Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 4 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Dieser Psalm ist offenbar ein Seiten- und Gegenstück des dritten und diesem zugesellt, um mit ihm ein Paar auszumachen. Haben wir den dritten Psalm als Morgenlied bezeichnet, so kommt dem vorliegenden mit ebensoviel Recht die Überschrift Ein Abendlied zu. Mögen die köstlichen Worte des 9. Verses auch unser Schlummerlied sein, womit wir uns zur Ruhe legen.
  Die alte Überschrift lautet: Ein Psalm Davids, vorzusingen, wörtlich: dem Sangmeister oder Musikmeister, auf Saitenspiel. Über die Sangmeister des Heiligtums lese man aufmerksam 1. Chr. 6,31f.; 15,16-22; 25,1-7. Freunde heiligen Gesanges werden in diesen Abschnitten vieles finden, was beachtenswert ist und über die rechte Art und Weise, wie wir Gott in seinem Hause preisen sollen, Licht gibt.
  Auf Saitenspiel. Die Freude des Volkes Gottes im alten Bunde war so groß, dass sie der Musik bedurften, um die Empfindungen ihrer Seele zum Ausdruck zu bringen. Unsere Freude am Herrn ist nicht weniger überströmend, wenngleich wir es vorziehen, sie auf eine geistigere, dem Charakter des neuen Bundes angemessenere Weise auszudrücken.1 Im Blick auf diese mit der Hand gespielten Saiteninstrumente sagt der orientalische Kirchenlehrer Gregor von Nazianz († 390): "Herr, ich bin ein Instrument, das der Berührung deiner Hand wartet." O dass auch wir dem Geist des Herrn stets so zur Verfügung stehen möchten! Wenn er die Saiten unseres Herzens rührt, werden liebliche Töne daraus hervorquellen. Sind wir voll Glaubens, voller Liebe, dann sind wir lebendige Musikinstrumente.

Einteilung. In dem 2. Vers fleht David zu Gott um Hilfe. Im 3. rechtet er mit seinen Feinden, und bis Vers 6 fährt er fort, seine Rede an sie zu richten. Vers 7 bis zum Schluss stellt er mit Wonne seine eigene Zufriedenheit und Sicherheit dem gegenüber, wie ruhe- und friedelos die Gottlosen sind, auch wenn es ihnen aufs Beste geht. Der Psalm ist höchst wahrscheinlich bei derselben Gelegenheit wie der vorhergehende gedichtet worden. Er ist also wiederum eine köstlich duftende Blume aus dem Garten der Trübsal. Es ist doch ein Glück für uns, dass David durch solche Leiden hindurchgegangen ist; diese lieblichen Glaubenslieder wären uns sonst nie zu Ohren gekommen.


Auslegung

2. Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit,
der du mich tröstest in Angst;
sei mir gnädig, und erhöre mein Gebet!

Wir haben hier wiederum ein Beispiel, wie David frühere Gnadenerweisungen als einen Grund für erneute Bezeugungen der göttlichen Huld in der Gegenwart vor Gott geltend zu machen pflegte. Er lässt den Blick über die Eben-Ezer seines Lebens schweifen und gewinnt an ihnen Zuversicht. Es ist undenkbar, dass Er, der uns aus sechs Trübsalen errettet hat, in der siebenten uns im Stich lassen sollte (Hiob 5, 19). Gott tut nichts halb. Er wird nie aufhören, uns zu helfen, bis unsere Hilfsbedürftigkeit einst aufhört. Das Manna wird jeden Morgen vom Himmel herabträufeln, bis wir über den Jordan gekommen sind (2. Mose 16,35; Jos. 5,12).
  Man beachte, dass David erst zu Gott redet, dann erst zu den Menschen. Wir würden gewiss den Menschen gegenüber eine freiere Sprache führen, wenn unser Umgang mit Gott beständiger wäre. Wer den Mut hat, seinem Schöpfer ins Angesicht zu blicken, wird vor den Erdensöhnen nicht zittern.
  Der Name, womit der Herr hier angeredet wird, Gott meiner Gerechtigkeit, verdient Beachtung, da er sonst nirgends in der Schrift gebraucht ist. Er bedeutet: Du bist der Urheber, der Zeuge, der Erhalter, der Richter und der Vergelter meiner Gerechtigkeit; auf dich berufe ich mich bei den Schmähungen und harten Urteilen der Menschen. Das ist Weisheit, die der Nachahmung wert ist. Lasst uns, Brüder, unsere Klagen nicht vor dem niedrigen Gerichtshof des Urteils der Leute vorbringen, sondern vor dem höchsten Gerichtshof vor dem königlichen Gericht des Himmels.
  Der du in Drangsal mir Raum geschafft hast. (Wörtl.) Das Bild führt auf ein in eitlem Hohlweg eingeschlossenes und dort von den umzingelnden Feinden hart bedrängtes Kriegsheer. "Gott hat die Felsen zerschmettert und aus dem Weg geräumt und mir Raum gegeben: er hat eine Bresche geschlagen und mich ins weite Feld geführt." Oder wir können den Sinn so fassen: "Gott hat mein Herz weit gemacht in Freude und Trost, als ich einem in Kummer und Sorge Gefangenen glich." So übersetzt ja Luther: Der du mich tröstest in Angst. Wer Gott zum Tröster hat, wird nie des Trosts ermangeln.
  Sei mir gnädig. Ob du es gleich um meiner vielen schweren Sünden willen gerechterweise zulassen könntest, dass meine Feinde mich verderben, so flüchte ich mich dennoch zu deiner Gnade und flehe dich an, erhöre mein Gebet und führe deinen Knecht aus seinen Nöten. Die besten unter den Menschen haben Gnade nötig wie die schlechtesten. All die Durchhilfe, welche die Gläubigen erfahren, ist gerade so gut wie die Begnadigung des Sünders eine freie Gabe der himmlischen Gnade.


3. Lieben Herrn2, wie lange soll meine Ehre geschändet werden?
Wie habt ihr das Eitle so lieb und die Lüge so gerne! Sela.

In diesem zweiten Teil des Psalms werden wir aus dem Gebetskämmerlein auf das Kampfesfeld geführt. Man merke auf den unerschrockenen Mut des Mannes Gottes. Er gibt zu, dass seine Feinde große Männer sind; dennoch hält er sie für Toren und tadelt sie, als hätte er Kinder vor sich. Er schilt sie, dass sie das Eitle so lieb haben und die Lüge so gerne, dass sie trügerischen Wahngebilden nachjagen und gottlose Lügengewebe spinnen. Er fragt sie, wie lange sie gedächten mit seiner Ehre zu scherzen und seinen guten Ruf zum Spott zu machen. Ein wenig solcher Belustigung ist schon zu viel; warum müssen sie ohne Aufhören diesem freveln Spiele frönen? Hatten sie nicht schon lange genug darauf gewartet, dass er wanken würde? Hatten die wiederholten Enttäuschungen sie noch nicht überzeugt, dass Jahwes Gesalbter durch all ihre Schmähungen nicht zu Fall gebracht werden könne? Haben sie im Sinn, ihre Seele in die Hölle hineinzuscherzen und mit ihrem Gelächter fortzufahren, bis die Rache plötzlich ihre Lustigkeit in Heulen verwandelt? Der Psalmist hält mit feierlichem Ernst in der Betrachtung, wie widerspenstig seine Feinde in ihrem eitlen und lügnerischen Streben beharren, inne; er fügt ein Sela ein. Sicherlich dürfen auch wir hier ein wenig verweilen und über die tief gewurzelte Bosheit der Gottlosen, ihr Beharren im Bösen und ihren sicheren Untergang nachdenken und dann die Gnade anbeten, die uns zu etwas anderem gemacht und uns gelehrt hat, die Wahrheit zu lieben und nach Gerechtigkeit zu trachten.


4. Erkennen doch, dass der Herr seine Heiligen wunderbar führet;
der Herr höret, wenn ich ihn anrufe.

Erkennet doch. Toren wollen nicht lernen, darum muss ihnen immer und immer wieder dasselbe gesagt werden, nämlich die Tatsache, dass die Gottseligen die Auserwählten Gottes sind und durch die aussondernde Gnade von den Leuten dieser Welt geschieden sind: Erkennet doch, dass der Herr sich einen Frommen wundersam auserkoren hat. (Grundtext) Welch wundersame Aussonderung! Die Erwählung ist eine Lehre, die der unwiedergeborene Mensch nicht ertragen kann, aber nichtsdestoweniger ist sie eine Herrliche und wohl bezeugte Wahrheit, die für den angefochtenen Gläubigen eine Fülle des Trostes birgt. In der Erwählung liegt die Gewähr für die Vollendung unseres Heils, und so gibt sie uns auch ein Mittel an die Hand, mit unseren Bitten bei dem Thron der Gnade durchzudringen. Er, der uns zu seinem Eigentum erwählt hat, wird sicherlich unsere Gebete erhören. Des Herrn Auserwählte werden nicht verdammt werden, noch wird ihr Schreien ungehört verhallen. David war König durch Gottes freie Bestimmung, und wir sind des Herrn Volk nach demselben göttlichen Wohlgefallen. Wir dürfen unseren Feinden ins Gesicht sagen, dass sie wider Gott und die göttliche Vorsehung streiten, wenn sie unsere Seelen ins Verderben zu stürzen trachten. Geliebte, wenn ihr auf euren Knien seid, sollte die Tatsache, dass ihr als Gottes kostbares Eigentum wundersam auserkoren seid, euch kühn machen und mit Inbrunst und Glauben erfüllen. Sollte Gott nicht retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen? (Lk. 18,7.) War es sein Wohlgefallen, uns zu lieben, so kann es auch nicht anders als sein Wohlgefallen sein, uns zu hören.


5. Zürnet ihr, so sündiget nicht.
Redet mit eurem Herzen auf eurem Lager und harret. Sela.

Zittert3, und sündiget nicht. Wie viele kehren diesen Rat um und sündigen, aber zittern nicht. O dass die Menschenkinder die Mahnung dieses Verses annehmen und mit ihrem Herzen reden würden! Gedankenlosigkeit muss doch wohl eine der Ursachen sein, weshalb die Menschen so wahnwitzig sind, Christus zu verachten und die ihnen angebotene Gnade mit Hass von sich zu stoßen. Ach, dass für einmal ihre Leidenschaften schweigen und ihnen stille zu sein 4 erlauben würden, damit sie so in feierlichem Schweigen die Vergangenheit überblicken und über den unausbleiblich ihrer wartenden Untergang nachdenken würden! Ein denkender Mensch sollte doch sicherlich verständig genug sein, zu erkennen, wie töricht die Sünde und wie wertlos alle Lust der Welt ist. Halte ein, unbesonnener Sünder, halte ein, und besinne dich, ehe du den letzten Sprung ins Verderben tust. Lege dich auf dein Lager und denke über deine Wege nach. Geh mit deinem Kissen zu Rat und lass die Stille der Nacht dich unterweisen. Wirf deine Seele nicht für nichts weg! Lass die Vernunft zu Wort kommen. Lass den Lärm der Welt einen Augenblick schweigen, und lass deine arme Seele mit dir reden, damit du dich besinnest, ehe du ihr Schicksal besiegelst und sie ins ewige Verderben stürzest. Sela. Sünder, halte einen Augenblick stille! Bedenke, solange es noch Zeit ist, was zu deinem Frieden dient.


6. Opfert Gerechtigkeit,
und hoffet auf den Herrn.

Wenn die Empörer die Mahnung des letzten Verses zu Herzen genommen hätten, würden sie jetzt ausrufen: Was müssen wir tun, dass wir errettet werden? Und in diesem Vers werden sie nun auf das Opfer hingewiesen und ermahnt, auf den Herrn zu trauen. Es müssen aber rechte Opfer sein, die sie bringen (wörtlich: Opfert Opfer der Gerechtigkeit), d. h. solche, die ein Ausfluss der rechten, dem göttlichen Willen, dem Geist des Gesetzes entsprechenden Gesinnung sind, statt der bloß äußerlich in totem Zeremoniendienst dargebrachten, wobei der Mensch auf sein Werk statt auf den Herrn vertraut, oder gar der heuchlerischen Opfer, womit sie, wie Delitzsch sich ausdrückt, ihre schlechte Sache zu weihen und Gott aufzuschmeicheln gedenken. - Wenn der Israelit in rechter Weise Opfer darbrachte, beging er damit, wenn auch unbewusst, eine auf den Erlöser, das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde tragen sollte, vorbildlich hinweisende Handlung. Sünder, fliehet zu dem Opfer auf Golgatha und hoffet auf den Herrn, denn der dort für die Sünder starb, ist der Herr, Jahwe selbst.


7. Viele sagen: "Wer wird uns Gutes sehen lassen?"
Aber, Herr, erhebe über uns das Licht deines Antlitzes!

Wir kommen hiermit zu dem dritten Teil des Psalms, in welchem der Glaube des bedrängten Knechtes des Herrn in lieblichen Zeugnissen, wie friedevoll und in Gott vergnügt seine Seele sei, zum Ausdruck kommt.
  Es gab deren viele, selbst unter Davids getreuen Anhängern, die lieber sehen als glauben wollten. Diese Neigung regt sich in uns allen. Sogar die Wiedergeborenen sehnen sich oft danach, äußeres Wohlergehen zu empfinden und zu schauen, und sind trübselig, wenn die Dunkelheit alles Gute vor ihrem Blick verhüllt. Was aber die Weltleute betrifft, deren Ruf ist unaufhörlich: Wer wird uns Gutes sehen lassen? Nie zufrieden, wendet sich ihr Mund weit geöffnet nach allen Seiten; ihre leeren Herzen sind stets bereit, irgendwelche schöne Täuschung, die Betrüger erfinden mögen, hinunterzuschlürfen; und wenn ihre eitlen Hoffnungen scheitern, geben sie sich alsbald der Verzweiflung hin und erklären, es gebe nichts Gutes, weder im Himmel noch auf Erden. Der wahre Gläubige ist ein Mensch ganz anderen Schlages. Sein Angesicht ist nicht abwärts gerichtet wie das der Tiere, sondern aufwärts gleich dem der Engel. Er trinkt nicht aus den schlammigen Pfützen des Mammons, sondern aus dem Strom des Lebens, der vom Tempel Gottes ausfließt (vergl. Hes. 47,1 ff., auch V. 11.12). Das Licht des göttlichen Antlitzes scheint über ihm: Das ist genug. Das ist sein Reichtum, seine Ehre, sein Wohlsein, sein Ehrgeiz, seine Wonne. Wird ihm das zuteil, so begehrt er nichts mehr. Ja, das ist unaussprechliche, herrliche Freude. O dass das Innewohnen des Heiligen Geistes in unseren Herzen völliger werde, auf dass unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesu Christus beständig sei.


8. Du erfreuest mein Herz,
ob jene gleich viel Wein und Korn haben.

Der Vers lautet genauer: Du hast mir (durch das Gefühl deiner Gemeinschaft) Freude in mein Herz gegeben mehr als (die Freude) der Zeit ihres Kornes und Mostes, deren viel war, d. h. weit größere Freude, als ihnen in der Zeit der vollen Erntefreuden zuteil wird. Besser ist es, hat jemand gesagt, eine Stunde im reumütigen Herzen Gottes Gnade zu empfinden, als ganze Menschenalter hindurch in dem lieblichsten Sonnenschein, den diese Welt bieten kann, zu weilen. Christus im Herzen ist besser als Korn in der Scheune oder Wein in der Kufe. Korn und Wein sind nur Früchte dieser Welt, aber das Licht des göttlichen Antlitzes ist die reife Frucht des Himmels. "Du bist bei mir", das ist ein noch viel lieblicherer Klang als der Sang der Schnitter, die den letzten vollen Erntewagen einbringen. Mag mein Kornspeicher leer sein, ich bin dennoch reich gesegnet und hoch beglückt, wenn ein Lächeln meines Heilandes mir zuteil wird; aber ohne ihn bin ich arm, ob ich auch die ganze Welt besäße.
  Wir wollen nicht außer Acht lassen, dass dieser Vers als Herzenserguss des Gerechten das Gegenstück bildet zu dem, was die vielen (V. 7) sagen. Wie schnell verrät doch die Zunge den Mann! "Sprich, damit ich sehe, wer du bist", sagte Sokrates zu einem wohlgestalteten Jüngling. Von welcher Güte das Erz einer Glocke ist, wird am besten an ihrem Ton erprobt. Die Vögel geben sich an ihrem Gesang zu erkennen. Die Eule kann das Jubellied der Lerche nicht singen, und ebenso wenig ist es der Nachtigall möglich, zu kreischen wie die Eule. Lasst uns denn unsere Worte wägen und unsere Zunge behüten, es möchte sonst unsere Sprache verraten, dass wir Fremde und außer der Bürgerschaft Israels seien.


9. Ich liege und schlafe ganz mit Frieden;
denn allein Du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne.

Nach dem Grundtexte lauten die Worte: In Frieden will ich mich niederlegen und alsbald schlafen. Welch lieblicher Abendgesang! Ich werde nicht vor Furcht ausbleiben, um Wache zu halten, sondern mich niederlegen; und dann werde ich nicht wach liegen, ängstlich auf jedes Geräusch lauschend, sondern in stillem Seelenfrieden alsbald schlafen, habe ich doch nichts zu fürchten. Wer des Allmächtigen Flügel über sich hat, bedarf keines anderen schützenden Vorhangs um sein Lager. Besser als Schloss und Riegel ist der Schutz des Herrn. Bewaffnete hüteten das Bett Salomos (Hohelied 3,7 f.), aber ich denke nicht, dass er sanfter geschlummert hat als sein Vater, der auf dem harten Erdboden liegen musste und von blutgierigen Feinden gejagt war. Im Folgenden achte man auf das Wörtlein allein. Gott allein war Davids Hüter. Wiewohl er allein war, ohne Hilfe von Menschen, befand er sich dennoch in guter Hut, denn er war allein mit Gott. Ein gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Wie manche schlaflose Stunde ließe sich auf eine ungläubige oder ungeordnete Gemütsverfassung zurückführen. Der schlummert süß, den der Glaube in Schlaf wiegt. Kein Kissen ist so weich wie eine Verheißung aus Gottes Wort, und keine Decke so warm wie die Gewissheit des Heils in Christo.
  O Herr, gib uns Gnade, in kindlichem Glauben so in deinen Armen zu ruhen, damit wir gleich David uns in Frieden niederlegen und jede Nacht schlafen können, solange wir noch leben. Und mögen wir uns dann, wenn deine Stunde schlägt, mit Freuden aufs Sterbekissen niederlegen, um im Todesschlummer in Gott zu ruhen.
  Wir können es uns nicht versagen, folgende Worte von Dr. Hawker († 1825) hier beizufügen. Sie sind es wohl wert, dass wir sie betend überdenken und uns mit heiliger Freude daran weiden.
  "Lasst uns beim Lesen dieses Psalms nie den Herrn Jesus aus dem Auge verlieren. Er ist ‚der Herr unsere Gerechtigkeit’ (Jer. 23,6), und sooft wir zum Gnadenthrone nahen, lasst uns in seinem Namen hinzutreten. Während die Weltmenschen ihr höchstes Gut bei der Welt suchen, wollen wir des Herrn Wohlgefallen begehren; denn das ist besser als Korn und Wein und alles Gut der Welt, das sich doch im Gebrauch verzehrt. Ja, Herr, deine Güte ist besser denn Leben (Psalm 63,4). Die dich lieben, machst du zu reichen Erben, und ihre Schatzkammern füllest du.
  "Du gütiger Gott und Vater, hast du dir so wundersam einen auserkoren, der unser Fleisch und Blut an sich hatte? Hast du in der Tat einen aus den Menschen erwählt? Hast du ihn als fleckenlos rein, als durch und durch göttlich anerkannt? Hast du ihn zum Bund unter das Volk gegeben? (Jes. 42,6; 49,8.) Und hast du erklärt, dass du an ihm Wohlgefallen hast? (Jes. 42,1; Mt. 3,17) Dann weiß ich, dass mein Gott und Vater mich hören wird, wenn ich in Jesu Namen ihn anrufe und mich um Jesu willen guter Aufnahme bei ihm versehe. Ja, ich bin guter Zuversicht; ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält. Christus ist meine Hoffnung, er ist meine Gerechtigkeit; darum wird der Herr mich hören, wenn ich rufe. Und hinfort darf ich in Frieden mich niederlegen und süßen Schlummer genießen, in Jesu ruhend als einer, der angenehm gemacht ist in dem Geliebten (Eph. 1, 6); denn das ist die Ruhe, mit der der Herr die Mühseligen erquickt. (Mt. 11,28 f.)".


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Wie pries ich dich, mein Gott, da ich die Psalmen Davids las, die glaubensvollen Gesänge, die mit ihrem frommen Schall den Geist des trotzigen Übermutes austreiben. Ich las sie, da ich, noch ein Neuling in deiner Liebe, als Katechumene mit dem Katechumenen Alypius auf dem Landgute der Ruhe lebte und die Mutter uns anhing mit stiller Weiblichkeit, mit männlichem Glauben, mit des Alters Frieden, der Mutter Liebe und der Gottseligkeit des Christen. Wie pries ich dich bei diesen Psalmen, wie wurde ich durch sie für dich entflammt und hätte sie gerne dem ganzen Erdkreis gegen den Stolz seines Menschengeschlechts verkündigt. Und werden sie denn nicht in aller Welt gesungen, und breitest du nicht aus mit ihnen deine allumfassende Wärme? Voll Schmerz zürnte ich den Manichäern (den Vertretern jener aus vielerlei Elementen heidnischer Religionsphilosophie und christlichen Gnostizismus gemischten Religion, die fast ein Jahrtausend der gefährlichste Feind der christlichen Kirche war und der Augustin selber neun Jahre angehangen hatte), die deine Schrift verwarfen, und bemitleide sie wieder, dass sie nichts wussten von diesem himmlischen Heilmittel und wahnsinnigerweise verschmähten, was sie heilen konnte. Ich wollte, dass sie damals ohne mein Wissen in meiner Nähe gewesen waren, mein Antlitz gesehen und meine Stimme gehört hätten, als ich in jenen stillen, einsamen Stunden den vierten Psalm las, damit sie bemerkten, was aus mir jene Psalmworte gemacht hatten.5 - 9. Buch der Bekenntnisse des Aurelius Augustinus † 430.


V.2. Wie beredt erweist sich der Glaube in der Not, wie geschickt weiß er alle Gründe für die göttliche Hilfe vorzubringen! Er wendet sich an Gottes Bereitwilligkeit zu hören: Erhöre mich, wenn ich rufe. Er beruft sich auf die ewig gültige Gerechtigkeit, welche Gott dem Menschen in der Rechtfertigung gegeben, und auf Gottes unwandelbare Gerechtigkeit, mit der er seines Knecht Recht verteidigt: Gott meiner Gerechtigkeit. Er zieht Schlüsse aus den bisherigen Erfahrungen der göttlichen Hilfe: Der du mich tröstest in Angst, und aus Gottes Gnade, die alle in des Menschen Unwürdigkeit und Strafbarkeit begründeten Einwände widerlegt: Sei mir gnädig, und erhöre mein Gebet. David Dickson 1653.
  Der große Urheber aller Dinge tut nichts vergeblich. Er hat das Gebet verordnet und, dass ich so sage, den Menschen die Kunst des Betens gelehrt nicht als eine unnütze und unzulängliche Sache, sondern er hat dem Gebet eine wunderbare Kraft verliehen, dass es die weitest reichenden, glücklichsten Folgen hat. Im Gebet hat er uns den Schlüssel in die Hand gegeben, womit wir alle Schatzkammern des Himmels öffnen können. Himmel und Erde und alle Elemente stehen den Händen zu Dienst, die sich oft im Gebet gen Himmel erheben. Ja, alle Werke und sogar, was noch größer ist, alle Worte Gottes gehorchen dem Gebet. Wohlbekannt sind die Vorbilder großer Beter, welche die heilige Schrift uns vorführt, wie Mose und Josua, und Elia, den Jakobus ausdrücklich einen Menschen gleich wie wir, denselben engen Schranken und denselben Schwachheiten unterworfen nennt, um die wunderbare Kraft des Gebets durch die allgemein-menschliche Schwäche des Beters in desto helleres Licht zu stellen. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
  Gott meiner Gerechtigkeit. Merke von dieser ersten Stelle an, wie durch das ganze Psalmbuch hindurch die Gerechtigkeit Gottes angeführt wird, nämlich wie sie allen redlichen Herzen, die sich der Sünde begehren abzuziehen, zum Schutz gestellt ist, nicht das strengste Recht betreibt, sondern bei allem den eigentlichen Grund und die daneben einschlagenden Umstände mitleidig zu Herzen nimmt und alles nach der vorzüglichen Neigung Gottes zur Gnade entscheidet. Karl Heinrich Rieger † 1791.

V. 2ff. David wollte, wie es der ganze Psalm zeigt, eigentlich mit Menschen zu ihrer Besserung reden, und er wendet sich dabei zuerst zu Gott. Wichtiger Vorteil! Hast du es nie erfahren, dass auf einen geheimen Umgang mit Gott deines Nächsten Herz sich mehr als sonst zu dir neiget? Mit Menschen und sonderlich mit seinen Widersachern so handeln und reden, wie man es vorher mit Gott abgeredet hat, ist weislich getan. Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Das Gebet erhebt sich über das gottlose Ungestüm der Menschen und schwingt sich schnellen Flugs gen Himmel auf. Und dieser Vogelflug ist Glück bedeutend, wenn wir das Bild von den alten Auguren brauchen dürfen. Brünstige Gebete haben starke, weite Schwingen, den Adlern gleich; während die Nachtvögel am Boden hinflattern, steigen sie zur Höhe empor und weisen uns den Ort, wohin wir trachten sollen. Denn gewiss gibt es nichts, was so schnell die Luft durchschneidet, nichts, das einen so erhabenen, so glücklichen und Glück verheißenden Flug nimmt wie das Gebet, das die Seele auf seinen Fittichen auswärts trägt und all die Gefahren, ja auch die Freuden dieser niederen Welt weit hinter sich zurücklässt. Siehe, wie der heilige Mann Gottes, der soeben noch mitten in der Angst zu Gott schrie und mit Ungestüm um Erhörung flehte, jetzt, als wäre er schon im Besitz alles dessen, worum er gebetet, es kühn unternimmt, seine Feinde zur Rede zu stellen, mochten sie noch so viel Ansehen und selbst im königlichen Palast Einfluss besitzen. Erzbischof Robert Leighton † 1684.
  Jede Silbe dieses Psalms könnten wir uns im Munde unseres Heilands denken, etwa an einem der letzten Abende seines Erdenlebens, da er sich nach einem abermaligen fruchtlosen Wortwechsel mit den Männern von Israel anschickte, den Tempel für den Tag zu verlassen, um sich nach seiner gewohnten Ruhestätte (wozu vergl. hier V. 9) am Ölberg bei Bethanien zurückzuziehen (Mk. 11,11; Lk. 21,37). Wir können diesen Psalm als Erguss seines Herzens betrachten, das sich so nach dem Heil der Menschen sehnte (V. 3 f.) und sich in seinem Gott freute (V. 8). Der Psalm ist aber nicht nur die Sprache des Hauptes, sondern auch die Sprache seiner Glieder, die mit ihm in diesen heiligen Empfindungen übereinstimmen. Von diesem Psalm können die Gerechten des Morgens und des Abends ihre Hütte ertönen lassen, wenn sie trauernd über die Welt blicken, die Gottes Gnade verwirft. Sie mögen ihn singen, während sie sich Tag für Tag mehr an Jahwe als an ihr für Zeit und Ewigkeit allgenugsames Erbe (Ps. 16,5) anklammern. Sie mögen ihn singen mit der freudigen Zuversicht des Glaubens und der Hoffnung, wenn der Abend des Welttages herankommt, und mögen dann in Schlummer sinken, dessen völlig versichert, was ihre Augen am Auferstehungsmorgen begrüßen werden. Andrew Alexander Bonar 1859.


V. 3. Das Eitle. Es ist ein überaus trauriger Gedanke, dass es so viele Tausende gibt, die gleich dem Prediger (Pred. 1,2) aus eigener Erfahrung sagen könnten: "Eitelkeit der Eitelkeiten, es ist alles ganz eitel", und dennoch diesen eiteln Dingen nachjagen, als gäbe es keine andere Ehre und kein anderes Glück. Den Heiland, den Himmel und ihre eigene Seele verkaufen solche Leute um eine Bagatelle, die wohl diese Dinge eitel nennen, aber das doch nicht wirklich glauben, sondern ihr Herz an dieselben hängen, als wären sie die Krone ihres Ruhmes und der Gipfel ihrer Würde und Herrlichkeit. O denket und sinnet doch nach über die Nichtigkeit aller irdischen Dinge, bis euer Herz so vollständig von ihrer Eitelkeit überzeugt ist, dass ihr sie mit Füßen tretet und zum Fußschemel macht, darauf Christus steigen und in heiligem Triumph in euer Herz einziehen kann.
  Als Gelimer, der letzte König der Vandalen, von dem römischen Feldherrn Belisar 534 im Triumphzug aufgeführt wurde, rief er aus: Eitelkeit der Eitelkeit, alles ist eitel. - Das war ein guter Gedanke des griechischen Schriftstellers Lucian, als er Charon (den Fährmann der Verstorbenen) auf dem Gipfel eines hohen Berges darstellte, wie er von dort oben auf das Treiben der auf Erden Lebenden herabsieht und die größten Städte als kleine Vogelnester schaut. Wie unvollkommen, wie ungenügend, wie flatterhaft und unbeständig ist doch all das, dem die Menschen so sklavisch anhangen. Würden wir nur die Mühsal der Menschen gegen ihren Lohn, ihre Leiden gegen ihre Güter, ihr Elend gegen ihre Freuden abwägen, dann wäre es uns alsbald klar, welch schlechtes Geschäft wir dabei machen, und wir würden zu dem Schluss kommen: Es ist alles ganz eitel. Der große Kanzelredner Chrysostomus († 407) sagte einst: Wenn ich in aller Welt der Geschickteste wäre, um der ganzen Welt, zuhauf versammelt, eine Predigt zu halten; und wenn ich einen hohen Berg als Kanzel hätte, von wo ich die ganze Welt überblicken könnte; und wenn mir eine Stimme von Erz gegeben wäre, eine Stimme so laut wie die Posaune des Erzengels, dass alle Welt mich hören könnte: so würde ich keinen andern Predigttext wählen, als den in den Psalmen: O ihr sterblichen Menschen, wie lange wollt ihr das Eitle lieb haben und nach Lügen trachten? Thomas Brooks † 1680.
  Wer die Sünde liebt, liebt das Eitle; er hascht nach Seifenblasen, er stützt sich auf einen Rohrstab, seine Hoffnung ist ein Spinnengewebe. C. H. Spurgeon 1869.
  Die Neigungen der Menschen richten sich nach ihren Grundsätzen. Jedermann liebt von den Dingen außer ihm das am meisten, was am besten zu dem, was in ihm ist, passt. Thomas Horton † 1673.


V. 4. Erkennet doch, dass der Herr seine Heiligen wunderlich führet. (Luther). Dazu hat Gottfried Arnold († 1714) das Lied gesungen, das A. Knapp das tiefsinnigste, erfahrungsreichste, gedankenreichste Kirchenlied voll majestätischer Weisheit genannt hat, dessen erster Vers (von dreizehn) lautet:

  So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen,
  Ja selig, und doch meist verwunderlich!
  Wie könntest du es böse mit uns meinen,
  Da deine Treu’ nicht kann verleugnen sich?
  Die Wege sind oft krumm und doch gerad’,
  Darauf du lässt die Kinder zu dir gehn;
  Da pflegt’s oft wunderseltsam auszusehn,
  Doch triumphiert zuletzt dein hoher Rat.
   Rudolf Kögel, Deine Rechte sind mein Lied, 1895.

  Erkennet doch, dass der Herr sich einen Frommen wundersam auserkoren hat. (Grundtext) Wenn Gott jemand erwählt, so sondert er denselben zuerst aus und schneidet ihn von allem übrigen ab. Dann lässt er ihn durch viele Leiden hindurchgehen, läutert ihn und macht mitten in seinen Leiden seine Gnade wunderbar an ihm. Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.
  Wie teuer geachtet sind doch die Frommen in Gottes Augen! Die Herrlichkeit eines Menschenkindes, das mit Gottesfurcht geziert ist, ist gleich der schönsten Blume des Paradieses, gleich dem Weine des Libanons, gleich den funkelnden Edelsteinen auf Aarons Brustschildlein. Die Gottesfürchtigen sind wert geachtet in Gottes Augen, darum hat er sie sich wundersam auserkoren. Wir sondern solche Dinge aus, die uns wertvoll sind. Die Frommen sind ausgesondert als Gottes Eigentum (Ps. 135,4 und oft), als sein Lustgarten (Hohelied 4,12 f.); sie sind die Herrlichen auf Erden (Ps. 16,3), lauterem Golde gleich geachtet (Klgl. 4,2), das im Feuer geläutert ist (Sach. 13,9). Origenes vergleicht die Heiligen mit Saphiren und Kristallen (vergl. Jes. 54,11 f. und Off. 21,9 ff.). Thomas Watson 1660.
  Der Herr höret, wenn ich ihn anrufe. Lasst uns hierbei beachten, dass die Erfahrung, die ein einzelner Gläubiger von der Wahrheit der göttlichen Verheißungen und der Gewissheit der in der Schrift verbrieften Vorrechte des Volkes Gottes macht, ein genügender Beweis ist für den Anspruch, den alle Gotteskinder an diese Gnadenschätze haben, und ein Grund der Hoffnung, dass auch sie daran teilhaben werden zur Zeit, wenn ihnen Hilfe Not sein wird. David Dickson 1653.


V. 5. Redet mit eurem Herzen. Willst du dich in der Einsamkeit zur Gottseligkeit üben, so gewöhne dich daran, Selbstgespräche mit dir allein zu halten. Der braucht nie müßig zu sein, wer so viel mit seiner eigenen Seele zu tun hat. Der griechische Philosoph Antisthenes gab eine feine Antwort, als er gefragt wurde, was für Frucht er von all seinen Studien gewinne. Durch sie, sagte er, habe ich gelernt, mit mir selbst zu leben und zu sprechen. Selbstgespräche sind die besten Zwiegespräche. Frage dich, zu welchem Zwecke du geschaffen worden, was für ein Leben du bisher geführt, wie viel Zeit du verloren, wie viel Liebe du missbraucht, wie viel Zorn du dir aufgeladen hast. Ziehe dich selbst zur Rechenschaft, welchen Gebrauch du von deinen Gaben gemacht, wie treu oder untreu du mit dem dir Anvertrauten gewesen, was für Vorsorge du für die Sunde des Todes getroffen und wie du dich auf den großen Tag der Rechenschaft vorbereitet hast. Auf eurem Lager. Die Einsamkeit und die Stille der Nacht eignen sich am besten für solches Zwiegespräch. Wenn nichts von außen her uns stören und unsere Augen locken kann, zu den Enden der Erde zu schweifen, wie des Narren Augen tun (Spr. 17,24 Grundtext), dann mögen unsere Augen, wie die des Weisen, sich einwärts richten, gleich den Fenstern am neuen Tempel (Hes. 40,16). Und seid stille. (Grundtext) Der Umgang mit uns selbst wird uns viel dazu helfen, unser Inneres zum Schweigen zu bringen, auch die im Inneren tobenden Leidenschaften zu dämpfen. George Swinnock † 1673.


V. 7. Wo Christus der Seele seine Herrlichkeit offenbart, ist volle Genüge in den dürftigsten Verhältnissen; ohne Christus bleibt eine unausfüllbare Leere bei der größten Fülle irdischen Guts. Alexander Grosse 1632.
  Der Mensch hat eine Sehnsucht nach dem Guten, er hasst das Böse als Übel, weil es ihm Schmerzen und Leiden allerart und endlich den Tod bringt, und er wünscht das höchste Gut zu finden, das sein Herz befriedigt und ihn vom Übel erlöst. Aber nun machen sich die Menschen einer folgenschweren Verwechslung schuldig. Sie schauen nach einem Gut aus, das ihre Leidenschaften befriedigt, und haben keinen Begriff von anderem als sinnlichem Glück. Darum weisen sie die geistlichen Güter von sich und verwerfen das höchste Gut, Gott, durch den allein das tiefste Innere der Menschenseele befriedigt werden kann. Adam Clarke † 1832.
  Herr, erhebe über uns das Licht deines Antlitzes. Das war der hohepriesterliche Segen (4. Mose 6,25 f.) und ist noch heute das Erbteil aller Glieder des Volkes Gottes. Es schließt in sich die Versöhnung mit Gott, die Gewissheit der Begnadigung, traute Gemeinschaft mit dem Herrn, Segen auf allen unseren Wegen, kurz, die Fülle der Heilsgüter. Herr, erhebe auch über uns das Licht deines Antlitzes! C. H. Spurgeon 1869.


V. 8. Damit man die irdischen Güter nicht etwa als an und für sich böse ansehe, gibt Gott sie hier und da solchen, die in Gerechtigkeit vor ihm wandeln; und damit sie nicht etwa als das höchste Gut betrachtet werden, verleiht er sie häufig gottlosen Menschen. Aber im Allgemeinen sind sie weit häufiger das Teil der Feinde als der Freunde Gottes. Was ist es doch, so viel von Gottes Hand anzunehmen und selber nicht angenommen zu werden, von keinem andern Segenstau benetzt zu werden als solchem, auf den Schwefelregen folgt! Diese Welt ist ein schwimmendes Eiland; es ist daher ganz sicher, dass, wer in diese Welt seinen Anker senkt, mit dieser Welt weggeschwemmt werden wird. Gott und dazu alles, was er gemacht hat, ist nicht mehr, als Gott ohne irgendetwas von dem, was er gemacht hat. Wer ein solches Goldbergwerk besitzt, kann nie eines Guts ermangeln. ER ist genug ohne die Kreatur, aber die Kreatur ist nichts ohne ihn. Es ist darum besser, sich seiner zu erfreuen, ohne irgendetwas anderes zu besitzen, als sich an allem andern zu vergnügen, ohne ihn zu haben. Besser ist es, ein hölzernes Gefäß zu sein, das mit edlem Wein gefüllt ist, als ein goldenes voll Wasser. William Secker 1660.
  Wie töricht wäre es doch von den Günstlingen des Himmels, die Leute dieser Welt zu beneiden, die doch im besten Fall nur von den Brosamen essen, die von Gottes Tische fallen! Die zeitlichen Güter sind die Knochen, die geistlichen das Mk. Ist es nicht unter des Menschen Würde, die Hunde wegen der ihnen zufallenden Knochen zu beneiden? Und ist es nicht noch vielmehr unter der Würde eines Christen, andere um zeitlicher Güter willen zu beneiden, da er doch die geistlichen, ewigen Güter genießt? Thomas Brooks † 1680.
  Du erfreuest mein Herz. Die Tröstungen, welche Gott für seine Leidtragenden (Jes. 57,18) in Bereitschaft hat, füllen das Herz (Röm. 15,13; Joh. 16,24), ja die himmlischen Freuden machen das Herz überfließen (2. Kor. 7,4 wörtlich: ich bin mehr denn überfließend vor Freude, vergl. Psalm 23,5; mein Becher ist Überfluss). Äußerliche Freuden können das Herz so wenig füllen als ein Dreieck einen Kreis. Geistliche Freuden geben volle Genüge (Psalm 63,6 wörtlich: Wie an Mark und Fett ersättigt sich meine Seele). Weltliche Freuden können wohl ein fröhliches Angesicht machen, aber Gottes Geist macht das Herz fröhlich. (Sach. 10,7; Joh. 16,22; Lk. 1,47) Wein und Korn und das Beste der Erde kann wohl ergötzen, aber nicht befriedigen; in allem ist eine Leere und ein Mangel. Äußerliche Freuden machen voll, aber nicht satt, machen überdrüssig, aber nicht zufrieden. Xerxes setzte eine große Belohnung aus für den, der ein neues Vergnügen erfinden würde; aber die Freuden, welche der heilige Geist im Herzen wirkt, erquicken in Wahrheit die Seele (Ps. 94,19). Der Unterschied zwischen den himmlischen und den irdischen Freuden ist so groß wie der zwischen einem Gastmahl, an dem man wirklich zu Tische sitzt, und einem nur an die Wand gemalten. Thomas Watson 1660.


V. 9. Der gottselige Mensch hat ein leichtes Herz; nachdem er im gläubigen Gebet seine Sorge auf Gott geworfen hat, ist er ruhig bei Tag und bei Nacht, denn er überlässt es seinem Gott, alles nach seinem heiligen Willen zu ordnen. (Vergl. Mk. 4,26 ff.) Matthew Henry 1714.
  Hast du vom Morgen bis zum Abend in Gemeinschaft mit deinem Gott gewandelt, so erübrigt noch, dass du den Tag wohl beschließest, wenn du dich zur Ruhe legst. Darum schaue zuerst rückwärts und suche einen genauen Überblick über dein ganzes Verhalten an dem vergangenen Tage zu gewinnen. Ändere, was du verkehrt findest, und freue dich oder sei betrübt, je nachdem du findest, du habest wohl oder übel getan, du seiest in der Gnade vorwärts oder rückwärts gekommen. Gedenke sodann, dass Gott nicht schläft; wie könntest du in Sicherheit ruhen, wenn er, der da wacht, nicht dein Hüter, sondern dem Feind wäre? Darum erneuere abends betend im Glauben deinen Friedensbund mit Gott, dann kannst du im Frieden dich niederlegen und schlafen. Und beim Ablegen der Kleider, beim Niederlegen und während du im Bette noch wach liegst, rede mit deinem Herzen (V. 5). Kannst du mit göttlichen Gedanken in Schlummer fallen, dann wirst du süß und sicher schlafen (Spr. 3,21. 24 f.; 6,21 f.), du wirst seltener und lieblicher träumen, und dein Herz und Kopf werden in besserer Verfassung sein, wenn du mitten in der Nacht oder am Morgen erwachst. Henry Scudder 1633.
  Aus der Redeschlacht und von dem Feld des Kampfes mit der offenen Feindseligkeit der Menschen treten wir nun für einen Augenblick in die Stille und Verborgenheit der Schlafkammer. Auch hier tönt uns das "Ich will", des Glaubens entgegen. Wir können aus diesem Vers besonders sehen, wie Gott sich unser persönlich annimmt auch in der stillen Kammer. Darin liegt etwas unaussprechlich Köstliches für den Gläubigen, indem es uns zeigt, wie Gottes Liebe sich dem einzelnen zuwendet und sich herablässt, mit so zärtlicher Sorgfalt bis ins Kleinste und Verborgenste zu walten. Gott zeigt nicht nur Interesse, wo er durch große Erfolge seine Herrlichkeit vor aller Welt offenbaren kann, sondern auch, wo ihm für sein Mühen nichts wird als die dankbare Liebe eines armen, schwachen Geschöpfes, dessen Leben er beschützt und erhalten hat in Zeiten der Hilflosigkeit oder da es im Schlafe lag. Wie segensreich wäre es, wenn wir für Gottes Walten in der stillen Kammer ein offeneres Auge hätten; wenn der Gedanke in uns lebendiger wäre, dass er bei uns in der Kammer ist auch in den Stunden, da Krankheit, Übermüdung oder Kummer uns drücken; wenn wir im Glauben uns des getrösteten, dass seine Teilnahme und liebende Sorgfalt sich ebenso sehr dem schwachen Gläubigen in der Kammer zuwendet wie denen, die auf dem Kampfesplatz stehen. Es ist etwas unaussprechlich Rührendes in diesem Glaubenswort des Psalmisten: Ich will mich niederlegen. Damit verzichtet er freiwillig darauf, sein eigener Hüter zu sein, und übergibt sich ganz in seines Gottes Hand. Und er tut das völlig, denn sorglos schläft er alsbald ein. Hier sehen wir vollkommenen Glauben. Mancher Gläubige legt sich wohl nieder, aber kein Schlaf kommt in seine Augen. Vielleicht fühlt er sich wohl geborgen, was seinen Leib betrifft; aber Sorge und Unruhe dringen in die Heimlichkeit seines Gemachs ein. Sie kommen und fechten sein Vertrauen auf Gott an; sie überfallen ihn mit Drohungen und Schrecken und erweisen sich, leider, als übermächtig. Mancher arme Gläubige könnte sagen: Ich lege mich nieder, aber nicht um zu schlafen. Ich besuchte einst einen betagten Prediger des Evangeliums, der schwer krank daniederlag. Die äußeren Verhältnisse dieses ehrwürdigen Mannes waren dürftig, seine Familiensorgen groß. Er sagte: "Der Arzt will, dass ich schlafe; aber wie kann ich schlafen, während die Sorge auf meinem Bette sitzt?" Es ist die Erfahrung mancher Kinder Gottes, dass sie zwar einem plötzlich sie überfallenden Leiden oder einem andauernden Drucke zunächst gewachsen sind, dass danach aber eine lähmende Rückwirkung eintritt. In der Stille der Einsamkeit bemächtigt sich ihrer Niedergeschlagenheit, und sie empfinden kaum mehr etwas von jener göttlichen Kraft und jenem Glaubensmut, die sie beseelten, als die Trübsal mit ganzer Wucht auf ihnen lag. Die Einsamkeit und Stille hat ihre besonderen Versuchungen, und oft stellt die stille Kammer; höhere Anforderungen an unser Gottvertrauen als das Kampfesfeld. Ach, dass wir es doch immer besser lernten, in unseren persönlichen Angelegenheiten auf Gott zu trauen! Dass wir Gott nicht nur als Gott unserer Kirchen, auch nicht nur als Gott unseres Hauses, unserer Familie, sondern auch als den Gott unserer einsamen Kammer kennen würden und ihn mehr und mehr auch in die kleinsten Einzelheiten unseres täglichen Lebens hineinblicken ließen! Wäre dem so, dann würden wir eine Seelenruhe genießen, die wir jetzt in dem Maße vielleicht kaum ahnen. Wir würden uns weniger vor dem Siechbette fürchten und hätten, statt eines gequälten Geistes, jenen frohen Mut, der so sehr die Leibes- und Seelenruhe fördert. Ja, dann könnten wir sagen: "Ich will mich niederlegen und schlafen und das Morgen meinem Gott überlassen." Dem bekannten Ridley, erbot sich sein Bruder, die letzte Nacht vor dessen Blutzeugentode bei ihm zu bleiben; aber der Bischof lehnte das Anerbieten ab, indem er sagte, er gedenke zu Bett zu gehen und so friedlich zu schlafen wie je in seinem Leben. Philip Bennett Power 1862.
  Wohl dem Christen, der sich Nacht um Nacht mit solcher Sprache des Herzens zur Ruhe begibt und zuletzt mit denselben Worten ins Grab als sein Ruhebettlein legt, davon er zu Gottes Zeit sich zu erheben gedenkt, um mit den Kindern der Auferstehung das Morgenlied der Ewigkeit zu singen. Bischof George Horne 1776.

  "Ich liege und schlafe ganz mit Frieden" (vergl. Mk. 4,37 ff.):

  Im schwankenden Schiff, in tobender Flut
  Wie sanft und stille der Heiland ruht,
  Bis er um anderer Weh ist erwacht
  Und Wind und Wellen zum Schweigen gebracht!

  Ihr kennet die Ruhe der Seligen doch -
  Warum denn weinet ihr Trauernden noch,
  Dieweil an des Heilandes liebendem Herz
  Vollendete Streiter ruhn aus von dem Schmerz!

   Nach Mrs. Mac Cartree.

  Schon die alten Übersetzungen und viele neuere Ausleger ziehen das "allein" nicht zu dem Wort Jahve, sondern (gegen die Akzente) zu dem Zeitwort "wohnen machen". Der Ausdruck "allein wohnen" wird nämlich öfters von dem Wohnen in sicherer Abgeschiedenheit gebraucht, (vergl. 4. Mose 23,9; 5. Mose 33,28; Micha 7,14; Jer. 49,31) - James Millard


Homiletische Winke

V. 2. bietet reichen Stoff zu einer Predigt über das Thema: Frühere Gnadenerweisungen- ein Grund, in der gegenwärtigen Not Hilfe zu erflehen. Der erste Teil des Verses zeigt, wie die Gläubigen Erhörung ihrer Gebete ersehnen und im Glauben erwarten. Der Name "Gott meiner Gerechtigkeit" eignet sich ebenfalls als Text, und der Schlusssatz könnte etwa zu einer Predigt über das Thema anregen, dass auch die besten Frommen noch zu Gottes Barmherzigkeit und freier Gnade Zuflucht nehmen müssen.
V. 3. Wie sich der gefallene Zustand der Menschen darin erweist, dass sie 1) Christus beharrlich verschmähen, dass 2) ihr Herz von Liebe zum Eiteln erfüllt ist, und sie 3) im täglichen Leben nach Lügen trachten.
  Wie lange? Die Dauer der Sünde des Gottlosen. Sie kann in heilsamer Weise durch Buße zum Abschluss gebracht werden; sonst wird der Tod ihr jedenfalls in schrecklicher Weise ein Ziel setzen; und doch wird sie dann mit ihren Folgen fortdauern in Ewigkeit.
V. 4. Die Erwählung, betrachtet in Hinsicht auf Gott, auf unsere Feinde und auf uns selbst.
  Die Gewissheit der Erhörung, deren einige Menschen sich erfreuen. Wer sind die, welche dieses Vorrecht beanspruchen dürfen?
  Ein Gott wohlgefälliger "Separatist" (wundersam ausgesondert). Wer ist er? Wer hat ihn separiert? Zu welchem Zwecke? Wie kann er dies vor den Menschen beweisen?
V. 5. Die Mahnung an den Sünder zur Einkehr, damit er zur Umkehr komme.
  Seid stille. (Grundtext) Ein weiser, folgenschwerer, aber schwer zu befolgender Rat. Welches die beste Zeit dafür sei, und was für Gnade man dazu bedürfe. Die Folgen des Stillwerdens. Was für Leute den Rat am nötigsten haben. - Reicher Predigtstoff.
V. 6. Welcher Art die rechten Opfer sind, die von Gottes Volk erwartet werden.
V. 7. Wonach die Welt ruft und wonach die Gemeinde des Herrn. (Vox populi nicht immer vox Dei.)
  Jegliches Sehnen der Seele wird in Gott gestillt.
V. 7-8. Die Gewissheit der Liebe des Heilandes eine Quelle unvergleichlicher Freude.
V. 8. Die Freude des Gläubigen. 1) Ihre Quelle: Du; 2) ihre Zeit: jetzt; 3) ihr Sitz: mein Herz; 4) ihre überschwengliche Fülle: größere Freude, als wenn ihres Kornes und Weines viel ist. (Wörtl.)
  Wie die Freude am Herrn alle irdischen Freuden übertrifft. Oder: Zweierlei Wohlergehen; welches ist mehr zu begehren?
V. 9. Die Seelenruhe und Sicherheit des Kindes Gottes.
  Das Schlafkämmerlein des Gläubigen, dessen Abendlied und die Wache an seiner Tür.
V. 3-9. Die Mittel, womit der Gläubige die Sünder für Christus zu gewinnen suchen sollte: Er soll sie 1) zur Rede stellen, V. 3; 2) sie unterweisen, V. 4; 3) sie ermahnen, V. 5.6; 4) das Glück echter Frömmigkeit bezeugen, wie V. 7. 8; 5) dies Zeugnis bekräftigen durch ein Leben im Frieden Gottes, V. 9.

Fußnoten

1. Spurgeon wollte bekanntlich in seinem Tabernakel keine Orgel haben. Ohne jede Musikbegleitung ertönte der mächtige Gesang der dort versammelten Tausende.

2. Was Luther mit "Lieben Herrn" übersetzt, heißt buchstäblich: "Ihr Mannessöhne", womit Psalm 49,3; 62,10 u. die Großen, Vornehmen gemeint sind im Gegensatz zu der breiten Masse der "Menschenkinder" oder "Leute". Vielleicht deutet der Ausdruck hier und öfters auch, ironisch (Calvin) auf ihre selbstangemaßte Stärke, besonders auch auf ihr Selbstvertrauen hin, vergl. Luthers vortreffliche Randglosse: Ihr großen Hansen. - Das Wort "liebe" ist bekanntlich hier und sehr häufig in solchen Anreden eine Einfügung des Gemütsmenschen Luther, die an andern Stellen (z. B. 2. Könige 5,13; Ps. 62,9; Apg. 16,30 und oft) besser passt als hier.

3. Da das hebräische Wort überhaupt erschüttert werden, beben bedeutet, kann es sowohl ein Beben vor Zorn als vor Furcht (oder auch Schmerz) bezeichnen. Die Auffassung Luthers: "Zürnet ihr, so sündiget nicht", die auf die LXX zurückgeht (vergl. auch Eph. 4,26), ist daher sprachlich ebenso berechtigt wie die Übersetzung "Zittert, und sündiget nicht", welcher Spurgeon mit vielen Auslegern folgt.

4. Grundtext: und seid stille.

5. Der Raum gestattet uns leider hier wie so oft nicht, mehr aufzunehmen. - James Millard