Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 30 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm, zu singen von der Einweihung des Hauses, von David, oder: Ein Psalm, Lied zur Einweihung usw. Viele alte und neue Ausleger deuten die Überschrift auf die Einweihung des Zedernhauses (2. Samuel 5,11), welches David sich errichtete, als er sich nicht mehr in der Höhle Adullam verbergen musste, sondern ein großer König geworden war. In der Tat passt V. 8a trefflich zu 2. Samuel 5,12. Man nimmt dann nach unserm Psalm an, David sei durch eine lebensgefährliche Erkrankung eine Zeitlang verhindert worden, die neu erbaute Zionsburg zu beziehen, und habe nach der Genesung diesen Psalm für die Einweihungsfeier gedichtet. Bei dieser Auffassung würde das Lied uns lehren, dass es dem Christen wohl ansteht, bei einem Hauswechsel sein neues Heim Gott zu weihen. Wir tun daran wohl, bei solcher Gelegenheit unsere christlichen Freunde zusammenzurufen und zu bezeugen, dass, wo wir wohnen, Gott wohnt, und wo wir eine Hütte haben, Gott einen Altar hat. Man vergleiche Noahs Opfer beim Betreten der gereinigten Erde und so manchen Zug aus Abrahams Leben. Allein obwohl es nicht unmöglich ist, unter dem "Haus" den Königspalast zu verstehen, wie der stehende Titel des Haushofmeisters "der über das Haus ist" (2. Könige 4,6 und öfters) zeigt, so ist es doch natürlicher, dabei an den Tempel zu denken. Diese Auffassung findet eine Stütze darin, dass das spätere jüdische Ritual den Psalm für das auch Joh. 10,22 erwähnte Tempelweihfest bestimmt, welches auf die von Judas Makkabäus i. J. 165 v. Chr. vollzogene Reinigung des durch Antiochus Epiphanes entweihten zweiten Tempels zurückgeht, vergl. 1. Makkabäer 4,52 ff. Da aber der Psalm nichts enthält, was ihn an und für sich zu einer solchen Feier passend erscheinen ließe, muss dieser Verwendung desselben eine ältere Überlieferung und ein tieferer Grund zu Grunde liegen. Wir werden den Psalm, der ein Danklied nach aufgehobener schwerer Heimsuchung ist, vielleicht am besten im Licht der letzten Tage Davids lesen, als er das Volk im Hochmut gezählt hatte und Gott ihn dafür gezüchtigt, auf seine Buße hin aber dem verderbenden Engel befohlen hatte, das Schwert in die Scheide zu kehren, und zugleich dem König die Stätte des künftigen Tempels gezeigt hatte (2. Samuel 24; 1. Chr. 21). Allerdings müssen wir dann die Worte Davids V. 3.4. 10 unseres Psalms nicht von persönlicher Erkrankung des Psalmisten, sondern von einem Todesleiden im weitern Sinn verstehen, wie solches 2. Samuel 24 sicher über David kam. (Auch in andern Psalmen finden wir ähnliche Ausdrücke im bildlichen Sinn.) Sonst passt der Psalm trefflich auf die ganze Lage in jener Zeit. So nehmen wir denn all, dass der Dichter auf der Tenne Aravnas die Inspiration zu diesem Lied empfangen habe und er dasselbe entweder für die Einweihung dieser neuen Opferstätte (von der er 1. Chr. 22,1 sagt: "Dies hier sei das Haus Gottes des Herrn") oder aber für die Einweihung des von seinem Sohne dort zu erbauenden Tempels bestimmt habe. Im letzteren Fall ist der Psalm ein Glaubenslied gewesen, da David dies Haus ja nicht erstehen sah. Der Glaube sieht die Erfüllung der göttlichen Verheißungen voraus und kann Gott auch für noch nicht empfangene Gnaden preisen.
  Durch den ganzen Psalm ziehen sich Andeutungen, dass David schwer heimgesucht wurde, als er in Hochmut geraten war und sich sicher wähnte. Wenn Gottes Kinder in einer Richtung zu Glück und Gedeihen kommen, werden sie in der Regel nach einer andern Richtung in Prüfungen geführt; denn wenige unter uns können ungetrübtes Glück ertragen. Unsere Freuden und Hoffnungen müssen mit schmerzlichen Erfahrungen gemischt werden und desto mehr, wenn die Ruhe und das Wohlergehen fleischliche Sicherheit und Selbstvertrauen erzeugen Als David sich aber reuig zu Gott wandte, folgte bald die Vergebung, und Gottes Barmherzigkeit verherrlichte sich. Der Psalm ist ein Lied, ein Lobgesang und keine Klage. Er ist ein Lied zur Erinnerung an die Volkszählung und ein Lied zur Einweihung der Kultusstätte, die zum Gedächtnis des Aufhörens der Plage gestiftet wurde. So erinnert er uns an A. Knapps Wort. Ja, mein Jesu, lass mich nie vergessen meine Schuld und deine Huld!

Einteilung. V. 2-4 preist David den Herrn, weil dieser ihn errettet hat. V. 5.6 ruft er die Heiligen auf, mit ihm Gottes Barmherzigkeit zu rühmen. V. 7.8 bekennt er seinen Hochmut, um derentwillen er gezüchtigt worden war V. 9-11 wiederholt er die Bitten, die er in der Not an Gott gerichtet hatte, und in den beiden Schlussversen ruft er sich dankend die erfahrene Hilfe in Erinnerung und gelobt ewige Dankbarkeit.


Auslegung

2. Ich preise dich, Herr, denn du hast mich erhöht,
und lässt meine Feinde sich nicht über mich freuen.
3. Herr, mein Gott,
da ich schrie zu dir, machtest du mich gesund.
4. Herr, du hast meine Seele aus der Hölle geführt;
du hast mich lebend erhalten, da jene in die Grube fuhren.


2. Ich will dich erheben, Herr. (Grundtext) Ich will hoch von dir denken, wie es deiner würdig ist, und will meinen Gedanken über dich, so gut ich es nur eben vermag, im Lied Ausdruck geben. Andere mögen dich vergessen, über dich murren, ja dich verachten und lästern; ich aber will dich erheben, denn mir ist besondere Gnade widerfahren. Ich will die Güte, die du mir erwiesen, sowie die große Langmut, womit du mein Volk verschont hast, erheben; vor allem aber will ich von dir selber, von deinem herrlichen Wesen reden und rühmen, ich will Dich erheben, Jahwe. Das soll mein beständiges, freudiges Geschäft sein. Denn du hast mich emporgezogen. (Grundtext) Beachten wir die Antithese: Ich will dich erhöhen, weil du mich erhöht hast. [Luther 1524: Ich will dich erheben, Herr, denn du hast mich aufgehaben.] Ich möchte meinen Dank der erfahrenen Wohltat entsprechen lassen. Billig pries der Psalmsänger seinen Gott. Er konnte für das Lob, von dem sein Herz überfloss, guten Grund angeben. Er war emporgezogen worden wie ein Gefangener aus dem Verließ, wie Joseph aus der Grube; darum schlug sein Herz seinem Erretter entgegen. Uns hat die Gnade emporgezogen aus dem Abgrund der Hölle, aus dem Pfuhl der Sünde, aus dem Sumpf der Verzweiflung, aus dem Rachen des Todes, aus der Sklaverei des Zweifels und der Furcht; haben wir für dies alles keinen Lobgesang? Und wie hoch hat uns der Herr erhöht! Zum Kindesrecht, zur Hausgenossenschaft Gottes, zur Gemeinschaft mit Christus; er hat uns mitgesetzt in den Himmel in Jesus Christus, wie der Apostel (Eph. 2,6) sagt. Ja, hoch sei unser Gott erhoben, denn er hat uns über die Sterne erhöht! Und hast meine Feinde sich nicht lassen freuen über mich. (Grundtext) Das war die Züchtigung gewesen, die David von den drei ihm nach der Volkszählung zur Wahl gestellten Übeln am meisten gefürchtet hatte. Er hatte gesagt: "Es ist mir sehr angst; aber lass uns in die Hand des Herrn fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß; ich will nicht in der Menschen Hand fallen." (2. Samuel 24,14) Schrecklich wäre in der Tat unser Los, wenn wir dem Willen unserer Feinde preisgegeben würden. Gelobt sei der Herr, dass wir vor einem so grauenhaftem Schicksal bewahrt geblieben sind! Dem Teufel und allen unseren geistlichen Feinden ist es nicht erlaubt worden, über uns zu frohlocken; denn wir sind errettet worden vom Strick des Vogelfängers. Unsere schlechten Kameraden von ehemals, die voraussagten, wir würden in unsere alten Sünden zurückfallen, sind mit ihren Prophezeiungen zuschanden geworden. Die darauf warteten, dass wir wanken würden und schadenfroh gerufen hätten: "Ha, ha! Gerade so wollten wir’s haben!" - sie haben bis heute umsonst gewartet. Glücklich die Leute, die der Herr so charakterfest bewahrt, dass selbst die Welt mit ihren Luchsaugen keinen wirklichen Makel an ihnen entdecken kann. Ist das bei uns der Fall? Dann lasst uns alle Ehre ihm geben, der uns lauter und unsträflich erhalten hat.

3. Herr, mein Gott, da ich schrie zu dir, machtest du mich gesund. Als die Seuche wütete, sandte David für sich und sein Volk Flehen zu Gott empor. Er ging sofort und ohne Umwege all die höchste Stelle und griff nicht zu fehlbaren menschlichen Mitteln. Gott ist der beste Arzt, auch für unsere leiblichen Gebrechen. Wir handeln gottlos und töricht zugleich, wenn wir uns in der Not nicht an ihn um Hilfe wenden. Der König Asa versündigte sich schwer, dass er in seiner Krankheit nicht den Herrn, sondern die Ärzte suchte (2. Chr. 16,12). Müssen wir einen Arzt haben, so sei es; aber lasst uns dennoch vor allem zu Gott gehen und ja nicht vergessen, dass in der Arznei an sich keine Macht zu helfen ist, noch sein kann. Die heilende Kraft muss von Gottes Allmacht ausströmen. Ist unsere Uhr in Unordnung geraten, so bringen wir sie zu dem Uhrmacher; sind Leib oder Seele in schlechtem Zustand, so lasst uns zu dem unsere Zuflucht nehmen, der sie geschaffen hat und es unfehlbar versteht, sie wieder in Ordnung zu bringen. Was unsere geistlichen Gebrechen betrifft, so kann nichts sie heilen, als wenn Christi Hand sie berührt. Rühren wir nur seines Kleides Saum an, so werden wir gesund, während alle anderen Ärzte, und wenn wir sie alle miteinander fest in die Arme schließen könnten, uns doch nicht zu helfen vermöchten. Herr, mein Gott. Man beachte, wie der Glaube sich auf das Bundesverhältnis beruft. Ja wahrlich, hochbeglückt ist, wer den Herrn sein nennen kann. Wir wollen auch nicht übersehen, wie Davids Glaube die Leiter emporklimmt. Im ersten Vers sagte er; "Ich will dich preisen, Herr"; jetzt aber; "Herr, mein Gott". Himmlische Herzensmusik steigt aufwärts, wie die Weihrauchwolken vom Räucheraltar. Ich schrie zu dir. Beten konnte ich kaum; aber ich schrie. Ich schüttete mein Herz vor dir aus, wie ein kleines Kind auf seines Vaters Schoß. Ich schrie zu meinem Gott; ich wusste, zu wem ich rufen sollte. Nicht zu meinen Freunden, nicht zu Menschenhilfe nahm ich Zuflucht. Daher der sichere, voll befriedigende Erfolg: Da machtest du mich gesund. Das ist keine Einbildung. Ich habe deine heilende Kraft erfahren. Ich fühle in mir die Kraft der Gesundheit; gepriesen sei dein Name! Wer nur in demütigem Flehen bei Gott Hilfe sucht von seiner Sündenkrankheit, der wird so gut und schnell wie der Psalmist Genesung finden; wer aber die Heilung nicht einmal sucht, muss sich nicht wundern, wenn seine Wunden stinkend werden und seine Seele stirbt.

4. Herr, du hast meine Seele aus der Unterwelt herausgeführt, riefst mich ins Leben zurück von denen, die in die Grube hinabgefahren. (Grundtext) Beachten wir die bestimmte Form des Ausdrucks. David sagt nicht; "Ich hoffe, du wirst es tun", sondern; "Du hast es getan." David war dessen ganz unzweifelhaft gewiss, dass Gott große Dinge an ihm getan hatte; und darüber war er fröhlich. Er war gleichsam schon ins Totenreich versunken und doch war er wieder herausgeholt, wiederhergestellt worden, um Gottes Erbarmen zu preisen. Auch war diese leibliche Errettung nicht alles. Das Grauen der alttestamentlichen Frommen vor der Unterwelt war ein Grauen vor dem Verderben in der Gottesferne, also vor dem, was wir im Licht der fortgeschrittenen Offenbarung die Hölle nennen. Vor dem Grabe verschont werden, ist viel; von dem Höllenabgrund errettet werden, ist mehr. So ist denn doppelte Ursache zum Dank, da beiderlei Errettung nur auf die herrliche Rechte des Herrn zurückgeführt werden kann. Er allein kann das Leben erhalten, er allein die Seele der Hölle entreißen.


5. Ihr Heiligen, lobsinget dem Herrn,
dankt und preist seine Heiligkeit.
6. Denn sein Zorn währet einen Augenblick,
und lebenslang seine Gnade;
den Abend lang währet das Weinen,
aber des Morgens ist Freude.


5. Ihr Heiligen, wörtlich; ihr seine Frommen, lobsinget (mit Harfenspiel) dem Herrn. Stimmt ein in meinen Lobgesang; nehmt eure Harfen und helft mir, würdig meinen Dank darbringen! Die erfahrene Hilfe erschien David so groß, dass er fühlte, er könne den Herrn nicht genügend dafür preisen; darum suchte er andere anzuwerben, ihm bei der seligen Pflicht zu helfen. Aber nicht mit verworfenen Menschen wollte er seinen Chor besetzen, mochten diese noch so schöne Stimmen haben; er brauchte fromme, heilige Sänger, die von Herzen singen können, weil Gott ihres Herzens Wonne ist. David ruft dich auf, du heiliges Volk des Herrn. Mögen die Sünder gottlos schweigen, wo es des Herrn Lob gilt, so sollt ihr desto heller singen. Ihr würdet eurem Namen "seine Frommen", d. h. die ihm treu ergeben sind, ihn herzlich lieben, wenig Ehre machen, wenn ihr stumm sein könntet. Er hat euch erwählt, euch mit Blut erkauft und Gott geweiht; eben dazu ist’s geschehen, dass ihr seine Tugenden verkündigen möget. So lasst denn diese Pflicht eure Lust sein. Lobsinget dem Herrn. Das ist köstlich und nützlich zugleich. Darum sollte es doch wahrlich nicht Not sein, euch zu einem so seligen Dienst so oft anzutreiben. Danket. (Luther) Lasst eure Lieder Dankeslieder sein, in denen des Herrn Gnadentaten wieder in freudiger Erinnerung aufleben, wie der Grundtext hier sagt: Und preist sein heiliges Gedächtnis.1 Der Herr hat sich durch seine Offenbarungen und Großtaten ein Gedächtnis gestiftet und die Erinnerung an die Liebe des Herrn sollte unsre Harfen zum Preis stimmen, auch wenn die Gegenwart nicht freudevoll ist. Heilig aber ist der Name des Herrn, denn alle Selbstbezeugungen Gottes fließen aus dem Lichtmeer seiner Heiligkeit. Wohl erfüllt uns diese Heiligkeit des Herrn mit ehrfurchtsvoller Scheu; dennoch sollen wir unsre besten Kräfte einsetzen, sie zu preisen; denn wie der Zorn, so ist auch die Liebe Gottes in seiner Heiligkeit begründet. "Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth", das ist der Lobgesang der Seraphim (Jes. 6,3); lasst uns, die Erlösten des Herrn, darin einstimmen - nicht mit dumpfen Klagetönen, als zitterten wir vor der Heiligkeit Gottes, sondern mit einem Freudenpsalm als solche, die in Demut über sie frohlocken.

6. Denn sein Zorn währt einen Augenblick. David weist hier auf die Züchtigungen hin, welche Gott in seiner väterlichen Weisheit über seine Kinder verhängt, wenn sie vom guten Wege abirren. Eine solche Heimsuchung war die Plage 2. Samuel 24, die um der Sünde Davids (und, siehe dort V. 1, des Volkes) willen über Israel kam. Solche Züchtigungen dauern nur kurz und werden aufgehoben, sobald der Gezüchtigte in wahrer Reue Vergebung sucht und die Gott wohlgefällige Sühne gebracht ist. Siehe 1. Chr. 21,17.18.22.26.27. Ja, schon vorher, V. 15, lesen wir: Und im Verderben sah der Herr drein und reute ihn das Übel und sprach zum Engel, dem Verderber: "Es ist genug. Lass deine Hand ab!" Welche Gnade ist’s, dass des Herrn Zorn nur einen Augenblick währt; denn wenn er lange brennen würde, würde alles Fleisch vor ihm vergehen. Gott hängt seine Rute je eher je lieber an den Nagel, sobald sie ihren Zweck erreicht hat. Er ist langsam zum Zorn und schnell, ihm ein Ende zu machen. Wenn aber sein zeitlicher, väterlicher Zorn so furchtbar ist, dass er kurz sein muss, wenn er uns läutern und nicht verzehren soll: Wie schrecklich muss dann der ewige Zorn des Weltenrichters wider seine Feinde sein! Und lebenslang seine Gnade. Man vergleiche dazu die herrliche Parallelstelle Jes. 54,8: Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen; aber mit ewiger Gnade will ich mich dein erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. - Die englische Bibel übersetzt an unserer Stelle; In seiner Gnade ist Leben.2 Auch dies ist eine köstliche Wahrheit und David erfuhr sie. Sobald der Herr huldvoll auf David niederblickte, war die Stadt gerettet, über der schon der Verderber schwebte; Leben herrschte statt des Todes und auch das Herz des Königs lebte wieder auf. Wir sterben dahin gleich welkenden Blumen, wenn der Herr seine Stirn runzelt; aber ein Gnadenblick von seinem Angesicht lässt uns wieder aufleben, wie der Tau die Fluren. Gottes Gnade macht das Leben nicht nur lieblich und fröhlich, sondern sie ist das Leben. Wer wissen will, was leben heißt, der suche Gottes Gnade! Am Abend kehrt Weinen ein als Gast, um über Nacht zu bleiben. (Dies der Sinn des Grundtextes.) Gern möchten wir dem ungebetenen Gast die Tür verschließen; aber gegen ihn hilft weder Schloss noch Riegel. Doch fasse dich; er bleibt nur über Nacht und eine Nacht ist keine Ewigkeit, mögen die Stunden auch noch so langsam verrinnen. Selbst in der trübsten Winterzeit zündet der Morgenstern seine Lampe an. Gott hat es weislich so geordnet, dass in unseren Leidensnächten der Tau der Tränen niederrieselt: Er fällt nicht umsonst aufs Erdreich. Wenn des Bräutigams Fernsein alles in uns und um uns düster macht, ist’s schicklich, dass die vereinsamte Seele nach einem Wiedersehen des Geliebten schmachtet. Aber am Morgen - Jubel! 3 (Wörtl.) Auf einmal ist die Freude da, und sie jagt den Gram in die Flucht, den unerwünschten Gast, der sich am Abend eingeschlichen hatte. Wie oft haben wir’s erfahren, dass mit dem Licht des neuen Tages der Kummer verschwunden war. Freude folgt auf Leid, auf Seufzen Jauchzen. Ist die Nacht vorbei, so flieht die Dunkelheit. Doch muss das Licht vom Himmel kommen, wenn die Nacht wirklich weichen soll. Wenn die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht, wird es licht im Herzen. Wie sollte nicht jubilieren, wer Jesus kennt und den Frieden der Vergebung schmeckt? Schon die ersten Strahlen des Morgenrots der göttlichen Huld erquicken wunderbar das ausgemergelte Herz; doch geht’s zum vollen Tag. Die Gläubigen wissen es aus Erfahrung, was Spitta singt:

   O Jesu, meine Sonne,
   Vor der die Nacht entfleucht!
   O Jesu meine Wonne
   Die alle Not verscheucht!
   Im Herzen klingt mir täglich
   Der eine helle Ton:
   Wie hast du so unsäglich
   Geliebt, o Gottessohn

  Ja, lasst uns dem Herrn singen; denn auch in unserm Psalm dient dieser Vers zur Begründung der Aufforderung V. 5: Lobsinget dem Herrn, ihr seine Heiligen und eine treffliche Begründung gibt er! Kurz sind die Nächte des Leidens, nie endende Tage der Seligkeit und Wonne folgen ihnen; darum auf, Psalter und Harfe, wacht auf, lasset den Lobgesang hören!


7. Ich aber sprach, da mir’s wohl ging:
Ich werde nimmermehr daniederliegen.
8. Denn, Herr, durch dein Wohlgefallen hattest du meinen Berg
stark gemacht;
aber da du dein Antlitz verbargst, erschrak ich.


7. Ich aber sprach, da mir’s wohl ging, Grundt.: in meiner Sicherheit. Als David von allen seinen Feinden Ruhe hatte und sein aufrührerischer Sohn tot und begraben war, da war die Zeit der Gefahr. Manch ein Schiff geht bei windstillem, heiterem Wetter unter. Keine Versuchung ist so gefährlich, wie die der fleischlichen Sicherheit. Da sprach er; Ich werde nimmermehr daniederliegen (wörtl.: wanken; engl. Übers.: bewegt werden). O David, da sagtest du mehr, als zu sagen oder auch nur zu denken weise war; denn Gott hat den Erdboden auf die Meere gegründet, um uns zu zeigen, was für ein armseliges, veränderliches, leicht bewegliches und unbeständiges Ding unsere Welt ist. (Vergl. zu Ps. 24,2, S. 439.) Wehe dem, der auf sie baut! Er baut sich selber einen Kerker für seine Hoffnungen. Statt zu denken, wir würden niemals daniederliegen, täten wir besser, daran zu denken, dass wir bald uns legen werden, um hier auf Erden niemals wieder aufzustehen. Nichts ist beständig unter dem wechselnden Mond. Weil mir’s heute wohl ergeht, darf ich nicht meinen, es müsse morgen auch so sein. Wie die oberste Speiche des Rades in regelrechtem Lauf bald die unterste ist, so geht es mit allem auf Erden. Es findet unaufhörlich eine Umwälzung statt. Viele, die heute im Staube liegen, werden morgen hoch erhöht sein, während die, welche heute in schwindelnder Höhe sind, bald den Erdboden küssen werden. Der Wohlstand hatte offenbar dem David den Kopf verwirrt, sonst hätte er nicht so voll Selbstvertrauens sein können. Dass er stand, hatte er nur der Gnade zu verdanken; dennoch vergaß er sich, und darum tat er einen Fall. Lieber Leser, ist nicht derselbe Hang zum Stolz in unser aller Herzen? Hüten wir uns, dass nicht die betäubenden Dünste des Erfolges uns in den Kopf steigen und auch wir zu Narren werden.

8. Denn, Herr, durch dein Wohlgefallen hattest du meinen Berg stark gemacht oder fest gegründet. David schrieb sein Gedeihen der göttlichen Huld zu und soweit handelte er richtig; denn es ist gut, das Walten des Herrn darin zu erkennen, wenn wir einen festen Stand haben und es uns wohl geht. Aber wir können hier wahrnehmen, wie das Gute auch bei guten Menschen nicht unverfälscht gut ist; denn diese Anerkennung der göttlichen Quelle seines Wohlstands war bei David vermischt mit fleischlicher Sicherheit. Er vergleicht seinen Stand mit einem Berg - ein Maulwurfshügel hätte einen treffenderen Vergleich geliefert, denn wir können von uns nicht leicht zu gering denken. Er rühmte, dass sein Berg feststehe; und doch hatte er in dem unmittelbar vorhergehenden Psalm (29,6) vom Libanon und Hermon als von hüpfenden Kälbern gesprochen. War Davids Stand fester als der des Libanon? Ach, eitle Selbstüberschätzung, wie liegst du uns allen so nah! Wie schnell zerplatzt die Seifenblase, wenn Gotteskinder eingebildet werden und annehmen, sie könnten unter den Sternen Unveränderlichkeit genießen und Beständigkeit auf diesem beständig sich wirbelnden Erdball! Wie empfindlich war die Art, wie Gott seinen Knecht von seinem Irrtum zurückbrachte: Aber da du dein Antlitz verbargst, erschrak ich. Gott brauchte nicht zur Rute zu greifen; das Verbergen seines Angesichts war genug. Das zeigt erstens, dass Davids Frömmigkeit echter Art war: Denn was kümmert’s einen Sünder, ob Gott sein Angesicht ihm verbirgt? Und zweitens sehen wir hier, wie völlig die Freude gottseliger Menschen davon abhängt, dass der Herr ihnen nahe ist. Kein Berg, wie hoch immer er sei, kann uns einen Ruheplatz gewähren, wenn unsere Gemeinschaft mit Gott unterbrochen und sein Antlitz vor uns verhüllt ist. Doch wohl denen, die dann Leid tragen! Das Beste ist, sich in dem Licht des göttlichen Antlitzes sonnen zu können; das Nächstbeste, gründlich unglücklich zu sein, wenn uns dies Glück verwehrt ist.


9. Du dir, Herr, rief ich,
und dem Herrn flehte ich:
10. Was ist nütze an meinem Blut, wenn ich zur Grube fahre?
Wird dir auch der Staub danken und deine Treue verkündigen?
11. Herr, höre, und sei mir gnädig!
Herr, sei mein Helfer!


9. Zu dir, Herr, rief ich und zu dem Herrn (dem Allherrn, Adonai) flehte ich. Das Gebet ist die untrügliche Zuflucht der Gotteskinder. Wenn ihnen jeder Ausweg abgeschnitten ist, bleibt ihnen doch noch der Zugang zum Gnadenstuhl. Ob ein Erdbeben unseren Berg in den Grundfesten erschüttert, der Thron der göttlichen Barmherzigkeit steht dennoch fest. Lasst uns nie das Beten vergessen und nie die Wirksamkeit des Betens in Frage stellen. Die Hand, die die Wunden geschlagen hat. sie kann auch heilen. Lasst uns zu ihm eilen, der uns züchtigt; er wird sich erbitten lassen. Beten ist ein besserer Trost als Kains Städtebau und Sauls Begehren nach einem Harfenspieler. Zerstreuungen und fleischliche Vergnügungen sind ein schlechtes Rezept für verwirrte und verzweifelnde Seelen. Ernstes Flehen wird Erfolg haben, wo alle andern Mittel fehlschlagen.

10. In diesem Vers erfahren wir, was und wie David betete. Er rang mit dem Herrn, er machte mit Nachdruck Gründe vor Gott geltend, er verteidigte mit Ernst sein Anliegen. Sein Gebet war nicht eine Auseinandersetzung seiner theologischen Anschauungen, auch nicht ein Erzählen seiner Erfahrungen, und noch viel weniger suchte er unter dem Vorwand, zu Gott zu beten, anderen Leuten verstohlene Hiebe zu versetzen. (Alle diese Dinge, und schlimmere, werden ja bei Gebetsversammlungen je und dann an die Stelle heiligen Flehens gesetzt.) Er rang mit Gott in heißem Flehen; darum gewann er den Sieg. Kopf und Herz, Verstand und Gemüt, Gedächtnis und heilige Logik, alles wirkte zusammen, um die Sache in der richtigen Weise dem Gott vorzutragen, der die Liebe ist und sich so gern überwinden lässt. Was für Gewinn (hättest du) an meinem Blut, (hättest du) daran, dass ich zur Grube führe? (Wörtl.) Würdest du nicht einen Sänger aus deinem Chor verlieren, und zwar einen, dem es seines Herzens Lust ist, dich zu verherrlichen? Wird dir auch der (Grabes-)Staub danken und deine Treue verkündigen? Wird dann nicht ein Zeuge deiner Treue und Wahrhaftigkeit weniger sein? So verschone denn deinen armen, unwürdigen Knecht um deines eigenen Namens willen!

11. Herr, höre, und sei mir gnädig! Eine kurze, inhaltsreiche Bitte, die in jeder Lage dienlich ist; lasst uns recht oft von ihr Gebrauch machen. Sie war des Zöllners Gebet, möge sie auch das unsere sein. Wenn Gott unser Flehen hört, ist es eine große Tat der Gnade; unsere Bitten verdienen keine Antwort. Herr, sei mein Helfer! Ein anderes treffendes, nachdrückliches, stets passendes Gebet. Es ist das rechte Wort für hunderterlei Lagen, worin Gottes Kinder sich befinden können. Es passt für den Prediger, der seine Kanzel betritt, wie für den Dulder, der sich auf seinem Lager in Schmerzen windet, für den Reichsgottesarbeiter, der unter der Mühsal seines Dienstes seufzt, wie für jeden Gläubigen, der unter innerer oder äußerer Anfechtung leidet. Wenn Gott seine Hilfe erscheinen lässt, verschwinden die Schwierigkeiten. Er ist der Seinen Helfer und erweist sich kräftig als solcher in der Not. Und siehe, die beiden kurzen und doch inhaltreichen Bitten kannst du beten, auch wenn du mit Geschäften abgearbeitet bist und dir das große Vorrecht langer stiller Stunden ungestörten Umgangs mit Gott in Gebet und Betrachtung seines Wortes nicht vergönnt ist, das solche genießen können, deren Tage in stiller Zurückgezogenheit dahinfließen.


12. Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Zeigen;
du hast mir meinen Sack ausgezogen und mich mit Freude gegürtet,
13. aus dass dir lobsinge meine Ehre und nicht stille werde.
Herr, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.


12. Man beachte den Gegensatz. Gott nimmt den Seinen die Klage, das Trauern; und was gibt er ihnen stattdessen? Ruhe und Frieden? Ja, aber noch einen guten Teil mehr: Du hast mir meine Klage in einen Reigen verwandelt. Der Herr macht ihre Herzen vor Freude hüpfen zu der Musik seines Namens. Er löst ihnen das beengende Trauergewand. Das ist gut und schön. Wer freute sich nicht, wenn er den Sack des Elends los wird? Aber was dann.? Er bekleidet uns. Und womit? Mit irgendeinem gewöhnlichen Kleid? Nein, sondern mit dem königlichen Gewand, das der Schmuck der verklärten Geister im Himmel ist: Du hast mich gegürtet mit Freude. Da der Gurt beim Orientalen ein Hauptschmuck ist, liegt in dem Gürten oft, und so auch hier, zugleich die Bedeutung des Schmückens. Mit Freude gegürtet werden ist besser, als Kleider von Samt und Seide zu tragen, die mit köstlichen Stickereien ausschmückt und mit Gold und Edelsteinen besät sind. Mancher arme Mann trägt diesen kostbaren Gurt rund um sein Herz, obwohl seine äußere Kleidung vielleicht nur aus grobem Zwillich besteht; und solch einer braucht keinen Kaiser, um all seinen Prunk zu beneiden. Es preise den Herrn, wer solch eine göttliche Investitur (Einkleidung) erlebt hat! Die Erfahrung der vollen Vergebung und Rechtfertigung, das ist die rechte Umgürtung mit dem Gurt der Freuden.

13. Auf dass dir lobsinge meine4 Ehre, das ist, meine Seele, als der edelste Teil meines Wesens, und nicht stille werde. Es wäre schändlich, wenn wir nach Empfang so großer Wohltaten den Herrn zu preisen vergessen könnten. Gott will nicht, dass unsere Zungen müßig seien, während sich so viele Anlässe zur Dankbarkeit rings um uns her darbieten. Er will in seinem Hause keine stummen Kinder haben. Im Himmel werden sie alle singen, darum sollen sie auch auf Erden schon sein Lob anstimmen und niemals schweigen. Nichts soll uns am Preis unseres Gottes hindern. Herr, mein Gott, ich will dir danken (dich mit Begleitung von Harfenspiel preisen) in Ewigkeit.

   Ich will von deiner Güte singen,
   Solange sich die Zunge regt.
   Ich will dir Freudenopfer bringen,
   Solange sich mein Herz bewegt.
   Ja, wenn der Mund wird kraftlos sein,
   So stimm’ ich doch mit Seufzen ein.

   Ach nimm das arme Lob auf Erden,
   Mein Gott, in allen Gnaden hin;
   Im Himmel soll es besser werden,
   Wenn ich bei deinen Engeln bin:
   Da sing’ ich dir im höhern Chor
   Viel tausend Halleluja vor.
   (Johann Mentzer † 1734.)


Erläuterungen und Kernworte

Zur Überschrift. Von der Einweihung des salomonischen Tempels lesen wir 1. Könige 8. Sie wurde mit Gebet, vielen tausend Opfern und einem vierzehntägigen Volksfest gefeiert. Auch als der zweite Tempel vollendet war, begingen die Priester, die Leviten und die übrigen aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten die Einweihung des Hauses Gottes mit Freuden (Esra 6,16). Im Neuen Testament (Joh. 10,22) lesen wir von dem durch Judas Makkabäus nach der Reinigung und Wiederherstellung des Hauses Gottes angeordneten Tempelweihfest, das dann alljährlich, bis zur Zerstörung des Tempels durch Titus, mit feierlichen Opfern, Musik und Gesang und allerlei Volksfesten acht Tage lang gefeiert wurde. (1. Makkabäer 4,54 ff.) Dass es aber auch sonst üblich war, beim ersten Beziehen eines neuen Hauses ein Fest, und zwar ohne Zweifel ein Fest religiöser Art, zu veranstalten, ersieht man aus der göttlichen Anordnung 5. Mose 20,5, dass niemand zum Kriegsdienst ausgehoben werden sollte, der sein Haus noch nicht eingeweiht, d. h. noch nicht unter den üblichen Formen davon Besitz ergriffen hätte. Die Sitte, neue Häuser feierlich einzuweihen, war unter allen Völkern mehr oder weniger herrschend. So weihten die Römer ihre Tempel, Theater und Statuen, wie auch ihre Paläste und Häuser ein. Samuel Chandler † 1766.
  Wie die Israeliten durch die Darbringung der Erstlingsfrüchte feierlich anerkannten, dass sie den Ertrag des ganzen Jahres von der Hand des Herrn empfingen, so erklärten sie durch die Einweihung ihrer Häuser, dass sie Fremdlinge und Gottes Lehnsleute seien und Haus und Hof vom Herrn erhalten hätten. Wenn daher eine Aushebung für einen Krieg stattfand, war es ein gerechter Grund zur Freilassung, wenn jemand geltend machte, dass er sein Haus noch nicht eingeweiht habe. Überdies war diese Sitte der Hauseinweihung wohl dazu angetan, den Israeliten in Erinnerung zu bringen, dass jeder nur dann sich in der rechten Weise seines Hauses erfreue, wenn er es so verwaltete, dass es gleichsam ein Heiligtum Gottes im Kleinen war und aufrichtige Frömmigkeit und lauterer Gottesdienst darin herrschten. Die vorbildlichen Gebräuche des Gesetzes haben nun aufgehört; aber wir sollen uns an die Lehre St. Pauli halten, dass alles, was Gott für unseren Gebrauch bestimmt, geheiligt wird durch Wort Gottes und Gebet. (1. Tim. 4,4) Jean Calvin † 1564.
  Der Zweck des Psalms ist, das Gedächtnis der Veranlassung, bei der die Stätte des von Salomo zu erbauenden Tempels von Gott ausgewählt und der Tempel selbst durch ein göttliches Zeichen geweiht wurde, auf alle Zeiten zu erhalten. Hermann Venema † 1787.

Zum ganzen Psalm.
   Erhöhn will ich ihn ewiglich,
   Der mich erhöhet hat,
   Dass nicht mein Feind kann rühmen sich;
   Nun rühm’ ich Gottes Gnad’.
   Schon bracht’ mich an des Grabes Rand
   Die Strafe meiner Schuld;
   Doch als ich nirgends Rettung fand,
   Da fand mich Gottes Huld.
   Zu ihm stieg mein Gebet empor
   Aus finstrer Schreckensnacht;
   Da neigte sich zu mir sein Ohr,
   Das hat mir Heil gebracht.
   War ich am Abend Weinens satt,
   Hell strahlt das Morgenrot:
   Der meine Kraft gebrochen hat,
   Bricht nun den Bann der Not.
   Der Sack wurde mir zum Festgewand,
   Von Leid die Seele frei.
   Im Nu ist wohl dein Zorn entbrannt,
   Doch ewig währt die Treu’
   O singe ihm mit Herz und Mund,
   Wer zu den Seinen zählt.
   Gedenket froh der seligen Stund’,
   Da er euch hat erwählt!
   Nach C. H. Spurgeon 1870.

Als J. F. Maurice († 1872), einer der bedeutendsten Männer der Broad Church d. i. der mild liberalen Richtung in der Kirche von England, wegen einer Abhandlung über das ewige Leben und den ewigen Tod seine theologische Professur am King’s College in London verlor, schrieb ihm sein Freund, der (namentlich durch seinen historisch-philosophischen Roman Hypatia) bekannte Charles Kingsley († 1875): "Geliebter Meister, ich werde Ihnen nicht kondolieren; darüber sind Sie erhaben. Nur erinnern will ich Sie an den (nach der Leseordnung der englischen Kirche) heutigen 30. Psalm, der merkwürdig genug mich durch alle großen Krisen meines Lebens geleitet hat." - Aus Ch. Kingsleys († 1875) Leben, von seiner Gattin.


V. 2. Das: Ich will dich erheben, steht in deutlicher Beziehung auf das Folgende: Du hast mich erhöht. Calvin bemerkt dazu; "Weil David wie aus dem Grabe zur Lebenslust erhoben war, verspricht er, den Namen Gottes zu erhöhen. Denn wie Gott uns, da wir in die Tiefe versenkt sind, durch seine Hand in die Höhe erhebt, so ist es wiederum unsere Schuldigkeit, sein Lob durch Herz und Mund zu erheben." Das dalah erhöhen, eigentlich schöpfen, erklärt sich aus der Darstellung des Unglücks unter dem Bilde eines tiefen Brunnens, in welchen der Sänger versenkt war. Dass an eine buchstäbliche Auffassung nicht zu denken ist, erhellt aus V. 4; "Du hast erhöht aus der Scheol (dem Totenreich) meine Seele," und aus V. 3, wo dem "du schufst mich" das "du heiltest mich" entspricht. Prof. D. E. W. Hengstenberg 1843.


V. 3. Du heiltest mich. Jedes schwere Leiden erscheint unter dem Bilde einer Krankheit, der Herr, der es wegnimmt, unter dem Bild des Arztes. Vergl. Jes. 6,10; 2. Chr. 36,16. Das Heilen hier wird erklärt durch das Helfen in V. 11 und das Erfreuen in V. 12. Prof. E. W. Hengstenberg 1843.


V. 5. Ihr Heiligen, lobsingt dem Herrn. Wenn es sich darum handelte, von etwas anderem zu singen, würde ich den ganzen Chor der Geschöpfe Gottes auffordern, in den Gesang einzustimmen. Nun es sich aber um das Lob der göttlichen Heiligkeit handelt, was sollten da profane Stimmen in dem Konzert tun? Nur "Heilige" sind tüchtig, von Heiligkeit, zumal von Gottes Heiligkeit, zu singen; nur von ihren Lippen kommen heilige Lobgesänge. Sir Richard Baker 1640.
  Der Gottesdienst hat eine innerliche und eine äußerliche Seite und das äußerliche soll dazu mithelfen, das Gemüt für den innerlichen Gottesdienst zu bereiten. Stumpfe Schläfrigkeit hindert die Tätigkeit der Seele, die entgegengesetzte Gemütsverfassung fördert sie. Der Gesang ist ein mächtiges Mittel, die Seele in die rechte Stimmung zu bringen. Er weckt das Herz auf. Auch ist der Gesang der Teil des öffentlichen Gottesdienstes, bei dem das stille Nachdenken am meisten zu seinem Recht kommt, da er das Herz länger bei den einzelnen Worten und Gedanken festhält. Gebet und Predigt schreiten schnell von einem Satz zum andern, so dass ein innerliches Verarbeiten nachfolgen muss, wenn wir den vollen Nutzen davon haben wollen; denn die neuen Gedanken folgen Schlag auf Schlag und lassen es nicht zu, dass wir das Vernommene im Augenblick tiefer überdenken und still dabei verweilen. Beim Gesang dagegen können wir zugleich beten und sinnen, die Geistesnahrung aufnehmen und rasch innerlich verarbeiten. Und wer nicht so die Psalmen singt, hat noch nicht recht singen gelernt. John Lightfoot † 1675.


V. 6. Sein Zorn. Gott ist nicht selten zornig mit seinen Knechten; und wie viel Grund zum Danken haben die unter euch, welchen Gottes Antlitz freundlich leuchtet! Andere macht er zur Zielscheibe seiner Pfeile und ihr hört sie seufzen über ihre innere Verlassenheit; ihr dagegen seid voller Freude. Ihr könnt hoffnungsfreudig den Himmel blicken, während jener Augen mit Kummer wie mit einem Schleier bedeckt sind. Gegen sie klingt Gottes Stimme rauh, während er euch freundlichen Trost zuspricht. Ihnen scheint er zu widerstehen, als wären sie seine Feinde, während er sich euch als liebevoller Freund erweist. Ihr seht ein freundliches Lächeln väterlicher Liebe auf seinem Antlitz, während sie nichts anderes darauf entdecken können als fortgesetztes Stirnrunzeln, das ihnen Schrecken und Angst einjagt. O preiset in Demut anbetend die Gnade, die euch widerfährt! Seid ihr besser als so viele Gotteskinder, die eben jetzt in einem feurigen Schmelzofen sind? Habt ihr weniger Schlacken als sie? Meint ihr, sie hätten in höherem Grade gesündigt, als ihr es je getan habt? Er zürnt mit ihnen wegen ihrer Mattheit und ihrer verkehrten Wege. Haben eure Herzen stets vor Liebe gebrannt? Haben eure Füße stets seinen Weg eingehalten? Seid ihr nie weder zur Rechten noch zur Linken abgewichen? Habt ihr euch nie von dem Hirten entfernt? Euer Gewissen gibt euch die Antwort. Welche Gnade ist es demnach, dass er mit euch nicht so zürnt wie mit ihnen! Werdet darüber nicht hochmütig; denn obwohl er euch seinen Zorn jetzt nicht fühlen lässt, mag es bald der Fall sein. Das war Davids Fehler: Ich aber sprach, da mir’s wohl ging: Ich werde nimmermehr daniederliegen. Doch gleich darauf folgt: Aber da du dein Antlitz verbargest, erschrak ich. Jetzt scheint die Sonne über euch; aber es können noch viele Stürme und Wolken und Finsternis über euch kommen, ehe ihr am Ende eurer Wanderschaft angelangt seid. Die Jünger freuten sich einst hoch über die Herrlichkeit auf dem Verklärungsberg und während der Unterredung zwischen Christus und Mose und Elia wähnten sie sich im Himmel. Hier ist gut sein, sprachen sie. Aber da kam eitle Wolke und bedeckte all die Herrlichkeit und Furcht und Schrecken befiel die Armen. Es ist wahr, der Zorn Gottes währt nur einen Augenblick; aber selbst dieser Augenblick ist unaussprechlich traurig und furchtbar. Das Weinen währt nur eine Nacht, aber diese Nacht kann entsetzlich bitter und schmerzlich sein. Sie kann schrecklich sein wie jene Nacht dort in Ägyptenland: Als die Ägypter um Mitternacht aufstanden, sahen sie, dass alte ihre erstgeborenen Söhne tot waren, und ein großes Geschrei und Klagen ging durchs ganze Land. So kann die Nacht des göttlichen Zorns all unseren Trost und unserer Augen Lust hinwegnehmen und die Erstgeburt unsere Kraft, alle Zuversicht und Freude unsrer Hoffnung mit einem Schlage vernichten. Timothty Rogers † 1729.
  Am Abend kehrt Weinen ein, aber am Morgen Freude. Wie oft haben wir die Wahrheit dieses Wortes buchstäblich erfahren! Wie schwer drückt uns der Kummer am Abend! Unser abgemartertes Gehirn, unsre überreizten Nerven scheinen ganz unfähig, den Druck zu ertragen. Das Herz klopft stürmisch, und der fiebrige, ruhelose Körper verweigert seine Hilfe bei dem Werk der Geduld. Wir fühlen uns elend und hilflos, es ist keine Kraft da, dem Ansturm zu widerstehen, wir brechen in heftiges Weinen aus und unsre Tränenströme scheinen nie versiegen zu sollen. Endlich übermannt uns der Schlaf. Der Kummer, die Anfechtung oder was immer es sei, das uns zu überwältigen sucht, geht den einen Schritt zu weit, mit dem es die Grenze überschreitet, und treibt gerade durch seinen übermäßigen Ansturm unsere schwache menschliche Natur dem Schlaf in die Arme, so dass wir für jetzt weiteren Anläufen des Kummers und Leides entrückt sind. Nach solch einer tränenvollen Nacht und dem schweren Schlaf der Erschöpfung erwachen wir mit einem unbestimmten Gefühl von Not und Kummer. Die Gedanken sammeln sich und nun wundern wir uns über die Heftigkeit unsrer Gemütsbewegung, so wie die Erinnerung daran zu uns zurückkehrt. Was war es denn, das so hoffnungslos, so finster schien? Warum waren wir am Verzweifeln? So sehen sich die Dinge jetzt nicht an - traurig noch immer, aber erträglich, - schwierig, aber nicht unmöglich, - schlimm genug vielleicht, aber zum Verzweifeln doch nicht. Nein, wir können wieder Hoffnung fassen. Der Glaubensblick richtet sich nach oben, und mitten in dem Leid freut das Herz sich Gottes, seines Heilandes. Am Abend kehret Weinen ein, aber am Morgen Freude. Und so wird’s auch sein, wenn dies Leben mit seinen Kämpfen und Mühen, seinen Anfechtungen und Sünden einst in dem schweren letzten Kampf endet, - dann wird Gott den Seinen Schlaf geben. Sie schlafen ein in Jesu Armen und erwachen zu dem freudevollen Morgen, der keine Neige kennt, zu dem Morgen der lichten Ewigkeit. Dann strahlt die Sonne der Gerechtigkeit über ihnen. Licht ist nun ausgegossen auf alle ihre Wege. Und sie können nur staunen, wenn sie sich die Mühsale und Kümmernisse des Erdenlebens mit den Stunden der Hoffnungslosigkeit und des leidenschaftlichen Schmerzes in Erinnerung rufen, und was sie oft auf Erden gesagt haben, das sagen sie jetzt mit noch ganz anderer Wärme der Empfindung: Das Weinen hat nur "die Nacht" gewährt, und jetzt ist’s Morgen, und Freude und Jubel sind da! Und unsere Sorgen und Zweifel, unsre Kümmernisse und Schwierigkeiten, die bangen, verzweiflungsvollen Blicke in die lange Nacht der Trübsal - wo sind sie? Ja, da wird überschwänglich in Erfüllung gehen, was Gott in seinem Wort verheißen hat; Die Erlösten des Herrn werden gen Zion kommen mit Jauchzen und ewige Freude wird auf ihrem Haupte sein. Wonne und Freude werden sie ergreifen, aber Trauern und Seufzen werden von ihnen fliehen und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. (Jes. 51,11; Off. 21,4.) Mary B. M. Duncan † 1865.
  Das Trauern der Gotteskinder währt nur bis zum Morgen. Der Herr wird ihre Nacht in Licht, ihr Seufzen in Singen, ihr Schluchzen in Jauchzen, ihre Schwermut in Frohmut, ihre Wehmut in Wonne wandeln. Das Leben des Christen ist voller Veränderungen. Gesundheit und Krankheit, Schwäche und Stärke, Mangel und Überfluss, Ehre und Schmach, böse Gerüchte und gute Gerüchte, Sorgen und Freuden, Leiden und Tröstungen, Elendsempfindungen und Gnadenerfahrungen wechseln miteinander ab. Lauter Honig würde uns schaden, lauter Wermut uns verderben; ein Gemisch von beiden dient am besten zur Gesundheit unserer Seele. Wir brauchen beides, den scharfen Nordwind der Trübsal und den milden Südwind der Gnade. Thomas Brooks † 1680.
  Gott sendet uns die Trübsale als Engel, die eine Botschaft an uns auszurichten haben. Sie sollen uns sagen, dass wir Gottes vergessen und uns im Irdischen verloren haben, dass wir stolz und geringschätzig geworden sind. Haben sie sich ihres Auftrages entledigt, so verschwinden sie bald. Thomas Playfere 1604.
  Die Welt beginnt ihre Zeit mit Tagen zeitlichen Wohlseins und endet mit einer Nacht der Dunkelheit und Angst, die kein Ende nimmt. Die Gemeinde des Herrn beginnt ihre Zeit mit der Nacht der innern und äußern Leiden; doch währt diese Nacht nur eine Welle und ihr folgt ein Tag der Erquickung vom Angesicht des Herrn, ein Tag, dessen Licht in alle Ewigkeit nicht untergeht. Timothty Rogers † 1729.
  Des Gottesfürchtigen Freude kommt am Morgen, wenn des Gottlosen Freude verschwindet; denn diesem bringt der Morgen nicht Licht, sondern Finsternis, wie dem Gevögel der Nacht. Er fürchtet sich nicht nur vor dem Tadel und der Strafe, sondern ob auch niemand um seine nächtlichen Geschäfte weiß, leidet er schon Elend genug durch die Verwüstung seiner Seele, wie durch die Vergeudung von Kraft und Zeit und Geld. Zachary Bogan † 1659.
  Keine Rose ohne Dornen - so ist’s mit allem Irdischen, und wer da zu fest zugreift, erfährt es. Gerade weil Gott seine Kinder nicht dem Verderben anheim geben will, lässt er sie, wenn sie ihr Herz an die Kreatur hängen, eben in dem, was sie mit sündiger Lust ergreifen, einen Stachel finden. John Preston † 1628.


V. 6.12. Zwar denkt zuweilen ein weinender Mensch, er könne nie aufhören zu weinen, und ein Trauernder, er wolle nie aufhören zu trauern; ist er aber ein wahrer Christ und hat der Heilige Geist das Regiment in seiner Seele, so kann er seinen Vorsatz nicht ausführen. Er kann’s nicht hindern, wenn ihm der Heilige Geist dasjenige, worüber er geweint hat, auf einer heiteren oder wenigstens erträglichen Seite vorstellt; ja er muss es leiden, wenn dieser göttliche Geist ihm den Sack gleichsam auszieht und ihn mit Freuden gürtet, wie von David V. 12 gesagt wird. Nur ein steifer Eigensinn kann das Trauern, das anschließend ein ungläubiges Murren wider Gott ist, ganze Monate und Jahre durchsetzen. Magnus Friedrich Roos 1790.


V. 7. "Ich werde nimmermehr daniederliegen." Hiermit gesteht David seine Sicherheit. Denn so denken nicht nur die Gottlosen (Ps. 10,6), sondern es verfallen oft auch Gottes Kinder in solche Schwachheit, dass sie sich einbilden, sie stehen so fest, als wenn sie angenagelt wären, wie diese Redensart gebraucht wird. Johann David Frisch 1719.


V. 7.8. Solche Abschnitte unseres Lebens, da wir in eine besondere uns von Gott gewiesene Ausgabe eintreten oder eine besondere Gnade von Gott empfangen, sind Zeiten, wo wir uns aus außergewöhnliche Versuchungen des Satans gefasst machen müssen. Gerade wenn wir große Aufgaben ausrichten oder hohe Gnaden empfangen haben, sind wir am meisten geneigt, hochmütig zu werden und in Unvorsichtigkeit, fleischliche Sicherheit und Selbstvertrauen zu geraten, wie ein reichliches Mahl einen schläfrig oder der Speise überdrüssig macht, und wie die Menschen am meisten in Gefahr sind, sich zu vergessen, wenn sie zu Ansehen kommen. Hiobs Reichtum und Würde machten ihn, obwohl er sich beides ohne Makel erworben hatte, doch so voll Selbstvertrauens, dass er nach seinem eigenen Bekenntnis (29,18 Grundtext) sprach; "Sterben werde ich in meinem Nest in Ruh’ und Ehren, und meine Tage werden sich wie eines Phönix Tage mehren." Als David Gottes Huld in mehr als gewöhnlichem Maße erfuhr, wurde er, der doch mehr als die meisten andern Menschen die Veränderlichkeit des Erdenlebens gekostet hatte, so sicher, dass er wähnte, er werde nimmermehr daniederliegen. Aber er gestand seinen Fehler ein, und zur Warnung anderer schrieb er es nieder, dass er eben da, als die Strahlen der göttlichen Gnadensonne warm auf ihn niederschienen, der Versuchung der fleischlichen Sicherheit erlegen war. Da verbargst du dein Antlitz - und als Gott ihm sein Angesicht verbarg, da zeigte der Teufel ihm natürlich sein Gesicht - und ich erschrak oder wurde bestürzt. Wohlsein erzeugt Selbstvertrauen; Selbstvertrauen macht nachlässig; Nachlässigkeit führt dazu, dass Gott sich entzieht, und gibt dem Satan Gelegenheit, ungesehen seine Altschläge ins Werk zu setzen. Und wie es oft geschieht, dass ein Kriegsheer, wenn es sich durch einen Sieg in Sicherheit wiegen lässt, plötzlich überfallen und geschlagen wird, so erleiden auch wir nicht selten gerade nach geistlichen Fortschritten eine Niederlage. Richard Gilpin 1677.
  Der Berg ist der von Natur und durch Kunst feste Zion (2. Samuel 5,9) und dieser ist als Schlossberg Emblem (Sinnbild) des Davidischen Reiches. Jahwe hatte Davids Reich stark gemacht, als er ihm seines Selbstvertrauens halber zu fühlen gab, wie er alles nur durch Ihn und ohne Ihn gar nichts sei. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  David hatte den Berg Zion von den Jebusitern erobert und sich einen Palast zur Wohnung darauf erbaut; so war die Zionshöhe sein Berg geworden. Der Zion war durch seine natürliche Beschaffenheit stark und durch die Befestigungen, die David baute, wurde er fast uneinnehmbar. Auch hatte der Herr sich zu David bekannt, hatte seine Feinde vor ihm her in die Flucht gegeben und sein Reich befestigt. Dies alles erkannte David als Wirkung der göttlichen Huld gegen ihn an; aber - und hier beginnt sein Fehler- er glaubte sich nun versprechen zu dürfen, dass seine Ruhe und sein Glück in alle Zukunft so ungestört und unerschüttert bleiben würden, wie der Berg Zion selber. Samuel Chandler † 1766.
  Es ist selten, dass jemand, der viel von den Gütern dieser Welt bekommt, nicht gleich dem verlornen Sohne fern über Land zieht. Es ist schwer, sich in äußerem Wohlstand nahe zu Gott zu halten, in steter Abhängigkeit vom Herrn zu leben und an ihm allein des Herzens Lust zu haben, wenn wir so vieles besitzen, was dem Anschein nach unser Leben erhalten und unser Herz befriedigen kann. Wie leicht kommt da der Glaube außer Übung und wendet sich unsere Liebe von Gott ab, der Kreatur zu. Als David im Glück war, tönte es nicht mehr so klar in seinem Herzen; "Der Herr ist mein Gut und mein Teil", sondern wir hören da eine ganz andere Sprache von seinen Lippen. Wir sind wie Kinder, die im goldnen Sonnenschein den Schmetterlingen nachjagen und sich unversehens weit vom Vaterhaus entfernen; die Nacht bricht über sie herein, ehe sie es merken, und nun merken sie, dass sie sich verloren haben, und Angst befällt sie, denn sie wissen nicht, wie sie wieder heimkommen sollen. Als du dein Angesicht verbargest, erschrak ich. Elias Pledger 1677.
  Erschrak ich. Das Wort im Grundtext wird von der äußersten Konsternation und Bestürzung gebraucht, wie bei Saul 1. Samuel 28,21, und zeigt einen plötzlichen Verlust alles Trosts, Rats und Kräften an. Johann David Frisch 1719.
  Wie deutlich lehrt diese Erfahrung Davids (V. 8b) die herrliche, trostreiche Wahrheit, bei der die Ausleger aus dem Mittelalter mit Vorliebe verweilen, dass es eben davon, ob Gott seinen Geschöpfen das Angesicht zuwendet oder entzieht, abhängt, ob diese glücklich oder unglücklich sind; dass die geistliche Freude, welche oft wie von selbst in unserm Innern emporsprudelt, daraus zu erklären ist, dass Gottes Blick in Gnaden unmittelbar auf uns gerichtet ist, während die Traurigkeit, die uns manchmal befällt, ohne dass wir eine besondere Ursache derselben angeben können, - sei es eigentliche Schwermut oder zeitweilige Niedergeschlagenheit, - im Grunde nichts anderes ist, als dass Gott sein Antlitz vor uns verbirgt. John Mason Neale 1860.
  Äußere Trübsale verletzen nur gleichsam die Haut, diese innere Trübsal aber, das Entziehen des göttlichen Angesichts, trifft die Lebensader. Jene prasseln wie ein Schauer nur auf das Dach nieder, diese dringt in das Innere des Hauses ein. Aber Christus bringt den Gläubigen kräftigen Trost wider den Kummer der geistlichen Verlassenheit. Er selbst war eine Zeitlang von Gott verlassen, damit sie nicht für immer von Gott verlassen sein müssten. Joh. Flavel † 1691.


V. 9. Bei Bernhard von Clairvaux († 1153) finden wir eine Parabel über das Gebet, die des Erzählens wert ist. Die Könige von Babylon und Jerusalem, das ist, die Welt und die Kirche, waren in steter Fehde. Als der Krieg schon lange gewährt hatte, begab sich’s, dass einer der Krieger von Jerusalem zu der Zitadelle der Stadt, der Burg der Gerechtigkeit, eilte. Die Burg war belagert; ein zahlloses Heer von Feinden umgab sie. So gab Furcht denn alle Hoffnung auf, aber Klugheit sprach ihr Trost zu. "Weißt du nicht", sagte sie, "dass unser König der König der Herrlichkeit ist, der Herr stark und mächtig, der Herr mächtig im Streit? Lass uns daher einen Boten zu ihm senden, der ihm von unserer Not Kunde gebe." Furcht antwortete; "Aber wer kann da hindurchbrechen? Finsternis bedeckt die Erde, unsere Wälle sind von einem wachsamen, wohl gewappneten Heer umlagert, und wir sind des Weges in das ferne Land ganz unkundig." Darauf fragten sie Gerechtigkeit um Rat. Die antwortete; "Seid gutes Muts! Ich habe einen ganz zuverlässigen Boten, der mit dem König und seinem Hause wohl bekannt ist und es versteht, in der tiefsten Stille der Nacht aus Pfaden, die sonst niemand kennt, zu des Königs Palast zu gehen, und der zu der geheimen Kammer des Königs Zutritt hat. Der Bote heißt Gebet." Alsbald macht Gebet sich auf den Weg, findet die Tore verschlossen, klopft, und klopft abermals, und ruft: "Tut euch auf, ihr Tore des ewigen Rechts, dass ich eingehe und dem König von Jerusalem sage, wie es um uns steht." John King † 1621.


V. 10. Was für Gewinn (hättest du) an meinem Blut? David wäre willig, zu sterben, wenn er durch den Tod seinem Gott oder seinem Volk einen wirklichen Dienst tun könnte. (Vergl. Phil. 2,17) Aber er vermochte nicht einzusehen, dass irgendetwas Gutes daraus als Frucht hervorgehen könnte, wenn er auf dem Siechbett sterbe, wie es der Fall sein würde, wenn er auf dem Feld der Ehren fiele. Herr, spricht er, willst du einen aus deinem Volk umsonst verkaufen (Ps. 44,13), ihn dahingeben, ohne dass du dabei etwas gewinnst? Matthew Henry † 1714.
  Davids Bitte um Lebensfristung war also nicht auf irdischen Besitz und Genuss, sondern auf Gottes Ehre gerichtet. Er fürchtete den Tod als Ende des Lobes Gottes. Denn jenseits des Grabes werden keine Psalmen mehr gesungen, Ps. 6,6. Der Hades war im Alten Testament noch unüberwunden, der Himmel noch nicht geöffnet. Im Himmel sind die Myli)" yn"bI:, die Gottessöhne, d. h. die Engel, Ps. 29,1, noch nicht selige Menschenkinder, Mdf)f yn"bI: Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Soll unser Gebet bei Gott durchgingen, so muss es sich auf gute Gründe stützen. Gott hat es gern, dass wir mit ihm, dass ich so sage, disputieren und ihn mit heiligen Beweisgründen überwinden. Thomas Watson 1660.


V. 12. Gerade dieses Auf und Ab, das sich so oft in den Psalmen findet, dieser Wechsel zwischen Tiefen und Höhen, zieht mich so an. Adelaide Newton † 1854.
  Ich sage mit dem Apostel; überwinde das Böse mit Gutem - den Gram durch Freude. Echte Freude ist das wahre Heilmittel gegen die Traurigkeit. Es hat nie ein anderes gegeben und kann kein anderes geben. Wenn unsre Seele weint, müssen wir ihr Gründe zur Freude darreichen. Aller andere Trost ist unnütz. Prof. Alexander R. Vinet † 1847.


V. 13. Ehre hier und Staub V. 10 haben eine Beziehung aufeinander, vergl. Ps. 7,6. F. C. Oetinger 1775.
  Was ist der Dank? Die Pacht, die wir Gott schuldig sind; und je größer das Lehnsgut, desto mehr Zins sind wir zu zahlen schuldig. G. S. Bowes 1863.


Homiletische Winke

Zur Überschrift. Hauseinweihung- und wie sie zu feiern ist.

V. 2a. Gott und sein Volk, einander erhöhend. (Ich will dich erhöhen - du hast mich emporgezogen. Wörtl.)
V. 2b. Der Segen der Bewahrung vor der Schadenfreude unsrer Feinde.
V. 2. Die Enttäuschungen Satans und seiner Helfershelfer.
V. 3. Der Kranke, der Arzt, die Nachtglocke an seinem Hause, die Arznei und die Kur. Oder: Der Bundesgott und die kranke Seele; ihr Hilferuf zu ihm und seine heilende Hand.
V.4. Heraufgeholt aus der Unterwelt; neubelebt aus der Mitte derer, die zur Grube sinken. (Grundtext) Rettung vom zeitlichen und ewigen Tod, beides unmittelbare Wirkung Gottes. Du hast.
V. 5. 1) Das Singen - ein Gottesdienst; 2) die Heiligen (Grundtext: ihr, seine Frommen) besonders dazu berufen; 3) ihr liebster Gesang: Gottes heiliges Wesen und seine heiligen Großtaten (sein heilige Gedächtnis, Grundtext).
V. 6. Der Zorn Gottes - in seiner Begehung zu den Auserwählten.
  Die Nacht des Weinens und der Morgen der Freude "Kurz ist der Schmerz - und ewig ist die Freude!" (Schiller, Jungfrau von Orleans, Schluss.) Wahr bei den Gläubigen.
V. 7. Die eigentümlichen Gefahren des Wohlergehens.
  Fleischliche Sicherheit: Woher kommt sie? Welche Gefahren birgt sie in sich? Wie erwehren wir uns ihrer?
V. 7-13. Was in Davids Herzen vorging 1) vor der Trübsal V. 7, 2) während der Trübsal V. 8-11 und 3) nach der Trübsal V. 12. 13 William Jay † 1853.
  Davids Wohlergehen hatte ihn in falsche Sicherheit eingelullt; Gott sandte ihm Trübsal, ihn daraus zu erwecken. Wir finden die verschiedenen Zustände seines Gemüts hier deutsch beschrieben 1) Sein Trotzen. 2) sein Verzagen; 3) sein inbrünstiges Flehen; 4) seine schnelle Wiederherstellung 5) sein dankbares Bekenntnis. Charles Simeon † 1836.
V. 8b. Die heilsame Trauer einer Seele in geistlicher Dunkelheit.
V. 9. in Verbindung mit V. 3: Gebet das Universalheilmittel.
V. 10a. Berufung auf Gottes Ehre, um Lebensrettung und neue Gnade zu erlangen.
V. 10b. Die Auferstehung - die Zeit, wo der Staub Gott preisen und seine Treue verkündigen wird.
V. 11. Zwei köstliche Bitten; kurz, aber inhaltreich und nie überflüssig.
  Herr, sei mein Helfer! Ich sehe viele fallen; auch ich werde stürzen, wenn du mich nicht aufrecht hältst. Ich bin schwach und vielen Versuchungen ausgesetzt. Mein Herz ist ein betrüglich Ding. Meine Feinde sind mächtig. Auf Menschen kann ich kein Vertrauen setzen, ebenso wenig auf mich selbst. Was ich an Gnade früher empfangen habe, wird mich nicht durchbringen, wenn Du selber mir nicht stets beistehst. Herr, sei mein Helfer! Bei jeder zu erfüllenden Pflicht, in jedem Kampf, in jeder Anfechtung, bei jeder Bemühung, Gottes Reichssache zu fördern, in der Zelt des Wohlergehens wie in der Not, kurz, in jeder Stunde unseres Lebens passt dies kurze, aus dem Geist geborene Gebet. Möge es uns jetzt aus dem Herzen quellen und oft auf unsere Lippen kommen und mögen wir seine Erhörung erfahren. Denn wenn der Herr sich uns als Helfer erweist, ist keine Pflicht zu schwer, kein Feind unbesiegbar, keine Schwierigkeit unüberwindlich. James Smith † 1862
V. 12. Wunderbare Wandlungen; plötzlich, völlig, gottgewirkt (du), persönlich zu erfahren (mir); heilvoll.
  Des Gläubigen wechselnde Tracht. Man erläutere dies an Mardochai oder Joseph. Man erinnere daran, wie der Christ bald ein Festgewand und bald ein Ttauerkleid, bald den Pilgerrock, bald den Arbeitskittel, bald des Bettlers Lumpen, bald die Sträflingsjacke trägt usw.
V. 13. Der herrliche Zweck der göttlichen Führungen.
  Wann ist Schweigen sündig?
  Heilige Gelübde; wann zu geloben? (Vergl. den ganzen Psalm.)

Fußnoten

1. "Parallel dem Namen (vergl. 2. Mose 3,15; Jes. 26,8; Hos. 12,6; Ps. 97,12; 135,13), jedoch nicht identisch mit demselben. Der Name macht Gott bekannt das Gedächtnis bringt ihn und was nur ihm schuldig sind, in Erinnerung." (Lange-Moll.)

2. Ähnlich übers. die LXX, sowie Hengstenberg. In der Tat steht Leben gewöhnlich in der Bedeutung des materiellen Gegensatzes gegen den Tod. Aber Ps. 27,4 zeigt dass bei diesem Wort unter Umständen auch der Zeitbegriff hervortreten kann. Entscheidend ist für unsere Stelle der Gegensatz zu Augenblick, sowie die Parallele Jes. 54,8, die ohne Zweifel auf unseren Vers zurückblickt.

3. Man kann aus dem Vorhergehenden das Zeitwort ergänzen: kehrt Jubel ein; aber noch kräftiger ist der Ausdruck, wenn man diesen Satz als Nominalsatz fasst. Aber am Morgen - Jubel! (nämlich: ist Jubel da, plötzlich, unerwartet.)

4. Man mag allerdings mit LXX, Luther, Delitzsch das "meine" ergänzen oder dann eher ydiObkI: lesen. Zu dem Ausdruck vergl. dann Ps. 7,6; 16;9; 108,2; Doch kann hier auch (wie Ps. 149,5) Lobgesang heißen: Auf dass dich besinge nie verstummender Preis (Bäthgen Keßler).