Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 141 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Davids. Es ist in der Tat ganz David, den wir hier beten hören: David, der sich argwöhnisch beobachtet weiß und fast nicht den Mund aufzutun wagt, weil er fürchtet, er könnte unweise reden, wenn er sich gegen die Verdächtigungen zu rechtfertigen suchte; David, der viel Geschmähte und von Feinden Bedrängte; David, an dem sogar rechtschaffen fromme Leute allerlei zu tadeln finden, und der solche Zurechtweisung doch gerne annimmt; David, der sich als das geistige Haupt der Gottesfürchtigen im Lande weiß und die bedrängte Lage dieser beklagt; David endlich, der in allen diesen Beziehungen zuversichtlich zu Gott aufblickt und Hilfe von ihm erwartet. Der Psalm gehört zu einer Gruppe von vieren (140-143), die miteinander viel Verwandtes haben. Er ist so tiefen Sinnes, dass er stellenweise außerordentlich dunkel ist, und doch glänzt schon auf seiner Oberfläche Gold. In seinem Anfang ist der Psalm von dem Abendrot beleuchtet, in dessen Schimmer der Weihrauch zum Himmel aufsteigt. Dann kommt eine Partie mit nächtlich dunkler Sprache, deren Bedeutung wir kaum verstehen. Aber dieses Dunkel weicht dem Morgen, in dessen Licht unsere Augen sich auf den HERRN richten.

Einteilung. Zunächst ruft der Psalmist um Erhörung seines Flehens, V. 1.2; dann bittet er um Bewahrung im Reden, in den Neigungen seines Herzes und im Tun und um Befreiung von aller Gemeinschaft mit den Gottlosen. Er will lieber von den Gerechten gestraft als von den ungöttlich Gesinnten umschmeichelt werden, V. 3-5. Er tröstet sich mit der Zuversicht, dass er einst besser verstanden werden und sein Zeugnis den Gottseligen ein Trost sein wird, V. 6. Zuletzt schildert er die Lage der viel verfolgten Treuen, richtet sein Auge auf Gott und fleht um Bewahrung vor seinen grausamen und listigen Feinden und um Bestrafung ihrer Bosheit.


Auslegung

1. HERR, ich rufe zu dir; eile zu mir;
vernimm meine Stimme, wenn ich dich anrufe.
2. Mein Gebet müsse vor dir taugen wie ein Räuchopfer,
mein Händeaufheben wie ein Abendopfer.


1. HERR, ich rufe zu dir. Das ist mein letztes Hilfsmittel, aber eines, das nie versagt. Ich kann nur rufen; doch dass du es bist, Jehovah, der Gott aller Gnade, der allmächtige, treue Helfer, den ich herbeirufen darf, das ist mein großes Vorrecht. Wie ich es so oft getan, so rufe ich auch jetzt zu dir, und bin entschlossen, es allewege zu tun. An wen anders sollte ich mich wenden? Was sonst könnte ich tun? Andere setzen ihr Vertrauen auf sich selber, ich aber rufe zu dir. Das Gebet ist eine Schutz- und Trutzwaffe, die der Gläubige allezeit bei sich tragen und in jeder Not gebrauchen kann. Eile zu mir. Seine Lage erheischt schleunige Hilfe, und er macht diese Dringlichkeit seiner Not vor dem HERRN geltend. Gottes Zeit ist die beste Zeit; aber wenn wir in schwerer Bedrängnis sind, so dürfen wir mit heiligem Ungestüm die Gnade zur Beschleunigung ihrer Schritte auffordern. In vielen Fällen würde die Hilfe, wenn sie auf sich warten ließe, zu spät kommen, und zu bitten, dass solches Unglück verhütet werde, ist uns erlaubt. Vernimm meine Stimme, wenn ich dich anrufe. Siehe, wie er zum zweiten Mal in diesem Vers vom Rufen redet. Das Flehen zu Gott war etwas, was er häufig, ja immerdar tat. Und wie verlangt ihn danach, erhört, alsbald erhört zu werden! Es bekümmert das Gemüt der Kinder Gottes aufs äußerste, wenn sie befürchten, ihr klägliches Rufen könnte bei Gott unbeachtet bleiben; sie können nicht ruhen, bis sie die Gewissheit haben, dass Gott auf ihre Stimme gnädig horcht. Wenn das Gebet eines Menschen einzige Zuflucht ist, so bringt ihn schon der bloße Gedanke, er möchte damit nicht durchdringen können, in schwere Seelennot. Unerhört zu bleiben, das wäre ein Kummer, den er nicht zu ertragen vermöchte, wohingegen die Gewissheit, dass Gott der Erhörer der Gebete ist, ihn unter den schwersten Bürden aufrecht hält.

2. Mein Gebet müsse vor dir taugen wie ein Rauchopfer. Von den Speisopfern, d. h. den aus dem Pflanzenreich entnommenen Opfergaben, wurde durch den Priester eine Hand voll samt dem ganzen Weihrauch auf dem Altar verbrannt, um den Darbringer vor Gott in Erinnerung zu bringen (3. Mose 2). Der aufsteigende Rauch war ein Sinnbild des zu Gott emporsteigenden Gebetes. Wahrscheinlich war der Psalmist ferne vom Heiligtum und konnte daher dem HERRN keine Speisopfer darbringen; aber er fleht, sein Gebet möge vor Jehovah als Speisopfer gelten, gleich der duftenden Rauchwolke geradewegs zum Himmel emporsteigen und dem Höchsten ein süßer Geruch sein. Es ist nicht etwas Selbstverständliches, dass unsere Gebete bei dem HERRN Annahme finden. Und mein Händeaufheben wie ein Abend- (Speis-) Opfer. Zu dem täglichen Brandopfer, das des Morgens und des Abends dargebracht ward, kam ein Speisopfer als Zugabe (2. Mose 29,38-42); doch mag es auch sein, dass hier der Teil für das Ganze steht, also mit Luther zu übersetzen ist: wie ein Abendopfer. - Welche Form immer sein Gebet annehmen mochte, das eine Begehren des Psalmisten war, dass es bei Gott Annahme finde. Gebet wird manchmal auch ohne Worte, nur durch Gebärden, durch Bewegungen unseres Körpers dargebracht; gebeugte Knie und aufgehobene Hände sind äußere Zeichen ernstlichen, von Gott etwas erwartenden Flehens. Oder denken wir an das Aufheben der Hände zur Arbeit, so ist das Wirken sicherlich auch Gebet, wenn es in der Glaubensabhängigkeit von Gott und mit der Absicht, ihn zu verherrlichen, geschieht. Es gibt ein Beten mit den Händen so gut wie ein Beten mit dem Herzen, und unser inniges Begehren ist, dass solches Beten dem HERRN angenehm sei wie ein Abendopfer. Heilige Hoffnung, das Aufheben der lasch herunterhängenden Hände, ist ebenfalls eine Art Gottesdienst; möge auch dieses stets bei Gott angenehm sein. Der Psalmist tut eine kühne Bitte; er möchte, dass sein schwaches, geringes Rufen und Flehen bei dem HERRN so viel gelte, wie das verordnete Morgen- und Abendopfer im Heiligtum. Und doch überschreitet diese Bitte durchaus nicht die Grenzen des Erlaubten; denn schließlich steht das Geistliche bei dem HERRN doch höher als die Zeremonien, und die Farren der Lippen sind ein wahrhaftigeres Opfer als Farren aus dem Stall.
  Bis hierher haben wir in dem Psalm ein Gebet übers Gebet; in den beiden nächsten Versen kommen nun bestimmte Bitten.


3. HERR, behüte meinen Mund
und bewahre meine Lippen.
4. Neige mein Herz nicht auf etwas Böses,
ein gottlos Wesen zu führen
mit den Übeltätern,
dass ich nicht esse von dem, das ihnen geliebt.
5. Der Gerechte schlage mich freundlich und strafe mich;
das wird mir so wohl tun wie Balsam auf meinem Haupt;
denn ich bete stets, dass sie mir nicht Schaden tun.


3. HERR, behüte meinen Mund, oder: setze meinem Munde eine Wache. Es wäre schade, wenn der Mund, der zum Gebet gebraucht worden ist, jemals durch Unwahrheit, durch Stolz oder Zorn befleckt würde; doch wird das geschehen, wenn er nicht sorgfältig bewacht wird, denn diese frechen Eindringlinge lauern stets an der Tür. Der Psalmist fühlt aber, dass er, wenn er selber auch noch so wachsam ist, doch überrumpelt und in Sünde gestürzt werden könnte; darum bittet er den HERRN, er möge selber ihn in seine Hut nehmen. Wenn Jehovah die Wacht ausstellt, dann ist die Stadt behütet; und wenn der HERR der Wächter unseres Mundes wird, dann ist der ganze Mensch wohl beschützt. Und bewahre meine Lippen, oder: Stelle eine Obhut an die Tür meiner Lippen. Gott hat unsere Lippen zur Tür unseres Mundes gemacht, aber wir vermögen diese Tür selber nicht zu bewahren; darum bitten wir den HERRN, er möge die Aufsicht darüber übernehmen. O dass der HERR unsere Lippen sowohl öffne als schließe; denn wir können weder das eine noch das andere in der rechten Weise tun, wenn wir uns selber überlassen bleiben. In Zeiten der Verfolgung durch gottlose Menschen sind wir besonders der Gefahr ausgesetzt, übereilt zu reden oder Ausflüchte zu gebrauchen, und es sollte uns darum ein sehr ernstes Anliegen sein, Bewahrung vor jeglicher Gestalt der Sünde in dieser Richtung zu erlangen. Wie herablassend ist der HERR! Für uns ist es eine große Ehre, wenn wir als Türhüter in seinem Dienst stehen dürfen, und doch willigt er ein, uns als Türhüter zu dienen!

4. Neige mein Herz nicht auf etwas Böses. Der Sinn entspricht dem der Bitte: Führe uns nicht in Versuchung. O dass wir nicht in Umstände geführt werden mögen, die unsere Neigungen in eine falsche Richtung bringen und böse Begierden in uns erwecken würden. Wir sehen, der Psalmist ist um sein Herz besorgt. Wer das Herz besitzt, der ist Herr über den ganzen Menschen; wenn aber Zunge und Herz unter Gottes Hut stehen, so ist alles gut. Lasst uns ihn bitten, dass er uns nie unseren Neigungen überlasse, sonst werden wir bald in böse Dinge geraten. Ein gottlos Wesen zu führen mit den Übeltätern. Wohin das Herz zieht, dahin laufen auch bald die Füße; böse Neigungen führen zu bösen Taten und böser Lebensrichtung. Wenn die Quelle nicht reingehalten wird, wird bald auch der Fluss verunreinigt sein. Im Umgang liegt eine große Macht; selbst gute Menschen sind der Gefahr ausgesetzt, sich durch den Geist der Gesellschaft, in der sie sich befinden, fortreißen zu lassen. Darum die Sorge, es könnte bei uns zu bösen Taten kommen, wenn wir mit Übeltätern Umgang haben. Wir müssen danach trachten, nicht mit ihnen zusammen zu sein, damit wir nicht mit ihnen sündigen. Es ist schlimm, wenn unser eigenes Herz sich auf etwas Böses neigt, und noch schlimmer, wenn unser ganzes Leben in verkehrter Richtung verläuft; aber zu ganz außerordentlicher Gottlosigkeit kommt es bei dem, der von Gottes Wegen abweicht, wenn er den abschüssigen Pfad zusammen mit einer ganzen Rotte von Übeltätern hinabrennt. Unsere Gewohnheiten und durch Übung erlangten Geschicklichkeiten werden unser Verderben sein, wenn sie böser Art sind; es ist eine Verschlimmerung und nicht eine Entschuldigung der Sünde, wenn sie uns zu Sitte und Gewohnheit geworden ist. Gottesfürchtigen Menschen ist der Gedanke schrecklich, sie könnten dazu kommen, gleich anderen ein gottlos Wesen zu führen; die Furcht davor treibt sie auf die Knie. Wir müssen die Sünde scheuen und meiden wie eine ansteckende Krankheit. Dass ich nicht (mit) esse von dem, das ihnen geliebt. Wirken wir mit den Gottlosen zusammen, so werden wir auch bald mit ihnen essen. Sie werden uns ihre leckersten Bissen reichen und ihre feinsten Gerichte auftischen, in der Hoffnung, uns mittelst unseres Gaumens an ihren Dienst zu fesseln. Man tut die beste Lockspeise in die Falle, damit wir uns darin fangen und ihre Bosheit uns dann verzehren kann. Wollen wir nicht mit Menschen sündigen, so ist es geraten, dass wir gar nicht mit ihnen zusammensitzen, und wollen wir an ihrer Verdammnis nicht teilhaben, so dürfen wir auch ihre Lüsternheit nicht teilen.

5. Der Gerechte schlage mich freundlich und strafe mich. Er zieht den Bitterwein, den ihm die Gottseligen reichen, den Leckerbissen der Gottlosen vor. Er will lieber von den Gerechten geschlagen als von den ungöttlich Gesinnten festlich bewirtet und gefeiert werden. Er gewährt den treuen Mahnern freien Zutritt zu sich, ja er lädt ihre Zurechtweisungen und Warnungen förmlich ein. Wenn die Gottlosen uns freundlich tun, so ist all ihre Schmeichelei Grausamkeit; wenn die Gerechten uns strafen, so ist ihre Härte Liebe1. Manchmal schlagen aufrichtige Menschen allerdings gar derb zu; sie geben nicht nur zarte Winke, sondern hämmern auf die Sünde los. Aber auch dann sollen wir die strafende Liebe als Liebe aufnehmen und der Hand, die uns so empfindlich züchtigt, dankbar sein. Und strafe mich, das wird mir so wohltun wie Balsam auf meinem Haupt.2 Wie das köstliche Öl den Morgenländer beim festlichen Mahl erquickt und alles mit Wohlgeruch erfüllt, so wirkt liebreicher Tadel, wenn er in der rechten Weise aufgenommen wird, belebend und erneuernd auf die Seele. Mein Freund muss mich wahrhaft lieben, wenn er mir meine Fehler sagt; er muss ein geistlicher Mensch sein, wenn er mir mit sanftmütigem Geist zurechtzuhelfen sucht. Das Öl der Schmeichelei ist kein erfrischender, heilender Balsam. Mag an den Tafeln der Schwelger das Öl in Strömen fließen, es tut dennoch niemand wohl. Geschlagene Gewissen, zerschlagene Köpfe und gebrochene Herzen sind, ach wie oft, die Folgen der Feste der Kinder dieser Welt; die ernsten Mahnungen der Gottseligen aber dienen den aufrichtigen Herzen zum heilenden Balsam. Nicht soll sich mein Haupt des weigern. (Grundtext) Toren nehmen es übel, wenn man sie tadelt, denn sie hassen die Zucht; wer klug ist, nimmt die Rüge an und bestrebt sich, daraus dauernden Gewinn zu ziehen. Als David einen Erzieher für seinen Thronerben brauchte, da wusste er keinen besseren als den Mann, der ihn so scharf gestraft hatte, den Propheten Nathan (2. Samuel 12,25). Denn ich bete stets, dass sie mir nicht Schaden tun, oder (Delitzsch): Denn noch steht es so, dass mein Gebet wider ihre Bosheiten ist, d. i.: ich setze den Bosheiten meiner gottlosen Feinde keine andere Waffe als die des Gebets entgegen. Es ist die gleiche Gesinnung, die wir bei David, Ps. 69,14, finden (wo die vorhergehenden Vers zu vergleichen sind), und namentlich Ps. 109,4: Dafür, dass ich sie liebe, befeinden sie mich; ich aber bete, oder wörtlich: ich aber bin ganz Gebet.
  Ist schon der letzte Teil dieses Verses sprachlich dunkel, so bieten die nächsten beiden Vers unserem Verständnis kaum zu überwindende Schwierigkeiten.


6. Ihre Führer müssen gestürzt werden über einen Fels;
so wird man dann meine Rede hören, dass sie lieblich sei.
7. Unsre Gebeine sind zerstreut bis zur Hölle,
wie wenn einer das Land pflügt und zerwühlt.


6. Bezieht sich der Vers auf die Redlichgesinnten in Israel? Es scheint uns so. David meint wohl, wenn die jetzigen Führer fielen, dann würden sich die Aufrichtigen ihm zuwenden und mit Freuden seiner Stimme lauschen. Ihre Führer (wörtl.: Richter) müssen gestürzt werden über einen Fels; so wird man dann meine Rede hören, dass sie lieblich sei. Und so geschah es auch: der Tod Sauls brachte die Besten im Volke dazu, nun auf den Sohn Isais als den Gesalbten des HERRN zu achten; jetzt wurden seine Worte ihnen lieblich. Viele dieser braven Leute, die es an David scharf verurteilt hatten, dass er sein Vaterland verlassen und zu den Philistern übergegangen war, waren dennoch um ihrer Treue willen seinem Herzen teuer, und er hatte für sie nur Wohlwollen, herzliche Gebete und freundliche Worte, in der Überzeugung, dass sie in nicht ferner Zeit seine Fehler übersehen und ihn zu ihrem Führer erwählen würden. Sie straften ihn, wenn er fehlte, aber sie erkannten dabei doch seine vortrefflichen Eigenschaften an. Und er an seinem Teil trug ihnen keinen Groll nach, sondern schätzte sie um ihrer Biederkeit willen. Er betete für sie, als ihr Land blutend zu den Füßen der ausländischen Feinde lag; er wollte ihnen gerne zu Hilfe kommen, wenn ihre bisherigen Führer erschlagen wären; und seine Worte voller Hoffnungsmut würden ihren Ohren lieblich sein. Das scheint mir ein guter, mit dem Texte wohl zu vereinbarender Sinn. Doch finden auch andere schwierigere Erklärungen ihre Anhänger.3

7. Jetzt freilich sah sich Davids Lage ganz hoffnungslos an. Gottes Sache in Israel schien ein totes Ding zu sein, ja einem vermoderten Gerippe zu gleichen, das beim Graben aus der Erde gekommen ist und dessen einzelne Teile nun verstreut sind, Staub zum Staube. Unsre Gebeine sind zerstreut bis zur Hölle, oder: am Rande der Unterwelt. Es schien in der Partei der Gottesfürchtigen in Israel kein Leben, kein Zusammenhalt, keinerlei Gestalt und Ordnung mehr zu sein, es fehlte an Haupt und Gliedern. Saul hatte diesen besten Teil des Volkes verwüstet und zerstreut, so dass das Häuflein der Frommen als gegliedertes und geordnetes lebendiges Ganzes nicht mehr bestand. David selber glich einem solchen dürren Totengebeine, und die übrigen Frommen waren so ziemlich in der gleichen Verfassung. Es zeigte sich in dem heiligen Samen weder Lebenskraft noch Einheit, ihre Sache lag am Rande des Abgrundes. Wie wenn einer das Land pflügt und zerwühlt. Das schien ein treffendes Bild von dem Acker des Reiches Gottes in Israel zu sein. Wie oft haben treffliche Menschen ähnlich über den Stand der Sache Gottes gedacht und geklagt! Wohin immer sie ihre Blicke richteten, überall starrte ihnen Tod, Zertrennung und Verwüstung ins Angesicht. Alles zerrissen und zerstört, hoffnungslos verwüstet! Wir haben in der Tat Gemeinden in solchem Zustand gesehen, und das Herz hat uns darob geblutet. Aber wenn es hienieden auch noch so schauerlich aussieht, so dürfen wir unseren Blick emporrichten. Droben lebt einer, der seine Sache nicht untergehen lassen, sondern sie neu beleben und sein zertrenntes Volk wiedervereinigen wird. Er wird die Totengebeine vom Rande der Hölle wiederbringen und ihnen neues Leben geben. Lasst uns gleich dem Psalmisten in den nun folgenden Versen glaubensvoll zu dem Gott des Lebens aufblicken.


8. Denn auf dich, HERR, Herr, sehen meine Augen;
ich traue auf dich, verstoße meine Seele nicht.
9. Bewahre mich vor dem Stricke, den sie mir gelegt haben,
und vor der Falle der Übeltäter.
10. Die Gottlosen müssen in ihr eigen Netz fallen miteinander,
ich aber immer vorübergehen.


8. Denn4 auf dich, HERR, Herr, sehen meine Augen, oder sind meine Augen gerichtet. Er schaute aufwärts, und zwar nicht hier und da einmal, sondern er hielt seinen Blick fest dahin gerichtet. Er achtete mehr auf die Pflicht des Gehorsams gegen Gott als auf die Umstände, er blickte mehr auf die Verheißung als auf die äußeren Führungen, und er richtete seine Erwartungen auf den HERRN, nicht auf die Menschen. Er schloss nicht seine Augen in Gleichgültigkeit oder in Verzweigung, und ebenso wenig heftete er sie auf die Kreatur in eitlem Vertrauen, sondern er gab seine Augen ganz Gott hin. Und indem er das tat, ward er aller Furcht entledigt; denn dort, wohin er schaute, sah er nichts, was zu fürchten gewesen wäre. Jehovah, der sein Gebieter ist, ist auch seine Hoffnung. Die Heiligen verweilen gerne bei den verschiedenen Gottesnamen, sowohl wenn sie in Anbetung versunken sind als auch wenn sie ihre Bitten vor Gottes Thron bringen. Ich traue auf dich, oder: Bei dir berge ich mich, suche ich Schutz. Mögen andere anderswo Zuflucht suchen, David hält sich an seinen Gott; auf ihn traut er allezeit, ausschließlich, mit voller Zuversicht und rückhaltlos. Verstoße meine Seele nicht, sondern gedenke an mich und erfülle deine Verheißung! Von Freunden verlassen sein ist ein schweres Leid, aber von Gott verstoßen werden, das hieße ewig verderben. Unser Trost ist, dass Gott gesagt hat: Ich will dich nicht verlassen noch versäumen. - So haben die Alten die Worte gedeutet, aber schwerlich richtig. In seinem ersten deutschen Psalter (1524) hat Luther wörtlich übersetzt: Schütte meine Seele nicht aus, und der Sinn ist ohne Zweifel: Gib mein Leben nicht preis. Das Leben ist ja nach biblischer Anschauung im Blut, daher der Ausdruck.

9. Bewahre mich vor dem Strick (der Schlinge) derer, welche mir nachstellen. (Grundtext5 Im dritten Vers hatte er um Bewahrung seines Mundes gebeten, jetzt aber verstärkt sich sein Gebet zu der Bitte: Bewahre mich! Der Psalmist scheint sich um versteckte Versuchungen mehr Unruhe gemacht zu haben als um offene Angriffe. Tapfere Männer fürchten den Kampf nicht, wohl aber haben sie Scheu vor heimtückischen Anschlägen. Wir wollen nicht wie ahnungslose Tiere umgarnt sein, darum rufen wir zu dem allweisen Gott um Bewahrung. Und vor der Falle (Grundtext Mehrzahl) der Übeltäter. Diese Frevler suchten David in seinen Worten oder Taten zu fangen. Das war selber eine Übeltat und also ganz in Übereinstimmung mit ihrem allgemeinen Verhalten. Sie waren selber schlecht und wünschten darum, dass er auch schlecht werde wie sie oder doch in schlechten Ruf komme. Konnten sie ihre Absicht nicht auf die eine Weise erreichen, so versuchten sie es auf andere Art; sie legten Schlingen und Fallen und Netze, denn sie waren fest entschlossen, ihn irgendwie zu verderben. Niemand vermochte David zu behüten als der eine Allwissende und Allmächtige; aber er bewahrte ihn und wird auch uns bewahren. Es ist wahrlich keine leichte Sache, sich von Schlingen fern zu halten, die man nicht zu sehen vermag, und Fallen zu meiden, von denen man nichts entdecken kann. Da hatte der so vielen Nachstellungen ausgesetzte Psalmist wohl Grund zu beten: Bewahre du mich!

10. Die Gottlosen müssen in ihr eigen Netz fallen miteinander6, ich aber immer7 vorübergehen. Dies mag kein christliches Gebet sein, aber ein sehr gerechtes ist es, und es braucht viel Gnade, um uns davon zurückzuhalten, ein kräftiges Amen dazu zu rufen. In Wirklichkeit führt uns auch die Gnade schließlich zu keinem anderen Wunsch betreffs der hartnäckigen Widersacher der göttlich gesinnten Menschen. Wünschen wir nicht alle, dass die Unschuldigen errettet werden und die mit so viel Schuld Befleckten die Frucht ihrer eigenen Bosheit ernten mögen? Natürlich wünschen wir das, wenn wir rechtlich denkende Leute sind. Und es kann nicht unrecht sein, wenn wir begehren, dass das, was wir zum Besten aller redlichen Menschen wünschen, auch in unserem eigenen Fall geschehe. Doch gibt es noch einen köstlicheren Weg.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Das Verständnis des Psalms ist durch das der Situation bedingt. Da er "von David " überschrieben ist, so ist es voraussetzlich eine davidische, aus welcher heraus der Psalm entweder von David selbst oder von einem anderen gedichtet ist, der Davids Stimmung in dieser Situation in davidischen Psalmenklängen aussprechen wollte. Denn die Nachlese davidischer Psalmen in den letzten zwei Psalmbüchern ist großenteils aus Geschichtswerken, in welchen diese Psalmen teilweise wie auch großenteils die prophetischen Reden des Königsbuchs und der Chronik nur freie Reproduktionen waren, eingewobene Ergüsse davidischer Empfindungen im Hinblick auf altdavidische Muster. Unser Psalm schmückte die Geschichte der absalomischen Verfolgungszeit. Damals war David aus Jerusalem vertrieben und also vom Opfergottesdienst auf Zion abgeschnitten; unser Psalm ist ein Abendlied an einem jener Trübsalstage. Die alte Kirche hat ihn (nach den Constit. apost.) zu ihrem Abendliede, wie Ps. 63 zu ihrem Morgenliede erkoren. Chrysostomus († 407) bezeichnet ihn als den fast männiglich bekannten und lebenslang gesungenen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 1. HERR, ich rufe zu dir. Der Unglaube sucht auf vielen Wegen aus der Trübsal herauszukommen; der Glaube hat nur einen, nämlich den zu Gott im Gebet. David Dickson † 1662.
  Zu dir - zu mir. Unser Beten und Gottes Gnade sind wie zwei Schöpfeimer in einem Brunnen: während der eine hinuntergeht, kommt der andere herauf. Ezekiel Hopkins † 1690.


V. 2. Mein Gebet bestehe als Rauchopfer vor dir, d. i. du wollest es als solches gelten lassen. Räucherwerk bezeichnet die täglich morgens und abends auf dem goldenen Räucheraltar angezündeten Wohlgerüche, die, weil sie zu Jahve aufsteigen, ein besonders treffendes Bild für das Gebet abgeben. Andere denken an den Wohlgeruch der Mincha (des Speisopfers), der von dem mit ihr zugleich verbrannten Weihrauch herrührte. Prof. Fr. Bäthgen 1904.
  Es besteht eine vierfache Ähnlichkeit zwischen dem Räucherwerk und dem Gebet. 1) Das Räucherwerk wurde vor dem Gebrauch zerstoßen; so kommt erhörliches Gebet aus einem geängsteten und zerschlagenen Herzen, Ps. 51,19. 2) Es war ohne Nutzen, bis Feuer darunter gebracht war, und zwar Feuer vom Altar. 3) Es stieg gen Himmel empor. 4) Es gab einen süßen Geruch. John Owen † 1683.
  Wiewohl dies mein Gebet in meiner Lage, da ich fern vom Tempel bin, all der Feierlichkeit der Tempelgottesdienste entbehren muss, so lass doch die Aufrichtigkeit und Inbrunst meines Herzens und die Unschuld meiner in dieser Stunde schwerer Not zu dir aufgehobenen Hände bei dir an Stelle von allen Zeremonien gelten und mir Errettung und heile Rückkehr meiner selbst und meiner Genossen erwirken. Charles Peters 1751.
  Mein Händeaufheben. Ausstrecken der Hände im Glauben und inbrünstiges Gebet sind das einzige Mittel, die Gnade zu ergreifen. F. E. 1667.


V. 3. Setze meinem Mund eine Wache, HERR usw.
1) Niemand wird so beten, wenn er nicht davon überzeugt ist, wie viel davon abhängt, ob wir unsere Zunge zum Guten oder zum Bösen brauchen. Welch ein Feuer heiliger Liebe und Freundschaft oder aber des Zornes und der Bosheit können wenige Worte entflammen! Die Zunge ist das vorzüglichste Werkzeug im Reiche Gottes, aber ebenso auch des Satans; stelle sie ihm zu Diensten, und er verlangt nichts mehr - es gibt kein Unheil und kein Elend, das er nicht mit ihrer Hilfe zustande brächte. Wir müssen unsere Worte niemals nur als Wirkungen, sondern immer auch als wirkende Ursachen betrachten, deren Wirkung unabsehbar ist. Auch ein gedankenlos in der Unterhaltung hingeworfenes Wort, z. B. ein Gedanke des Unglaubens, wie kann es gleich einem Samenkorn in dem Herzen eines Kindes, eines Dienstboten Wurzel fassen und unberechenbare Folgen haben.
2) Niemand wird so beten, wenn er sich nicht der Gefahr, in diesem Stück zu fehlen, bewusst ist. Wenn aber ein David von seiner Schwachheit überzeugt war, wie sollten wir uns anmaßen, sicher zu sein? Die Gefahr entspringt aus dem verdorbenen Zustand unseres Herzens - unser Herz ist ein überaus betulich Ding, und wes das Herz voll ist, des geht der Mund über - ferner aus der Ansteckungskraft des bösen Geschwätzes um uns her, und endlich aus dem vielen, zumal dem vielen unbedachten und unnützen Reden.
3) Es gehört dazu ferner die Überzeugung, dass wir unfähig sind, uns selber zu bewahren. Die Heilige Schrift lehrt uns diese ernste Wahrheit durch die Geschichte sogar der trefflichsten, in der Gottseligkeit hervorragenden Männer. Ein Mose, dem die Schrift das Zeugnis gibt, dass er überaus sanftmütig war, über alle Menschen auf Erden (4. Mose 12,3), redete unbedacht mit seinen Lippen (Ps. 106,33). Die Geduld Hiobs habt ihr gehört, und doch verfluchte er den Tag seiner Geburt (Hiob 3), und Jeremia, der bewundernswerte Gottesmann, ließ sich zu dem Gleichen hinreißen (Jer. 20,14-18). Oder man vergleiche des Petrus Worte Mk. 14, 29.71
4) Niemand wird so beten ohne die Überzeugung, dass es das einzig Richtige und Kluge ist, Gott um seinen Beistand in dieser Sache anzugehen. Das Gebet ist begründet in unserer Schwachheit und unserer Abhängigkeit von Gott und ehrt Gott. a) Gott ist mächtig, uns zu bewahren. b) Sein Beistand ist aber ohne Gebet nicht zu erlangen. c) Das Gebet erwirkt unfehlbar stets die rechte Hilfe. W. Jay † 1853.
  Setze eine Wache usw. Lass ein Siegel für Worte, die ich nicht reden soll, auf meiner Zunge sein. Eine Wache über unsere Worte ist besser als eine Wache über Schätze. M. A. Lucanus † 65.


V. 3.4. Der Dichter unseres Psalms war in seiner gegenwärtigen Lage namentlich nach zwei Richtungen in Gefahr, sich zu verfehlen: erstens durch Erbitterung des Gemütes gegen seine Widersacher und Verfolger und zweitens durch unlauteres, aus der Verzagtheit entspringendes Einwilligen in ihre bösen Wege. Das sind die beiden entgegengesetzten und doch sich berührenden Gefahren, in welche wir Menschen in solchen Umständen hineinzurennen geneigt sind. Er aber betet mit ganzem Ernst wider beide, wider die erstere in V. 3 (vergleiche V. 5), wider die andere in V. 4. John Owen † 1683.


V. 4. Lass nicht zu, dass sich mein Herz zu etwas Bösem neige. (And. Übers.) Die heiligsten Menschen, die uns die Bibel vorführt, hatten die lebhafteste Empfindung von dem Unvermögen ihres freien Willens und von ihrer Unfähigkeit, den Versuchungen zu widerstehen oder die Grundsätze der Gottseligkeit im Leben durchzuführen. Sie waren höchst misstrauisch gegen sich selber, wussten sich ganz abhängig von Gott und waren sehr darauf bedacht, die Gnadenmittel zu brauchen, wie es ihre Gebete bezeugen. David Dickson † 1662.
  Unter der leckeren Speise der Gottlosen, wovon hier die Rede ist, mag entweder das Wohlleben verstanden werden, das sich so manche durch ihre widergöttliche Handlungsweise erwerben, oder aber es sind die Sünden selber die Leckerbissen, welche von den Gottlosen verschlungen werden. Das Übeltun war diesen ein Festessen; aber, das ist die Gesinnung des Psalmisten, wenn das die Speise der Gottlosen ist, dann will ich lieber verhungern als mit ihnen zu Tische sitzen. Joseph Caryl † 1673.


V. 3.5. Nirgends ist die Zunge schwerer zu bezähmen als beim Leiden unter anderer Händen; darum ist die Bewahrung Gottes darunter so nötig. Nirgends ist es nötiger, sich an die Gemeinschaft der Gerechten anzuschließen, als wo man von den Gottlosen viel Nachstellung zu besorgen hat. Die Gerechten aber sollen nicht untereinander heucheln und zu Gefallen reden oder einander zum unlittigen Wesen auftreiben, sondern einander in der Geduld und im Gebet stärken. Dabei ist oft dem alten Adam etwas ein Schlag, was dem neuen Menschen ein Balsam ist. Der selige Franke schreibt irgendwo: "Die brüderliche Bestrafung tut wohl dem alten Adam weh; aber ich mache es mit meinen Bekannten vorher aus, dass wenn sie auch einige Veränderung und Unwillen bei solcher Bestrafung an mir wahrnehmen sollten, so sollen sie sich daran nicht kehren. Wenn sich der neue Mensch besinnen und durchkämpfen werde, der werde ihnen tausendmal Dank wissen." Karl H. Rieger † 1791.


V. 5. Schon Moses Amyraut († 1664), dann Hengstenberg (1845) haben unter dem Gerechten Gott verstehen zu sollen geglaubt, und Bäthgen (1904) hat diese Auffassung erneuert, um den Psalm als Sprache der Gemeinde deuten zu können. Aber die Bezeichnung als "der Gerechte" tritt in der Schrift nie als selbständiger Gottesname, sondern nur als Attribut auf, und die ganze Deutung erscheint in dem Zusammenhang gesucht. - James Millard
  Wenn der Gerechte uns straft, so müssen wir es als Liebe aufnehmen und als erquickenden Balsam. Nicht freilich, als ob wir uns jeder Laune unserer Nebenmenschen oder jedem auch noch so ungerechtfertigten Tadel ohne weiteres unterziehen müssten; aber wir sollen williger sein, uns selber strafen zu lassen als andere zu richten, und noch schneller bereit, einen Fehler, den man uns nachweist, einzugestehen, als wir solch Geständnis von denen, die wir zurechtweisen, erwarten. Die Aufrichtigkeit und ernste Buße werden eine Ehre sein für den Mann, dem es das größte Anliegen ist, die Sünde zu meiden, der wirklich bereit ist, es zu bekennen, wenn er von einem Fehler übereilt worden ist, und sich denen, die ihn zur Buße mahnen, herzlich dankbar erzeigt; denn damit beweist er, dass es ihm ein höheres Anliegen ist, dass Gottes Name geheiligt und sein Gesetz geehrt werde, als dass er den ihm nicht zukommenden Ruhm der Unsträflichkeit habe und der verdienten Beschämung entgehe. Es ist eine der gefährlichsten Krankheiten und eines der größten Ärgernisse unserer Zeit, dass manche Leute, die für außerordentlich fromm gelten oder gelten wollen, es schlechter vertragen können, dass man sie gerade heraus, wiewohl gerecht und billig, tadelt als mancher Trunkenbold oder Flucher oder Hurer. Solche Frömmler sind imstande, Stunden oder Tage mit scheinbar durchaus ernstgemeintem Bekenntnis ihrer Sünden zuzubringen und es vor Gott und Menschen zu beklagen, dass sie nicht mit noch größerer Traurigkeit und noch mehr Tränen über ihre Sünden Leid tragen können, und nehmen es dann doch als das himmelschreiendste Unrecht auf, wenn ein anderer ihnen nur halb so viel sagt, und klagen den als boshaftigen Feind der Frommen an, der sie so nennt, wie sie sich selber nennen. Richard Baxter † 1691.
  Wenn ein Gerechter seinen Mitmenschen straft, wird er es tun 1) ohne Bitterkeit, 2) ohne es auszuposaunen, 3) um dem Nächsten zurechtzuhelfen, nicht um ihn zu schmähen und zu erniedrigen, 4) aber auch ohne Heuchelei und Schmeichelei, und 5) nicht ohne Gott. - Es ist Liebe oder Güte (and. Übers.), 1) einen Irregehenden zurechtzubringen, 2) einen Kranken zu heilen, 3) einen Schlaftrunkenen aufzurütteln, 4) einen Wahnsinnigen zu fesseln, 5) einen, der in Lebensgefahr ist, zu retten. John Gore 1635.
  Schlage mich freundlich usw. Einige Leute tun sich viel auf ihre Grobheit oder, wie sie es nennen, Ehrlichkeit zugute; aber barsche Leute richten bei ihren Nebenmenschen wenig Gutes aus und erwerben sich wenig Liebe. Der Tadel sollte niederfallen wie der Tau und nicht wie ein Hagelwetter. Unser Vers vergleicht den rechten Tadel mit dem Balsam. Christen sollten sich davor hüten, am Tadeln Vergnügen zu finden. Religiöse Polizisten richten viel Unheil an, ohne dass sie es beabsichtigen. Sie sind in einer Gemeinde, was ein allzu witziger und sarkastischer Mensch in einer Gesellschaft oder ein Zuträger in einer Schule, und gleichen sehr jenen Leuten, die der Apostel Petrus a)llotrioepiscopouj nennt, solche, die sich über andere eine unbefugte Aufsicht anmaßen (1. Petr. 4,15). Sich mit den Fehlern anderer Leute befassen ist eine ebenso heikle Sache wie der Versuch, einen an der Gicht schwer Leidenden umzubetten; das Anfassen muss langsam, fest, aber zart geschehen, und man darf sich dabei durch einen oder zwei Schmerzensrufe des Kranken nicht aus der Fassung bringen lassen. Der vornehmste Punkt ist der, dass du der Person, die du zurechtweisen musst, zeigst, dass du sie wirklich lieb hast; ist es echte Liebe, so wird Gott deine Bemühungen segnen und dir das Herz des irrenden Bruders zuwenden. Christian Treasury 1865.
  Es war der Ausspruch eines Heiden, und doch kein heidnischer Ausspruch, dass man, um gut zu sein, entweder einen treuen Freund als Mahner haben müsse oder einen wachsamen Feind als Tadler. Wer wollte den Arzt töten, der ihn durch eine Operation vom Tode retten will, oder ihn darum hassen, weil er ihm zur Genesung helfen will? Ein Boanerges (ein Donnerssohn) ist geradeso nötig wie ein Barnabas (ein Sohn des Trostes). William Secker 1660.
  Wohlmeinende Rüge soll dem Psalmisten lieb und geistlich nützlich sein - das ist der Sinn des Bildes, wie Paul Gerhardt es umschreibt:
  
  Wer mich freundlich weiß zu schlagen,
  Ist als der in Freudentage
  Reichlich auf mein Haupt mir geußt
  Balsam, der am Jordan fleußt.
  Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 5-8. Der Psalmist, der Gott V. 3 um Bewahrung seines Mundes gebeten hat, ist den jetzigen Inhabern der Herrschaft gegenüber (in der Zeit der Verfolgung durch Absalom) stumm und sucht sich rein zu erhalten von ihrem sündlichen Treiben, während er von dem Gerechten gern sich strafen lässt und, je stummer gegen die Welt (vergl. Amos 5,13), umso anhaltender mit Gott verkehrt, wider jener Bosheit betend. Aber es wird eine Zeit kommen, wo die, welche sich jetzt als Herren gebärden, der Rache des von ihnen verführten Volkes anheimfallen und dagegen das bisher verstummte Bekenntnis von dem Heil und der Heilsordnung Gottes wieder frei sich vernehmen lassen kann und williges Gehör findet. Die neuen Regenten fallen, wie V. 6 sagt, der Volkswut anheim und werden die Felswände hinabgestürzt (2. Könige 9,33; 2. Chr. 25,12), während das Volk, das wieder zur Besinnung gekommen, Davids Worten zuhört und sie angenehm und wohltuend findet. In V. 7 folgt weitere Angabe des Ausgangs Davids und der Seinen. Es ist, das Äußerste vorausgesetzt, ein Hoffnungsblick in die Zukunft. Sollten gleich seine und der Seinen Gebeine an die Mündung des Scheol (der Totenwelt) hingestreut sein, ihre Seele unten, ihre Gebeine oben - so wäre das doch nur, wie wenn einer beim Pflügen spaltet die Erde, d. h. sie liegen nicht, um liegen zu bleiben, sondern um aufs Neue zu erstehen wie eine aus dem durcheinander geworfenen Erdreich sprossende Aussaat. Wir vernehmen hier die Auferstehungshoffnung, wenn nicht direkt, doch als Bild des Siegens trotz des Erliegens. Die Berechtigung zu dieser Deutung liegt in dem Bilde vom Ackersmann und in dem auf den rechten Vergleichspunkt fahrenden Begründungssatze V. 8. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 7. Unsre Gebeine sind zerstreut. "Um ein Viertel nach sechs Uhr abends", erzählt der Reisende James Bruce, "kamen wir an ein ehemaliges Dorf Garigana, dessen Bewohner im Jahr zuvor samt und sonders Hungers gestorben waren. Ihre Gebeine waren unbegraben und lagen zerstreut auf dem Grund und Boden, wo ehemals das Dorf gestanden hatte. Wir schlugen unser Zelt mitten unter den Totengebeinen auf, denn nirgendwo war ein Platz zu finden, wo keine gelegen hätten. Am folgenden Tage früh setzten wir unsere Reise nach Teawa fort, noch voll von Grausen über den jammervollen Anblick." Den Israeliten muss so etwas zu sehen oder zu denken besonders schrecklich gewesen sein, da unbegraben zu bleiben als eines der größten Unglücke angesehen wurde. S. Burder 1839.


V. 8. Auf dich, HERR Herr, sind meine Augen gerichtet. (Grundtext) Möchtest du beim Beten deinen Sinn gesammelt halten, so achte auf deine Augen. Viel Eitelkeit geht da in die Seele hinein. Wenn die Augen beim Beten umherwandern, wird auch das Herz es tun. Zu denken, man könnte die Gedanken beim Gebet gesammelt halten, während man die Augen nicht schließt, das ist gerade so, wie wenn jemand sein Hans des Nachts sicher glaubte, während er die Fenster offenstehen lässt. Thomas Watson † 1670.


V. 9.10. Stricke, Fallen, Netze. Die übliche Art und Weise, den Löwen und andere wilde Tiere in Palästina zu fangen oder zu töten, war die durch Fallgruben oder durch Netze, auf welche beiden Fangweisen die Bibel oft Bezug nimmt. Das Verfahren glich ohne Zweifel ganz dem noch heute in Indien üblichen. Nachdem der Lagerplatz des Löwen genau erkundet ist, wird derselbe fast ringsum mit Netzen eingeschlossen. Dann werden Hunde in das Dickicht geschickt, man schleudert Steine und dicke Knüttel gegen die Höhle des Löwen, schießt Pfeile ab, schleudert brennende Fackeln hinein und erschreckt und reizt dadurch das Tier, dass es herausstürzt und gegen das Netz rennt, das so angebracht ist, dass es bei dem Anprall des Löwen über ihn fällt und ihn ganz darein verwickelt. Sind der Netze wenige, so stellen sich die Treiber da auf, wo der Kreis der Netze nicht geschlossen ist, und veranlassen den Löwen so, in der Richtung zu flüchten, wo er keine Feinde wahrnimmt, wo er aber unfehlbar gegen das tückische Netz anläuft. Ein anderes gewöhnlicheres, weil einfacheres und billigeres Verfahren ist das, dass man eine tiefe Grube gräbt, sie oben leicht mit Stangen, Erde und Zweigen zudeckt und dann das Opfer auf diese trügerische Decke hintreibt. Diese Art des Fanges ist, wie gesagt, leichter und billiger, aber sie eignet sich nicht so gut, wenn man die Tiere lebendig fangen will, da diese leicht Schaden nehmen, sei es bei dem Sturz in die Grube, sei es durch die Mittel, die man anwenden muss, um sie wieder herauszukriegen. In solchen Fallgruben gefangene Tiere tötet man daher meist, ehe man sie herausholt. Das Netz dagegen hüllt das Tier so völlig ein und macht es so hilflos, dass man es leicht fesseln und fortschaffen kann. Doch ist solch ein Jagdnetz sehr kostspielig in Anfertigung und Gebrauch, so dass eigentlich nur reiche Leute sich die Jagd mit solchen erlauben können. - Zum Vogelfang wurden, wie bei uns, auch Netze, aber auch Schlingen von allerlei Art gebraucht. Manchmal werden eine ganze Menge von Haarschlingen an einem Platze aufgestellt, zu dem die Vögel auf allerlei Weise gelockt werden und wo sie sich dann beim Umherhüpfen in den Schlingen fangen. Oder man hängt die Schlingen an irgendeinem schmalen Durchgang auf, der viel von den Vögeln benutzt wird. J. G. Wood 1861.


Homiletische Winke

V. 1. 1) Anhaltendes Beten. 2) Persönlich Beten: zu dir - zu mir. 3) Praktisches Beten: Eile zu mir - vernimm.
  Heilige Eile. 1) Der Gläubige eilt zu Gott. 2) Er drängt Gott zur Eile. 3) Gott eilt gewiss zu seiner Hilfe herbei. William Bickle Haynes 1885.
V. 2. Echtes Gebet ist vor Gott angenehm wie ein Rauchopfer, wie das Abendopfer. Es ist geistlich, weihevoll, von Gott verordnet und bringt Christum ins Gedächtnis vor Gott.
V. 3. 1) Unsere Lippen eine Tür. 2) Ein Türhüter nötig. 3) Der HERR selber als solcher uns dienend.
V. 4. Völlige Enthaltsamkeit - von bösen Neigungen, Handlungen und Freuden.
  Ein Gebet 1) um Unterdrückung aller bösen Neigungen im Herzen, 2) um Bewahrung vor aller Gemeinschaft mit den Übeltätern in ihrem gottlosen Wesen, 3) um heilige Verachtung aller irdischen Lust und allen zeitlichen Gewinnes, zu denen uns die Sünde und die Sünder einladen. Merke: So manche, die sich an einer bösen Tat nicht beteiligen würden, haben doch nichts dagegen, an ihrem Gewinn teilzunehmen. John Field 1885.
  Verschmähte Leckerbissen.
V. 5. Ein Mann, der sich der tadelnden Zurechtweisung nicht verweigert, sondern die Gerechten dazu auffordert, weil er solche Zurechtweisung als Liebe erkennt und ihre wohltuende Wirkung (Balsam) schätzt.
V. 6. Gerichtszeiten Heilszeiten, wo man geneigt wird, das Evangelium zu hören, und es, das man vorher verachtet hat, lieblich findet.
V. 7. Der Totenacker ein Gottesacker.
V. 8. Hoffnungsvolle Erwartung und demütiges Flehen.
V. 9. Fallen. Wer legt sie? Wozu? Warum so viele und vielerlei? Wie sollen wir ihnen entgehen? "Bewahre mich!"

Fußnoten

1. Manche Alte und Neuere übersetzen: Schlägt mich ein Gerechter - es ist Liebe; und straft er mich - es ist (Hauptöl = Salbol, d. i.:) feinstes Öl, nicht soll sich mein Haupt des weigern.

2. Zum Verständnis, wie Luther zu dieser Übersetzung gekommen, mag seine erste Übersetzung von 1524 dienen: Das wird sein das beste Öl, welches meines Haupts nicht fehlet.

3. Die meisten neueren Erklärer verzichten allerdings darauf, dem vorliegenden Texte dieses und des folgenden Verses einen zusammenhängenden Sinn abzugewinnen. - James Millard

4. Dies Denn ist uns nicht verständlich, weil wir auch das Vorhergehende nicht mehr verstehen. In aber oder doch darf es nicht umgewandelt werden. James Millard

5. xpIa kann nicht Objekt zu W$q:yf sein, da dieses Verb für sich allein schon Fallen stellen, nachstellen bedeutet. Yli W$q:yf muss also ein Relativsatz ohne Relativpronomen sein, der an Stelle eines Genetivs steht, vergl. das zweite Versglied. - James Millard

6. Luther, wie auch z. B. Kautzsch und Bäthgen, ziehen das dxy gegen die Akzente zum ersten Halbvers. Läßt man es beim zweiten Halbvers, so bedeutet es: zugleich.

7. d(a ist hier nicht = immer, sondern die auffallenderweise (vergl. ykIi Ps. 128,2) nachgestellte Präposition bis, hier wie 1. Samuel 14,19 im Sinne von während, also: während zugleich ich vorübergehe. - James Millard