus und den Christen. In ihm stieß die Übung zur Gottseligkeit auf keine widerstrebende innere Macht; bei uns hingegen hat sie beständigen Widerstand zu überwinden. Man vergl. Röm. 7. Auch das Kind, das entwöhnt werden soll, setzt sich dagegen. Die Aufgabe der Mutter ist da nicht leicht. Bei der zärtlichen Liebe zu ihrem Kinde hat sie alle ihre Festigkeit nötig, um die Sache durchzuführen. Manchmal muss sie selber weinen bei dem dringenden Flehen der lieben Augen ihres Herzenskindes, den dicken Tränen und den so verlangend ausgestreckten Händchen. Aber es muss sein, darum führt sie, bei zartestem Mitleid, die Sache beharrlich durch. Sie verleidet ihm die Brust durch eine bittere Salbe, sie entzieht und verbirgt sich dem Kinde, sie sucht es mit liebreich lockenden Worten dazu zu bewegen, dass es andere Nahrung nehme, und mit der Zeit gewöhnt sich das Kind in der Tat an die festere, seinen jetzigen Bedürfnissen angemessene Speise. Die Anwendung auf uns bietet sich von selbst dar. William Jay † 1853.
  Der Apostel Paulus gibt uns Phil. 4,11 ff. ein beherzigenswertes Vorbild eines entwöhnten Kindes, das völlig zufrieden ist mit dem, was der himmlische Vater ihm darreicht. Thomas Manton † 1677.
  Das Entwöhntsein der Seele, wovon der Dichter unseres Psalms redet, ist seinem Wesen nach ganz verschieden von jener Abneigung gegen die Welt, die bei manchen durch den vielen Missbrauch, der mit den irdischen Gaben getrieben wird, und durch die Gemeinheit der Genüsse, denen sich die Menge und, in andern Formen, auch so viele aus den höheren Ständen ergeben, hervorgerufen wird. Auf die Welt, so wie sie sich in dem Leben des Durchschnittsmenschen darstellt, böse sein und sich ihrer schämen, das heißt noch lange nicht, der Welt entwöhnt sein. Und zwar besteht zwischen den beiden Seelenzuständen nicht etwa nur ein Unterschied des Grades, sondern ein Unterschied des Wesens. Gib dem Weltwesen eine andere Gestalt, verfeinere die Genüsse, und du wirst sehen, dass manch ein stolzes Gemüt, das sonst die Welt verachtete, nun mit ihr liebäugelt und um sie wirbt. Jenes Entwöhntsein der Seele ist ebenfalls grundverschieden von der Weltmüdigkeit, von dem Überdruss, der sich naturgemäß da einstellt, wo man den sinnlichen Ergötzungen zügellos frönt. Man kann alle Neigungen und Reize abnutzen. Diese Ermüdung und Abspannung tritt auch bei feineren Genüssen schließlich ein. Der Verfasser des Predigerbuches scheint sie zu einer Zeit seines Lebens gründlich erfahren zu haben. "Ich habe keinen Wunsch mehr", sagte einst ein sehr bekannter Anhänger der Lehre Epikurs in unserem Lande, der den Becher der Weltlust so völlig, als er nur konnte, geleert hatte, "und wenn alles, was die Erde bietet, vor mir hier ausgebreitet wäre, so wüsste ich nicht ein einziges Ding, wonach die Hand auszustrecken ich für der Mühe wert halten würde!"
  Das Entwöhntsein der Seele setzt voraus, dass eine Kraft zum Lieben und Begehren in der Seele noch vorhanden ist. Es bedeutet nicht die Vernichtung des Begehrens, sondern das Beherrschen desselben und seine Umwandlung. Das entwöhnte Kind hat auch Hunger, wie vorher, aber es gelüstet nicht mehr nach derjenigen Nahrung, die ihm einst solche Wonne war; es ist still und zufrieden auch ohne diese, denn es stillt seinen Hunger an anderer Speise. Ebenso lechzt die der Welt entwöhnte Seele so sehnlich wie je nach Nahrung und Freude, aber sie sucht diese nicht mehr in weltlichen Dingen und begehrt es nicht mehr, sie darin zu finden. Es gibt für die entwöhnte Seele nichts mehr in der Welt, was sie als zu ihrem Glücke notwendig ansähe. Wohl hat sie dies und jenes ganz gerne und würdigt die natürlichen Dinge in ihrem gebührenden Werte; aber sie weiß, dass sie sie entbehren kann, und ist bereit, sie zu missen, wann immer es Gott gefällt. Wie kommen wir nun zu solcher Seelenverfassung? Eins ist gewiss: sie ist nicht unser Werk. Kein Kind entwöhnt sich selbst. Gott muss es auch bei uns tun. Er tut es ähnlich wie die Mutter. Charles Bradley 1836.
  Hier haben wir Davids Selbstporträt vor uns. - Die ganze Bildrede bringt volle Ruhe zum Ausdruck, aber eine Ruhe nach hartem Kampfe. Wohl zu beachten ist, dass nicht steht: entwöhnt von seiner Mutter, sondern: wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter. - Eine Unterwerfung und Ergebung, die ganz ohne Kampf zustande käme, die nicht eine Frucht der Erziehung und der Selbstbeherrschung wäre, wäre eine matte und wertlose Sache. Ein Zustand stumpfer Gleichgültigkeit ist das gerade Gegenteil von gehorsamer Ergebung. Aber das ist gerade die Spitze der Vergleichung: es hat eine schmerzliche Entziehung stattgefunden, es hat einen Kampf gegeben, und es ist zur Selbstüberwindung gekommen; und nun ist des Kindes Wille zu Ergebung und Zufriedenheit beschwichtigt, und es ist bereit, zu entbehren, was es am meisten liebte, und zu nehmen, was immer ihm die Mutter reicht - das Kind ist entwöhnt. - Ich halte nicht dafür, dass es je Gottes Absicht sei, dass irgendjemand seinen Willen so in dem göttlichen Willen verliere, dass er überhaupt gar keinen Willen mehr hat. Es hat manche gegeben, die es versucht haben, zu solcher Vernichtung des Willens zu gelangen, und das zu dem einen großen Zweck und Ziel ihres Lebens gemacht haben. Aber unsere ganze Veranlagung, die Gott uns gegeben, lässt das nicht zu, so wenig wie Gottes Plan mit dem Menschen in der gegenwärtigen Haushaltung. Ich glaube also nicht, dass solche freiwillige Vernichtung des Willens möglich sei; und wäre sie möglich, so glaube ich nicht, dass sie nach Gottes Sinne wäre. Sie entspricht nicht dem gegenwärtigen Verhältnisse des Menschen zu seinem Schöpfer. Keiner der heiligen Männer, von denen wir in der Bibel lesen, tat mehr, als dass er einen in Kraft vorhandenen Willen unter Gottes Willen beugte. Der Herr Jesus selber tat eben dies. "Was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde kommen. Vater, verkläre deinen Namen!" (Joh. 12,27 f.) "Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!" (Mt. 26,39.) "Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!" (Lk. 22,42.) Da sind also doch offenbar zwei Dinge: "mein Wille" - "dein Wille". Der seine war ein augenblicklich und vollkommen unterworfener Wille - aber immerhin ein Wille. Und das eben ist’s, was von uns verlangt wird und was wir in Kraft der Gnade erstreben sollen. Ein Wille, jawohl, ganz entschieden ein Wille; je entschlossener der Wille ist, desto stärker ist der Charakter und desto größer der Mensch. Aber ein Wille, der beständig aufgegeben wird, den man abstößt, der beständig und in steigendem Maße dem göttlichen Willen unterworfen und angepasst wird. Die Einheit der beiden Willen ist der Zustand des Himmels. James Vaughan 1878.
  Es gab wohl eine Zeit, da Israel wie ein schreiender Säugling ungebärdig Unmögliches begehrte. Aber diese Zeit ist (jetzt nach dem Exil) vorüber. Nun gleicht es dem entwöhnten Kinde, welches gelernt hat, sich still zu bescheiden, und legt die Zukunft in seines Gottes Hand. Welcher Art diese Erwartungen Israels waren, wird nicht gesagt; man kann vermuten, dass es Träume von nationaler Größe sind, die bekanntlich zur Zeit des Heilands nicht zum ersten Mal den Blick Israels verwirrt und verdunkelt haben. Hier im Psalm wird eine Stimme laut, die, wenn sie durchgedrungen wäre, Israels Geschichte weniger leid- und schreckensvoll gestaltet hätte, als sie gewesen und geworden ist. - Für Jerusalemspilger dürfte der Psalm besonders beherzigenswert gewesen sein. Lic. H. Keßler 1899.


V. 3. Israel hoffe auf den HERRN. Wiewohl David selber ruhig und geduldig auf die ihm bestimmte Krone warten konnte, so fürchtete er vielleicht, dass Israel, dessen Liebling er war (1. Samuel 18,7.16), bereit sein würde, vorzeitig etwas zu seinen Gunsten zu unternehmen; darum ist er bemüht, auch seine Anhänger zu beschwichtigen, und ermannt sie, auf den HERRN zu hoffen, dessen rechte Hand alles erfreulich ändern kann und wird zur guten Stunde. Es ist ein köstlich Ding, also geduldig zu sein und auf die Hilfe des HERRN zu hoffen (Klgl. 3,26). Matthew Henry † 1714.
  Gedenke daran, Israel, dass er Jehovah ist, weise von Rat und mächtig von Tat, und dass er kein Gutes versagt denen, die redlich wandeln (Ps. 84,12). Hoffe auf ihn von nun an - habt ihr es bisher noch nicht getan, so fangt jetzt damit an und werdet darin nimmer müde, tut es immerdar. Wie immer eure Lage sein mag, nie kann sie außer dem Bereich von Gottes Macht und Gnade sein. Adam Clarke † 1832.
  An Israel wendet sich der Psalmist, es ermahnend, auf den HERRN zu hoffen, weil es sich um den Glauben nicht an seine besondere, sondern an Israels Zukunft handelt. Prof. Fr. W. Schultz 1888.


Homiletische Winke

V. 1. Das Bekenntnis dieses Verses ist 1) ein Bekenntnis, das jedem Kinde Gottes wohl anstehen sollte; 2) ein Bekenntnis, das jedoch viele Gotteskinder nicht wahrheitsgemäß dem Psalmisten nachsprechen können. Man weise mit Ernst darauf hin, wie sich selbst in den christlichen Gemeinden Hochmut und Ehrgeiz geltend machen; 3) ein Bekenntnis, das sich nur dann mit Recht aufrechterhalten lässt, wenn wir den Geist Jesu in uns herrschen lassen. Vergl. Mt. 11,29 f.; Mt. 18,1-5. Charles A. Davis 1885.
V. 2. Die Seele gleich einem Kinde, das entwöhnt wird, 1) bei der Bekehrung, 2) in der Heiligung, die ein beständiges Entwöhnen von Welt und Sünde ist, 3) in Vereinsamung, 4) in Trübsalen aller Art, 5) beim Sterben. George Rogers 1885.
  I. Die Seele muss gerade so wie ein Kind entwöhnt werden: 1) Zuerst wird sie von andern ernährt, 2) hernach wird sie zur Selbständigkeit erzogen. II. Die Seele wird eines Dinges entwöhnt, indem sie sich anderem zuwendet: 1) Von den weltlichen Dingen wird sie entwöhnt durch die himmlischen Dinge, 2) von der Eigengerechtigkeit durch das Erfassen der Gerechtigkeit Christi, 3) von der Sünde wird sie entwöhnt zur Heiligkeit, 4) von der Welt zu Christo, 5) vom eigenen Ich zu Gott. George Rogers 1885.
  1) Ein begehrenswerter Zustand: einem entwöhnten Kinde gleich zu sein. 2) Eine schwere Aufgabe: das eigene Ich zu unterwerfen und zu stillen. 3) Ein freudiges Ergebnis: Ja wahrlich, meine Seele ist entwöhnt. W. H. Page 1885.
  1) Unzufriedenheit der Seele: sie ist ein Zeichen von kindischer Unreife, steht uns übel an und ist sündige Auflehnung gegen Gott. 2) Die Herrschaft über die Seele: ein Thron, dem man vielfach entsagt. Doch gibt Gott jedem das Zepter der Selbstbeherrschung in die Hand. Die Selbstbeherrschung ist notwendig für ein erfolgreiches Leben. 3) Seelenruhe: wie köstlich ist sie, und welch eine Macht! Komm, o Heiliger Geist, hauche sie uns ein! William Bickle Haynes 1885.
  Der Welt entwöhnt - zu Gott gewöhnt!
V. 2.3. Das entwöhnte Gotteskind und sein Hoffen auf den HERRN. 1) Das erste Entwöhnen der Seele; es ist das große Ereignis in der Geschichte eines Menschen. 2) Die Freude am HERRN, die in jeder entwöhnten Seele entsteht: Meine Seele ist in mir wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter. Israel hoffe auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit. 3) Das tägliche Entwöhnen der Seele, das sich durchs Leben hindurchzieht. 4) Die männlichen Neigungen und das fruchtbare Werk der entwöhnten Seele. A. M. Stuart 1880.
V. 3. I. Die Ermunterung, auf Gott zu hoffen 1) als den Bundesgott, den Gott Israels, 2) als den, der Bund und Treue hält: von nun an bis in Ewigkeit. II. Die Wirkung dieses Hoffen: 1) die Demut und das Hangen an Gott, die wir in V. 1 sehen; 2) die Zufriedenheit und das Entwöhntsein von V. 2. Möchte Israel so demütig und gehorsam sein wie ein kleines Kind? Dann hoffe es auf den HERRN. George Rogers 1885.
  Die Stimme der Hoffnung, die sich in der Stille des Geistes vernehmen lässt. 1) Zur Stille gekommene Seelen wissen Gott zu schätzen. Die Stille begünstigt das innerliche Schauen Gottes. Dadurch werden Gottes Erhabenheit, Vollkommenheit und Preiswürdigkeit der Seele aufgedeckt. 2) Zur Stille gekommene Seelen ruhen in Gott. Sie erkennen, wie würdig er des Vertrauens ist. 3) Zur Stille gekommene Seelen blicken ohne Furcht der Ewigkeit entgegen (von nun an bis in Ewigkeit). William Bickle Haynes 1885.
  Hoffe weiter, hoffe immerdar! Denn 1) die Vergangenheit unterstützt solche Zuversicht, 2) die Gegenwart verlangt sie, 3) die Zukunft wird sie rechtfertigen. W. H. Page 1885.

Fußnoten

1. Die Massora, der Luther in der Hauptsache folgt, scheidet den Vers in zwei gleiche Hälften. Besser scheint es uns, mit Bäthgen nach dem Vorgang des Targums den Vers so zu teilen:

  Ja, ich habe gesetzt
  und gestillt meine Seele
  wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter;
  wie das entwöhnte Kind ist in mir meine Seele.

Gerade diese Abtrennung des letzten Versgliedes, in welchem der sanfte
Wellenschlag des Verses nun gleichsam ausschlägt, scheint uns die dichterische Schönheit des ganzen Verses erst zur Geltung zu bringen. Bäthgen macht dafür, dass diese Einteilung der Absicht des Dichters entspreche, das Metrum geltend. - James Millard