Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 41 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Davids, vorzusingen. Welch weites Feld umfasste doch Davids Erfahrung! Gerade dadurch ist er befähigt worden, so einen reichen Schatz der Erbauung für die zukünftigen Geschlechter aufzuhäufen. Seine bitteren Leiden haben sich als eine süße Quelle des Trostes für Tausende von Gläubigen erwiesen. Und wie ist er in so vielen Stücken ein Vorbild auf den Herrn Jesus geworden! Als solches sehen wir ihn auch in diesem Psalm in den mannigfaltigsten Beziehungen, ganz besonders aber in der Klage über den Verräter Ahitophel. Wie David auch in diesem Stück das Bild Christi typisch an sich tragen musste, so werden ja alle Gotteskinder nach ihrem Maß ihrem Meister ähnlich gestaltet. Alle, die ihre treue Liebe mit schändlichem Undank und Verrat belohnt sehen, mögen aus diesem Liede voller Glaubenszuversicht ganz besonderen Trost schöpfen. Es ist ja so der Welt Brauch, dass die besten der Menschen für ihre Liebe und Barmherzigkeit Hass und Hohn ernten, und zumal, dass die Welt, wenn Gott seine Kinder um der Sünde willen demütigt, sich ihre Erniedrigung zunutze macht, alle ihre guten Taten der Vergessenheit anheim gibt und sie in der gemeinsten Weise mit Füßen tritt.

Einteilung. Der Psalmsänger führt V. 2-4 die Verheißungen aus, die den Barmherzigen gegeben sind, und benutzt diese als Einleitung und Grundlage für seine persönliche Bitte um Hilfe. V. 5-10 beschreibt er seine traurige Lage, V. 11-13 schließt er mit Bitte und Dank. Der 14. Vers enthält die Doxologie, mit der das 1. Psalmbuch (Ps. 1-41) abschließt.


Auslegung

2. Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt!
Den wird der Herr erretten zur bösen Zeit.
3. Der Herr wird ihn bewahren und beim Leben erhalten,
und ihm lassen wohl gehen aus Erden,
und ihn nicht geben in seiner Feinde Willen.
4. Der Herr wird ihn erquicken auf seinem Siechbett;
du hilfst ihm von aller seiner Krankheit.

2. Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt. Dies ist der dritte Psalm, der mit einer Seligpreisung beginnt. (Einen Vergleich der drei Psalmen siehe S. 616 unten.) Glücklich gepriesen wird hier der, dessen Frömmigkeit sich in der Liebe gegen den Nächsten fruchtbar erweist. Bei den Dürftigen1 haben wir nicht ausschließlich an die Armen zu denken, sondern an Schwache und Hilfsbedürftige jeder Art, an Kranke, an Geringgeachtete und Bedrängte, an Zagende und Verzweifelnde. Solcher Los ist es gewöhnlich, gemieden oder gar verhöhnt zu werden. Kranke und Bekümmerte sind keine guten Gesellschafter; darum überlässt sie die Welt sich selber, wie der Amalekiter seinen kranken Knecht (1. Samuel 30,13). Wer aber der göttlichen Gnade teilhaftig geworden ist, kann nicht so unbarmherzig sein, sein Herz nicht so gegen sein eigen Fleisch und Blut verschließen. Es entspricht seiner zart fühlenden Natur, sich der Unterdrückten anzunehmen und ernstlich auf die Förderung ihres Wohlergehens bedacht zu sein.2 Wer selber von Barmherzigkeit lebt, kann nicht dem Armen etliche Cents hinwerfen und seiner Wege gehen; es drängt ihn, dem Kummer der Betrübten nachzuforschen, ihre Sache zu prüfen, auf Hilfsmittel zu sinnen und selber den Bedrängten tatkräftig beizustehen. Wer solchen Sinn hat, dem ist das Siegel der göttlichen Huld deutlich ausgeprägt. Man merke: Es wird hier von dem Gerechten nicht hervorgehoben, dass er sich einstmals des Dürftigen angenommen habe; er tut es noch und dauernd. Wer seinen Ruhm in längst veralteten Guttaten sucht, bei dem vermutet man mit Recht, dass in der Gegenwart Herz und Hand verschlossen seien. Hoch über alle anderen ragt an barmherziger Liebe für die Hilfsbedürftigen unser Heiland empor, der sich unserer Niedrigkeit so angenommen hat, dass er, obwohl er reich war, doch arm wurde um unsertwillen (2. Kor. 8,9). Er gab sich mit seiner ganzen Persönlichkeit dem Were hin, uns aus dem Staube aufzurichten. Er erwog unsere Lage und kam auf Erden, um mit der Fülle seiner Weisheit das wunderbare Werk der Barmherzigkeit auszurichten, durch das wir aus dem Verderben befreit werden sollten. Menschliches Elend bewegte stets sein Erbarmen, es jammerte ihn unseres Jammers und hoch benedeit wird er sowohl von seinem Gott als von seinen Erlösten wegen seiner liebreichen Sorgfalt und der Weisheit seines Handelns gegen uns. Noch jetzt denkt er an uns; sein Erbarmen ist, wie er selbst, gestern, heute und in Ewigkeit dasselbe - so sei denn auch unser Dank täglich neu.
  Den wird der Herr erretten zur bösen Zeit. Der mitleidige Freund der Armen und Bedrängten hat an andere gedacht; so wird auch Gott an ihn denken. Gott misst uns unseren Teil mit unserem eigenen Scheffel zu. Unglückstage kommen auch über die Besten und Edelmütigsten; und für die regnerischen Tage haben die die weiseste Vorsorge getroffen, die anderen ein Obdach gewährt haben, als ihnen selber die Sonne noch heiter schien. Die Verheißung besagt nicht, dass über den Frommen, der Mitleid übt, keine Trübsal kommen werde, sondern dass er in ihr bewahrt und zur rechten Stunde aus ihr befreit werden solle. Wie traf das bei unserm Heiland zu! Nie war eine Trübsal größer als die seine, aber auch nie ein Triumph herrlicher. Und seine Erhöhung sichert den endlichen Sieg aller derer, die er mit seinem Blut erkauft hat. Ach, dass diese ihm alle ähnlicher wären an Erbarmen gegen die Elenden! Wer mit Almosen kargt, bringt sich selber um viel Glückseligkeit. Die Wonne, die im Wohltun liegt, das warme Rückstrahlen der Freude, die des Nächsten Herz wegen der ihm gewordenen Hilfe beseelt, das süße Empfinden des Wohlgefallens Gottes, der Segen, der sich an unserem Herzen, wo nicht gar auch an unserem Beutel zu erfahren gibt - das alles sind dem Geizigen unbekannte Dinge. Die Selbstsucht trägt den Fluch in sich selbst; sie ist ein böser Krebs am Herzen, während Freigebigkeit Seele und Leib fröhlich macht. In dunkeln Zeiten können wir uns nicht auf ein vermeintliches Verdienst des Almosengebens stützen; doch ist es uns eine nicht geringe Erquickung, wenn die Erinnerung uns dann von Witwen und Waisen sagt, denen wir beigestanden, und von Kranken und Gefangenen, denen wir gedient haben.

3. Der Herr wird ihn bewahren und beim Leben erhalten. Sein edelstes Leben wird unsterblich sein und selbst dies sein sterbliches Leben wird durch Jahwes Macht beschirmt und erhalten werden. Jesus war unantastbar, bis die Zeit gekommen war, da er nach Gottes Rat sterben sollte. Alle listigen Anschläge eines Herodes (Lk. 13,31 ff.), wie die seiner anderen Feinde konnten ihm das Leben nicht nehmen, bis die vorbestimmte Stunde geschlagen hatte; und selbst dann nahm niemand sein Leben von ihm, sondern er ließ es freiwillig, um es wiederzunehmen. Das ist das Teil aller derer, die ihrem Herrn ähnlich werden; sie machen andere glücklich und werden selber immer völliger glückselige Menschen; sie schirmen andere und werden selber beschirmt; sie wachen über dem Leben anderer und ihr eigenes Leben ist teuer geachtet in Gottes Augen. Der Geizhals ist gleich dem gefräßigen Schwein von keinem Nutzen, bis er tot ist -: So mag er sterben; der Gerechte ist gleich dem dienstbaren Zugochsen von Nutzen in seinem Leben -: So soll er leben. Und ihm lassen wohl gehen aus Erden, oder: im Lande. Glück und Gedeihen sollen ihn begleiten. Sein Ölkrug soll deswegen nicht leer werden, dass er den dürftigen Propheten gespeist hat. Er schneidet von seinem Stück Zeug und findet’s an beiden Enden länger als zuvor.

Es gab ’nen Kauz - man spottete sein sehr -
Er gab, und gab, und hatt’ doch immer mehr!


  Und wenn ihm auch zeitliche Güter nicht gegeben werden, so soll ihm doch sein geistlicher Reichtum verdoppelt werden. Sein Weniges wird ihm gesegnet sein, dass Brot und Wasser ihm zum Festmahl werden. Christen, die wohl zu tun und mitzuteilen nicht vergessen, erfahren schon hier auf Erden den Segen Gottes, und es kann gar nicht anders sein. Sie sind jetzt sowohl als in der Ewigkeit glückselige Leute. Man denke daran, wie der Menschensohn, obwohl er nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte, doch in allem versorgt wurde, dass er noch den Armen geben konnte (Joh. 13,29), und mehr noch denke man an das innere Glück, das ihn erfüllte, während er doch jeden Atemzug, zur Verherrlichung seines Vaters, der Not der Menschen weihte; beides ist das Bild des Segens, nach dem alle seine wahren Nachfolger ausschauen dürfen. Und (Grundtext mit plötzlichem Übergang in die Anrede; du wirst oder kannst) ihn nicht geben in seiner Feinde Willen. Wer sich der Unterdrückten annimmt, findet in Gott einen Helden, der für ihn in den Kampf tritt. Was würden die Feinde des Gerechten nicht alles mit ihm machen, wenn sie ihren Mut an ihm kühlen dürften? Lieber in einem Natternnest, als blutdürstigen Feinden preisgegeben sein. Die Verneinung, die dieser Satz enthält, ist ein starker Trost für alle Bedrängten. Aber können wir uns auch für diese Verheißung Jesus als Beispiel ihrer Erfüllung vor Augen halten? Ja; denn ob er sich auch manchen Segens begab, als er ein Fluch für uns wurde, so wurde er doch nicht für immer von Gott der Sünder Händen überantwortet, sondern zur rechten Stunde über alle seine Feinde erhöht.

4. Der Herr wird ihn erquicken3, wörtl.: ihn stützen, auf seinem Siechbette. Die ewigen Arme werden seine Seele stützen, wie liebende Hände und weiche Kissen den Körper des Kranken halten. Welch zartes Mitgefühl drückt dieses Bild aus; wie nahe bringt es unseren Gott unserem Krankenlager! Wer hätte je dergleichen von Jupiter oder von den Götzen Indiens und Chinas gehört? Das ist eine Sprache, die man nur von dem Gott Israels führen kann. Er allein lässt sich also herab, selbst seine kranken Kinder zu hüten und zu pflegen. Muss er mit einer Hand schlagen, so stützt und erquickt er mit der anderen. Wahrlich, es ist selig, ohnmächtig zu werden, wenn man dabei an des Herrn Busen fällt und von seinen Armen aufgefangen wird! Gnade ist das beste Belebungsmittel, Gottes Liebe der köstlichste Labetrunk für ein mattes, krankes Menschenkind; die Arznei macht die Seele stark wie ein Riese, ob auch der Leib vor Weh vergeht und nur noch ein Gerippe ist. Kein Arzt gleicht dem Herrn, kein stärkendes Mittel gleicht seinen Verheißungen, kein Wein gleicht seiner Liebe. Sein ganzes Lager wandelst du bei seiner Krankheit. (Wörtlich, vergl. Luther 1524.) Wie, hören wir recht? Lässt sich der Herr so weit herab, dass er mit eigener Hand seinem kranken Kind das Bett macht?4 Das ist wahrlich zarte Liebe. Wer möchte sich nicht der Dürftigen annehmen, wenn solches der dafür verheißene Lohn ist? Das Bett wird bald hart und heiß, wenn der Kranke sich rastlos auf ihm hin und her wendet; aber die Gnade reicht Geduld dar und wenn Gottes Angesicht dem Leidenden freundlich leuchtet, mag er mitten unter den größten Schmerzen Ruhe finden, und so wird das Lager sanft, weil das Herz gestillt ist, und die Kissen sind dem Kranken weich, weil das Haupt im Frieden ruht. Wer hätte wohl mehr ein Recht auf Erfahrung dieser Verheißung gehabt als unser Heiland? Dennoch ließ er sich um unsertwillen herab, auch diese Erquickung zu entbehren, und starb am Kreuz und nicht auf sanftem Bette; doch auch dort erfuhr er nach einer Weile die stützende und erquickende Hand seines Gottes, dass er im Triumph starb.
  Wir dürfen uns nicht etwa einbilden, dass die Seligpreisung, die diese drei Vers ausführen, allen denen zugehöre, die gelegentlich den Armen Geld geben, an Unterstützungsvereine Beiträge zahlen oder in ihrem letzten Willen allerlei Schenkungen vermachen. Die solches tun, mögen damit wirklich eine gute Tat vollbringen oder aber bloß aus Rücksichten der Sitte oder ihrer Ehre handeln; doch in keinem von beiden Fällen sind sie berechtigt, die Worte auf sich zu beziehen. Die Segnungen dieser Vers sind das Teil derer, bei den es eine Charaktereigenschaft geworden ist, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und die um des Herrn willen die Hungrigen speisen und die Nackten kleiden. Und zu meinen, dass jemand ein Gotteskind sei, der sich der Dürftigen nicht nach bestem Vermögen annimmt, heißt mutmaßen, dass der unfruchtbare Feigenbaum bei Gott Gunst finden werde. Die eigenen Worte des Heilands (Mt. 25) sagen uns, dass gerade in diesem Stück über viele, die sich für fromm halten, ein scharfes Gericht ergehen wird an dem Tag, da der König in seiner Herrlichkeit kommt.

 

 


5. Ich sprach. Herr, sei mir gnädig,
heile meine Seele; denn ich habe an dir gesündigt.
6. Meine Feinde reden Arges gegen mich:
"Wann wird er sterben und sein Name vergehen?"
7. Sie kommen, dass sie schauen, und meinen’s doch nicht von Herzen;
sondern suchen etwas, dass sie lästern mögen,
gehen hin und tragen’s aus.
8. Alle, die mich hassen, raunen miteinander gegen mich,
und denken Böses über mich.
9. Sie haben eine Schandtat über mich beschlossen.
"Wenn er liegt, soll er nicht wieder aufstehen."
10. Auch mein Freund, dem ich mich vertraute,
der mein Brot aß, tritt mich unter die Füße.

In diesen Versen schüttet der Psalmist sein Leid vor Gott aus. Er war in Wahrheit ein Freund der Armen gewesen; dennoch war es, als sollte er in der Zeit der Not die verheißene Hilfe nicht erfahren. Auch für den Davidssohn kam eine finstere, stürmische Nacht, in der die meisten dieser Psalmworte ganz auf ihn und seine Lage passten.

5. Ich sprach - und sprach es in heißem Flehen -: Herr, sei mir gnädig. Erweise nun in der Trübsal deine rettende Gnade an mir, da du mir vorher, in der Zeit, da mir’s wohl ging, die Gnade gegeben hast, den Bedrängten mit freigebiger Liebe beizustehen. Nicht an die Gerechtigkeit appelliert David - höchstens mögen wir zwischen den Zeilen einen Hinweis auf die der Mildtätigkeit gegebenen Verheißungen lesen -, sondern der Beter geht schnurstracks zum Thron der Gnade. Zu der Tiefe der Erniedrigung war es mit unserm Erlöser gekommen, dass sein ehrwürdiger Mund solche Bitten aussprechen, von seinen lilienreinen Lippen solch köstlich duftende, aber bittere Myrrhe träufeln konnte! Heile meine Seele. Jetzt bin ich ja matt und krank; so tue denn nach deinem Wort und erquicke mich auf meinem Krankenlager (V. 4); stütze und erquicke besonders meine Seele. Die Heilung der Seele sollte uns stets ein noch viel ernsteres Anliegen sein als die Genesung des Leibes. Wir hören davon ja reichlich, dass es für die Seele eine Genesung gibt; aber begehren wir danach auch für uns von ganzem Herzen? Denn ich habe an dir gesündigt. Das war die Wurzel, aus der die bitteren Früchte hervorgesprosst waren, die David kosten musste. Wer die Sünde bei sich beherbergen will, muss auch dem Jammer die Tür öffnen; denn die beiden sind untrennbare Gefährten. Man beachte, wie der Psalmist als das Schlimmste des Schlimmen an der Sünde das erkennt, dass sie gegen Gott gerichtet ist. Das ist ein Hauptkennzeichen der echten Buße. Unser fleckenloser Heiland konnte sich niemals solcher Sprache bedienen, es wäre denn, dass hier auf die Sünde Bezug genommen würde, die er infolge Zurechnung zu tragen hatte, und wir an unserem Teil scheuen davor zurück, Worte, die so offenbar auf persönliche Sünde hinweisen, auf die zugerechnete Sünde zu deuten. Wir beziehen die Worte also ausschließlich auf David und andere den Fehlern unterworfene Fromme. Wie echt evangelisch ist aber dann die Bitte mit ihrer Begründung: Heile mich, nicht weil ich unsträflich bin, sondern weil ich gesündigt habe. Wie steht Davids Sinn im Gegensatz zu der eiteln Selbstgerechtigkeit. Sogar die Tatsache, dass er den Dürftigen Liebe erwiesen hat, macht der reumütige Bekenner nur verhüllt vor Gott geltend, dagegen beruft er sich unmittelbar und deutlich auf Gottes Barmherzigkeit auf Grund seiner großen Sünde. Lieber Leser, der du wegen deiner Missetaten zitterst und zagst, siehe hier Fußstapfen, denen du folgen kannst!

6. Meine Feinde reden Arges wider mich, das heißt, sie wünschen mir Schlimmes an. Es war ihre Natur, Gemeines zu tun und zu reden; wie hätte das Gotteskind da dem Los entgehen können, von ihnen angefeindet zu werden! Die Otter fuhr gerade dem Paulus an die Hand: Je besser jemand ist, desto wahrscheinlicher ist’s, dass man ihn verleumdet und ihm den Tod wünscht. Böse Zungen sind allezeit geschäftig und das nie im Dienst der Wahrheit und der Liebe. "Wann wird er sterben und sein Name vergehen?" So sprachen sie voll tödlichen Hasses; der fromme David war ihnen ein Dorn im Auge und sie hatten keine Ruhe, bis er hinweggeschafft war. Die Welt ist den Gottlosen zu eng, solange die Gerechten mit ihnen darin leben, und selbst wenn ein Gottesmann dem Leibe nach nicht mehr in der Welt ist, ist sein Gedächtnis seinen Feinden noch ein Ärgernis. Es gibt kein fröhliches Leben5 mehr, sagen sie, seit die Leute das leidige Psalmensingen angefangen haben. Über den Meister schrien sie, wie über seinen großen Apostel: "Hinweg mit einem solchen von der Erde! Denn es ist nicht richtig, dass er leben soll." (Apg. 22,22.) Wenn es nach dem Wunsch der Verfolger ginge, so hätte die Kirche nur einen Nacken und der läge auf dem Richtblock. Die Diebe sähen am liebsten alle Kerzen ausgeblasen. Alle, die als Lichter in der Welt scheinen, sind den Feinden der Wahrheit ein hassenswertes Gesindel. Die armen Nachtvögel, sie fliegen gegen das brennende Licht und suchen es umzustürzen; aber der Herr lebt und er bewahrt beide, die Heiligen und ihren Namen.

7. Und wenn er kommt, (nach mir) zu schauen (d. h. mich zu besuchen), so redet er Falschheit. (Grundtext) Es mag sein, dass David hier einen seiner versteckten Feinde besonders im Auge hat; doch mögen wir es auch allgemeiner fassen: Und wenn einer von ihnen kommt usw. Wenn der Fuchs das kranke Lamm besuchen kommt, sind seine Worte glatt und sanft, aber er leckt sich dabei die Lippen voller Begierde nach der erhofften Beute. Welches Elend, wenn mau Spione um das Siechbett stehen haben muss, die liebevolle Teilnahme heucheln, aber Bosheit im Herzen haben. Sie zeigen sich um Davids Genesung sehr besorgt und wollen doch nur sehen, ob sie ihm nicht bald das Grab zurichten können. Heuchlerisches Geschwätz ist einem Ehrenmann allezeit ekelhaft und unerträglich, ganz besonders aber einem Gotteskind, das krank auf dem Lager liegt. Unser Heiland hatte viel Derartiges zu erdulden von den falschen Menschen, die seine Worte belauerten. Sein Herz sammelt Bosheit an. (Grundtext) Jeder liebt, was seiner Art entspricht. Der Vogel baut sich sein Nest aus Federn und der Böse sammelt Bosheit. Aus den süßesten Blumen weiß der Chemiker Gift zu destillieren, und aus den reinsten Worten und Handlungen versteht es die Bosheit, Stoff für Lästerungen zu gewinnen. Es ist ein wahres Wunder, wie gehässige Menschen es fertigbringen, ihre Lügengewebe gleich den Spinnen ganz ohne Material zu weben. Er geht hinaus und trägt’s aus. Erst fertigt er seine Lügen an, dann verkauft er sie auf den Gassen. Kaum hat er seinen Fuß vor der Tür, so muss er schon seine Lügen ausrufen, und das über einen siechen Mann, den er als teilnehmender Freund zu besuchen gekommen war, über einen Schwerkranken, dessen unzusammenhängende, wirre Reden sein Mitleid hätten bewegen sollen. Welch elender Wicht, ein wahrer Teufel in Menschengestalt! Die Leute sind meist gut zu Fuß, wenn’s gilt, ihre Verleumdungen und Schmähungen in Stadt und Land auszutragen. Am liebsten bemalten sie den ganzen Himmel mit ihren Lügen. Jeder noch so geringe Fehler wird aufgebauscht, ans dem kleinsten Versehen machen sie ein Verbrechen und kann man einem Worte zweierlei Sinn geben, so wird ihm stets der schlimmere beigelegt. Sagt’s an zu Gath, verkündet’s ans den Gassen zu Askalon, dass frohlocken die Töchter der Unbeschnittenen! (Vergl. 2. Samuel 1,20) Es ist niederträchtig, auf einen Mann loszuschlagen, der wehrlos am Boden liegt, und doch wird es dem christlichen Helden, der das Unglück hat, Trübsalszeit durchzumachen, nicht erspart bleiben, solche Gemeinheit zu erfahren.

8. Alle, die mich hassen, raunen miteinander gegen mich. Der Spion trifft mit seinen Spießgesellen in heimlicher Versammlung zusammen, er teilt ihnen mit, was er am Krankenbett gesehen und gehört hat, und nun geht das Zischeln und Flüstern los. Warum reden sie nicht laut? Fürchten sie sich vor dem todkranken Kriegsmann? Oder sind ihre Pläne so verräterisch, dass sie im Geheimen ausgebrütet werden müssen? Man beachte, wie einig die Gottlosen sind: alle miteinander. Wie ist die ganze Meute hinter dem verwundeten Hirsch her! Gäbe Gott, wir wären halb so einig im Werk des Herrn wie die Feinde des Guten in ihren boshaften Unternehmungen und wir wären halb so weise, wie sie listig sind; denn dass sie flüsterten, geschah ebenso wohl aus List wie aus Feigheit; die Verschwörung durfte nicht offenbar werden, bis alles wohl vorbereitet war. Und denken Böses über mich.6 Sie stecken ihre Köpfe zusammen und sinnen auf mein Verderben. So machten es Ahitophel und die übrigen Räte Absaloms, so die Hohenpriester und Pharisäer. Menschen, die zu allem guten Werk unbrauchbar sind, zeigen sich als vollkommene Meister, wenn es sich um’s Intrigen spinnen geht. Sie sind feine Köpfe, tiefe Denker, die keine Mühe des Nachsinnens scheuen; aber das Ziel, das sie so unermüdlich verflogen, ist das Verderben der Redlichen. Schlangen, die sich im Gras verbergen, haben dabei nie gute Absichten.

9. "Ein Unheil klebt ihm an."7 (Grundtext) Sie flüstern, ein Fluch hafte ihm an, sei ihm fest angeschweißt, dass er nicht davon loskommen könne. Sie deuten an, seinen Namen beflecke ein schwarzes Geheimnis, dessen Geist in seinem Hause spuke und nie zur Ruhe kommen werde. Es liegt ein Schleier des Geheimnisvollen und Zweideutigen über dieser in doppeltem Sinn dunkeln Rede, sozusagen um zu zeigen, wie undeutlich in der Regel das Gemurmel der Bosheit ist. Gerade wie David wurde auch unser Herr und Heiland für einen gehalten, der von Gott geschlagen und geplagt wäre (Jes. 53,4). Seine Feinde mutmaßten, Gott habe ihn verlassen und für immer in ihre Hand gegeben. "Und wer einmal liegt, steht nicht wieder auf." (Wörtlicher.) Voller Schadenfreude wenden sie ein Sprichwort auf David an. Sie hatten gute Hoffnung, seine Krankheit werde mit dem Tode enden, denn solchen Bericht hatte ihnen der Spion aus dem Krankenzimmer gebracht und das war ihnen eine frohe Kunde. Bald also würde sein heiliger Wandel ihre Sünde nicht mehr strafen, sie würden nun frei werden von den Schranken, die der Einfluss seiner Gottesfurcht ihrem ruchlosen Wesen jetzt noch entgegensetzte. Gleich den Mönchen, die Wyclifs Lager umstanden, hatten sie mit ihren siegesgewissen Prophezeiungen wenig Glück; doch waren diese dem Leidenden eine schwere Plage. Wenn der Herr einen der Seinen für einen kleinen Augenblick mit der Geißel der Trübsal züchtigt, geben die Feinde sich der Erwartung hin, einen Galgen an ihm vollstreckt zu sehen, und üben schon ihr Jubilate ein zur Feier seiner Beerdigung; aber ihre Freude kommt zu früh und sie sehen sich genötigt, einen gar anderen Text zu wählen und eine andere Melodie anzustimmen. Nun er liegt, soll er nicht wieder aufstehen - so sprachen auch die Hohenpriester und Pharisäer von dem Heiland, da er im Grabe ruhte; aber wehe, auch ihr reibt euch die Hände allzu früh! Umsonst verwahrt ihr das Grab mit Wächtern, Stein und Siegel. Triumphierend erhebt sich der Totgeglaubte aus der Gruft und schüttet Verwirrung über seine Feinde.

10. Auch mein Freund. Wie schmerzlich klingt dieses "auch" oder "sogar"! Ist’s möglich, dass solche Schurkerei in einem menschlichen Busen lebt? Mein Freund, buchstäblich: der Mann meines Friedens, mit dem ich in gutem Einvernehmen lebte, mit dem ich ein Bündnis hatte, der zu mir in innigem Verhältnis stand. Solch ein Freund war Ahitophel dem David, Judas unserm Herrn und Heiland gewesen. "Siehe, da kam Judas, der Zwölfe einer" (Mt. 26,47) - der zu dem engsten Jüngerkreise des großen Meisters zugelassen worden war, der seine geheimsten Gedanken hatte hören und in seinem Herzen hatte lesen dürfen. "Auch du, mein Sohn Brutus?" soll Cäsar sterbend ausgerufen haben. Der Kuss des Verräters durchbohrte des Heilands Herz so schmerzlich, wie die Nägel seine Hände. Dem ich mich vertraute, oder; auf den ich vertraute. Ahitophel war der erste Ratgeber Davids und dem Judas hatte Jesus den Beutel anvertraut. Wem wir großes Vertrauen entgegenbringen, von dem schmerzt uns eine lieblose Tat umso tiefer. Der mein Brot aß - nicht als gelegentlicher Gast, sondern als täglicher Tischgenosse, als trauter Hausfreund und Schützling. Allezeit an des Königs Tisch zu essen, war eine hohe Gnade und Ehre. Judas tauchte mit dem Herrn in dieselbe Schüssel; desto fluchwürdiger war sein Verrat, da er seinen Herrn und Meister um einen Sklavenpreis verkaufte. Tritt mich unter die Füße, wörtlich; hat die Ferse hoch wider mich erhoben, d. h. mir einen großen, weit ausgeholten Fußtritt versetzt8. Er hat mir nicht nur den Rücken gekehrt, sondern mir beim Verlassen einen schweren Fußtritt gegeben. So schlägt etwa ein heimtückisches Pferd gegen den es mit dem eignen Brot fütternden Herrn aus. Es ist hart, in der Not von solchen mit Füßen getreten zu werden, die sich vorher an unserm Tische gütlich getan haben. Beachtenswert ist, dass Jesus, als er dies Psalmwort auf seinen Verräter anwendet (Joh. 13,18), die ersten Worte auslässt; vielleicht weil er, der ja die Unaufrichtigkeit des Judas von Anfang durchschaut haben muss, diesen nie im vollsten Sinne des Wortes zu seinem Freunde gemacht und nie absolutes Vertrauen in ihn gesetzt hatte. Die höllische Bosheit fasste den Plan, dass jeder Umstand das Leiden Jesu mit Galle tränken sollte, und der Verrat war einer der bittersten Tropfen in dem Kelch, den unser Heiland trinken musste. Wir sind wahrlich in großem Elend, wenn ein Freund von einst sich in einen erbarmungslosen Feind wandelt, wenn unser Vertrauen schmählich missbraucht, alle Gesetze der Gastfreundschaft mit Füßen getreten werden und schmählicher Undank der einzige Lohn aller unserer Gute und Liebe ist; doch mögen wir uns in solch bemitleidenswerter Lage auf die Treue Gottes werfen, der, da er unser Bundeshaupt aus alledem befreit hat, nun auch gebunden ist, sich allen denen als Helfer in der Not zu bewähren, denen zugute der Bund geschlossen worden ist.


11. Du aber, Herr, sei mir gnädig und hilf mir auf,
so will ich sie bezahlen.

Sieh, wie die gejagte und erschreckte Seele zu ihrem Gott flieht, wie sie mit dem "Du aber" gleichsam wieder aufatmet und wie sie sich hoffnungsfreudig an die Gnade des Herrn anklammert, da jede Aussicht, bei Menschen Mitleid zu finden, geschwunden ist. Und hilf mir auf. Lass mich vom Siechbett wieder erstehen, richte mich aus der tiefen Schande wieder auf. Jesus wurde Macht gegeben, sich aus dem Grab zu erheben; seine Erniedrigung endigte in der Erhöhung. So will ich sie bezahlen. Diese Worte klingen alttestamentlich und sind so, wie sie lauten, dem Geist des Christentums fremd. Doch dürfen wir nicht übersehen, dass David mit dem Herrscheramt betraut war und gar wohl ohne irgendwelche persönliche Rachsucht danach verlangen konnte, die Ruchlosen zu bestrafen, die seine königliche Würde beleidigt und seinen guten Namen öffentlich besudelt hatten. Unserem großen David war alle persönliche Gereiztheit fremd; aber auch er hat durch seine Erhebung aus dem Grab an den Mächten der Bosheit Vergeltung geübt und an Tod und Hölle alle ihre gemeinen Angriffe auf seine Person und Sache gerächt. Doch, es ist nicht nach unserem Geschmack, jeden Satz dieses Psalms mittelst erzwungener Deutung auf Christus anzuwenden. Wir ziehen es vor, darauf aufmerksam zu machen, dass der Geist, der im Evangelium weht, milderer und reinerer Art ist.


12. Dabei merke ich, dass du Gefallen an mir hast,
dass mein Feind über mich nicht jauchzen wird.
13. Mich aber erhältst du um meiner Frömmigkeit willen,
und stellst mich vor dein Angesicht ewiglich.


12. Wir alle freuen uns, wenn wir ein Zeichen haben, dass die Dinge sich zum Besseren wenden, und der Psalmsänger entnahm aus seiner bisherigen Erhaltung in der tiefen Trübsal, dass Gott ihn seinen Feinden nicht gänzlich preisgeben werde. Dabei merke ich, dass du Gefallen an mir hast. Du bist mir huldvoll zugeneigt, dessen bin ich in meinem Herzen gewiss, und darum verzage ich trotz deiner Züchtigungen nicht; denn ich weiß, du liebst mich bei alledem. Dass mein Feind über mich nicht jauchzen wird. Er wagt es noch nicht zu sagen, dass er über den Feind jauchzen werde; aber wenn der Gläubige das auch nicht kann, muss er schon froh genug sein, dass sie nicht über ihn frohlocken. Es ist ja so vieles an uns, worüber die Gottlosen sich hämisch freuen könnten, und wenn Gottes Gnade den Hunden das Maul schließt, wo sie bellen könnten, wollen wir herzlich dankbar sein. Wie erstaunlich ist es, dass der Teufel, wenn er mit einem armen, verirrten, kranken, verlassenen und verleumdeten Gotteskind den Kampf aufnimmt und tausend böse Zungen zu Helfershelfern hat, doch nicht den Sieg erringen kann, sondern sich schließlich ohne Ruhm aus dem Staube machen muss!

13. Mich aber erhältst du um meiner Frömmigkeit willen, allen meinen Feinden zum Trotz. Aber wie kann derselbe Mann, der V. 5 bekannt hat, dass er am Herrn gesündigt habe, hier so reden? Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Auch der lautere Charakter weiß sich noch mit mancherlei sittlichen Gebrechen behaftet, um derentwillen er Gottes Zuchtrute oft gar schwer empfinden muss. Wir sind allzumal sündige Menschen - und doch ist eine scharfe Scheidung zwischen denen, die das Licht lieben und mit ihren Sünden ans Licht kommen, und denen, deren Element die Finsternis ist. Außerdem mögen wir bei solchen Stellen nicht vergessen, dass den alttestamentlichen Gottesknechten noch nicht solch ein tiefer und umfassender Blick ins Verderben des Menschenherzens gegeben war. Aber stolzen Eigendünkel dürfen wir bei David nicht vermuten, zumal bei einem Wort, worin er seine Abhängigkeit vom Herrn so klar ausspricht. Und stellst mich vor dein Angesicht ewiglich. David war des froh, dass er unter Gottes Augen leben durfte, unter der besonderen Obhut und Fürsorge Jahwes; und, was ihm das Herrlichste war, er wusste, dass es also sein würde ewiglich. Vor einem irdischen Herrscher stehen zu dürfen, wird als eine besondere Ehre geachtet; was muss es sein, beständig vor dem König der Könige, dem Ewigen, Unvergänglichen und Unsichtbaren, stehen und ihm dienen zu dürfen!


14. Gelobt sei der Herr, der Gott Israels,
von nun an bis in Ewigkeit.
Amen, Amen.

Dieser Lobpreis bildet den Schluss des ersten Psalmbuchs. Gelobt sei der Herr. Wir können zwar zu der Hoheit und Seligkeit des großen Gottes nichts hinzufügen; aber wir können ihm den schwachen Dank und Preis unserer Herzen darbringen und diesen nimmt er an, wie wir etwa ein Blümlein von einem Kinde, das uns lieb hat. Jahwe ist der Name, der Gottes erhabenes Wesen bezeichnet, und Gott Israels der Titel, der auf sein besonderes Bundesverhältnis zu seinem erwählten Volke hinweist. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Grundtext) Wir sterben, aber der Preis Gottes geht fort ohne Aufhören. Amen, Amen. So sei es, wahrlich, gewiss. Nach dem Targum (der aramäischen Übersetzung und Umschreibung) bildete dieses Amen, Amen die Antwort des Volks auf die Aufforderung zum Lobe Gottes. Lasst uns darin einstimmen von ganzem Herzen. - Dieser Lobpreis passt als Gebetswort für die Gemeinde aller Zeiten; doch kann niemand so aus tiefstem Grunde den Herrn preisen wie derjenige, der, wie ein David, die Treue Gottes in großen Nöten erprobt hat.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Manche Psalmen, die definitiv von David herrühren, zeigen, wie dieser gerade in der bitteren Anfeindung durch die Menschen seines innigen Verhältnisses zu Gott bewusst geworden ist. Auch Ps. 41 rechnen wir dazu, und zwar in die Zeit, wo Absaloms Aufruhr und die dabei erfahrene Untreue seines besten Freundes den durch Krankheit gelähmten König schwer niederbeugten. Dass eine politisch mächtige Persönlichkeit, ein König, sei, der sich unter solchen Umständen mit seinem Gott tröstete, erhellt deutlich aus V. 6.8.11. Wie vorbildlich gerade das schlimmste Herzeleid dieses Dulders für den größten geworden sei, hebt dieser selbst Joh. 13,18 hervor: Auf dass die Schrift erfüllt werde: Der mit mir das Brot isst, erhob gegen mich die Ferse. Natürlich schildert David etwas Selbsterfahrenes: Ahitophel, dessen Ratschläge ihm wie Gottes Orakel galten, hat ihn schäbig betrogen und macht mit dem Feind insgeheim gemeine Sache, wie er wohl sieht. Auch ist’s noch nicht ein vollkommener Heiliger, der diesen Psalm betet; man sehe das Sündenbekenntnis V. 5. Aber ohne Recht und Ursache ist er so gehasst; im letzten Grunde wegen seiner Frömmigkeit wird er so angefeindet, man vergleiche die Erklärung seiner Unschuld V. 13. Und jene bittere Erfahrung treulosen Verrates durch den vertrauten Liebling durfte in dem Leidenskelch dessen nicht fehlen, an dem das Vollmaß heiligen Duldens um Gottes willen sich darstellen sollte. Dieser Zug findet sich übrigens auch weiterhin im Leidensbild alttestamentlicher Frommer, so Ps. 55 (vergl. V. 13-15.21 f.), den wir nicht für Davidisch halten (vergl. V. 15). Prof. Conrad von Orelli 1882.


V. 2. Wir glauben, abweichend von der gewöhnlichen Auffassung, dass David hier diejenigen selig preise, die ein weises und vernünftiges Urteil fällen in Bezug auf die Züchtigungen, mit denen Gott seine Kinder heimsucht. Es war dem David ohne Zweifel ähnlich ergangen wie dem Patriarchen Hiob, den seine Freunde für einen der gottlosesten Menschen hielten, als sie sahen, wie scharf Gott mit ihm verfuhr. Und der Irrtum ist nur zu gewöhnlich unter den Menschen, dass man auf solche, die von besondern Trübsalen heimgesucht werden, als auf Verworfene und Verdammte hinabblickt. Ja, wie oft geschieht es, dass wir voreilig und unüberlegt über andere urteilen und die Bedauernswerten, die unter der Trübsal schon genug leiden, sozusagen mit eigener Hand in den tiefsten Abgrund stoßen. Jean Calvin † 1564.
  Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt. Ich möchte eure Aufmerksamkeit auf die Art und Weise lenken, in der uns die Bibel die Fürsorge für die Armen einschärft. Der vorliegende Text lautet nicht: Bemitleide die Armen; denn wenn er nicht mehr als das sagte, würde er die Fürsorge für ihre Bedürfnisse den gelegentlichen Aufwallungen des rasch entbrennenden, aber eben so rasch verfliegenden und stets unbedachtsamen natürlichen Mitgefühls überlassen. Die Schrift stellt aber die Sorge für die Bedürftigen nicht auf einen so unsicheren Boden, wie es das bloße Gefühl des Mitleids ist, - ein Gefühl, das, so sehr es dazu zweckmäßig ist, uns zu helfender Tat anzuspornen, doch bewacht und in Zucht und Ordnung gehalten werden muss. Einbildungskraft und wechselnde Launen können unser Gefühl irreleiten, die nackte Wirklichkeit des Lebens es anwidern, die mannigfachen Enttäuschungen es dämpfen und ersticken, erfahrene Undankbarkeit es erbittern. Die Täuschereien und Verstellungen der Menschen können uns dazu führen, dass wir unser Mitgefühl Unwürdigen zuwenden. Jedenfalls ist eine Spanne Zeit der kleine Kreis, worin sich der Wellenschlag des natürlichen Mitgefühls fast immer verläuft. Es bedarf fortwährend neuer sinnlicher Eindrücke, um es kräftig zu erhalten; auch geht es über sein Vermögen, mit Eifer und Lebhaftigkeit in die Bedürfnisse der unsichtbaren Seele einzudringen. Die Bibel macht denn die Unterstützung der Armen, statt sie dem bloßen Naturtrieb des Mitleids zu überlassen, zu einem Gegenstand unseres Nachdenkens: Wohl dem, der dem Hilfsbedürftigen aufmerksame Rücksicht zuwendet. (Grundtext) Das ist, ich gebe es zu, eine ernste und prosaische Tätigkeit, und eine solche, die wenig geeignet ist, in jenen hochgeschraubten, überfeinen Erzählungen eine Rolle zu spielen, wo die Wohltätigkeit in romanhaften Farben geschildert wird, indem man einerseits die zarte Fürsorge in weichliche Sentimentalität, anderseits die Dankbarkeit in Überschwänglichkeit ausarten lässt. Die heilige Schrift schützt die Sache der Armen vor dem Unheil, welchem eine bedachtlose Gefühlsschwärmerei sie aussetzen würde. Sie unterstellt sie einem höheren, nicht bloß seelischen Vermögen, einer Kraft, die nicht so bald ermüdet und dann die ganze Sache im Widerwillen aufgibt. Die Bibel macht die Tugend der Mildtätigkeit ebenso sehr zu einer Sache der berechnenden Erwägung wie des Gefühls, und indem sie so vorgeht, setzt sie uns außerhalb des Bereichs der mannigfachen Illusionen, durch die wir das eine Mal verführt werden, unserem Mitleid auf Kosten des wahren Nutzens dessen, den wir bemitleiden, Genüge zu tun, und ein anderes Mal uns gekränkt und enttäuscht von dem Felde der Pflicht zurückzuziehen, weil wir nicht die Dankbarkeit oder die Ehrlichkeit gefunden haben, mit der wir gerechnet hatten, oder wieder in einem anderen Fall alle unsere Sorge auf die zeitliche Hilfe zu wenden und darüber die Ewigkeit zu übersehen. Es ist die Aufgabe der Bedachtsamkeit, uns vor all diesen Täuschungen zu bewahren. Unter ihrer Leitung und Erziehung reift das Mitempfinden für die Armen zu einer von weisen Grundsätzen geleiteten Tugend aus.
  Es muss uns allen einleuchten, dass es nicht genug ist, wenn wir Geld geben oder unseren Namen den Wohltätigkeits - Sammlungen beifügen. Ihr sollt mit Urteilsvermögen geben. Ihr müsst den Armen eure Zeit und Aufmerksamkeit widmen. Ihr sollt euch der Mühe unterziehen, die einzelnen Fälle zu untersuchen. Ihr sollt aus der gemächlichen Ruhe stiller Betrachtung zu ernstem Tun aufwachen und euch mit den Personen und den Einrichtungen bekannt machen, denen ihr eure Wohltätigkeit zuwendet. Geld geben heißt von fern nicht, das Werk der Mildtätigkeit wirklich seinem vollen Umfang nach ausüben. Du sollst an das Krankenbett des Armen herantreten. Du sollst dich mit eigener Hand an dem Werk der Hilfe beteiligen. Das ist wahre, unverfälschte Menschenfreundlichkeit. Die mag auf keiner menschlichen Urkunde verzeichnet werden; aber wenn sie unter dem Einfluss christlicher Grundsätze, wenn sie, mit anderen Worten, dem Herrn Jesus zuliebe ausgeübt wird, ist sie verzeichnet in dem Buch des Herrn im Himmel und wird der Krone neuen, herrlichen Glanz verleihen, nach der Jesu Jünger ausschauen in der Zeit und die sie tragen werden in der Ewigkeit. Thomas Chalmers (der Begründer der neueren Armenpflege) † 1847.
  Nach dem Grundtext kann es heißen: der mit Verstand Achtung gibt, nämlich auf den Dürftigen, das ist, ärgert sich nicht an Christus und seinen Gliedern, ob er sie schon im Elend sieht, sondern denkt der Sache besser nach und urteilt darüber nicht nach der Vernunft, sondern nach dem darunter steckenden heilsamen Rat Gottes, welcher, wenn er geschieht, von selbst das Herz bewegen wird, sich recht zu verhalten, sowohl gegen Christus als auch gegenüber seinen Gliedern. Johann David Frisch 1719.
  Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt. Ein piemontesischer Edelmann, dessen Bekanntschaft ich in Turin machte, erzählte mir Folgendes: Ich war zu einer Zeit des Lebens überdrüssig und eilte eines Abends, nach einem Tage, wie ihn wenige kennen und niemand sich wünschen würde in der Erinnerung zu haben, durch die Straßen der Stadt dem Flusse zu, als ich mich plötzlich zurückgehalten fühlte und, mich umblickend, einen kleinen Knaben wahrnahm, der in dem eifrigen Bemühen, meine Aufmerksamkeit zu fesseln, den Saum meines Mantels gefasst hatte. Blick und Gestik des Knaben waren unwiderstehlich und nicht minder der Satz, den er auswendig gelernt hatte: "Wir sind unser sechs und wir sterben vor Hunger." "Warum sollte ich nicht", sprach ich bei mir selbst, "dieser Not leidenden Familie helfen? Ich habe die Mittel und es wird nur wenige Minuten brauchen. Und was soll’s, wenn es mich auch noch länger aushält?" Das Jammerbild, zu dem er mich führte, kann ich nicht beschreiben. Ich warf ihnen meine Börse hin und der Ausbruch ihres Dankes überwältigte mich ganz. Er füllte meine Augen mit Tränen und träufelte als milder Balsam in mein Herz. "Ich komme morgen wieder", rief ich. "Narr, der ich war, dass ich daran denken konnte, eine Welt zu verlassen, in der man solch Vergnügen haben kann, und das so billig!" Samuel Rogers † 1855.
  Wie töricht sind doch die Menschen, dass sie ängstlich fürchten, durch Freigebigkeit ihre Reichtümer zu verlieren, und sich nicht fürchten, durch ihren Geiz selber ewig verloren zu gehen!Wer sein Gold in Kisten und Truhen einsperrt, mag ein guter Kerkermeister sein; aber ein guter Haushalter ist, wer es nützlich anwendet. - Kein Kaufmann handelt in England Wein ein, um ihn nach Frankreich zu bringen, oder Gewürze in Frankreich, um sie nach Indien zu schaffen. Du hast hier auf Erden Reichtümer und hier sind die Leute, die deiner Reichtümer bedürfen - die Armen; im Himmel gibt’s Reichtümer genug, dahin brauchst du keine mitzunehmen (wenn du es auch könntest), aber dort sind auch keine Armen. Darum verwende dein Geld in Kraft des Glaubens hier auf Erden zum Besten der Bedürftigen, damit du einen Wechsel in der Hand habest, auf Grund dessen es dir in jener Welt in unvergänglichem Golde wieder ausgezahlt werde; denn nur das nimmst du dorthin mit, was du in solcher Weise voraussendest. Tu Gutes, solange es in deiner Macht steht. Hilf den Bedrängten, steh den Witwen und Waisen bei, solange dein Vermögen dein Eigentum ist; wenn du tot bist, gehört es anderen. Ein Licht, das vor uns hergetragen wird, ist besser als zwanzig hinter uns. Francis Raworth 1656.


V. 3.4. Aber wenn Unglückstage kommen? Wäre es nicht doch besser, ich behielte mein Geld? Dein Geld wird dich nicht erretten. Es mag eher die Veranlassung sein, einen zu gefährden, einen ins Unglück zu bringen, statt aus demselben. Aber den Mildtätigen wird Gott bewahren und am Leben erhalten. Ja, aber wenn Krankheit mich befällt? Wohlan: Der Herr wird dich stützen auf deinem Siechbette. Richard Capel † 1656.
  Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass Leute, die sich der Armen, und besonders auch der kranken Armen, annehmen und Kellerwohnungen, Dachstuben, Hinterhäuser und Winkelgassen und all solche Stätten des Elends aussuchen, um die Hilfsbedürftigen aufzufinden, ja, die sich mitten in die gefährlichsten Seuchenherde wagen, nur in ganz seltenen Fällen ein Opfer ihrer Wohltätigkeit werden. Der Herr bewahrt sie in ganz besonderer Weise und erhält sie am Leben, während viele, die es versuchen, sich von aller Ansteckungsgefahr fern zu halten, von den Seuchen ergriffen werden und ihnen zur Beute fallen. Gott hat die Barmherzigen lieb. Adam Clarke † 1832.


V. 2-4. Als die vertriebenen Salzburger durch Berlin kamen, schenkte ein Unbekannter für sie zwei Reichstaler, in einem Briefe eingeschlossen, darinstand; "Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt; den wird der Herr erretten usw. (V. 2.3.4 ;) Da nun Gott diese Worte einesteils in die Erfüllung hat gehen lassen und mich von einer schweren Krankheit in etwas entledigt, so folgt hierbei auch ein Erstling zum Dankopfer zur Erquickung der armen vertriebenen Salzburger. Gott aber bereite mich ihm selbst zum Opfer, das da lebendig, heilig und ihm wohlgefällig sein möge. Empfehle mich daher in deren inbrünstige Fürbitte zu Gott für mich zwar Unbekannten." Göcking, 1734.


V. 4. Der Herr wird ihn stützen (wörtl.) auf seinem Siechbette. Ich besuchte eines Tages einen teuren Freund, Benjamin Parson, der im Sterben lag. Auf meine Frage, wie es ihm gehe, antwortete er: "Mein Kopf ruht sehr sanft auf drei Kissen: auf der unendlichen Weisheit, der unendlichen Macht und der unendlichen Liebe." Ich erwähnte diese Worte später einmal in einer Predigt, die ich in einer Kirche in Brighton hielt. Viele Monate nachher wurde ich gebeten, eine arme, aber gottselige junge Frau zu besuchen, deren Leben offenbar dem Ende nahe war. Sie sagte zu mir: "Es war mir, als müsse ich Sie noch sehen, ehe ich sterbe. Ich habe Sie damals die Geschichte von Benjamin Parson und seinen drei Kissen erzählen hören. Bald nachher musste ich eine schwere Operation durchmachen. Mein Kopf lag auf Kissen und als man mir diese wegnahm, fragte ich: "Darf ich sie nicht behalten?" Der Arzt sagte, es gehe nicht an. "Nun gut", antwortete ich, "aber Benjamin Parsons drei Kissen können Sie mir doch nicht wegnehmen. Ich kann mein Haupt auf der unendlichen Macht, der unendlichen Liebe und der unendlichen Weisheit ruhen lassen." E. Paxton Hood 1865.


V. 5. Gnade, nicht Gerechtigkeit erstehe ich, die höchste Gnade für das höchste Elend. Mich heilt weder Kraut noch Pflaster, sondern dein Wort, Herr, das alles heilt. (Weisheit 16,12) Thomas von Aquino † 1274.
  Saul und Judas sprachen beide: Ich habe gesündigt (1. Samuel 15,24; Mt. 27,4); David aber sprach: Ich habe an dir gesündigt. William S. Plumer 1867.


V. 6. Sprechen ist hier im Sinne von anwünschen gebraucht. Jean Calvin † 1564.
  Sie wünschen ungeduldig nicht nur den Tod des Verhassten, sondern auch völligen Untergang seines Namens oder Gedächtnisses, dass nachher (zur Beruhigung ihres Gewissens) gar nicht mehr von ihm die Rede sei; man vergleiche Apg. 4,17.18; 5,28.40. Rudolf Stier 1834.


V. 7. Ich erinnere mich eines hübschen Gleichnisses, das Joannes de Bromiardus (1485) gibt: Ein Vogelsteller, der an einem bitterkalten Morgen nach langem Warten eine Menge kleiner Vögel gefangen hatte, nahm seine Netze auf und legte die Vögel, nachdem er ihnen den Kopf umgedreht hatte, beiseite. Eine kleine Drossel, die sah, wie dem Vogelsteller - des starken Frostes wegen - die Tränen hinunterliefen, sagte zu ihrer Mutter, der Mann müsse doch sehr barmherzig und mitleidig sein, dass er so bitterlich über das Unglück der kleinen Vögelchen weine. Aber ihre erfahrenere Mutter belehrte sie, sie könne sich über des Mannes Gesinnung ein richtigeres Urteil bilden, wenn sie auf seine Hand, als wenn sie auf seine Augen achte, und wenn jemandes Hand so heimtückische Dinge tue, dürfe er nie zur Freundschaft zugelassen werden, ob er auch noch so schön spreche oder anscheinend mitleidsvoll weine. Bischof Jeremy Taylor † 1667.


V. 10. Mein Freund, der, sooft er mich besuchte, mich mit dem Kuss der Liebe und Verehrung (vergl. Lk. 7,45) begrüßte und mit dem üblichen Wunsche: Friede sei mit dir. Hermann Venema † 1787.
  Christus führt (Joh. 13,18) diese Stelle an und bezieht sie auf Judas. Sicherlich ist nicht zu leugnen, dass David, wenn er auch in diesem Psalm von sich handelt, doch nicht von sich als Privatmann redet, sondern als von einem Vorbilde Christi. An ihm kommt zur Darstellung, was die ganze Gemeinde erlebt. Das wollen wir uns auch darum einprägen, damit ein jeder von uns sich rüste, ein gleiches Los zu tragen. Denn wie das, was bei David nur anfangsweise vorhanden war, in Christus vollkommen erfüllt werden musste, so muss es täglich bei seinen einzelnen Gliedern in Erscheinung treten: Christi Gemeinde hat ihre Feinde draußen und drinnen. Jean Calvin † 1564.
  Die Leiden der Gemeinde des Herrn fangen zumeist gleich denen ihres Erlösers daheim, im engsten Kreis, an. Die offenen Feinde können der Kirche Gottes keinen Schaden tun, solange ihre falschen Freunde sie nicht in die Hände von jenen überliefert haben. Und so unnatürlich es scheinen mag, sind doch gerade solche, die durch ihre Güte fett geworden sind, manchmal die ersten, die gegen sie ihre Ferse aufheben. Bischof George Horne † 1792.
  Der mein Brot aß. Wenn, woran nicht zu zweifeln ist, bei den Israeliten ebenso stark wie noch heute bei den Beduinen das Gefühl ausgeprägt war, dass Person und Eigentum derer, mit den man Brot und Salz gegessen, heilig und unantastbar seien, so ist die Sprache dieses Verses sehr stark. George R. Royes 1846.


V. 11. Lass mich wieder erstehen. Nach der Marterwoche kommt der Ostertag. Hieronymus Menzel 1594.
  Zum Schluss des ersten Psalmbuchs. Wie die Psalmen nicht von einem Mann geschrieben sind, so bilden sie auch nicht ein Buch. Der Psalter ist in der Tat ein Pentateuch, ein fünfteiliges Buch und die Scheidelinien sind deutlich. Am Ende des Psalms 41; 72; 89; 106; finden wir ein feierliches Amen, einzeln oder verdoppelt, als Schluss einer Doxologie, die anzeigt, dass ein Buch zu Ende ist und ein neues beginnt. Beim letzten Buch vertritt der 150. Psalm die Stelle der kürzeren Doxologien bei den anderen Büchern. Ein eingehendes Studium der Psalmen zeigt, dass jedes Buch seine Besonderheiten hat. So ist z. B. als Gottesname im ersten Buche Jahwe, im zweiten Elohim vorherrschend. E. H. Plumptre 1870.
  Es ist noch ein anderer Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Psalmbuch bemerkbar. Im ersten werden alle Psalmen, die überhaupt einen Verfasser nennen, ausdrücklich David zugeschrieben, während wir im zweiten eine ganze Gruppe als von levitischen Sängern herrührend bezeichnet finden. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Kann man sich das allmähliche Anwachsen des Psalters nicht gut an unseren Gesangbüchern deutlich machen, die im Laufe der Jahre erst einen, dann wieder einen Anhang bedürfen, um den stetig zunehmenden Liederreichtum der Kirche ausnehmen zu können? In dem Fall des Psalters bildeten die rein davidischen Psalmen des ersten Buchs den Kern, dem sich andere heilige Lieder bald anschlossen. C. H. Spurgeon 1870.
  Gott beschenkte Israel mit dem Gesetz, dem Pentateuch der Tora und Israel erwiderte diese Gabe dankerfüllt mit dem Psalter, einem Pentateuch des Lobpreises. J. L. K. 1870.


Homiletische Winke

V. 2a. Die Segnungen, die uns dadurch, dass wir uns hilfsbedürftiger Gläubigen annehmen, zuteilwerden. 1) Wir lernen danken. 2) Wir sehen, was Dulden heißt. 3) Wir haben oft Gelegenheit, zu beobachten, die Siege durch die Kraft der Gnade errungen werden. 4) Wir bekommen mehr Licht über die christliche Erfahrung. 5) Wir werden der Fürbitte der Gotteskinder, denen wir dienen, teilhaftig. 6) Wir empfinden das Glück des Wohltuns. 7) Wir treten in besonderer Weise in die Gemeinschaft des Heilands, der sich den Elenden zulieb erniedrigte.
  Gott wohlgefällige Mildtätigkeit.
V. 2-4. Die besonderen Verheißungen, die den Barmherzigen gegeben sind.
V. 3. Wohlergehen auf Erden. Die Segnungen irdischer Art sichert uns eine gottselige Denk- und Handlungsweise, und was heißt es überhaupt, in Bezug auf dies Leben gesegnet zu sein?
V. 4. Der Herr Pfleger und Arzt der Seinen in der Krankheit.
V. 5. Ein Wort, das der Wiederholung wert ist. Es zeugt von echter Reue, von Demut, Ernst, Glauben, Freimut, Gottesfurcht usw.
  Heile meine Seele. 1) Das Erbübel, das in so manchen Krankheitserscheinungen - offenbaren Sünden, Unglauben, Abnahme des geistlichen Lebens usw. - zum Ausbruch kommt. 2) Die geistliche Gesundheit des neuen Menschen, die mit diesem Übel im Kampfe ist, was sich zeigt im Schmerz über die Sünde, im Verlangen nach Heiligkeit, im Gebet, im ernstlichen Ringen mit der Sünde usw. 3) Der erprobte Arzt. Er hat geheilt und will heilen, durch sein Wort, sein Blut, seinen Geist usw.
  Ich habe an dir gesündigt. Dies Bekenntnis ist persönlich, bestimmt, wendet keine Entschuldigungen vor, ist umfassend und einsichtsvoll, da es den Kern der Sünde trifft; an dir.
V. 6. Was mögen wir erwarten? Was wünschen unsere Feinde? Was sollen wir daher schätzen? Wenn der Herr uns die geistliche Lebenskraft erhält und unseren Namen bewahrt (Lk. 10,20). Was sollen wir tun? Dem Herrn alles im Gebet sagen. Was für Gutes wird dann aus dem Übel hervorgehen?
V. 7a. Die Torheit und Sündhaftigkeit eitler und frivoler Besuche.
V. 7b. Sein Herz sammelt Bosheit an. (Grundtext) Gleiches zu gleichem oder wie jeder das sammelt, was seinem Wesen entspricht. Oder: Der Gottlose unter dem Bilde des Lumpensammlers. Was sammelt er? Wo häuft er es auf? In seinem Herzen. Was tut er damit? Was bekommt er für seine Ware? Und was wird endlich aus ihm selber werden?
V. 7-13. Auf dem Siechbette kann man seine Feinde und seine Freunde, aber auch sich selber und seinen Gott besser kennen lernen.
V. 10. Ahitophel und Judas.
  Der Verrat des Judas im Lichte dieses Verses.
V. 12. Errettung aus der Anfechtung ein Zeichen der göttlichen Huld.
V. 13. Dieser Vers gibt uns etliche Kennzeichen der Erwählten an. 1) Ihre Lauterkeit ist offenbar. 2) Sie selber und ihr Charakter werden von Gott erhalten. 3) Sie erfreuen sich des göttlichen Wohlgefallens. 4) Ihre Glaubensstellung ist fest. 5) Ihre ewige Zukunft ist gesichert.
V. 14. 1) Wer wird gepriesen? Jahwe, der Bundesgott seines Volkes. 2) Wann erschallt sein Preis? Von Ewigkeit zu Ewigkeit. 3) Unsere Anteilnahme an diesem Lobpreis: Amen, Amen.

Fußnoten

1. ldIa eigentl. tenuis, allgemeine Bezeichnung des Armen (2. Mose 30,15), des Kranken und Schwächlichen (1. Mose 41,19), des Gemütskranken (2. Samuel 13,4) und überhaupt des äußerlich oder innerlich Dankenden und also Hinfälligen. (Delitzsch)

2. l)e lykIi&:hi nehmen die meisten hier in der Bedeutung: in teilnehmender Liebe auf jemand achten, man vergl. mit etwas anderer Schattierung der Bedeutung Neh. 8,13. Andere fassen es: weise, d. i. geziemend, einsichtig, milde handeln gegen einen.

3. Luther dachte bei seiner Übersetzung "erquicken" wohl an die Redensart bl" d(asf, das Herz (durch Speise u. dergl.) stützen = stärken, laben, 1. Mose 18,5; Ps. 104,15, und dass in Hohelied 2,5 das synonyme Kms pi. mit dem Suffix gebraucht wird, lässt denken, dass d(s auch ohne bl in diesem Sinne gebraucht werden könnte. Näher liegt aber doch die Übersetzung ihn stützen = aufrecht halten. Nur ist es fraglich, ob in unserer Stelle an das liebreiche, wohltuende Stützen des Körpers nach Art des Krankenpflegers und nicht vielmehr an das Aufrechthalten vom Versinken in Tod und Grab (Delitzsch) gedacht ist.

4. Einzelne von den Auslegern, die V. 4a das Bild des Krankenpflegers als vorliegend erachten, verstehen auch V. 4b vom Umbetten das Lagers = das Bett machen. So Mendelsohn und die englische Bibel: Thou wilt make all his bed in his sickness. Für diese Deutung spricht der Zusatz in seiner Krankheit, dagegen jedoch der sonstige Gebrauch von Kph z. B. 30,12, wonach hier wohl an eine viel durchgreifendere Umwandlung, an ein Umwandeln des Krankenlagers in eine sanfte Ruhestätte durch Heilung des Kranken zu denken sein wird. (Johann David Frisch erinnert an Mt. 9,6) Man kann auch, wofür das lkI spricht, Lager für Darniederliegen nehmen: All sein Darniederliegen wandelst du (in Genesung), wer er krank ist.

5. Wörtlich: Merry England, das fröhliche England, aus einem Volksliede.

6. Eigentlich: Sie erdenken wider mich, was mir verderblich ist. yli h(frf gehört zusammen.

7. Wörtlich: Heilloses ist ihm angegossen. Dies die wahrscheinlichste Deutung (vergl. Hiob 41,15). Jedenfalls sind diese Worte schon ein Teil der hämischen Rede der Feinde. Wir können Unheil im Sinne von heilloser Tat oder im Sinne von unheilvollem Geschick nehmen; am besten fassen wir beides zusammen.

8. Delitzsch und Keßler fassen Ferse hier gleich Fersenstoß, Fußtritt vergl. LXX pternismo/n; also wörtl.: Er hat den Fersenstoß wider mich groß gemacht.