Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 48 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalmlied, wörtl.: Ein Lied, ein Psalm. Der Name Psalm bedeutet zwar zunächst überhaupt ein zu Saitenspiel gesungenes Lied, scheint aber schon früh als Bezeichnung religiöser Dichtungen üblich geworden zu sein, da er ausschließlich von solchen gebraucht wird. Nicht jedes Lied ist ein Psalm, denn nicht alle Poeten sind gottbegeisterte Dichter und nicht jeder Psalm ist ein Lied, denn wenn wir vor Gott treten, haben wir ebensowohl tieftraurige Bekenntnisse abzulegen wie mit frohlockenden Gesängen den HERRN zu preisen. Die Kinder Korah müssen sich glücklich geschätzt haben, über eine so reiche Auswahl heiliger Dichtungen verfügen zu können. Wo eine solche Mannigfaltigkeit der edelsten Musik war, konnte der Gottesdienst nie eintönig werden, sondern musste weiter Spielraum sein für all die edlen Passionen gottbegnadeter Seelen.

Inhalt und Anlass. Wir würden zu viel wagen, wollten wir mit Bestimmtheit sagen, welches Ereignis der jüdischen Geschichte es sei, das dieses Lied veranlasst hat. Der Dichter singt davon, dass gewisse verbündete Könige sich von Jerusalem haben zurückziehen müssen, indem der Mut sie verließ, ehe sie auch nur einen Streich tun konnten. Am meisten hat die Annahme für sich, dass der Psalm auf die unter der Regierung Josaphats erfolgte Niederlage der Ammoniter, Moabiter, Edomiter und Araber Bezug nehme. Auch die Erwähnung der Tarsisschiffe V. 8 passt auf die Zeit Josaphats. Man vergleiche in 2. Chr. 20 besonders V. 19.26.36. Andere denken an die Errettung Jerusalems von den Assyrern. Die Könige V. 8 wären dann die unterworfenen Fürsten, welche in dem assyrischen Heer Dienst tun mussten (Jes. 10,8). Im 33. Kap. des Propheten Jesaja sind manche Anklänge an diesen Psalm, vergl. hier V. 7.8.13. 15 mit Jes. 33,14.21.18.22.

Einteilung. Die Vers 2-4 preisen den HERRN und die seinem Dienst geweihte Stadt. In V. 5-9 beschreibt das Lied die über die Feinde Zions gekommene Verwirrung, und zwar so, dass Gott allein dafür gepriesen wird, V. 10-12. Die letzten Verse, 13-15, rühmen die Herrlichkeit Zions und bekennen, dass der Gott, der sich jetzt so herrlich an Jerusalem erwiesen, seines Volkes Gott sei ewiglich.


Auslegung

2. Groß ist der HERR und hoch berühmt
in der Stadt unsers Gottes, auf seinem heiligen Berge.
3. Schön raget empor der Berg Zion,
des sich das ganze Land tröstet;an der Seite gegen Mitternacht liegtdie Stadt des großen Königs.
4. Gott ist in ihren Palästen
bekannt, dass er der Schutz sei.


2. Groß ist der HERR. Wie groß Jehova seinem Wesen nach ist, kann niemand erfassen; aber das können wir alle wahrnehmen, dass er groß ist in all seinem Walten über den Menschenkindern, groß namentlich auch in den Heilstaten für sein Volk. Groß ist er darum auch in den Herzen derer, die er errettet, erschrecklich groß aber auch für die Feinde, die er durch ihre eigene Furcht zerstreut. Statt des unsinnigen Geschreis der Epheser: "Groß ist Diana," legen wir das vernünftige und die Kraft der Wahrheit in sich tragende Zeugnis ab: "Groß ist Jehova." Niemand ist groß in der Kirche Gottes als der HERR. Jesus ist der große Hirt der Schafe (Hebr. 13,20), unser großer Gott und Heiland (Tit. 2,13), unser großer Hoherpriester (Hebr. 4,14); der Vater hat ihm unter den Großen Teil gegeben (Jes. 53,12 Grundtext), und sein Name wird groß sein bis an die Enden der Erde. Und hochberühmt, oder: hoch zu preisen. (Vergl. Ps. 18,4) Kann unsere Anbetung seinem erhabenen Wesen auch nie ganz entsprechen, so soll sie doch so würdig wie nur möglich sein Lob verkünden. Wir können darin nie zu viel tun, ihn nie zu oft und anhaltend, zu inbrünstig, zu fröhlich und zu ehrfurchtsvoll und in zu erhabenen Tönen preisen. Dem HERRN ist keiner gleich, und niemand sollte wie er gerühmt werden. In der Stadt unsers Gottes. Da erweist er sich groß, deshalb soll er da auch hochgepriesen werden. Wenn alle Welt sich von der Verehrung Jehovas lossagte, so würde doch das auserwählte Volk der von dem Höchsten so bevorzugten Stadt nicht ablassen, ihn anzubeten, denn in ihrer Mitte und um ihretwillen hat seine Macht sich so wunderbar erwiesen. In seiner Gemeinde soll der HERR erhoben werden, ob auch alle Völker gegen ihn toben. Jerusalem war die Stätte der besonderen Gnadengegenwart Gottes, der Sitz der theokratischen Regierung und der Mittelpunkt des verordneten Gottesdienstes; und ebenso ist die Gemeinde des Herrn der Ort, wo der Herr sich besonders offenbart. Auf seinem heiligen Berge. Dort war sein heiliger Tempel, dort dienten ihm seine heiligen Priester, und dort stieg der Rauch der heiligen Opfer zu ihm empor. Zion war ein Berg, und da er der berühmteste Teil der Stadt war, steht er für die Stadt selbst. Die Gemeinde des lebendigen Gottes ist auch ein Berg, ein erhabener Ort, weithin sichtbar, und ihre Zier soll die Heiligkeit sein, denn ihre Glieder haben an der Heiligkeit Gottes teil. Nur durch heilige Leute kann der HERR würdig gepriesen werden, und die wahren Priester Gottes sollten unablässig mit seinem heiligen Dienst beschäftigt sein.

3. Schön raget empor der Berg Zion. Das war vom Zion und von Jerusalem im natürlichen Sinne wahr, so dass man Jerusalem wohl die Königin des Ostens nennen konnte; die Schönheit der neutestamentlichen Gemeinde aber ist ihre geistliche Erhabenheit. Je höher sie über der Welt steht, desto herrlicher ist sie. Die Freude der ganzen Erde. (Grundtext) Vergl. Klgl. 2,15; Hes. 16,14. Jerusalem war der Morgenstern der alten Welt. Was überhaupt an Licht unter den Völkern war, das war den Offenbarungen entlehnt, zu deren Hüter Gott Israel bestellt hatte. Ein echter Israelit musste die heilige Stadt als das Auge der Welt, als die köstlichste Perle aller Lande schätzen. Die Kirche Gottes ist, wiewohl bei den Menschen verachtet, dennoch die wahre Freude und Hoffnung der Welt. An der Seite gegen Mitternacht liegt1 die Stadt des großen Königs. Jerusalem lag im Norden des Reiches Juda. Oder die Worte beziehen sich vielleicht darauf, dass der Tempelberg2 die Nordostecke des alten Jerusalem bildete. Das war die Herrlichkeit Jerusalems, dass es die Stadt Gottes war, seine Königsresidenz; das ist auch die Herrlichkeit der Gemeinde, dass Gott in ihrer Mitte thront. Der große Gott ist der große König seiner Kirche, und ihr Bestes ist das Ziel, welches er auch bei seiner Herrschaft über die Völker stets im Auge hat. Die Leute, unter denen der HERR zu wohnen geruht, sind vor allen andern bevorzugt; ihnen ist das Los gefallen aufs Liebliche, ein schönes Erbteil ist ihnen geworden (Ps. 16,6).

4. Gott ist in ihren Palästen bekannt, dass er der Schutz sei.3 Wir dienen keinem unbekannten Gott. Wir kennen ihn als unseren Hort in der Not, wir freuen uns sein als solcher gewissen Zuflucht und eilen zu ihm in jeder Bedrängnis. Wir kennen keine andere Schutzwehr. Wiewohl wir zu königlicher Würde erhoben sind und eben darum unsere Hütten Paläste sind, so setzen wir doch in uns selbst kein Vertrauen, sondern getrösten uns unseres hohen Beschützers, dessen so oft erprobte Macht unser unbezwingbares Bollwerk ist.


5. Denn siehe, Könige waren versammelt
und sind miteinander vorüber gezogen.
6. Sie haben sich verwundert, da sie solches sahen;
sie haben sich entsetzet und sind davongestürzt.
7. Zittern ist sie daselbst ankommen,
Angst wie eine Gebärerin.
8. Du zerbrichst Schiffe im Meer
durch den Ostwind.
9. Wie wir gehört haben, so sehen wir’s
an der Stadt des HERRN Zebaoth, an der Stadt unsers Gottes;Gott erhält dieselbige ewiglich. Sela.


5. Denn siehe, die (Grundtext) Könige waren versammelt und sind miteinander vorübergezogen.4 Sie kamen - und gingen. Kaum waren sie beisammen, so waren sie auch schon zerstreut. Sie kamen auf einem Wege und flohen auf zwanzig Wegen. Prahlend und prangend waren die versammelten Heermassen unter ihren königlichen Führern herangerückt, verzweifelt flohen sie in wirren Haufen samt ihren bestürzten Hauptleuten. Sie wälzten sich heran wie die schäumenden Wellen eines tobenden Meeres, und wie Schaum vergingen sie. Diese Wandlung war so erstaunlich, dass der Sänger ein Siehe oder Fürwahr des Erstaunens davorsetzt. Wie, so schleunig haben sie sich zur Flucht gewandt? Genau so werden alle Feinde der Gemeinde des Herrn von dem Kampfplatz verschwinden. Die Papisten, Ritualisten, Arianer, Skeptiker und wie sie heißen mögen, für sie alle wird der Unglückstag kommen, wo sie der Vergessenheit anheimfallen.

6. Sie sahen’s, da (in demselben Augenblick) erstaunten sie. (Wörtl.) Sie kamen, sie sahen, aber sie siegten nicht. Für sie galt nicht das alte veni vidi vici. Kaum sahen sie’s, nämlich dass der HERR in Jerusalem als dessen Schutz wohne (V. 4), so stürzten sie in wilder Flucht davon. Noch ehe der HERR sie angriff, waren sie schon verzagt und bliesen zum Rückzug. Wurden bestürzt, entflohen angstvoll. (Wörtl.) Sie, die die heilige Stadt durch plötzlichen Überfall erschrecken wollten, wurden selber plötzlich von Schrecken überfallen. Die Eile, mit der sie herangezogen waren, war nichts gegen die Hast, mit der sie davonrannten. Eine Panik ergriff sie, der Schrecken Gottes kam über sie. Die schnellsten Rosse waren ihnen nicht schnell genug, gern hätten sie sich die Flügel des Windes geborgt. Sie machten sich schimpflich aus dem Staube wie feige Buben. Gott sei Dank, es wird mit den Feinden der Gemeinde des Herrn nicht anders gehen; wenn der himmlische Herzog uns zur Hilfe herbeieilt, werden unsere Widersacher wie nichts sein. Könnten sie ihre schmähliche Niederlage voraussehen, sie würden’s gewiss bleiben lassen, uns anzugreifen.

7. Zittern ist sie daselbst ankommen. Der Riese Verzweiflung hatte sie mit eisernem Griff gepackt. Eben da, wo sie gehofft hatten, das Siegesgeschrei anstimmen zu können, zitterten und bebten sie vor Schrecken. Statt dass sie Jerusalem eroberten, wurden sie eine Beute des Entsetzens. Angst wie eine Gebärerin. Sie wurden so von der Angst übermannt, wie eine Frau, die, von einem Schrecken ergriffen, plötzlich vor der Zeit gebiert, oder sie waren so in Not wie eine Mutter, die in den Wehen liegt. Ein starkes Bild, das bei den Morgenländern sehr gebräuchlich ist zur Bezeichnung der äußersten Not. Wenn der HERR sich erhebt, um seiner Gemeinde beizustehen, sind ihre stolzesten Feinde wie zitternde Weiher, und ihr Verzagen ist nur der Anfang der ewigen Verzweiflung.

8. Du zerbrichst Schiffe im Meer (Grundtext: Tarsisschiffe, die größten Schiffe, gleich unseren "Ostindienfahrern",) durch den Ostwind. So leicht, wie die größten Schiffe durch den Sturm zerscheitert werden, vernichtest du die gewaltigsten Gegner. Oder der Gedanke ist: Die Stärke so mancher Völker liegt in ihren Schiffen, die doch wie Nussschalen zerbrochen werden; unsre Stärke aber ruht in unserm Gott, darum kann es uns nimmer fehlen. Es wäre aber, wenn der Psalm aus der Zeit Josaphats stammt, vielleicht noch eine andere Deutung möglich (vergl. 2. Chr. 20,35-37), nämlich die: Wiewohl du unser Beschützer bist, so gehst du doch mit unseren Erfindungen fleischlicher Klugheit ins Gericht; uns bewahrst du, aber unsre stolzen Schiffe, alles, worauf unser Unglaube sich verlassen und womit unser Ehrgeiz sich schmeicheln könnte, zerbrichst du und nimmst es uns weg, damit wir von dir allein alle Hilfe erwarten. Gott tut sich auf den Wassern wunderbar kund, aber ebensosehr auf dem Festland. Irrige spekulative Lehren, die vorgeben, uns aus der Ferne ungeahnte Schätze zu bringen, bereiten der Kirche immer wieder Gefahren; aber der Odem des HERRN treibt sie bald in Vernichtung. Die Gemeinde stützt sich noch gar manchmal auf die Weisheit von Menschen, und diese menschlichen Hilfsmittel leiden Schiffbruch; doch die Gemeinde Gottes selbst geht nicht mit unter, sie steht unter dem sicheren Schutze ihres großen Gottes und Königs.

9. Wie wir gehört haben, so sehen wir’s (haben wir es gesehen, Grundtext) an der Stadt des HERRN Zebaoth, an der Stadt unsers Gottes. Die wunderbaren Geschichten von der Hilfe Jehovas, welche unsre Väter uns überliefert haben, haben sich vor unseren Augen wiederholt. Wir hörten die Verheißung, und nun haben wir die Erfüllung gesehen. So wunderbar die Berichte sind, die in dem heiligen Archive Zions aufbewahrt werden, haben sie sich doch als wahrhaftig erwiesen durch die eben geschehenen Tatsachen, indem diese mit jenen völlig übereinstimmen. Man beachte, dass der HERR zuerst der HERR der Heerscharen, also mit einem Namen, der seine Macht und Hoheit anzeigt, genannt wird und sodann unser Gott, welcher Name auf sein Bundesverhältnis zu Israel und auf seine Herablassung hinweist. Da der HERR diese beiden Namen trägt, ist’s kein Wunder, wenn wir erfahren, dass er an uns nach seiner vorlängst erwiesenen Freundlichkeit und der bewährten Zuverlässigkeit seiner Verheißungen handelt. Gott erhält dieselbe ewiglich. Die wahre Kirche kann nie untergehen. Gott stellt sie fest auf ewig. Das ist besser als aller Schutz des Staates. Was Könige gründen, das hat im besten Falle nur für die Zeit Bestand; was Gott gründet, das währt in alle Ewigkeit. Sela. Hier ist eine Pause wohl angebracht, in der wir mit stiller Anbetung über die Wunder der Vergangenheit nachsinnen und einen freudigen Blick in die Zukunft werfen können.


10. Gott, wir gedenken deiner Güte
in deinem Tempel.
11. Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm
bis an der Welt Enden;deine Rechte ist voll Gerechtigkeit.
12. Es freue sich der Berg Zion, und die Töchter Judas seien fröhlich
um deiner Gerichte willen.


10. Gott, wir gedenken deiner Güte oder Gnade, wörtlicher: sinnen (vergleichend) über deine Gnade. Heilige Menschen sind nachdenkende, sinnige Menschen; sie lassen Gottes Wunder nicht an ihren Augen vorüberziehen und in Vergessenheit verschwinden, sondern sinnen emsig über sie nach. Und welch köstlicher Gegenstand solch stillen Nachsinnens ist die Gnade Gottes! Wie könnte eine Seele, die Gott liebt, des Themas müde werden! Wir tun wohl daran, in Zeiten der Trübsal der früher erfahrenen Freundlichkeit Gottes zu gedenken, und ebenso nützlich ist das in den Tagen des Wohlergehens. Die dankbare Erinnerung an Gottes Wohltaten versüßt uns manchen bittern Trunk und läutert unsere Freuden. In deinem Tempel. Der beste Ort, um sich andächtig in Gott zu versenken. Wo der HERR sich am herrlichsten offenbart, entzündet sich auch am inbrünstigsten die Liebe zu ihm. Wo sich Gottes Kinder versammeln, bilden sie einen lebendigen Tempel, und wenn wir beisammen sind, sollte unser tiefstes Sinnen sich der Güte und Gnade des HERRN zuwenden, die sich auf so mannigfaltige Weise in der Erfahrung eines jeden einzelnen der lebendigen Steine dieses Tempels kundtut. Solches Gedenken an die erfahrene Barmherzigkeit sollte mit beständigem Lobpreisen des HERRN verbunden sein. Nahe dem Schaubrottisch, der an Gottes Güte erinnert, stehe der Räucheraltar, auf dem die Weihrauchwolken unseres Dankes aufwärts steigen.

11. Gott. wie dein Name, so ist auch dein Ruhm bis an der Welt Enden. Dem großen Namen Gottes, das ist, seiner wunderbaren Selbstoffenbarung, entspricht auch sein Lobpreis. Beide gehen bis an der Welt Enden. Nicht Jerusalem allein, auch die Völker rühmten die wunderbare Errettung, welche Gott Juda hatte zuteilwerden lassen. Ja der Ruhm der Taten Jehovas geht über die Grenzen der Erde hinaus (nach anderer Übersetzung5; Engel staunen und beten an, und von allen Gestirnen, wo immer geistbegabte Wesen wohnen, erschallt sein Ruhm bis an die Enden des Weltalls. Und mögen auf Erden die Menschen schweigen, so sind doch die Wälder und Felder, die Berge und Seen mit ihren Myriaden von Lebewesen, und all die unsichtbaren Geister, die darüber hinwandeln, seines Preises voll. Wie wir in einer Muschel das Brausen des Meeres hören, so vernehmen wir in den Umdrehungen der Schöpfung das Lob Gottes. Deine Rechte ist voll Gerechtigkeit. Dein Zepter und dein Schwert, die Erweise deiner freundlich waltenden und schützenden Vorsehung wie deiner rächenden Vergeltung, sind gerecht. Deine Hand ist nie leer, sondern allezeit voller Tatkraft, Güte und Gerechtigkeit. Weder der Gläubige noch der Sünder werden Gottes Hand je leer finden. Er wird beiden Gerechtigkeit in vollem Maße austeilen; dem einen wird er sich als der Gerechte erweisen, indem er ihm um Jesu willen seine Sünde vergibt, dem andern, indem er ihn verdammt.

12. Es freue sich der Berg Zion. Als die erste der Städte Judas und als das Hauptangriffsziel der Feinde möge die heilige Stadt den Reigen eröffnen. Und die Töchter Judas seien fröhlich oder mögen jubeln. Aber auch die kleineren Orte sollen im Chor einfallen, war doch mit Jerusalem das ganze Land bedroht und durch die Vernichtung der Feinde nun wunderbar errettet. Mögen die Frauen und Töchter6, die im Kriege am schrecklichsten unter der Unmenschlichkeit der Menschen leiden, nun, da die feindlichen Horden in die Flucht geschlagen sind, die fröhlichsten unter den Fröhlichen sein. Die ganze Gemeinde des HERRN und jedes einzelne Glied derselben freue sich in dem HERRN und rühme seinen heiligen Namen. Um deiner Gerichte willen. Die gerechten Taten des HERRN sind ein geziemender Gegenstand frohlockenden Lobpreisens. Wie immer man auf Erden darüber denken mag, im Himmel wird das ewige Verderben der Gottlosen das Thema anbetender Gesänge sein. Man lese Off. 19,1-3. Jetzt erscheint Gottes Gerechtigkeit unseren Augen oft hart; dann aber wird man klar erkennen, dass sie mit Gottes Liebe völlig übereinstimmt und einer der herrlichsten Edelsteine seiner Krone ist.


13. Machet euch um Zion und umfanget sie;
zählet ihre Türme;
14. achtet mit Fleiß auf ihre Mauern, durchwandelt ihre Paläste,
auf dass ihr davon verkündiget den Nachkommen,
15. dass dieser Gott sei unser Gott immer und ewiglich.
Er führet uns wie die Jugend.


13. Machet euch um Zion, begehet die Stadtgrenzen, nicht einmal, sondern oftmals, wie Israel einst um Jericho zog. Besichtigt die Stadt von allen Seiten, betrachtet sie euch mit Muße und Sorgfalt. Und umwandelt sie ringsum. (Grundtext) Umkreist sie immer aufs neue, weidet euch an ihrem herrlichen Anblick und seht, wie unversehrt der HERR sie erhalten hat. Auch wir können nicht zu häufig und zu innig und ernstlich die Stadt Gottes, die Gemeinde Jesu, betrachten und ihren wunderbaren Ursprung, ihre Vorrechte, ihre Geschichte, ihre Sicherheit und Herrlichkeit beschauen. Manchen Dingen werden wir mit einem flüchtigen Gedanken gerecht; dieser Gegenstand aber ist der hingebendsten und ausdauerndsten Betrachtung wert. Zählet ihre Türme. Seht nach, ob einer von ihnen zerstört worden oder schadhaft geworden ist. Ist die Kirche Gottes noch, was sie einst war, in Betreff der Lehre, der Kraft und inwendigen Herrlichkeit? Ihre Feinde schauten ihre zahlreichen mächtigen Türme erst voll Neids, dann voll Schreckens; lasst uns sie zählen mit heiliger Begeisterung. Als ich einst um die Stadt Luzern und ihren Kranz von Wällen und Türmen lustwandelte, jeden der malerischen Türme mit Muße betrachtend, da empfand ich etwas von dem Vergnügen solch liebender Betrachtung, wovon unser Vers redet.

14. Achtet mit Fleiß auf ihre Mauern. Richtet euer Augenmerk darauf, wie stark ihre Umwallung ist und wie sicher ihre Einwohner hinter den kunstgerecht aufeinander folgenden Verteidigungslinien geborgen sind. Die sichere Bewahrung der Gläubigen ist nicht eine Lehre, die man im Hintergrunde verbergen müsste; man darf sie ohne Gefahr verkündigen und mit Fleiß überdenken. Nur an Menschen von niedriger Sinnesart kann sich diese herrliche Wahrheit als schädlich erweisen. Die Kinder des Verderbens machen sich sogar den Herrn Jesus selber zu einem Stein des Anstoßens; da ist’s kein Wunder, dass sie auch die göttliche Wahrheit vom Beharren der Gläubigen in der Gnade sich selber zum Unheil verdrehen. Es wäre aber verkehrt, wenn wir davon ablassen wollten, Zions Mauern und Wälle zu betrachten, weil sich Tagediebe darin Schlupfwinkel zurechtmachen, hinter denen sie sich verstecken können. Durchwandelt ihre Paläste. Beseht euch eingehend die herrlichen Wohnungen der Gottesstadt. Untersucht gründlich die königlichen Verheißungen, die den gläubigen Seelen solch liebliche Ruhestätten bieten. Seht, wie stark gebaut und wohlerhalten die Burgen und wie fein die Lustgärten der altberühmten Stadt sind, deren Bürger zu sein euer Vorrecht ist. Jedermann sollte mit seiner Heimat am besten bekannt sein, und uns ist die Gemeinde des HERRN unsre traute, gesegnete Heimat. Ach gäbe Gott, dass die Christen sich mehr um den Zustand der Gemeinde des lebendigen Gottes kümmerten; aber geschweige, dass sie die Mauern der Gottesstadt prüfen und deren Türme zählen, wissen manche kaum, was die Festungen der Gemeinde des HERRN sind oder wo diese sich befinden; sie sind viel zu sehr damit in Anspruch genommen, ihr Geld zu zählen und ihr Hauptbuch zu prüfen, als dass sie für jenes Muße hätten! Ihre irdischen Rechte und Besitztitel kennen die Leute sehr genau, und sie wachen mit Fleiß darüber, dass ihr Eigentum unbestreitbar sei; ob ihnen aber Gottes Gnade verbürgt sei, das halten sie nicht des Nachforschens wert, und ob die ewigen Güter ihnen zuteilwerden oder nicht, das überlassen sie dem Zufall. Auf dass ihr davon verkündiget den Nachkommen. Ein trefflicher Beweggrund zu fleißiger Betrachtung der Gottesstadt. Wo wir etwas vom HERRN empfangen haben, wird uns auch die Pflicht, es andern zu überliefern. Wir müssen Forscher sein, damit wir Lehrer werden. Die Dankesschuld der Vergangenheit müssen wir damit abzutragen suchen, dass wir die Wahrheit dem künftigen Geschlecht übermitteln.

15. Dass dieser Gott sei unser Gott immer und ewiglich. Israel wird seinen Gott nicht tauschen, hat es doch wahrlich keinen Grund, dieses wunderbaren Gottes zu vergessen, noch wird der HERR sich wandeln, so dass Israels Bundesverhältnis und Erfahrungen die Geschichte einer abgeschlossenen Vergangenheit würden. Er wird seines Volkes Gott bleiben in alle Ewigkeit. Es gibt keinen anderen Gott, und wir wollten keinen andern, selbst wenn es einen gäbe. Er führet uns bis zum Tod.7 (Andere Übers.) Das ganze Leben hindurch und bis zu unserm Sterbekissen wird er uns gnädiglich und sänftiglich leiten, und selbst übers Sterben hinaus (wie andere hier übersetzen) wird er uns führen und zu den lebendigen Wasserbrunnen leiten. Von ihm erwarten wir Auferstehung und ewiges Leben. Diese tröstliche Hoffnung hegen wir mit Bestimmtheit nach alledem, was wir von der Macht und Treue Gottes bereits erfahren haben. Bisher sind unsre Feinde zerstreut worden, und unsere Festungswerke haben jedem Angriff getrotzt, weil Gott in unserer Mitte gewesen ist; so wird denn auch in Zukunft jeder Ansturm der Feinde ebenso vergeblich sein. Fahr hin, Furcht; kommt her, Dankbarkeit und gläubiges Vertrauen, und stimmt ein fröhliches Loblied an!


Erläuterungen und Kernworte

V. 2. Groß ist der HERR usw. Der Prophet, der im Begriff ist, einen wunderbaren Bau, nämlich die Stadt Gottes, zu rühmen, beginnt damit, dass er den Architekten rühmt, dessen Weisheit und Geschicklichkeit sich an jenem Bau so herrlich enthüllt. Groß ist der HERR und hoch zu rühmen, ob wir nun sein Wesen, seine Macht, seine Weisheit, seine Gerechtigkeit oder seine Gnade in Betracht ziehen; denn in allen Beziehungen ist er unendlich und unfassbar groß. Und so hoch ist Gott zu rühmen, dass alle Engel, alle Menschen und alles, was er geschaffen hat, an diese Aufgabe nicht hinanreichen. Aber unter allem, worin Gott sich geoffenbart hat, ist nichts, was uns einen erhabeneren Begriff von seiner Größe geben könnte und wofür wir ihn mehr preisen sollten, als die Gründung seiner Kirche. Darum fügt der Prophet hinzu: in der Stadt unsers Gottes, auf seinem heiligen Berge. Kardinal Robert Bellarmin † 1621.


V. 3. Schön raget empor der Berg Zion usw. Was ist oder war an Zion, das dies hohe Lob rechtfertigte? Die Lage Jerusalems macht es in der Tat ausnehmend geeignet, als gewaltige Festung zu dienen. Da es sich im Westen und Süden hoch über die tiefen Einschnitte des Gihon- und Hinnomtals erhebt und auch im Osten durch das kaum weniger tiefe Käsemachertal geschützt ist, konnte es nur von Nordwesten her angegriffen werden. Gerade auf dieser "Seite gegen Mitternacht" aber war es besonders stark befestigt mit Mauern, Türmen und Wällen, die so manchem feindlichen Heer Bewunderung und Schrecken abnötigten (V. 6.7). Der Psalmsänger kann dieser mächtigen Bollwerke nicht gedenken, ohne aufs neue in triumphierende Freude auszubrechen: Machet euch uni Zion usw. Ach, längst sind diese Türme niedergerissen, diese Wälle geschleift, diese Paläste in Staub zerfallen, und wir, die wir um Zion wandeln, können davon den Nachkommen nur eine traurige Geschichte verkündigen. Aber es gibt ein anderes Zion, dessen Türme noch viel herrlicher sind und niemals niedergerissen werden können. Gott ist in ihren Palästen bekannt, dass er der Schutz sei (V. 4). Und dieser Gott ist unser Gott immer und ewiglich (V. 15). Wie oft steht in der Bibel Jerusalem als Name der Kirche des lebendigen Gottes! Kein anderer Ort auf Erden außer einem ist dem Volke Gottes so ans Herz gewachsen, kein anderer Name außer einem erweckt in dem Herzen des Christen so freudige Hoffnungen wie dieser. Das irdische Zion liegt jetzt im Staube; aber das wahre Zion erhebt sich, schüttelt den Staub von sich und zieht die köstlichen Kleider an, um seinen König zu begrüßen, wenn er kommt, sein die ganze Erde umspannendes Reich aufzurichten. W. M. Thomson 1859.
  Als ich an jenem Morgen auf dem Rücken des Ölbergs stand und auf die Stadt niederschaute, welche die von tiefen, dunkeln Schluchten umgebenen befestigten Höhen krönte, rief ich unwillkürlich aus: Schön raget empor er Berg Zion, die Freude der ganzen Erde, die Stadt des großen Königs. Und wie ich so das liebliche Bild beschaute, ergossen die roten Strahlen der aufgehenden Sonne einen Lichtkranz um die Spitze des Davidsturms; dann ließ die Sonne jedes der schlanken Minarette golden erschimmern und vergoldete die Kuppeln der Moscheen und Kirchen, bis zuletzt die terrassenförmig aufsteigenden platten Dächer der Stadt sowie das Gras und Laubwerk, die Kuppeln, das Pflaster und die gewaltigen Mauern des Haram (des Tempelplatzes) sich in einer Flut von Licht badeten. Niemand, der Jerusalem zuerst vom Ölberg sieht, kann anders als mit Entzücken die Stadt betrachten. J. L. Porter 1867.
  Infolge der Sünde ist die ganze Erde verunstaltet. Daher konnte mit Recht das Fleckchen Erde, das so mit Heiligkeit geziert war, die Freude der ganzen Erde genannt werden, in dem Sinn, dass die ganze Welt Grund hatte, sich dieses Ortes zu freuen, wo Gott wahrhaftig bei den Menschen auf Erden wohnen wollte. Matthew Henry † 1714.
  Die Stadt des großen Königs. Fortan (seit dem Einzug der Bundeslade auf Zion und dem Testament an David 2. Samuel 7) hat also der Herr der Welt seinen Sitz auf dem Zion, von wo aus er die ganze Welt richtet (Ps. 110,2) und seiner ganzen Volksgemeinde wunderbaren Segen spendet, weshalb in so vielen Psalmliedern Jerusalem als die Stadt des großen Königs, d. h. Gottes, gefeiert wird. (Vergl. z. B. Ps. 46; 48; 87; 93; 97; 99 usw.) War der Sinai der Berg, wo Gottes Majestät über dem Volk unter den Schrecknissen seiner Erscheinung ein unverbrüchliches Gesetz verkündigt hat, so stellt dagegen der Berg Zion seine Gnadengegenwart innerhalb der Gemeinde dar, was bis ins neue Testament (Gal. 4,24-26) nachwirkt, indem freilich der Begriff des Zion, der Stadt Gottes, sich mehr und mehr vergeistigt. Prof. Conrad von Orelli 1882.
  Gott wird der große König genannt im Gegensatz gegen die Könige in V. 5. Prof. E. W. Hengstenberg 1843.


V. 4. Gott ist in ihren Palästen bekannt, dass er der Schutz sei. "Ich höre sagen, man habe in Rom dem König von England (Heinrich VIII.) den Titel gegeben: ‚Schirmherr der Kirche’ Aber ich bitte Gott, dass er mich ja nicht lasse in einer solchen Kirche sein, darinnen nur ein Mensch der Schutzherr ist. Eine Kirche, die an Gott verzagt und Christum verleugnet, die mag einen solchen Schutzherrn haben; aber die wahre Kirche singt: Der HERR ist mein Schutz." Martin Luther 1523.


V. 6.7. So sahen auch die Machthaber der Welt die Wunder, welche die Apostel wirkten, den Mut und die Sündhaftigkeit der Märtyrer, und dass die Kirche trotz allen Verfolgungen Tag für Tag wuchs. Sie sahen mit Erstaunen und Bestürzung, welch reißende Fortschritte das Christentum im römischen Reich machte. Sie riefen ihre Götter um Hilfe an; aber diese konnten sich selber nicht helfen. Der Götzendienst hauchte am Fuße des siegreichen Kreuzes sein Leben aus. Bischof George Horne † 1792.


V. 7. Zittern ist sie daselbst angekommen usw. Nichts ist unerklärbarer als solch panischer Schrecken. Niemand kann sich völlig davor schützen. Der das Ohr gemacht hat, kann leicht machen, dass uns die Ohren klingen und sausen. Der die Winde in seiner Faust hält, kann sie leicht uns einen Schrecken zuflüstern oder einen Lärm machen lassen, der uns in Bestürzung versetzt. Das ist namentlich dann zu erwarten, wenn Menschen so handeln, dass ihr eigenes Gewissen wider sie zeugt, vergl. Hiob 5,21. Aber Gott kann zu jeder Zeit die Menschen dahingeben, dass sie allen Mannesmut verlieren und sich höchst töricht benehmen, vergl. 3. Mose 26,36. Es gibt Fälle, wo Kriegerscharen mit tapferem Mut mehr als eine Schlacht geschlagen und dann auf einmal den Feigling gespielt haben. William Swan Plumer 1867.


V. 9. Gott erhält dieselbe ewiglich. "Das untergegangene Jerusalem", bemerkt hier Hengstenberg, "ist nicht dasjenige, welches der Sänger meint; es ist nur dessen abgestreifte Leiblichkeit." Es ist wahr, dass Jerusalem in der neutestamentlichen Gemeinde seinem wahren, inneren Wesen nach fortbesteht, aber nicht minder wahr, dass sein zeitweiliges Zertretenwerden in den Zeiten der Heiden die Verheißung Gottes so wenig aufhebt, als Israels zeitweilige Verstoßung seine Erwählung. Die heilige Stadt geht nicht unter, ohne wieder zu erstehen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 13f. Im geistlichen Sinne sind die Türme und Mauern Zions die Lehren des wahren Glaubens, welche die Stärke und der Ruhm der Kirche sind. Diese müssen gegen die Angriffe der Irrlehrer in ihrer Reinheit und ihrem Bestand aufrecht erhalten werden, damit sie den zukünftigen Geschlechtern unbeschädigt überliefert werden. Origenes † 254 und Theodoret † um 457.


V. 14. Achtet mit Fleiß, wörtlich: richtet euer Herz auf ihre Mauern, betrachtet sie mit Aufmerksamkeit, besichtigt sie sorgfältig, nicht wie jemand, dessen Herz nicht bei der Sache ist und der es daher gleichgültig und nachlässig tut. Das von Luther mit Mauern übersetzte Wort bedeutet eine Befestigung und besonders die Vormauer der Festung mit dem sturmfreien Vorraum (den Glacis), 2. Samuel 20,15; Jes. 26,1. A. Barnes † 1870.
  Die Bestimmung und Einsetzung Jesu zum König der Gemeinde ist das Hauptbollwerk Zions. Die zweite Festungskette sind die unzähligen Verheißungen Gottes. Eine andere Mauer ist die Vorsehung Gottes, die so wachsam die Gemeinde des HERRN beschützt. Wiederum eine Festung ist Gottes besondere Gegenwart in seiner Gemeinde. Das letzte Bollwerk endlich, unter welches alle andern befasst werden können, ist der Bund, den Gott mit seinem Volke gemacht hat: Dieser Gott ist unser Gott (V. 15). John Owen † 1683.


V. 15. Dass dieser Gott sei unser Gott immer und ewiglich. Wie köstlich ist demnach das Erbteil des Gläubigen. Kein Besitzer kann von seinen Feldern sagen: Diese sind mein immer und ewiglich. Kein König kann von seiner Krone sagen: Sie ist mein immer und ewiglich. All solche Besitztümer wechseln bald ihren Herrn; die Besitzer selbst werden bald zu Staub, und sogar ihre sterblichen Überreste nennen das Grab, darin sie ruhen, nicht lange ihr eigen. Jedes Christen einzigartiges und wunderbar hohes Glück aber ist es, sagen zu dürfen: Dieser erhabene Gott, mit all seinen Vollkommenheiten, ist mein Gott immer und ewiglich, und selbst der Tod kann mich nicht von seiner Liebe scheiden. George Burder 1838.
  Es ist dies Bundesverhältnis Gottes zu seinem Volke ein so wunderbar Ding, dass Gottes Kinder sich nicht damit begnügen können, es zu kennen und zu genießen; sie müssen es auch verkündigen (V. 14). Und zwar rühmen sie sich erstens der Größe des Gottes, der ihnen zugehört: Dieser Gott ist unser Gott, und zweitens der ewigen Dauer dieser engen Verbindung mit Gott: immer und ewiglich. John Howe † 1705.
  O süßes Wort: immer und ewiglich. Das setzt der Wonne der Gläubigen die Krone auf. Billionen von Jahren sind weniger als ein Tropfen in diesem Meer der Ewigkeit. George Swinnock † 1673.
  Er führet uns bis zum Sterben. (Andere Übers.) Manche Ausleger finden in diesen Worten eine Schwierigkeit, indem sie meinen, dass ein solches Bekenntnis des persönlichen Glaubens kein passender Schluss für ein nationales Lied sei. Mir scheint aber der Vers gerade so, wie er in unserer (engl.) Bibel steht, mit dem Inhalt des Liedes trefflich zu stimmen und dessen schönste Zier zu sein. Wenn der HERR für unsere Kirche oder unser Volk Großes tut, so will er, dass daraus alle Gläubigen, wie bescheiden ihre Stellung auch sei, Mut schöpfen, neues Vertrauen zum HERRN fassen, mit desto festerer Hoffnung sich an ihn klammern und sprechen: Dieser Gott ist unser Gott immer und ewiglich; er wird uns leiten bis zum Sterben. William Binnie 1870.
  Er, der unser Gott ist immer und ewiglich, wird uns leiten über den Tod hinweg, auf dem Wege voll Todesnot und Gefahr. Das heißt: während unter uns der Boden sich öffnet zur Gruft, wird er in seiner starken Hand uns halten. Prof. Johannes Wichelhaus † 1858. (Mit diesem Wort hat sich Wichelhaus zuletzt noch vor seinem Sterben getröstet.)


Homiletische Winke

(Sämtliche Winke zu diesem Psalm, ausgenommen die ausdrücklich anders bezeichneten, stammen von George Rogers, dem Direktor an Spurgeons Predigerschule.)

V. 2. 1) Was ist die Gemeinde für Gott? a) Seine Stadt; nicht ein wirrer Volkshaufe ohne Gesetz und Ordnung, sondern ein wohlgeordnetes Gemeinwesen; b) der Berg seiner Heiligkeit, die Stätte, wo er seine rechtfertigende Gerechtigkeit und heiligende Gnade offenbart. 2) Was ist Gott einer Gemeinde? a) Er wohnt in ihr. Sie ist seine Stadt, sein Berg. Dort ist er groß. Nicht im Paradies, nicht auf dem Sinai, nicht im Himmel der Engel war Raum für die volle Offenbarung der Größe Gottes; in der Gemeinde allein enthüllen sich alle Vollkommenheiten Gottes als des Dreieinigen. Ist er überall groß, so doch ganz besonders in seiner Gemeinde. b) Er ist der Gegenstand ihres Lobpreises. Wie seine Offenbarung in der Gemeinde die höchste ist, so wird er auch in ihr am höchsten gepriesen, und durchs ganze Weltall erschallt sein Ruhm um deswillen, was er an ihr tut.
V. 3. 1) War das alte Zion-Jerusalem eine liebliche Höhe, so ist dies auch die neutestamentliche Gemeinde, gegründet auf den Felsen des ewigen Gnadenratschlusses. 2) War jenes die Freude der ganzen Erde, so wird das die neutestamentliche Gemeinde auch werden. 3) War es sowohl eine königliche als eine heilige Stadt, so ist dies die neutestamentliche Gemeinde ebenfalls. Vergl. Ps. 2, 6.
V. 4. 1) Gott ist seiner Gemeinde eine Schutzwehr, darum ist die Gemeinde ein Bergungsort. Doch nicht diese an sich, sondern ihr Gott ist der Schutz a) der Sünder vor dem Zorne, b) der Gläubigen vor Versuchungen und Ängsten. 2) Gott hat sich in seiner Gemeinde als solchen Schutz kundgetan, und zwar wie sonst nirgends.
V. 5-8. 1) Der Widerstand der Weltmächte gegen die Gemeinde des HERRN. Die Könige usw. 2) Wie wurden diese Weltmächte bezwungen? Durch ihre eigne Furcht. Das Gewissen verfolgt die Verfolger der Kirche Gottes. Wenn sich die Philister der Bundeslade bemächtigen, sind sie froh, sie mit einem Opfer zurücksenden zu können (1. Samuel 6). 3) Wie vollkommen ist ihre Niederlage? Wie der Untergang einer mächtigen Schiffsflotte, die vom Ostwind zerstreut, zerbrochen und in die Meerestiefe versenkt wird.
V. 9. 1) Gott ist seinem Volke stets gewesen, was er jetzt ist. 2) Er ist jetzt, was er stets gewesen ist. 3) Er wird stets sein, was er jetzt ist.
V. 10. 1) Worin erweist sich die Gnade Gottes? Darin, dass er den Elenden Erbarmen, den Reuigen Vergebung, den Flehenden Hilfe, den Betrübten Trost angedeihen lässt. 2) Wo ist diese Gnade zu finden? In deinem Tempel. Da enthüllt sie sich, da lässt sie sich finden und genießen.
V. 11. Wie Gottes Name, so ist auch sein Ruhm 1) allerhaben, 2) das Weltall umfassend, 3) ewig.
  Deine Rechte ist voller Gerechtigkeit. 1) Die Gerechtigkeit der göttlichen Allmacht. 2) Die Allmacht der göttlichen Gerechtigkeit.
V. 12. 1) Nicht nur Gottes Gnadenerweisungen, sondern auch seine Gerichte sind Gegenstand der Freude für Gottes Volk. 2) Gründe: a) weil Gottes Gerichte heilig sind - notwendig zur Reinheit der sittlichen Weltregierung; b) weil sie gerecht sind - notwendig, um dem Gesetze Geltung zu verschaffen; c) weil sie gut sind - notwendig, um möglichst viel Gutes zu erreichen.
V. 13 f. 1) Was sind diese Mauern und Türme Zions, diese Ursachen und Mittel der Bewahrung der Kirche? 2) Was ist damit gemeint, dass wir diese Mauern und Türme untersuchen und betrachten sollen? 3) Was für Gründe sollten uns dazu bewegen, dies zu tun? 4) Welches Zeugnis haben wir in dieser Hinsicht dem zukünftigen Geschlecht zu überliefern? John Owen † 1683.
V. 15. Dieser Vers ist die Sprache des Glaubens, der 1) des Anrechts an Gott gewiss ist: unser Gott, 2) und zwar auf ewig, und sich 3) dieses Anrechts freut. W. Jay † 1853.
  1) Die Sprache der Erfahrung: Dieser Gott, der sich so wunderbar kundgetan hat. 2) Die Sprache heiligen Gelobens: Dieser Gott und kein anderer. 3) Die Sprache des Glaubens: Dieser Gott ist unser Gott. 4) Die Sprache der Hoffnung: immer und ewiglich. 5) Die Sprache der Ergebung: Er führet uns usw.

Fußnoten

1. Das Zeitwort "liegt" steht im Grundtext nicht. Die Worte NOpcf yt"kI:r:ya bedeuten nach ständigem Sprachgebrauch "der äußerste (fernste) Norden" und stehen als Apposition zu sind also nicht mit dem Folgenden "die Stadt" zu verbinden. Viele Ausleger erinnern an Jes. 14,14, wo derselbe Ausdruck (allerdings in Verbindung mit Berg des Stifts) den nordischen Götterberg der heidnischen Sage bezeichnet. Dann würde der Zion hier im Gegensatz zu jenen heidnisch-mythologischen Vorstellungen als der wahre Gottesberg bezeichnet. Was die Heiden von solchem Berge träumen, das hat das auserwählte Volk in Wahrheit an Zion, dem Thronsitz Jahves, und zwar eben nicht in unerreichbarer Ferne, sondern in seiner Mitte. Doch erscheint es gewagt, eine Anspielung auf diese heidnische Mythe, die bei Jesaja dem König von Babel ganz passend in den Mund gelegt wird, in diesem Psalm zu finden.

2. Die neueren Forschungen machen es fast gewiss, dass der biblische Berg Zion nicht der jetzt so genannte südwestl. Hügel, sondern der östliche, der Tempelberg, ist.

3. Grundtext: Gott ist kund geworden = hat sich kundgetan in ihren Palästen als Schutzwehr. Der Vers leitet zu der folgenden Schilderung über.

4. Es ist möglich, rba(f so zu übersetzen. Aber passender wird es vom Überschreiten der Grenze (Richter 11,29; 2. Könige 8,21), vom Anrücken der vorher nach Verabredung an einem Ort zusammengekommenen Könige verstanden. Erst später wird das Misslingen des feindlichen Anschlags geschildert.

5. So übersetzt z. B. auch Andreä (1885). Doch nimmt man sonst allgemein auch hier, wie so oft, l(a gleich l)e.

6. Spurgeon liebt je und dann die amplifikative Auslegung, d. h. diejenige, die zur vermeintlichen Vermehrung der Kraft einer Stelle die Bedeutungen des Wortsinnes mehrt und sie zugleich anwendet. Vor dieser muss man sich hüten, wenn sie nicht durch den Zusammenhang der Stelle oder durch den biblischen Sprachgebrauch nahe gelegt wird. So ist hier die Beziehung des Ausdrucks "die Töchter Judas" auf die Frauen und Töchter unstatthaft, da der Ausdruck stets die Stadt oder die Städte mit ihren Bewohnern bezeichnet, nicht aber speziell die weibliche Einwohnerschaft.

7. Der masoretische Text bedeutet streng genommen entweder: Er wird uns zum Sterben leiten (was nicht der Sinn der Masoreten gewesen sein kann, aber auch so gefasst werden könnte: Er wird uns leiten bis zum Sterben, l(a = l)e wie V. 11 und oft), oder: Er wird uns leiten über das Sterben hinaus. Dann läse man besser mit einigen hebr. Handschriften:, über den Tod hinaus. Luther fasst nach dem Targum tWml:(a (als ein Wort) gleich MymiWl(A Jugend (vergl. Ps. 9,1). Doch entbehrt diese Annahme der Begründung, und überdies fehlt zu Luthers Übersetzung dann noch die Vergleichungspartikel wie. Einen ansprechenden Sinn gibt die Übers. der LXX: ei)j tou`j ai)w=naj in die Äonen = in Ewigkeit; sie werden tWmlf(o gelesen haben. Doch kommt diese Pluralform (statt MYmilfO(a) nur im nachbiblischen Hebräisch vor. Viel wahrscheinlicher ist, dass tWm-l(a eine musikalische Note ist (siehe darüber die Vorbemerkungen zu Ps. 9), die dann hier (vergl. Hab. 3,19) ausnahmsweise unter statt über dem Liede steht (oder aber ursprünglich zum folgenden Psalm gehört). Dann setze man den Athnach zu Wnyh"Æl)E und übersetze: Dass dieser Gott sei unser Gott, oder: Dass dies sei Gott (=Jahve) unser Gott; immer und ewig wird er uns leiten. Nach (der Weise) "Sterben..." (zu singen).