Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 27 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

(Ein Psalm) Davids. Auf die Zeit der Abfassung lässt sich aus der Überschrift kein Schluss ziehen. Der Inhalt aber zeigt, dass der Verfasser von Feinden verfolgt wurde, V. 2. 3, vom Hause des Herrn ausgeschlossen war, V. 4, im Begriff stand, von Vater und Mutter zu scheiden, V. 10, und unter Verleumdungen litt, V. 12. Trifft dies nicht alles zusammen in der Zeit, da Doeg, der Edomiter, bei Saul wider David sprach? Der Psalm ist ein Lied freudiger Hoffnung, so recht geeignet für solche Seelen, die in Trübsal sind, aber eben im Leiden gelernt haben, sich auf den Arm des Allmächtigen zu stützen. Der Psalm kann in dreifacher Weise aufgefasst werden: als die Sprache Davids, der Gemeinde Gottes und des Herrn Jesus. Der Reichtum der Schrift wird dann umso herrlicher ins Licht treten.

Einteilung. Der Dichter drückt zuerst seine gewisse Zuversicht zu seinem Gott, V. 1-3, und seine Liebe zu der Gemeinschaft mit ihm aus, V. 4-6. Dann wendet er sich zum Gebet, V. 7-12, und schließt mit einem Bekenntnis der Kraft, mit der sein Glaube ihn aufrecht erhalten, und mit einer Mahnung an andere, seinem Beispiel zu folgen.


Auslegung

1. Der Herr ist mein Licht und mein Heil;
vor wem sollte ich mich fürchten!
Der Herr ist meines Lebens Kraft;
vor wem sollte mir grauen!
2. So die Bösen an mich wollen,
mein Fleisch zu fressen,
meine Widersacher und Feinde,1
müssen sie anlaufen und fallen.
3. Wenn sich schon ein Heer wider mich legt,
so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht.
Wenn sich Krieg wider mich erhebt,
so verlasse ich mich auf ihn.


1. Der Herr ist mein Licht und mein Heil. David lebte in persönlicher Gemeinschaft mit Gott; das kommt auch hier wieder zum Ausdruck: mein Licht, mein Heil. Und weil seine Seele dessen versichert war, spricht er es auch frei aus. Mein Licht: Bei der neuen Geburt hat sich in die Seele göttliches Licht ergossen als der Vorbote des Heils. Wo es an Licht mangelt, die eigene Finsternis zu sehen und nach dem Herrn zu verlangen, da fehlt noch der Erweis des neuen Lebens. Das Heil findet uns im Finstern, aber es lässt uns nicht darin. Es gibt Licht denen, die im Todesschatten sitzen. Nach der Bekehrung ist unser Gott unsre Freude, unser Trost, unser Führer und Lehrer, kurz, in jeder Hinsicht unser Licht. Sein Licht ist drinnen in unserm Herzen, sein Licht rings um uns her; sein Licht ist’s, das von uns ausstrahlt, und er offenbart sich uns in seiner Lichtherrlichkeit. Merke, es heißt nicht nur: Der Herr gibt Licht, sondern: Er ist mein Licht; nicht nur: Er verleiht Heil, sondern: Er ist mein Heil. Wer im Glauben Gott als seinen Gott erfasst, hat alle Bundessegnungen im Besitz. Nicht jedes Licht ist die Sonne, die Sonne aber ist der Urquell alles Lichts. Aus der festgestellten Tatsache, dass Jahwe sein Licht ist, zieht der Psalmist nun eine Folgerung und zwar in Form einer Frage: Vor wem sollte ich mich fürchten? Diese Frage beantwortet sich selbst. Wir brauchen die Mächte der Finsternis nicht zu fürchten; denn der Herr, unser Licht, macht sie zunichte. Und vor der Verdammnis der Hölle brauchen wir nicht zu erzittern; denn der Herr ist unser Heil. Dies ist eine Herausforderung völlig anderer Art als die des prahlerischen Goliat, denn sie ruht auf einem völlig anderen Grund: nicht auf der trügerischen Stärke des fleischlichen Arms, sondern auf der wirklichen Kraft des allmächtigen Jahwe. Der Herr ist meines Lebens Kraft, oder wörtlich: die Feste oder Schutzwehr meines Lebens. Noch ein drittes Kraftwort. Des Dichters Hoffnung ist mit einer dreifachen Schnur befestigt, die nicht reißen kann. Wir dürfen wohl die Ausdrücke der Lobpreisung häufen, wo der Herr eine so überreiche Fülle von Gnaden spendet. Unser Leben empfängt alle seine Kraft von dem, der es geschaffen hat, und wenn es ihm gefällt, uns stark zu machen, so können uns alle Ränke des Feindes die Kraft nicht rauben. Vor wem sollte mir grauen? Die kühne Frage schaut sowohl in die Zukunft als auch in die Gegenwart. Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein, sei es jetzt oder künftig?

2. Dieser Vers erinnert an eine vorausgegangene Errettung2 und zeigt uns, wie wir uns unsere Erfahrungen dazu dienen lassen sollen, in Zeiten der Anfechtung den Glauben zu stärken. Jedes Wort ist lehrreich. Es ist ein gutes Zeichen, wenn die Bösen uns hassen. Wären unsere Feinde gottesfürchtige Menschen, so würde uns das ein schwerer Kummer sein; der Gottlosen Hass aber ist uns besser als ihre Liebe. Meine Feinde und Widersacher. Es gab ihrer viele und sie waren verschiedener Art; aber einmütig waren sie darin, Unheil zu stiften, und ihr Hass war tief gewurzelt. Da sie an mich wollten, sich zum Ansturm rüsteten, um auf das Opfer loszustürzen, wie der Löwe auf seine Beute. Mein Fleisch zu fressen. Wie Kannibalen wollten sie ihm den Garaus machen, ihn Glied um Glied zerreißen und ihrer Bosheit Genüge tun. Den Feinden unsrer Seele fehlt es nicht an Blutgier. Sie kennen keine Nachsicht und sollten auch ihrerseits keinen Pardon erhalten. Siehe, in welcher Gefahr David war, der Übermacht zahlreicher, mächtiger und grausamer Feinde preisgegeben! Und doch sehen wir ihn in voller Sicherheit und sie daniederliegen. Sie sind angelaufen und gefallen. Gottes Odem blies sie um. Es lagen Steine im Wege, mit denen sie nie gerechnet hatten, und über diese sind sie schmählich gestolpert. Sie strauchelten und fielen: Das geschah buchstäblich in Gethsemane, als die, welche den Herrn zu greifen kamen, zurückwichen und zu Boden stürzten. Und in dieser Unüberwindlichkeit war Jesus das Vorbild aller ringenden Gläubigen. Wer aus dem Heiligtum des Gebets in den Kampf geht, vor dem müssen die Feinde weichen und zu Boden fallen.

3. Wenn sich schon ein Heer wider mich legt, so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht. Vor dem wirklichen Kampf, solange die Schlacht noch bevorsteht, ist das Herz des Kriegers im Bangen der Erwartung sehr geneigt, sich beunruhigen zu lassen. Der Feind, der sich um uns her lagert, flößt uns oft größere Furcht ein, als derselbe Feind im wirklichen Kampf. Der Dichter (Edw. Young † 1765) redet von solchen, "die tausend Tode schmecken in der Furcht des einen". Unzweifelhaft ist der Schatten eines gefürchteten Unglücks für zaghafte Gemüter eine ergiebigere Quelle der Leiden als das Unglück selbst. Der Glaube aber stärkt den Mut und schleudert kühn die Hefen aus dem Becher der Angst zum Fenster hinaus. Wenn sich Krieg wider mich erhebt, so bin ich dennoch getrost. 3 Wenn es zum wirklichen Speerstoß kommt, so wird der Schild des Glaubens den Stoß auffangen; und sollte der erste Strauß nur der Anfang eines Krieges sein, so wird doch des Glaubens Banner wehen, dem Feinde zum Trotz. Und mag eine Schlacht der andern folgen und ein Feldzug dem andern, so entmutigt den Glaubenshelden die lange Dauer des Streites dennoch nicht. Lieber Leser, dieser dritte Vers ist der tröstliche und folgerichtige Schluss aus dem zweiten: die Glaubenszuversicht ist ein Kind der Erfahrung. Bist du aus großen Gefahren errettet worden? Dann pflanze deine Fahne auf, wache an deinem Lagerfeuer und lass den Feind ruhig sein Ärgstes versuchen.


4. Eins bitte ich vom Herrn,
das hätte ich gerne:
dass ich im Hause des Herrn bleiben möge
mein Leben lang,
zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn,
und seinen Tempel zu betrachten.
5. Denn er deckt mich in seiner Hütte
zur bösen Zeit,
er verbirgt mich heimlich in seinem Gezelt,
und erhöhet mich auf einem Felsen;
6. und wird nun erhöhen mein Haupt über meine Feinde,
die um mich sind;
so will ich in seiner Hütte Lob opfern,
ich will singen und Lob sagen dem Herrn.


4. Eins bitte ich oder (Luther 1524) habe ich gebeten. Geteilte Bestrebungen führen zu Zerstreuung, Schwäche und Misslingen. Wer ein Buch liest, der lernt etwas; der Mann, der einen Zweck im Auge hat, ist erfolgreich. Mögen sich alle unsere Neigungen in eine zusammenfassen und diese eine sich auf die himmlischen Dinge richten. Vom Herrn, - das ist die rechte Zielscheibe für unsere Wünsche, der tiefe, klare Brunnen, in den wir unseren Schöpfeimer hineintauchen mögen; dies ist die Tür, an der wir pochen, dies die Bank, auf die wir unsre Wechsel ziehen sollen. Bittest du Menschen, so magst du im Kot der Gasse liegen, wie der arme Lazarus; bittest du Gott, so werden dich die Engel tragen in Abrahams Schoß. Unser Flehen zum Herrn sollte geheiligt, demütig, beständig, ergeben und inbrünstig sein und wohl uns, wenn alle unsere Bitten, wie bei dem Psalmsänger, in eine zusammenschmelzen. Man könnte von David in seiner peinvollen Lage erwarten, dass er Ruhe, Sicherheit und tausend andre gute Dinge begehren würde. Doch nein, er hat sein Herz an eine köstliche Perle gehängt und verzichtet auf alles andere. Das hätte ich gerne. Das ist aber nicht als müßiges Wünschen zu verstehen; denn solches Wünschen füllt keinen Sack, wie schon ein altes Sprichwort sagt. Nein, David erbat es vom Herrn, wie er es soeben ausgesprochen, und worum er bat, das erstrebte er auch von ganzem Herzen; er betete darum mit der ganzen Inbrunst des Verlangens und er trachtete danach, es zu erlangen, wie er es mit diesem Worte ausdrückt: Danach verlange ich, oder: danach (allein) will ich trachten. (Wörtlich.) Heilige Wünsche müssen zu entschlossenem Handeln führen. Wünsche sind Saatkörner, die auf den fruchtbaren Acker der Tätigkeit ausgestreut werden müssen; sonst bringen sie keine Ernte. Wir können es zur Genüge erfahren, dass unsere Wünsche wie Wolken ohne Regen sind, wenn ihnen nicht tatkräftiges Streben folgt. Dass ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang. Um der Gemeinschaft mit dem König willen sehnte sich David, allezeit im Königspalast zu bleiben. So wenig wurde er je der Gottesdienste in dem heiligen Zelt müde, dass es sein Wunsch war, sein ganzes Leben lang sich an ihrer Feier erfreuen zu können. Vor allem wünschte er dem Haushalt Gottes anzugehören, als Kind des Hauses, das daheim bei dem Vater lebt. Das ist auch unser innigster Wunsch; nur dass wir ihn auf jene Tage unseres unsterblichen Lebens ausdehnen, die noch nicht erschienen sind. Wir haben Heimweh nach dem Vaterhaus droben, nach der Heimat unsrer Seele. Dürfen wir nur dort auf ewig bleiben, so sorgen wir uns wenig um die Güter oder die Übel dieses armen Lebens. "Jerusalem droben, von Golde erbaut" - sie ist’s, die das Sehnen unseres Herzens gefangen hält. Zu schauen die Lieblichkeit des Herrn. (Wörtl.)4 Wahrlich, eine herrliche Aufgabe für die wahren Anbeter Gottes im Himmel und auf Erden! Wir sollen in die Versammlungen der Gläubigen nicht kommen, um zu sehen und uns sehen zu lassen oder nur den Prediger zu hören; sondern wir sollen in der Gemeinde des Herrn mit dem herzlichen Verlangen erscheinen, von dem Vater, der die Liebe ist, von dem verklärten Erlöser und von den Geheimnissen des Geistes Gottes mehr zu hören, um so den Gott der Herrlichkeit, der unser Gott sein will, immer besser kennen zu lernen und ihn desto mehr in Liebe bewundern, in Ehrfurcht anbeten zu können. Wie köstlich ist das Wort: die Lieblichkeit oder Schönheit des Herrn! Denke darüber nach, lieber Leser; vielmehr: schaue sie an im Glauben! Was für ein Anschauen wird das sein, wenn jeder gläubige Nachfolger Jesu "den König sehen wird in seiner Schöne". (Jes. 33,17) Und nachzusinnen in seinem Tempel. (Grundtext)5 Der Zweck unserer Zusammenkünfte im Hause Gottes sollte sein, nachdenkend zu suchen und zu forschen. Den wahren Anbetern Gottes im Alten Bunde war es eine Lust, sich sinnend in die tiefbedeutsamen Vorbilder der alttestamentlichen Haushaltung zu versenken und den darin verborgenen Gottesgedanken nachzuforschen. Auch wir, die wir die volle Offenbarung haben, sollen forschen nach dem Willen Gottes und wie wir ihn ausrichten mögen, nach unserem
Erbteil in der himmlischen Stadt und wie wir desselben gewisser werden können. Im Himmel werden wir nicht mehr zu forschen brauchen; denn dort werden wir erkennen, gleichwie wir erkannt sind (1. Kor. 13,12). Aber bis dahin sollten wir zu Jesu Füßen sitzen und alle Kräfte, die Gott uns gegeben hat, anspannen, um tiefer in die Wahrheit einzudringen.

5. Denn er birgt mich (bei ihm als) in einer6 (Schutz-) Hütte am Unglückstag. (Wörtl.) Dieser Vers gibt einen triftigen Grund für das Verlangen des Psalmisten nach Gemeinschaft mit Gott an: Er weiß sich dadurch in der Stunde der Gefahr gesichert. Denn in der Zeit der Not, da andere mich verlassen, wird er mir sichere Zuflucht gewähren auch in der dringendsten Gefahr. Das königliche Zelt stand stets inmitten des Heeres und rund um dasselbe hielten die Bewaffneten zu allen Stunden Wacht. So ist der Gläubige in der Königsmacht Gottes, die nimmer wanken kann, friedlich geborgen und zwar nicht so, dass er sich eingeschlichen hätte, sondern er ist durch den König selbst geborgen. Er verbirgt mich heimlich in seinem Gezelt. Auch die Unantastbarkeit des Heiligtums muss der Königsmacht helfen, die Auserwählten vor Schaden zu beschützen. Bei Todesstrafe durfte niemand das Allerheiligste betreten. Hat der Herr nun dort die Seinen geborgen, welcher Feind wird es dann wagen, sie dort zu belästigen? Und erhöhet mich auf einem Felsen. Unwandelbarkeit, Ewigkeit und unermessliche Macht kommen zu der königlichen Gewalt und zu der Unverletzlichkeit des Heiligtums hinzu. Wie selig ist der Stand des Menschen, den Gott selbst über seine Feinde erhöht, indem er ihn auf einen unbezwinglichen Felsen emporhebt, der nie erstürmt werden kann! Wohl mögen wir wünschen, bei dem Herrn zu wohnen, der sein Volk so wirksam beschützt.

6. So wird denn nun mein Haupt sich erheben über meine Feinde, die um mich sind. (Grundtext) Der Psalmsänger ist dessen völlig gewiss. Die Gottesmänner der alten Zeit beteten im Glauben und zweifelten nicht; darum redeten sie von der Erhörung ihrer Gebete als von einer gewissen Sache. David war im Glauben des glorreichen Sieges über alle, die ihn bedrängten, so gewiss, dass er in seinem Herzen erwog, was er tun werde, wenn nun seine Feinde vor ihm am Boden lägen. Was David sich vornimmt, ist ihm von der Dankbarkeit eingegeben. So will ich in seiner Hütte Lob opfern, wörtl.: Opfer jauchzenden Dankes opfern. Die Stätte, nach der er sich im Kampfe sehnte, sollte bei seiner triumphierenden Heimkehr seine dankbare Freude sehen. Er redet nicht von Freudenfesten, die in seinem Palast gefeiert werden sollen, und von üppigen Gastmählern in seinen Prunksälen, sondern heilige Freude erwählt er als die schicklichste für eine so göttliche Befreiungstat. Ich will singen und spielen (Grundtext) dem Herrn. Das ist der natürlichste Ausdruck der Dankbarkeit. Mag schweigen, wer will: Der Gläubige muss und will, wenn sein Gebet erhört ist, auch sein Lob erschallen lassen. Und singe, wer will, von den Eitelkeiten der Welt: Der Gläubige weiht seinen Gesang dem Herrn allein.


7. Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe;
sei mir gnädig und erhöre mich!
8. Mein Herz hält dir vor dein Wort: Ihr sollt mein
Antlitz suchen.
Darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz.
9. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir,
und verstoße nicht im Zorn deinen Knecht;
denn du bist meine Hilfe. Lass mich nicht,
und tu nicht von mir die Hand ab, Gott, mein Heil!
10. Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich;
aber der Herr nimmt mich auf.
11. Herr, weise mir deinen Weg,
und leite mich auf richtiger Bahn um meiner Feinde willen.
12. Gib mich nicht in den Willen meiner Feinde;
denn es stehen falsche Zeugen wider mich und tun mir
Unrecht ohne Scheu.


7. Herr, höre. Der Pendel des geistlichen Lebens schwingt zwischen Flehen und Lobpreisung. Die Stimme, die sich im letzten Vers zum Lobgesang erhob, wendet sich hier wieder zur Klage. Als ein wackerer Kriegsmann wusste David seine Waffen zu führen und die Waffe des stetigen Gebets war ihm die handlichste. Wie liegt es ihm doch an, gehört zu werden! Der Pharisäer kümmert sich nicht im Mindesten darum, ob Gott ihn höre, solange er nur von den Menschen gehört wird oder er seinem Hochmut mit den lauten Andachtsübungen schmeicheln kann. Dem rechten Beter dagegen ist alles an Gottes Ohr gelegen. Mit meiner Stimme, d. i. laut, rufe ich. (Grundtext) Die Not legt sich ihm so aufs Herz, dass er nicht anders kann, als laut zu Gott schreien. So sei mir denn gnädig. (Grundtext). Die Gnade ist die Hoffnung der Sünder und die Zuflucht der Heiligen. Alle wahren und gottgefälligen Beter legen auf sie den höchsten Wert. Und erhöre mich! Wir dürfen Erhörung unsrer Gebete erwarten und sollten uns ohne sie so wenig zufrieden geben, als wenn wir in wichtiger Angelegenheit an einen Freund geschrieben und keine Antwort erhalten hätten.

8. (Weil du sagst:) "Ihr sollt mein Antlitz suchen", spricht mein Herz zu dir: Dein Antlitz, Herr, suche ich, oder: will ich suchen. (Andere Übersetzung. 7 Möchten wir, dass der Herr auf unsre Stimme höre, so müssen wir Sorge tragen, auf seine Stimme zu antworten. In einem aufrichtigen Herzen sollte Gottes Wille widerhallen, wie die Felsen der Alpen die Klänge des Alphorns wiedergeben. Man achte darauf, dass der Befehl in der Mehrzahl, also an alle Heiligen, ergangen war: "Ihr sollt mein Antlitz suchen", der Mann Gottes ihn sich aber persönlich zueignete: "Dein Antlitz, Herr, will ich suchen. Dein Wort hat mein Herz, mein innerstes Wesen, zu einer gehorsamen Antwort bewegt. Man achte darauf, wie rasch die Antwort erfolgte. Gott spricht: "Sucht mein Antlitz "; David antwortet ohne Zögern: "Ich will dein Antlitz suchen." Ach, dass diese Bereitwilligkeit zu glauben häufiger wäre! O wären wir formbarer in Gottes Hand, empfänglicher für die Berührung des göttlichen Geistes!

9. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir. Der Befehl, Gottes Angesicht zu suchen, würde eine Grausamkeit sein, wenn der Herr sich der suchenden Seele entziehen und es ihr dadurch unmöglich machen wollte, ihn zu finden. Ein Gnadenblick des Herrn ist die größte Erquickung, sein Missfallen das größte aller nur denkbaren Übel. Verstoße nicht im Zorn deinen Knecht. Andere Knechte waren verstoßen worden, wenn sie sich als treulos erwiesen, so ja auch z. B. Davids Vorgänger Saul; und dies machte den David, der sich mancher Verfehlungen bewusst war, ängstlich besorgt, dass Gott ihm doch nach seiner Langmut seine Gnade erhalten möge. Wir haben oft im gleichen Gefühl unsrer Unwürdigkeit Anlass zu demselben Gebet. Du bist meine Hilfe (geworden, oder: von jeher gewesen, Grundtext). Wie dürfen wir in dies Bekenntnis von Herzen mit einstimmen! Viele Jahre hindurch hat unser Gott uns in mancherlei Anfechtungen aufrechterhalten. Darum müssen und wollen wir aussprechen, was wir ihm schuldig sind. Undank, sagt man, sei dem gefallenen Menschen natürlich; aber unnatürlich und verabscheuungswürdig ist er für den geistlichen Menschen. Verwirf mich nicht und verlass mich nicht. Eine Bitte, aufs Zukünftige gerichtet, die zugleich eine Begründung derselben aus der Vergangenheit enthält. Wäre es des Herrn Sinn, uns zu verlassen, warum hätte er dann sein Werk in uns angefangen? Die frühere Hilfe wäre lediglich vergeudete Mühe, wenn die Seele nun preisgegeben würde. Die Bitten können sich auf beides, auf Davids augenblickliche Not und auf seine Angst vor der endgültigen Entziehung der Gnade, beziehen. Gegen beides muss das Gebet sich richten. Und was das Zweite betrifft, so haben wir unwandelbare Verheißungen, auf die wir uns berufen dürfen. Gott meines Heils: ein köstlicher Gottesname, wohl wert, dass man ihm nachsinne.

10. Wenn mein Vater und meine Mutter mich verlassen. (Andere Übers.)8 Diese meine Teuersten werden die letzten sein, die mich verlassen. Aber wenn auch selbst in ihrem Herzen der Quell menschlicher Liebe vertrocknen würde, so gibt’s einen Vater, der keins seiner Kinder je vergessen kann. Einige der größten unter den Heiligen sind in der Tat von ihren Familien ausgestoßen und verfolgt worden um der Gerechtigkeit willen. So wird der Herr mich aufnehmen. (Andere Übers.) Er wird meine Sache zu der seinigen machen, mich aus meinen Schmerzen aufrichten, mich in seine Arme nehmen, mich über meine Feinde erheben und zuletzt in seine ewigen Wohnungen aufnehmen.

11. Herr, weise mir deinen Weg. Er bittet nicht, dass ihn sein eigener Weg freigegeben werde, sondern er begehrt Unterweisung über den Weg, den er nach dem Willen des gerechten Gottes wandeln soll. Dies Gebet beweist ein demütiges Bewusstsein der eigenen Unwissenheit, große Gelehrigkeit des Geistes und freudigen Gehorsam des Herzens. Leite mich auf ebenem Pfad. (Wörtl.) Er sucht außer der Belehrung auch tatkräftige Leitung. Was uns Not tut, ist nicht allein eine Karte des Weges, sondern ein Führer, der uns auf der Wanderung beisteht. Es geht dem Psalmisten darum, auf offenem, ehrlichem, gerade zum Ziel führendem Wege zu wandeln, im Gegensatz zu den versteckten, gewundenen, gefährlichen Wegen der Arglist. Redliche Menschen haben selten Erfolg mit ihren Spekulationen und zweideutigen Unternehmungen. Schlichte Einfalt ist die beste Gesinnung für einen Erben des Himmels. Überlassen wir die Ränke und Schliche und weltlich klugen Kunstgriffe den Bürgern dieser Welt, - das neue Jerusalem braucht schlichte Menschen als Bürger. Um meiner Feinde willen. Diese werden uns fangen, wenn sie können; aber auf dem Wege offener, einfacher Redlichkeit kann uns ihre Wut nichts anhaben. Es ist merkwürdig, wie ehrliche Einfalt die Schlauheit der Gottlosen verblüfft und zuschanden macht. Treue ist Weisheit. Ehrlichkeit ist die beste Politik.

12. Gib mich nicht in den Willen meiner Feinde; sonst würde ich wie ein Opfer sein, das den Löwen vorgeworfen ist, damit es in Stücke zerrissen und verschlungen werde. Gott sei Dank, dass unsre Feinde nicht nach dem, was sie gelüstet, an uns handeln können; die Scheiterhaufen würden sonst schnell wieder auflodern. Denn es stehen falsche Zeugen wider mich. Verleumdung ist eine alte Waffe aus dem Depot der Hölle und sie ist noch in reichlichem Gebrauch. Wie fromm ein Mensch auch sein mag, es wird stets Leute geben, die ihn verlästern. Gib dem Hund einen schlechten Namen und häng’ ihn, sagt der Volksmund. Aber Gott sei Dank, des Herrn Volk ist kein Volk von Hunden, und die üblen Namen tun ihm kein Leid. Und solche, die Frevel schnauben. (Grundtext)9 Es ist ihr Lebensodem, die Guten zu hassen. Sie können nicht reden, ohne sie zu verfluchen. Ein solcher war Paulus vor seiner Bekehrung. Solche, die Unheil ausatmen, mögen sich darauf gefasst machen, einst zur Hölle gesandt zu werden, wo sie ihre heimatliche Luft atmen können. Mögen die Verfolger sich hüten!


13. Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde das Gute
des Herrn im Lande der Lebendigen.

Wenn ich nicht glaubte, noch des Herrn Güte zu schauen im Lande der Lebendigen! (Grundtext10) Der Sänger bricht in seiner Erregung mitten in der Rede ab. Der fehlende Nachsatz ist aber aus dem Zusammenhang leicht zu erraten. Wir ergänzen: so müsste ich vergehen, oder: so wäre ich schier zusammengebrochen. Herzschwäche ist eine sehr verbreitete Krankheit. Selbst der, der den Goliath erschlug, war ihren Anfällen unterworfen. Der Glaube aber setzt der Seele seine Herzstärkung an die Lippen und kommt der Ohnmacht zuvor. Die Hoffnung ist der Himmelsbalsam für die Leiden der Zeit. In diesem Lande der Sterblichkeit ist’s unsre Glückseligkeit, sehnend auszuschauen nach unserm Erbteil in dem Lande des Lebens, aus dem Gottes Güte die Gottlosigkeit der Menschen verbannt hat und wo die Gemeinschaft heiliger Geister die Frommen beglückt, die hier auf Erden gering geschätzt und verachtet waren. Wir müssen glauben, um zu sehen, nicht sehen, um zu glauben, müssen die bestimmte Zeit erwarten und den Hunger unsrer Seele mit dem Vorschmack der ewigen Güte des Herrn stillen, die bald unsre Lust und unser Lobgesang sein wird.


14. Harre des Herrn!
Sei getrost und unverzagt,
und harre des Herrn.

Harre des Herrn! Harre an seiner Tür im Gebet. Harre zu seinen Füßen in Demut. Harre aus in Geduld in seinem Dienst. Harre an seinem Fenster in froher Erwartung. Bittsteller erlangen oft nichts, als dass ihnen, nachdem sie lange in Unterwürfigkeit gewartet haben, ihre irdischen Gönner den Rücken kehren. Besser ist daran, wer seinen Gönner im Himmel hat. Sei getrost. Mut, das ist des Kriegers Losung. Möge sie die meinige sein. Mut werden wir brauchen und Gelegenheit, ihn zu beweisen, haben wir in Fülle, wenn wir Kriegsleute des Königs Jesus sind. Und unverzagt, wörtl.: und Stärke beweise dein Herz. Wird nur erst das Herz stark, so füllt sich bald das ganze Getriebe des Lebens mit Kraft. Ein starkes Herz macht den Arm stark. Solche Kraft aber kommt von Gott. Lies die Geschichte der Märtyrer und siehe darin die herrlichen Zeugnisse heldenmütiger Tapferkeit. Lieber noch gehe zu Gott, dass dir selbst solcher Heldensinn zuteil werde! Ja, harre des Herrn!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Die Vermutung, dass hier eigentlich zwei verschiedene, nur äußerlich zusammengeschweißte Psalmen vorliegen, hat seit Ohlhausens Vorgang viele Vertreter gefunden. Aber die vorhandene Differenz im Ton und Inhalt ist keine gegensätzliche. Im Gegenteil, auch schon in der ersten Hälfte sind (V. 1-3) die Drangsale angedeutet, welche in der zweiten die Basis der Klagen und Bitten bilden; und wiederum fehlt auch in der zweiten Hälfte (vergl. V. 8.10.13) der Ausdruck der Zuversicht und Liebe zu Gott nicht, welcher die erste beherrscht. Psychologisch ist daher die Einheitlichkeit des Ganzen gesichert; die metrische Verschiedenheit (Teil 1 weist das Qina-Metrum auf (wie Ps. 19,8 ff.), Teil 2 entbehrt jeder Regelmäßigkeit) dürfte durch den Wechsel in der vorherrschenden Stimmung bedingt sein. Lic. Hans Keßler 1899.


V. 1. Der Apostel Johannes sagt: Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht erfasst (Joh. 1,5). Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Licht an sich und dem Auge, das das Licht sieht. Ein Blinder mag ziemlich viel wissen vom Schein der Sonne, aber für ihn scheint sie nicht; sie gibt ihm kein Licht. So ist’s durchaus nicht dasselbe, zu wissen, dass Gott Licht ist (1. Joh. 1,5), und sagen zu können: "Der Herr ist mein Licht." Der Herr muss das Licht sein, wodurch uns der Weg des Lebens erhellt wird, so dass wir auf diesem wandeln können, und er das Licht, das uns die Finsternis der Sünde offenbart, so dass wir die verborgenen Sünden des eignen Herzens erkennen. Ist er so unser Licht, so ist er auch unser Heil. Er hat verheißen, uns recht zu führen; nicht nur, uns die Sünde zu zeigen, sondern uns von ihr zu erretten; nicht nur, uns Gottes Hass gegen die Sünde und seinen Fluch über dieselbe zu offenbaren, sondern auch uns zur Liebe Gottes zu ziehen und den Fluch hinwegzunehmen. Leuchtet uns der Herr auf dem Wege des Heils, wen oder was haben wir dann zu fürchten? Wir sind schwach, sehr schwach; aber seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. (2. Kor. 12,9.) Hat’s der Herr selbst auf sich genommen, unseres Lebens Kraft zu sein: Vor wem sollte uns grauen? Aus Abendmahlsbetrachtungen über den 27. Psalm, 1843.
  Der Herr ist mein Licht. Anbetungswürdige Sonne, ruft St. Bernhard († 1153) aus, ich kann ohne dich nicht wandeln! Erleuchte meine Schritte und verleihe diesem unfruchtbaren und unwissenden Herzen Gedanken, die deiner würdig sind. Anbetungswürdige Fülle des Lichtes und der Wärme, sei du der helle Mittag meiner Seele; vertreibe ihre Finsternis, zerstreue ihre Wolken, verbrenne und verzehre all ihren Schmutz und ihre Unreinigkeit. Göttliche Sonne, gehe auf über meinem Herzen und gehe nie wieder unter! Jean Baptiste Elias Avrillon † 1729.
  Alice Driver, eine Blutzeugin (vergl. S. 111), brachte in ihrem Verhör alle Doktoren zum Schweigen. Da fragte sie: "Habt ihr nichts mehr zu sagen? Gott sei gepriesen, dass ihr nicht im Stande seid, dem Geist Gottes in mir, einem armen Weibe, zu widerstehen. Ich bin die Tochter eines redlichen, aber geringen Mannes, habe nie, wie ihr, eine Hochschule besucht; vielmehr habe ich, gottlob, manches Jahr vor meinem Vater her den Pflug gezogen. Und doch will ich’s in der Verteidigung der Wahrheit Gottes und der Sache meines Herrn Jesus Christus mit jedem von euch aufnehmen. Und hätte ich tausend Leben, ich würde sie dafür hingeben." Darauf sprach der Kanzler über sie das Urteil und sie kehrte freudig in ihren Kerker zurück. Charles Bradbury 1785.
  Ich kannte eine alte, seit vielen Jahren stockblinde Frau, über deren Antlitz ein stiller Friede ausgegossen war und bei der es einem so wohl war, als wäre bei ihr immer Sonnenschein. Warum war die arme, alte, blinde Frau so glücklich in ihrer unaufhörlichen Nacht? Das machte ein Spruch, ein Wahlspruch, ein Trostspruch, ein Kraftspruch, den sie oft im Munde führte: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, usw. - Wenn ihr Gott, was oft geschah, durch allerlei liebliche Träume ihre Nächte erheiterte, dann rühmte sie’s fröhlich am Morgen: "Ich blinde Frau sehe schönere Dinge bei Nacht, als ihr sehenden Leute bei Tage sehen dürft; der Herr ist mein Licht." Nach D. K. Gerok (Bibelstunden über die Psalmen) † 1890.
  Vor wem sollte ich mich fürchten? Die Helden des Geistes richten ihre Taten so wenig wie die Kriegshelden durch Feigheit aus. Der Mut ist eine unerlässliche Tugend. Jahwe ist der sicherste Grund für unerschrockene Standhaftigkeit. William S. Plumer 1867.


V. 2. Es gibt für die Boshaften kein köstlicheres Gericht, als das Fleisch des Feindes. Das geht hinunter ungekaut; sie verschlingen’s wie die wilden Tiere. Doch wie gierig die Bosheit sei, sie hat eine schlechte Verdauung. Wie scharf ihre Zähne: Die Füße sind lahm; wenigstens straucheln sie leicht. Das war Davids Glück. Denn als seine Feinde sich auf ihn stürzten, sein Fleisch zu fressen, strauchelten und fielen sie, weil sie auf den Füßen der Bosheit kamen. Ein Mensch kann straucheln, ohne zu fallen. Aber straucheln und fallen, das ist das Los der Gottlosen, und zumal der bewusst Gottlosen. Derartig war, wie es scheint, das Straucheln der Feinde Davids, eben weil ihre Feindschaft in ihrer Gottlosigkeit wurzelte; und so werden, wie ich nicht zweifle, auch meine Feinde straucheln, weil sie von solcher Bosheit find. Und wovor denn und vor wem sollte mir grauen? Sir Richard Baker 1640.
  David schildert die Feinde in ihrer Bosheit und in ihrem Untergang. 1) Seine Feinde waren grausam. Sie wollten ihm das Blut aussaugen und sein Fleisch fressen. So sind die Großen der Welt, wenn ihnen der Seelenadel fehlt. Ihre Größe ist unnahbar und Widerspruch können sie nicht ertragen. Da ist ein Mensch des anderen Teufel. Die heilige Schrift nennt sie brüllende Löwen und Wölfe am Abend, die nichts bis auf den Morgen lassen übrig bleiben. (Zeph. 3,3.) "Sie essen mein Volk, wie sie Brot essen." (Ps. 14,4 Grundtext). 2) Aber trotz ihrer Grausamkeit wurden sie zu Boden geworfen. Sie sind angelaufen und gefallen. Wenn Gottes Kinder errettet werden, so geschieht dies in der Regel gleichzeitig mit dem Sturz ihrer Feinde. Dies wird völlig offenbar werden am Tage des Gerichts. Wenn für die Gemeinde Gottes die Befreiungsstunde schlägt, dann sind die Feinde der Kirche ihrem Verderben am nächsten. Wie die beiden Schalen einer Waage: Die eine sinkt, wenn die andere steigt. Wenn die Kirche sich erhebt, sinken die Feinde. Richard Sibbes † 1635.
  Die Bösen, meine Widersacher und Feinde. Es ist stete Feindschaft zwischen dem Samen des Weibes und dem Samen der Schlange (1. Mose 3,15). Man sagt, die Geier hätten einen Widerwillen gegen Wohlgerüche; so ist in den Gottlosen ein Widerwille gegen die Auserwählten des Herrn. Sie hassen den Geruch der Gnade. Wahr ist, dass die Heiligen ihre Schwachheiten haben. Aber nicht um dieser willen hassen die Gottlosen sie, sondern wegen ihrer Heiligkeit. Und dieser Hass bricht in offene Gewalttat aus. Der Dieb hasst das Licht und sucht es auszublasen. Thomas Watson 1660.
  Große Weisheit lag in dem Gebet John Wesleys († 1791): "Herr, muss ich Streit haben, so lass mich nur nicht wider dein Volk kämpfen müssen!" Wenn wir zu Feinden und Widersachern diejenigen haben, welche die rechtschaffenen Menschen hassen, so haben wir den Trost, dass Gott nicht auf ihrer Seite steht und ihre Partei darum in Wirklichkeit schwach ist. William S. Plumer 1867.


V. 3. Wenn sich schon ein Heer wider mich legt. Er setzt den Fall der denkbar größten Gefahr. Aber selbst dann, spricht er, fürchtet sich mein Herz nicht. Die Erfahrung bringt Hoffnung und Zuversicht. David war aus sich selbst nicht ein so mutiger Mann. Aber die Erfahrung von Gottes Trost und Beistand stärkte seinen Glauben, dass dieser wie Feuer durch den Rauch oder wie die Sonne aus den Wolken hervorbrach. Wer durch den Glauben Gott in seiner Größe und Macht schaut, der sieht alle Dinge hier unten für nichts an. Darum spricht David es hier aus, dass er sich für die Zukunft um keinen Widerstand Sorge mache, nicht um den eines ganzen Heeres. Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? (Röm. 8,31) Sein Geistesauge war geöffnet, dass er Gott in seiner Macht sah. Und wenn er dann von Gott auf die Kreatur blickte: Was war sie? So hatte Micha Gott auf seinem Thron geschaut (1. Könige 22,19); was galt ihm nun ein Ahab? Richard Sibbes † 1635.
  Wenn ich meinen Gott von ganzem Herzen liebe, so werden alle meine Feinde vergeblich wider mich kämpfen; ich werde sie nie fürchten, denn die ganze Welt kann mir kein Leid antun. Treue Liebe kann nicht verletzt werden; denn sie lässt sich durch nichts verletzen. Feinde, Neider, Verleumder, Verfolger, ich trotze euch! Ihr könnt mir meine Güter nehmen. Ist aber meine Liebe rechter Art, so werde ich immer reich genug sein; und meine Liebe könnt ihr mir nicht nehmen. Ihr könnt meinen Ruf verlästern. Aber da euer Beifall und eure Ehren für mich wenig Wert haben, so gebe ich es euch von ganzem Herzen frei, mich zu tadeln und zu verleumden. Zu meinem Glück könnt ihr mich nicht bei meinen. Gott anschwärzen und sein Wohlgefallen hält mich reichlich schadlos für alle eure Verachtung. Ihr könnt meinen Leib verfolgen. Doch dabei will ich euch sogar helfen mit meinen Büßungen. Je eher er zu Grunde geht, desto eher werde ich von einem Feinde befreit sein, der mir am meisten zu schaffen macht. (Röm. 7,23 f.) Was für ein Leid also könnt ihr mir antun? Wenn ich entschlossen bin, alles zu leiden, und wenn ich denke, ich verdiene alle die Kränkungen, die ihr mir antun könnt, so werdet ihr mit alle dem meiner Liebe nur einen höhern Flug, meiner Krone helleren Glanz geben. Jean Baptiste Elias Avrillon † 1729.
  Wer willig ist, für Gott zu streiten, wird erfahren, dass Gott für ihn streitet und ihn von einem Sieg zum andern führt. Niemand beweist so echte Tapferkeit, als wer wahrhaft fromm ist. Lebt der Christ, so weiß er, durch wessen Macht er steht; stirbt er, so weiß er, für wessen Sache er fällt. Wo keine Zuversicht zu Gott ist, da ist auch keine Ausdauer im Kampf, denn die Kraft von oben fehlt. Wenn der Wind des Glaubens aufhört, die Segel zu füllen, so hört das Schiff des Gehorsams auf, die Meere zu durchfurchen. Um der Spöttereien eines Ismaels willen wird nie ein Isaak sein Erbteil missachten. William Secker 1660.


V. 4. Eins bitte ich vom Herrn. Um Gemeinschaft und Umgang mit Gott war es dem Psalmsänger zu tun. Dies ist das eine Notwendige. Das sollten wir alle immer wieder begehren und darin volle Genüge finden: Gottes froh zu werden und ihn anzuschauen in seinen Offenbarungen, in seinem Tempel, mit ihm trauten Umgang zu pflegen. Ja, Herr, das wollest du uns gewähren! Nun ist das ja so überaus köstlich, dass es des Psalmisten einziges Sehnen und die Summe aller seiner Wünsche hier auf Erden war, - und darum viel mehr noch das Wohnen im Himmelszelt, die Vollendung und Fülle unsrer Seligkeit. John Stoughton † 1639.
  Eins. Der himmlische Sinn fasst sich in ein Verlangen zusammen und begehrt nicht mehr. Eins bitte ich: Gib dich mir selbst, Herr, so will ich nicht mehr erbitten. Die neue Kreatur bittet nichts von Gott, als Gott selbst zu genießen. Gib mir dies, Herr, und alles andre - möge Ziba hinnehmen! (2. Samuel 19,29 ff., vergl. mit 9,9 f. u. 16,4.) Ich will auf alles verzichten, um die eine Perle zu kaufen, den Reichtum der himmlischen Gnade. Bischof Jeremy Taylor † 1667.

  Ein tiefes, mächt’ges Sehnen in der Menschenbrust
  Verschlingt, gleich Aarons Schlange, jede andre Luft.
  Nach Alexander Pope † 1744.

  Dass ich im Hause des Herrn bleiben möge. Beständig dem Tempel zu nahen und dort immer wieder zu erscheinen, das ist ohne Zweifel das Bleiben, wovon David hier redet: dort zu wohnen, zu weilen, nicht nur auf Augenblicke einzukehren. So weilte Hanna, die Tochter Phanuels, im Haus Gottes; es heißt Lk. 2 von ihr, sie sei nimmer vom Tempel gekommen. "Nicht, dass sie (buchstäblich) allezeit da war, aber oft", sagt Nikolaus von Lyra († 1340). Von den Jüngern, die Zeugen der Himmelfahrt Jesu gewesen waren, sagt Lukas: Sie waren allewege im Tempel (Lk. 24,53). So konnte auch von Monika, der Mutter des Augustinus, zu ihrer Zeit gesagt werden: "Sie weilte im Hause Gottes", da sie getreulich regelmäßig zweimal des Tages hinkam, "damit sie aus deinen Schriften", sagt Augustinus, "hören möchte, was du, Gott, ihr sagtest und du aus ihren Gebeten, was sie dir zu sagen hatte." Solche Christen nennt Augustinus an einer andern Stelle die Ameisen Gottes. "Siehe auf die Ameise Gottes. Sie steht Tag für Tag früh auf. Sie eilt zu Gottes Kirche. Dort betet sie, hört die Schriftlesung, singt einen Psalm, wiederholt bei sich, was sie gehört hat, sinnt darüber und speichert in ihrem Innern das köstliche Korn auf, das sie von dieser Tenne gesammelt hat." John Day 1609.
  Zu schauen die Schönheit des Herrn: Dazu wünschte er im Hause des Herrn zu weilen und nicht nur, um seine Augen an dem äußern Anblick köstlicher Dinge zu weiden (wie in der Tat in der Stiftshütte liebliche Dinge zu sehen waren). Nein, er hatte einen geistlich gerichteten Blick: Er sah die innere, geistliche Schönheit jener geistlichen Dinge. Richard Sibbes † 1635.
  Die Schönheit des Herrn, wie sie in seinem Hause erblickt werden kann, ist nicht die Schönheit seines Wesens, wie dieses für sich ist; denn das kann kein Mensch sehen und leben (2. Mose 33,20). Vor seiner majestätischen Schönheit bedecken die Seraphim ihr Antlitz mit ihren Flügeln (Jes. 6,1.2). Aber es ist die Schönheit seiner Offenbarungen, in welchen Gott den Augen des menschlichen Geistes, indem er diesen durch seinen Geist erleuchtet, die wunderbare Schönheit seiner Güte, Gerechtigkeit, Liebe und Erbarmung enthüllt. Thomas Pierson † 1633.
  O wie viel Liebliches habe ich gesehen im Hause Gottes, wie viel Köstliches geschmeckt, wie manche Erquickung empfunden! Welche Gebetsergießungen und was für Antworten darauf! Welche Eindrücke unter dem Schall des göttlichen Wortes, welche Bewirtung an des Herrn Tisch, wenn er mich je und dann zu seinem Festmahl lud und mir seine Liebe zu genießen gab! Und kann ich hiervon auch vielleicht nicht soviel reden, wie andere, so kann ich doch dessen, was mir geworden, nur mit dankerfülltem Herzen gedenken und mehr davon begehren; und weil dies alles mir im Haus Gottes zuteil wurde, so möchte ich dort mein Leben lang weilen dürfen. Daniel Wilcox † 1733.


V. 5. Zur bösen Zeit. Obwohl Gott nicht immer sein Volk aus der Trübsal erlöst, so erlöst er sie doch von dem, was die Trübsal zum Übel macht, von dem Verzweifeln in der Trübsal, indem er den Geist aufrecht erhält; ja er erlöst durch die Trübsal, denn er heiligt die Trübsal zur Genesung der Seele und erlöst aus größerer Trübsal durch die geringere. Aus einem alten Druck im Britischen Museum mit der Jahreszahl 1678.
  Er deckt mich, oder: verbirgt mich. Das Wort deutet auf einen, der aus der Unterdrückung oder vor drohendem Unglück entronnen ist und nun in einem Hause oder einer Höhle vor seinen Verfolgern oder vor der Gefahr geborgen wird. Albert Barnes † 1870.
  Er verbirgt mich heimlich in seinem Gezelt, oder: im Schutz seines Zeltes. Anspielung auf die alte Sitte, dass Missetäter zum Heiligtum oder Altar flohen, wo sie sich sicher glaubten. (Vergl. 1. Könige 2,28.) Mt. Polus † 1679.


V. 7 ff. Siehe aus diesem Psalm, was es um den Glauben, auch bei aller Zuversicht und Freudigkeit, doch gleichwohl für eine geschmeidige Sache ist, wie er auch um das, wessen er aus dem Wort Gottes und Erfahrung wohl versichert ist, doch so demütig anhält; wie er sich das, wogegen ihn so viele Verheißungen Gottes sicher stellen, doch so geflissen abbittet; wie er Gott nicht begehrt am Schnürlein zu haben nach seinem Willen, sondern vielmehr Unterweisung in Gottes Wegen und Leitung auf richtiger Bahn sucht. Glaubensmut und ein steifer, in Naturkraft gefasster Sinn sind weit voneinander unterschieden. Karl Heinrich Rieger † 1791.


V. 8. Im vorhergehenden Vers hebt David an, zu Gott zu beten: Herr, höre meine Stimme usw. Dieser Vers begründet die Bitte. Ihr sollt mein Antlitz suchen, hat der Herr gesagt; das Herz antwortet: Dein Antlitz, Herr, will ich suchen. Du machst mir Mut, zu dir zu beten. Die Worte schließen in sich Gottes Befehl und Davids Gehorsam, Gottes Vollmacht und Davids entsprechendes Tun, die Stimme und das Echo. Die Stimme: Sucht mein Antlitz; den Widerhall aus dankbarem Herzen: Dein Antlitz, Herr, will ich suchen. Gott will erkannt sein. Er ist willig, sich selbst zu erschließen und zu offenbaren. Er hat kein Gefallen daran, sich zu verbergen. Er fürchtet nicht, wie manche Fürsten, die Ehrfurcht durch den persönlichen Verkehr zu verringern. Gott ist nicht ein Gott, den man nicht gründlich erforschen dürfte. Je mehr wir ihn erkennen, desto mehr werden wir ihn bewundern. Niemand preist ihn höher als die heiligen Engel, die ihn schauen, und die seligen Geister, die mit ihm vertraute Gemeinschaft haben. Darum verbirgt er sich nicht. Er wünscht vielmehr, erkannt zu werden. Und alle, die seinen Geist haben, wünschen, ihn bekannt zu machen. Diejenigen, welche die Erkenntnis Gottes unterdrücken, die Erkenntnis dessen, was Gott will, was er für die Menschen tut und was er von den Menschen fordert, sind Feinde Gottes und seines Volks. Sie unterdrücken die Offenbarung Gottes, völlig der göttlichen Absicht zuwider. Richard Sibbes † 1635.
  Achte auf solche Zeiten, wo Gott dich durch seinen Geist zum Gebet mahnt und lockt und dir diese und jene Bitte durch sein Wort nahe legt. Versäume nicht, das Eisen zu schmieden, solang es warm ist. Dann hast du Gottes Ohr; es ist die rechte Stunde für dies Anliegen, wie sie dir vielleicht nie wiederkehrt. Höflinge merken auf die beste Zeit zu reden; wenn sie den Fürsten in guter Stimmung finden, dann nehmen sie gewiss ihren Vorteil wahr; besonders aber, wenn sie finden sollten, dass der König selbst von dem Gegenstand zu sprechen beginnt, den sie von ihm erlangen möchten. So ist’s gewiss ein bedeutungsvolles Zeichen, dass Gott willig ist, uns zu hören, wenn er selbst uns die Bitte in den Mund legt. Thomas Goodwin † 1679.
  Dein Wort. Darauf darf man sich getrost berufen. "Das Verlangen der Elenden hörest du, Herr; ihr Herz ist gewiss, dass dein Ohr darauf merkt." (Ps. 10,17.) Und wieder: "Ihr werdet mich suchen und finden." (Jer. 29,13) Und Gott lässt es als Beweggrund vor sich selber gelten, dass, wenn er zu jemand - sei es innerlich oder äußerlich - sagt: "Ihr sollt mein Antlitz suchen", dann er, der Gerechtigkeit redet, ihr Gebet nicht kann zuschanden werden lassen und sie deshalb vergeblich auffordern, sein Antlitz zu suchen. Jes. 45,19: "Ich habe nicht zum Samen Jakobs vergeblich gesagt: Suchet mich.". Wenn ein Ahasverus seine Gemahlin auffordert, sich etwas zu erbitten, so wird er gewiss nicht ermangeln, ihre Bitte zu gewähren (Esther 7,2). Und als Christus dem Blinden zurief, er solle kommen, ihm sein Leid zu klagen, da sagte man ihm mit Recht: Sei getrost, steh auf, er ruft nach dir (Mk. 10,49). Thomas Cobbet † 1686.
  Gott hat seine Huld verheißen, darum darf sein Volk seine Huld suchen. Ja, er hat seinem Volk befohlen, sein Antlitz zu suchen; darum sollen sie es suchen. Es ist recht töricht, wenn Gott uns für eine Weile seine Huld entzieht, dann uns selbst des Kindes- und Bürgerrechtes zu berauben, indem wir die geistliche Gemeinschaft verleugnen, welche zwischen uns und unserm Gott besteht. Das ist nicht der Weg, Gnade zu erlangen. Denn haben wir unser Kindesverhältnis aufgelöst, so haben wir uns selbst von der Anwartschaft auf Gottes Huld ausgeschlossen. Nein, der weiseste und sicherste Weg ist, die Erneuerung der göttlichen Gnadenerweisungen zu suchen, nicht aber uns durch unseren Unglauben von Gott hinwegtreiben zu lassen. Obadiah Sedgwick 1653.


V. 9. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir. Wenn ich dein Antlitz suche, Herr, so erweise mir die Gnade, dein Antlitz nicht vor mir zu verbergen. Denn wozu sollte ich es suchen, wenn ich’s nicht finden kann, und wie könnte ich es zu finden hoffen, wenn es dir beliebte, es zu verbergen? Sir Richard Baker 1640.
  Verstoße nicht im Zorn deinen Knecht. Gott verstößt manchen im Zorn um seiner vermeintlichen Tugend willen, aber keinen um seiner eingestandenen Sünde willen. John Trapp † 1669.
  Deinen Knecht. Es ist eine gesegnete und selige Sache, Gottes treuer Knecht zu sein. Man bedenke, was die Königin von Saba von Salomos Knechten sagte (1. Könige 10,8): Glücklich sind diese deine Knechte. Nun ist Jesus Christus mehr als Salomo (Mt. 12,42) und daher auch ein besserer Herr. Gute irdische Herren entlohnen treue Knechte. Freilich gibt’s auf Erden auch Herren wie Nabal (1. Samuel 25) und Laban (1. Mose 31). Aber so ist Gott nicht. "Wo Ich bin, da soll mein Diener auch sein, und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren." (Joh. 12,26; vergl. noch Lk. 12,37 und Mt. 25,21.23.) Thomas Pierson † 1663.
  Du bist meine Hilfe (von jeher) gewesen: so verlass mich nicht. (Grundtext) Du hast mir bisher geholfen: so wirst du mich jetzt nicht verlassen. Menschen sagen wohl: Ich habe dir schon so manches Gute erwiesen; darum lass mich jetzt in Ruhe. Aber Gott ist umso mehr bereit, Gnade zu erzeigen, weil er schon Gnade erwiesen hat. Thomas Watson 1660.


V. 10. Vater und Mutter verlassen mich. Die Annahme, dass den Psalmisten seine Eltern verlassen haben sollten, scheint schwierig; vielleicht ist gemeint: Sie haben ihn zurückgelassen in ihrem Sterben. James Merrick † 1769.
Es liegt in der Natur aller lebendigen Geschöpfe, wie zärtlich sie gegen ihre Jungen sein mögen, diese doch, wenn sie bis zu einer gewissen Reife des Alters und der Kraft gekommen sind, sich selber zu überlassen, damit sie sich selbst helfen. Und sogar Vater und Mutter, wie liebreich sie sein mögen, haben doch etwas von dieser Natur in sich. Solange ihre Kinder jung sind, führen sie diese an der Hand; sind sie aber erwachsen, so müssen sie auf eignen Füßen stehen und, wenn sie eventuell fallen, sich aufrichten, so gut sie können. Aber Gott hilft selbst dann seinen Kindern auf; denn er weiß, was für ein Gemächte sie sind. Er weiß, dass ihre Kraft ebenso sehr der Stütze bedarf, wie ihre Schwachheit Hilfe nötig hat. Er weiß, dass sie ebenso wohl aufgerichtet werden müssen, wenn sie fallen, wie aufrecht erhalten werden, wenn sie stehen. Sir Richard Baker 1640.
  Der Herr nimmt mich auf. Das sind Worte. Gibt es Tatsachen, die sie erweisen? Wahrlich, es gibt ihrer, selbst bis auf den Buchstaben. Als Hagar ihren Sohn Ismael, an seinem Leben verzweifelnd, verlassen und zum Sterben hingelegt hatte in der Wüste, da nahm der Herr ihn auf. Er öffnete der Hagar die Augen, dass sie eine Wasserquelle sah, und das Kind wurde gerettet (1. Mose 21). Als den kleinen Mose seine Eltern verließen und zwischen die Binsen hinlegten, da nahm auch ihn der Herr auf. Er verschaffte ihm eine Retterin, des Königs eigene Tochter, und eine Amme, des Kindes eigene Mutter; so blieb auch er erhalten (2. Mose 2,5-9). Man nehme nur noch zwei Beispiele dazu, je eins aus beiden Testamenten: David und Paulus, beide von Menschen verlassen, beide von Gott aufgenommen. Wie war David verlassen, als er zur Rechten schaute, und siehe, niemand wollte ihn kennen. Entfliehen konnte er nicht, niemand nahm sich seiner Seele an (Ps. 142,5). Und doch war diese ganze Zeit über der Herr zu seiner Rechten (ob er ihn wohl zuerst nicht gewahrte), bereit, ihm zu helfen; wie es dort weiter heißt: Herr, zu dir schreie ich und sage: Du bist meine Zuversicht, mein Teil im Lande der Lebendigen. Und wie war Paulus verlassen! Er selbst sagt es uns (2. Tim. 4,16): "In meiner ersten Verantwortung stand niemand mir bei, sondern sie verließen mich alle", - eine schlimme Lage, und sie wäre noch schlimmer gewesen, hätte sich nicht einer bereit gefunden, seine Partei zu nehmen, wie der nächste Vers sagt: "Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich." Was brauchen wir mehr Zeugnisse? Durch zweier Zeugen Mund (Joh. 8,17) ist die Sache erwiesen. - Vielleicht wirst du sagen: Die beiden bezeugten, was schon geschehen war. In unserm Text aber verkündet es David im Voraus und dies mit rechter Zuversicht: Der Herr wird mich aufnehmen. Wie er’s auch sonst tut: Ich weiß, dass der Herr wird des Elenden Sache und der Armen Recht ausführen (Ps. 140,13). Aber gibt es für diese Gewissheit einen vernünftigen Grund? Ohne Zweifel, einen zweifachen Grund: Der eine liegt in Gottes Wesen, der andere in seiner Verheißung. Gottes Wesen, seine Liebe, seine Weisheit, seine Macht und seine Ewigkeit, sie bürgen uns dafür, dass Gott sich unser annehmen wird, wenn jede andre Hilfe uns verlässt. Und nun nimm Gottes Verheißungen hinzu, so hast du die Fülle der Gewissheit, wie du sie nur irgend wünschen kannst. Bischof Robert Sanderson † 1662.
  Als der erste Schub der Salzburger Emigranten am 29. April 1732 in Potsdam in geordnetem Zuge unter dem Gesange ihrer Lieder eingetroffen war, ließ der gerade dort anwesende König sie in den Schlosshof führen und sich über ihre Reise und Führung vom Kommissarius Bericht erstatten. Als dieser sehr günstig lautete, ließ er sich auch von seinem Hofprediger über den Befund ihres Glaubens und ihrer Lehre berichten. Ja, er examinierte selbst einige über die Wahrheiten des christlichen Glaubens und war überrascht von ihren klaren, auf die heilige Schrift gegründeten Antworten. So fragte der König einen Knaben von vierzehn Jahren, der wegen des evangelischen Glaubens Vater und Mutter verlassen hatte, wie er das verantworten könne. Der Knabe antwortete: "Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert." Und als der König weiter fragte, was er denn ohne Vater und Mutter anfangen werde, antwortete der Knabe sofort: Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf. Der König war erfreut von dem Eindruck, den die Auswanderer auf ihn gemacht hatten. Beim Abschied rief er ihnen zu: "Ihr sollt’s gut haben, Kinder, ihr sollt’s gut haben." Rudolf Kögel 1895.
  Mit diesem Psalmwort tröstete sich Bogatzky, als ihn sein militärischer Vater verstieß, weil er Theologie studieren wollte. A. von Salis 1902.


V. 11. Um meiner Feinde willen. Bekennt sich ein Mensch zum Glauben, so richten sich aller Augen auf ihn. Und mit gutem Grunde. Denn sein Bekenntnis in der Welt ist eine Scheidung von der Welt. Der Gläubige richtet durch sein Leben diejenigen, welche ihn mit Worten richten. Der redliche David sah, wie viele darauf warteten, über seine Fehltritte zu triumphieren. Darum betete er, je mehr sie ihm auflauerten, auch desto mehr: Weise mir deinen Weg ... um meiner Feinde willen. Man kann auch übersetzen: um derer willen, die auf mich lauern. William Secker 1660.


V. 13. In schwerem Leid und Kummer trachte einen starken und lebendigen Glauben zu bewähren. Wenn ich nicht glaubte ..., so würde ich schier zusammenbrechen. Der Glaube bringt neue Kräfte und Gnadenströme vom Himmel herab, wenn der Vorrat aufgebraucht und erschöpft ist. Davon macht hier David eine liebliche Erfahrung. Wie Gott das Leben der Gnade in der Seele erweckt und hegt, so hat er seine heilige Lust daran, mit neuen Gaben und Kräften einzukehren, wo das Glaubensleben der Seinen unter dem Druck und den Nöten, die auf ihnen lasten, schwach und hinfällig wird. So versorgt er von Zeit zu Zeit die Lampe der Gläubigen mit frischem Öl, reicht ihnen mehr Glauben, mehr Liebe, mehr Hoffnung dar und mehr Verlangen und dadurch gibt er den Erliegenden neue Lebenskraft. John Willison † 1750.
  Das Land der Lebendigen. Ach, was für ein Land der Lebendigen ist dies hier auf Erde, in dem mehr Tote als Lebende sind, mehr unter dem Boden als darüber, wo die Erde mehr Gräber als Wohnungen hat, wo das Leben zitternd unter der Hand des Todes liegt und der Tod Gewalt hat, über das Leben zu herrschen! Nein, liebe Seele, dort ist das Land der Lebendigen, wo nur Lebendige, wo es nicht mehr eine streitende, sondern eine triumphierende Kirche gibt, eine Kirche, nicht einen Kirchhof, weil kein Toter da ist, noch einer, der sterben kann; wo nicht das Leben sich leidend verhält, der Tod wirkend: Wo das Leben seine Krone trägt und der Tod verschlungen ist in den Sieg. Sir Richard Baker 1640.


V. 14. Sei getrost, oder, wie die LXX hier sagt: sei männlich, zeige dich als einen Mann (vergl. 1. Kor. 16,13). Das sind Worte der Ermutigung gegen Verzagtheit, Furcht und Schwachheit des Herzens. Henry Ainsworth † 1622.

  Sei getrost und unverzagt!
   Bleib fest, so treibst den Feind du in die Flucht:
   Vor dem Blick bebt die Hölle, der den Himmel sucht.
   Halt stand in der Gefahr, doch lauf ihr nicht entgegen;
   Der Übermut ist oft im Kampfe selbst erlegen.
   Der wahre Mut ist still: er traut nicht eigner Kraft,
   Gibt sich in Gottes Hand, die bald ihm Ruhe schafft.
   Hab’ du nur Jesum lieb. Furcht muss der Liebe weichen.
   Halt dich an Jesu Kreuz: du siegst in diesem Zeichen.
   Nach Bischof Thomas Ken † 1710.

  Meine nicht, das Zepter sei der Hand Christi entfallen, wenn die Menschen allerlei verkehrte Dinge tun und der Sache Gottes manchen schweren Streich versetzen. Nein, nein, die Menschen sind nur seine Hand. Und es ist Gottes Hand, die mit Fug und Recht schwer auf seinem Volke liegt. So sieh über die Menschen hinweg, du hast es nicht mit ihnen zu tun; die Dinge wenden sich, sobald es Ihm gefällt, seine Hand zu wenden. Ralph Erskine † 1752.


Homiletische Winke

V. 1a. Das Verhältnis der Erleuchtung zur Bekehrung, oder: Wie nötig das Licht zu unserm Heil ist.
V. 1. Der christliche Held und die verborgenen Quellen seines Muts.
  Des Gläubigen furchtlose Herausforderung aller seiner Feinde.
V. 2. Natur, Zahl, Macht und Grausamkeit der Feinde der Gemeinde Gottes und das Geheimnis ihrer Niederlage.
V. 3. Der Friede des Christen. 1) Er sieht der Not ruhig entgegen, 2) bleibt gefasst im Leid, 3) stärkt sich an den Erfahrungen der göttlichen Hilfe, und 4) trägt reiche Früchte: Er rühmt sich Gottes.
V. 4. Ein rechtes Christenleben. 1) Es kennt nur ein Verlangen. 2) Es ist ernst in seinem Trachten. 3) Es bleibt in der Nähe des Herrn. 4) Es ist himmelwärts gerichtet. 5) Es dringt vorwärts in der Heiligung. Das Seufzen nach Gott.
V. 4b. Die Schönheit des Herrn. (Andere Übers.) 1) Die Elemente dieser Schönheit, 2) ihre Offenbarungen, 3) besondere Züge derselben.
  Zu 1): Gott ist ein Geist, seine Schönheit geistig. a) Heiligkeit, b) Gnade, c) die Vereinigung aller göttlichen Eigenschaften zu einem harmonischen Ganzen. Jede Farbe im Regenbogen ist schön, aber ihre wunderbare Schönheit leuchtet erst im Ganzen. Gottes Heiligkeit ist schön, seine Gnade ist schön, seine Wahrheit ist schön, aber darüber hinaus gibt’s eine Harmonie dieser Vollkommenheiten.
  Zu 2): Die Schönheit des Herrn offenbart sich a) in der Schöpfung: b) gewaltiger im Sittengesetz (Ps. 19; Röm. 7), dessen Erfüllung Röm. 13,10 die Liebe ist; c) ins Auge schauen wir ihr im Evangelium; aber d) Christus erst ist der Glanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild seines Wesens, Hebr. 1,3. Christi Persönlichkeit ist der herrlichste Anblick sittlicher Schönheit.
  Zu 3): Besondere Züge der Schönheit des Herrn sind, dass sie a) nimmer trügt, b) niemals schwindet, c) nie von ihrer Macht verliert und d) nie ermüdet. Andrew Gray † 1861.
V. 4b. Sabbat- Beschäftigungen und -Freuden.
V. 4c. Gegenstände des Forschens im alten Tempel, erschlossen im Licht des Neuen Testaments.
V. 5. Dreifache Zuflucht: zur Allmacht Gottes (seinem Königszelt); zu seinen Allerheiligsten; zum Felsen der Unwandelbarkeit.
V. 6. Des Frommen Sieg über seine geistlichen Feinde; sein Dank mit der Tat; seine Loblieder.
V. 7. Das Gebet. 1) An wen richtet es sich? 2) Wie? (rufen) 3) Wann? (zu jeder Zeit). 4) Worauf gründet es sich? (auf die Gnade). 5) Was will es? (Höre! Antworte!) .
V. 8. Das Herz eins mit seinem Gott. Beachte: wie rasch, herzlich, persönlich, rückhaltlos, genau und entschlossen die Antwort der Aufforderung entspricht.
V. 9. 1) Was bedeutet es, von Gott verlassen zu sein? 2) Die Berufung auf frühere Erfahrungen (du bist meine Hilfe gewesen). 3) Flehen um göttliche Hilfe.
  Der Heiligen Schauder vor der Hölle der Sünder.
V. 10. Gottes Erbarmen, das Erbteil der Waisen, der Trost der Verfolgten, das Paradies der Sterbenden.
V. 11. Der Pfad des Aufrichtigen. 1) Welchen Weg er sich wünscht (deinen Weg); 2) wie dieser Weg beschaffen ist (richtige oder ebene Bahn); 3) wie er ihn findet (weise mir - leite mich, Herr).
V. 13. Der Glaube. 1) Er geht dem Schauen voraus. 2) Sein Inhalt: a) sehen, b) die Güte Gottes, c) im Lande der Lebendigen. 3) Seine aufrecht erhaltende Kraft (aber doch, vergl. dennoch Ps. 73,23, und siehe die Auslegung S. 506). Glaube, um zu sehen!
V. 14. Des Gläubigen Lage (harre) - sein Verhalten (getrost und unverzagt) - eine Ausdauer (nochmals: harre) - sein Lohn.
  Tapferes Warten. Predigt von C. H. Spurgeon. Die Botschaft des Heils, III, Nr. 41. Baptist. Verlag, Kassel.

Fußnoten

1. Bei diesem Vers sind die Versglieder, abweichend von der Lutherbibel, in der Ordnung des Grundtextes gegeben, um den Parallelismus nicht zu verwischen.

2. So nach der engl. Übers.: Da die Bösen sich an mich machten ..., strauchelten und fielen sie. Ebenso Luther 1524. Doch wird es richtiger sein, die beiden Perfekta: Sie sind gestrauchelt und gefallen, so wie Luther es später gefasst hat, als Sprache des Glaubens anzusehen, der auf Grund der Erfahrungen und Verheißungen den Sturz der Feinde im Voraus als vollendete Tatsache ansieht. - Zu beachten ist, dass der Grundtext das "sie" hervorhebt: sie (nicht ich).

3. Luthers schöne spätere Übersetzung "so verlasse ich mich auf ihn" ist zu frei; das sächliche t)ÆzbI: kann sich nicht auf Gott beziehen. Möglich ist die Übersetzung Luthers 1524 und anderer: So verlasse ich mich darauf, nämlich auf die in V. 1 genannten Tatsachen. Das Einfachste ist aber doch, x+b absolut zu nehmen im Sinne von getrost sein (vergl. z. B. Spr. 11,15) und t)zb (wie 3. Mose 26,27) mit dabei = trotzdem, dennoch zu übersetzen: So bin ich dennoch getrost.

4. So heißt der Grundtext allerdings wörtlich. Was ist aber der Sinn? Spurgeon versteht darunter die geistig sich zu schauen gebende Schönheit des Wesens des Herrn. Bei solch unmittelbar persönlicher Fassung läge es aber näher, mit Delitzsch speziell an die Freundlichkeit des Herrn zu denken, die Ps. 90,17 mit diesem Wort bezeichnet wird. Die meisten Ausleger denken mit Luther an die Lieblichkeit oder Schönheit der Gottesdienste, in denen sich Gottes Wesen widerspiegelt.

5. rqb piel: untersuchen, nachdenken. Die Übers. ist verschieden, je nachdem man b mit Luther als Objektbezeichnung auffasst: und seinen Tempel zu betrachten (und zwar mit Lust, vergl. b hzx im vorhergehenden Versglied), oder rqb absolut nimmt im Sinn des forschenden Nachdenkens und b den der Andacht geweihten Ort bezeichnen lässt: und in seinem Tempel nachzusinnen (Hengstenberg, Delitzsch, Spurgeon).

6. Die Übers. Luthers "in seiner Hütte" beruht aus dem Qere; doch ist wohl eher wie Ps. 31,21 hkIfsubI: zu lesen.

7. Über den Sinn des Verses im Allgemeinen kann kaum ein Zweifel sein; im Einzelnen ist eine verschiedene Verbindung der Wörter und Versteile möglich. Verhältnismäßig am einfachsten scheint es uns, ybl rm) Kl zusammenzufassen und als Inhalt dessen, was das Herz spricht, den letzten Satz zu nehmen. Dann steht der Gottesbefehl "Suchet mein Antlitz" gleichsam in Parenthese. Also: Zu dir spricht mein Herz - (auf Grund deines Wortes:) "Suchet mein Antlitz"--: Dein Antlitz, Herr, suche ich. Ähnlich die englische Übersetzung - Spurgeon nimmt dabei mit manchen englischen Auslegern an, es handle sich um einen besonderen, an den Psalmisten oder doch zu seiner Zeit ergangenen Gottesspruch. Zu dieser Annahme bietet jedoch der Text keine Veranlassung. - Anders stellt sich das Satzgefüge, wenn man das l als l auctoris fasst: Dein, spricht mein Herz, (ist das Wort): "Suchet mein Antlitz"; - darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz. Auf dieser Auffassung beruht Luthers Übersetzung.

8. Man kann allerdings, mit einigen Auslegern, den Satz hypothetisch fassen; doch trifft Luthers Übersetzung wahrscheinlich das Richtige.

9. Wörtl.: und einer, der Frevel schnaubt. Zu diesem Wechsel der Zahl vergl. Ps. 7,3; 17,12. Doch wird hier die Einzahl eher kollektivisch zu fassen sein.

10. Luther hat nach dem Vorbild der jüdischen Kritiker das )lwl getilgt, aber ohne Not.