Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 55 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Vorzusingen auf Saitenspiel. Gleich dem vorhergehenden ein auf Saiteninstrumenten zu begleitendes Lied. Der Ton ist sehr wechselnd, teils wehmütig klagend, teils heftig zürnend, teils vertrauensvoll hoffend. Es bedurfte der vorzüglichsten Sorgfalt des Musikmeisters, wenn die Musik die in dem Psalm wogenden Empfindungen wirklich zum Ausdruck bringen sollte. Eine Unterweisung Davids. David, der so viel geprüfte und so reich begnadigte, so heftig verfolgte, aber auch so herrlich errettete und erhöhte Knecht Gottes, ward gerade durch die mannigfaltigen Erfahrungen seines Lebens befähigt, solch wertvolle Vers wie diese zu schreiben, in denen wir, zu reicher Unterweisung, nicht nur die Leiden der gewöhnlichen Zionspilger, sondern auch die unsers erhabenen Vorläufers, des Herrn selber, abgebildet finden.

Inhalt
Mit Gewissheit lassen sich Zeit und Anlass dieses Psalms nicht angeben. Am wahrscheinlichsten stammt er aus der Zeit, da Absalom und Ahitophel ihre traurige Rolle spielten. Uns, die wir im Lichte der Erfüllung die typische Bedeutung der Leiden des ersten David erkennen, ist es, als sähen wir den andern David und den andern Ahitophel, Judas samt den Hohenpriestern und Ältesten, auf dem farbenreichen Gemälde dieses Psalms erscheinen.

Einteilung. V. 2-9 legt der Psalmist seine Lage im Allgemeinen vor Gott dar. V. 10-12 schildert er seine Feinde, aus denen er V. 13-15 einen sonderlichen, den Verräter, herausgreift. V. 16 ruft er Verderben auf die verstockten Boshaften herab. Von V. 17-20 stärkt er sich an Gebet und Glaubenstrost. V. 21. 22 fällt sein Blick wieder auf den treubrüchigen Freund. Er schließt mit einem zum Glauben ermunternden Wort der Mahnung an sich selbst und alle Gerechten, V. 23, und mit einer Anzeige der Gerichte, welche über die Gottlosen und Falschen kommen werden, V. 24. Das allerletzte Wort aber ist ein Bekenntnis seines unwandelbaren Gottvertrauens.


Auslegung

2. Gott, höre mein Gebet
und verbirg dich nicht vor meinem Flehen.
3. Merke auf mich und erhöre mich, wie ich so kläglich zage und heule,
4. dass der Feind so schreiet und der Gottlose dränget;
denn sie wollen mir eine Tücke beweisen
und sind mir heftig gram.
5. Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe,
und des Todes Furcht ist auf mich gefallen.
6. Furcht und Zittern ist mich ankommen, und Grauen hat mich überfallen.
7. Ich sprach: O hätte ich Flügel wie Tauben,
dass ich flöge und etwo bliebe!
8. Siehe, so wollte ich ferne wegfliehen
und in der Wüste bleiben. Sela.
9. Ich wollte eilen, dass ich entrönne
vor dem Sturmwind und Wetter.


2. Gott, höre mein Gebet. Wir sind an die Tatsache zu sehr gewöhnt, sonst würden wir darob staunen, bei allen Heiligen fort und fort dasselbe wahrzunehmen, dass sie in der Not zum Gebet ihre Zuflucht nehmen. Vom erstgeborenen Bruder bis zu dem allergeringsten Glied des heiligen Stammes sind alle in der Kunst des Betens wohlbewandert. Es ist ihnen so natürlich, in der Stunde der Not zum Gnadenthron zu eilen, wie den Küchlein, zu der Henne zu fliehen, wenn ihnen Gefahr droht. Aber man achte recht darauf, dass den Gottesmännern nie das Gebet an sich als frommes Werk genug ist; sie begehren eine Audienz bei Gott, sie erwarten eine Antwort vom Gnadenstuhl, und nichts Geringeres kann sie zufriedenstellen. Verbirg dich nicht vor meinem Flehen. Verschließ nicht dein Ohr und halte deine Hand nicht zurück. Wenn jemand seinen in Not befindlichen Nächsten absichtlich übersah, sagte man wohl, er verberge sich vor ihm. Der Psalmdichter bittet, der HERR wolle nicht so an ihm handeln. In der schrecklichen Stunde, da Jesus unsere Sünde am Kreuz trug, da verbarg sich sein Vater vor ihm, und das war das Entsetzlichste in den Qualen, welche der Davidssohn durchzumachen hatte. Wohl mögen wir flehen, von dem Jammer verschont zu bleiben, den es uns bringen würde, wenn Gott sich weigerte, unser Flehen zu hören.

3. Merke auf mich und erhöre mich. Zum dritten Mal bringt David die gleiche Bitte vor. Es ist ihm Ernst, tiefer, bitterer Ernst. Er fühlt, es sei aus mit ihm, wenn Gott nicht höre. Er fleht zu seinem Gott, er möge auf seine Worte horchen und ihm antworten. Ich irre in meinem Kummer umher und muss stöhnen. (Grundtext) Er sann und grübelte; aber sein Kummer ward dadurch nur größer. Ruhelos ward er von seinen Gedanken umhergetrieben, und seine Klage machte sich in dumpfen Schmerzenslauten Luft. Er musste seufzen und stöhnen. Welch ein Trost, dass wir auch in solcher Gemütsverfassung zu Gott Zuflucht nehmen und unsere umherschweifenden, irren Gedanken vor ihn bringen dürfen, damit er in unser verstörtes Gemüt Sammlung und Klarheit bringe, und dass wir unsere Seufzer vor ihm ausschütten dürfen, damit er sie in Gebete umsetze. Ob wir unseren Herzenskummer auch nur in Lauten ausdrücken können, die ein Stöhnen und Jammern genannt werden müssen, er lauscht so achtsam auf unsre Klage, dass er uns ganz versteht, und wir werden es oft erfahren, dass er Herzensbegehren erfüllt, die in verständlichen Worten auszudrücken uns unmöglich gewesen wäre. Unaussprechliche Seufzer sind Gebete, die Gott nicht zurückweisen kann. Unser Heiland selber brachte in den Tagen seines Fleisches starkes Geschrei und Tränen dar und ward erhöret.

4. Dass der Feind so schreiet. Konnte David nur dumpfe Schmerzenslaute von sich geben, so war die Stimme des Widersachers hingegen laut genug; der Feind hatte einen Redestrom, wo sein armes Opfer keine Worte finden, nur jammern konnte. Verleumdern gehen die Worte selten aus. Weder David noch unser Heiland noch irgendeiner der Heiligen Gottes haben den Angriffen giftiger Zungen entgehen können, und dies Übel war stets Ursache der heftigsten Seelenqualen. Und der Gottlose dränget. Die Ungerechten bedrängen und bedrücken die Gerechten; gleich einer unerträglichen Last1 drücken sie sie nieder und - bringen sie auf die Knie vor dem HERRN. Es ist eine alte Geschichte, die sich bis zu dem Ende der gegenwärtigen Weltzeit immer wiederholen wird, dass der Weibessame unter den Schmerzen der Fersenstiche leiden muss, die ihm die Schlangenbrut beibringt. Denn sie wollen mir eine Tücke beweisen, wörtl.: stürzen (oder wälzen) Unheil auf mich. Sie suchen mich mit lügenhaften Anschuldigungen zu erdrücken und mit Unglück zu zermalmen. Und sind mir heftig gram. Sie befeindeten den frommen David mit ingrimmigem Zorn und schnaubender Wut. Tödlicher Hass herrschte in ihrem Innern. Wir brauchen nicht auszuführen, wie treffend sich dies alles auf Jesus beziehen lässt.

5. Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe. Sein Herz wand sich (wörtl.) in seinem Innern vor Schmerzen wie ein armer zertretener Wurm; er war geistig in solchen Wehen, wie ein in den Geburtsschmerzen sich windendes Weib es dem Leibe nach ist. Er war in der Tiefe seiner Seele verwundet; und wer kann solche Wunden ertragen? Wenn David, wie wir annehmen, diesen Psalm verfasst hat, als er von seinem eignen Sohne, seinem Lieblingskinde, angefeindet und schimpflich aus seiner Residenz vertrieben wurde, hatte er Grund genug, solche Ausdrücke zu brauchen. Und des Todes Furcht (Schrecken, wie sie der drohende Tod erregt) sind auf mich gefallen. (Grundtext) Er fühlte sich wie einer, der unversehens von dem König der Schrecken überwältigt wird und auf den sich plötzlich die ewige Nacht senkt. Innen und außen war er angefochten. Er gab sich verloren. Im Innersten seines Wesens war er von Entsetzen erfasst. Gedenken wir unseres Erlösers, wie dort im Garten "seine Seele sehr betrübt war bis zum Tod", so haben wir das Gegenstück zu den Seelenleiden des Psalmdichters. Hast du, lieber Leser, solch düstern Pfad noch nie betreten, so magst du dich bald damit vertraut machen müssen; dann siehe zu, dass du genau auf die Fußspuren achtest, welche dein Herr in diesem schlammigen Teil des Weges nach der himmlischen Stadt zurückgelassen hat.

6. Furcht und Zittern ist mich ankommen. Wie Einbrecher drangen diese Räuber des Seelenfriedens in sein Inneres ein. Unwiderstehlich wie eine Ohnmacht fühlte der bedrängte Beter höchste Angst über sich kommen. Seine Furcht war so groß, dass er am ganzen Leibe zitterte. "Was wird das Nächste sein, das mich befällt? Und wie bald mag das Schlimmste kommen!" Das hinterlistige heimliche Geflüster der Verleumdung verursacht edeln Seelen oft größere Bangigkeit als offener Widerstand. Einem erklärten Feind können wir kühn entgegentreten; aber feige, tückische Verschwörungen machen uns verwirrt und ratlos. Und Grauen hat mich überfallen. Entsetzen bedeckte ihn, es überlief ihn kalter Schauder am ganzen Leibe. Wie Jona in der Tiefe des Meeres, so versank David in den Tiefen des Schreckens. Er war alles Mannesmuts beraubt, ganz verwirrt, in einem schrecklichen Zustand der Ungewissheit und der Todesahnungen.

7. Da sprach ich (Grundtext): O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich flöge und etwo bliebe! Konnte er nicht der Gefahr trotzen wie ein Adler, so wollte er entfliehen wie eine Taube. Schnell und unbemerkt, auf geräuschlosen und doch starken, nimmer müden Schwingen möchte er den Stätten der Verleumdung und Gottlosigkeit enteilen. Seine Friedensliebe presste ihm diesen Seufzer aus. So hat auch hernach der zartbesaitete Jeremia sich in eine ferne Wüste gewünscht (Jer. 9,1), ähnlich wie der englische Dichter William Cowper († 1800) singt:

  O um ein Hüttlein fern in ödem Land,
  In grenzenlosem Schatten tief versteckt,
  Wo Kunde von Bedrückung und Betrug
  Mich nimmermehr erreichte für und für!

  Wir alle sind nur zu geneigt, solch vergeblichen Wunsch zu äußern - denn vergeblich ist er allerdings; weder Tauben- noch Adlerschwingen könnten uns dem Kummer unseres zitternden Herzens entführen. Herzensnagen weiß nichts von Ort und Raum. Überdies wäre es feig, den Kampf zu fliehen, welchen Gott uns durchfechten heißt. Wir handeln klüger, indem wir der Gefahr mutig ins Auge schauen, denn im Rücken haben wir keinen Panzer. Wer die Verleumdung überflügeln wollte, müsste auch noch schneller reisen als mit Taubenflügeln; doch ruhig sein kann, wer, statt zu fliehen, seine Sache Gott befiehlt. Auch jene Taube der ersten Welt fand nicht, da ihr Fuß ruhen konnte, bis sie wieder zur Arche flog; und wir können bei allen Sorgen und Kümmernissen Ruhe finden in Jesus. Wir brauchen nicht ängstlich hin und her zu flattern; es wird alles noch recht werden, wenn wir ihm trauen.

8. Siehe, so wollte ich ferne wegfliehen. Doch als David wirklich in der Ferne weilen musste, sehnte er sich schmerzlich danach, wieder in Jerusalem sein zu dürfen; und wie schwer war es ihm einst gewesen, als er vor Sauls Wut hatte wie ein Rebhuhn über die Berge fliehen müssen! So dünkt uns, wenn es uns übel geht, das Vergangene oder Zukünftige stets besser als das Gegenwärtige. Gottes Ruf wird uns einst noch weit genug fliegen heißen, und es könnte sein, dass wir dann nur mit Widerstreben von hinnen gingen; wir brauchen uns nicht törichten Gedanken an ein vorzeitiges Verlassen der Erde hinzugeben. Und in der Wüste bleiben. Als er einst in der Wüste hatte bleiben müssen, war ihm diese gar kein so begehrenswerter Aufenthaltsort gewesen; jetzt aber, wo er nicht da ist, wollte er sie gern zu seinem bleibenden Ruheplatz wählen. Wäre er verurteilt worden seinen Wunsch zu erhalten, so würde er sicherlich bald mit Robinson Crusoe ausgerufen haben:

  O Einsamkeit, wo sind die Reize hin,
  Damit dich schmückt so gern des Dichters Wort?
  Will lieber mitten durch Gefahren ziehn,
  Als einsam herrschen hier an diesem grausen Ort!

  Unser Heiland hegte keine müßigen Wünsche; doch stärkte er sich oft in der Einsamkeit und weilte gern in mitternächtlicher Stille auf einsamer Bergeshöhe oder in dem tiefen Schatten der Ölbäume von Gethsemane (Joh. 18,2). Es ist viel, viel besser, sich tatsächlich je und dann in einsame Stille zurückzuziehen und in ihr neue Kraft für den Kampf zu suchen, als sich sentimental nach einem vom Getöse der Welt abgeschiedenen Leben zu sehnen. Freilich ist es natürlich, dass wir uns, wenn alle Welt uns unrecht tut, aus der menschlichen Gesellschaft herauswünschen; allein die Natur muss der Gnade weichen, und wir sollen das Widersprechen der Sünder wider uns erdulden und in unserm Mut nicht matt werden und ablassen (Hebr. 12,3). Sela. Nach solcher Gedankenflucht tut eine Rast Not. Wenn wir zu schnelle Schritte machen und fruchtlosen Wünschen zu freien Lauf gewähren, ist’s wichtig, einmal halt! zu rufen und eine Weile still zu bleiben, bis sich wieder nüchternere Gedanken einstellen.

9. Ich wollte eilen, dass ich entrönne. Er versuchte innezuhalten, konnte es aber nicht, wie ein im vollen Laufe zurückgerissenes Pferd noch etliche Schritte weitergleitet. David sagt, er würde keinen Augenblick verlieren, nicht einmal um seinen Freunden Lebewohl zu sagen, sondern sich alsbald auf und davon machen; teils weil er fürchtete, es möchte für die Flucht zu spät werden, teils weil er meinte, das Toben seiner Feinde nicht länger ertragen zu können. Vor dem Sturmwind und Wetter. Ein heftiges Unwetter war im Anzuge und tobte schon um ihn, und gleich einer Taube wollte er die Sturmwolken überfliegen und in einer stilleren Region Zuflucht suchen. Schneller als die Windsbraut2 wollte er eilen, um der Regenflut und den flammenden Blitzen zu entgehen. Ach, armes Herze, solche Flügel sind dir nicht gegeben; du musst hier aushalten und das Unwetter über dich ergehen lassen. Aber sei gutes Muts, es wird nicht lang mehr währen, so wirst du deine Schwingen zu kühnerem Flug ausbreiten; der Himmel wird dich aufnehmen, und dort unter den Paradiesesvögeln wirst du armes Täublein all deinen Kummer in lauter Seligkeit verwandelt sehen.


10. Mache ihre Zunge uneins, HERR, und lass sie untergehen;
denn ich sehe Frevel und Hader in der Stadt.
11. Solches gehet Tag und Nacht um und um auf ihren Mauern,
und Mühe und Arbeit ist drinnen.
12. Schadentun regiert drinnen,
Lügen und Trügen lässt nicht von ihrer Gasse.


10. Lass sie untergehen, Herr.3 Vernichte meine Feinde; lass sie, wie einst die Rotte Korah (4. Mose 16,32), vom Verderben verschlungen werden. Wie sie mich, deinen Gesalbten, freventlich zu vernichten suchen, so lass sie selber dem Vertilgungsgericht anheimfallen. Wie könnten wir erwarten, dass der so schändlich behandelte König ein anderes Gebet als eben dieses gegen die aufrührerische Rotte Absaloms und die listigen Ratschläge Ahitophels vor Gott bringen werde? Mache ihre Zunge uneins. Lass eine babylonische Verwirrung über sie kommen, dass ihr Kriegsrat zunichte werde. Mache sie uneins, dass ihre Pläne sich entgegenarbeiten und einer dem andern zum Verderben helfe. Zerstreue die Meute, dass der gehetzte Hirsch entrinne. Die Entzweiungen der Lügenmächte sind die Hoffnung der Wahrheit. Denn ich sehe Frevel (Gewalttat) und Hader in der Stadt. Die aufrührerischen Elemente im Volk und ihre ruchlosen Leiter schmiedeten voll wütenden Hasses Ränke gegen den König. Ihre Leidenschaft gebar unzählige wahnwitzige Anschläge. Die Anarchie (Gesetz- und Zuchtlosigkeit) gärte unter ihnen, und der König hoffte, es werde nun bald so weit kommen, dass derselbe Geist der Auflehnung wider alle Zucht und Ordnung, der ihn vom Thron zu stürzen suchte, die Feinde entzweien und ohnmächtig machen werde. Die Revolution verschlingt ihre eigenen Kinder. Menschen, die durch Frevel und Gewalttat zu Macht kommen, müssen früher oder später entdecken, dass eben das, was ihre Stärke ist, ihnen den Untergang bringt. Absalom und Ahitophel können wohl den Pöbel aufwiegeln; aber sie können ihn nicht eben so leicht regieren, und es gelingt ihnen nicht, ihre schändliche Politik in solch feste Bahnen zu lenken, dass sie selber gute Freunde bleiben. Davids Gebet ward erhört. Die Empörer wurden bald in ihrem Rate uneins, und Ahitophel sowohl als Absalom wurden vernichtet: beide wurden ihre eignen Henker, der eine freiwillig, der andre unfreiwillig.

11. Tag und Nacht gehen sie um (wörtl.: umkreisen sie sie4 auf ihren Mauern. (Grundtext) Die heilige Stadt war ein Räubernest der Gottlosigkeit geworden. Überall sah sich David mit seinen Getreuen von Laurern umgeben, die auf jeden seiner Schritte achthatten, die Stadt an allen Ecken und Enden bewachten und jede Gelegenheit, Unheil zu verüben, erspähten. Ihr heilloser Eifer im Bösen ließ sie auch des Nachts nicht ruhen, und ihre Frechheit war so groß, dass sie selbst am hellen Tage ihre verräterischen Pläne betrieben. Ohne Zweifel nahm David schon einige Zeit, ehe er aus Jerusalem floh, mit Schrecken wahr, dass ein verborgenes Feuer glomm, welches Absalom schürte und anfachte, und das dann, als David die Stadt verließ, in heller Flamme aufloderte. Und Unheil und Jammer (Grundtext) ist drinnen. Unglückliche Stadt, die ihre ärgsten Feinde zu Wächtern auf den Höhen hat und drinnen erfüllt ist von den Gärstoffen der Revolution, die doch nichts als Unheil und Jammer erzeugen können. Unglücklicher König, der sehen muss, wie Unheil, das er nicht abwenden kann, die Stadt verwüstet, für welche sein Herz so treu schlägt. Noch ein anderer König hat dieselbe empörerische Stadt ob des Jammers, den er über sie kommen sah, mit seinen Tränen benetzt.

12. Verderben ist in ihr. (Grundtext) Die Stadt war durch und durch verderbt. An den hohen Stellen reichten sich Verbrechen und Unheil die Hand. Die Ruchlosen hatten gute Tage, denn sie konnten tun, was sie gelüstete. Der Abschaum des Volkes schwamm oben auf, Schurken hatten das Heft in Händen, Gerechtigkeit ward nicht geübt, die Bevölkerung verfiel gänzlich der Entsittlichung, und wie Ordnung und Zucht, so verschwanden naturgemäß auch Sicherheit und Wohlstand. Und Bedrückung und Betrug weichen nicht von ihrem Markt. (Grundtext) Der Markt bei dem Tor war der Ort, wo das Volk zu Handel und Unterhaltung zusammenströmte, aber auch der Ort, wo Gericht gehalten wurde. An beides mag hier gedacht sein. Wo das Volk zusammenlief, da waren auch listige Zungen geschäftig, es mit aufrührerischen Worten zu bereden. Schlaue Demagogen führten das Volk an der Nase herum. Der edle König wurde auf alle Arten verlästert und geschmäht. Der Gerichtshof war eine Burg des Trugs, und in den Volksversammlungen führte Treulosigkeit den Vorsitz. Ach du armes Jerusalem, dass du also an Sünde und Schande verkauft bist! Die Tugend muss fliehen, das Laster sitzt auf dem Thron. Die feierlichen Gottesdienste sind aufgehoben, die Priester sind geflohen, der König verbannt, und Banden von rohen Schurken machen sich in den Straßen breit, sonnen sich auf den Wällen und besudeln mit ihren Lästerungen das Heiligtum. Wahrlich, schon die Vorboten solcher Gräuel waren Anlass genug zu dem Gram, der sich in diesen Versen so klagend ausspricht.


13. Wenn mich doch mein Feind schändete, wollte ich’s leiden;
und wenn mein Hasser wider mich pochte,
wollte ich mich vor ihm verbergen.
14. Du aber bist mein Geselle,
mein Freund und mein Verwandter,
15. die wir freundlich miteinander waren unter uns;
wir wandelten im Hause Gottes unter der Menge.


13. Der Psalmdichter hat V. 3 seinen Gemütszustand offenbar sehr treffend geschildert, indem er sagte, er schweife oder irre in seinem Kummer umher; denn in dem Psalm selbst zeigt sich, wie seine Gedanken sich bald diesem, bald jenem Teil seiner Leiden zuwenden. Er wandert gleichsam in einem Labyrinth von Herzeleid umher, wendet sich bald hierhin, bald dorthin, nur selten einen Augenblick stillstehend, und geht, ohne einen deutlichen Wink zu geben zu einem anderen Teil über. Jetzt wenden sich seine Gedanken von der Stadt, in der der Aufruhr gärt, zu dem falschherzigen Ratgeber Ahitophel von Gilo. Wenn mich doch mein Feind schändete, wollte ich’s leiden. Nächst dem, dass sein eigener Sohn ihm nach Krone und Leben trachtete, war Davids größtes Herzeleid dies, dass der Mann, der ihm am heftigsten zu schaden suchte, nicht ein offener Feind, sondern ein vermeintlicher Freund war. Dieser ging ins andere Lager über und suchte die Echtheit seines Treubruchs damit zu erweisen, dass er seinen alten Freund mit Lästerreden schändete. Es gibt keine ärgeren Feinde als falsche Freunde. Schmähungen von solchen, mit denen wir uns innig verbunden glaubten und denen wir Vertrauen geschenkt hatten, kränken uns tiefer als andere; und solch ehemalige Vertraute sind in der Regel mit unseren besonderen Schwachheiten so bekannt, dass sie vortrefflich wissen, wie sie uns an der empfindlichsten Stelle treffen können und wie sie reden müssen, um uns den größten Schaden zuzufügen. Die Verleumdungen und Beschimpfungen eines erklärten Widersachers sind selten so gemein und feig wie die eines Verräters, und da ihnen der schärfste Stachel, die Undankbarkeit und Treulosigkeit, fehlt, sind sie weniger schwer zu ertragen. Wir können von einem Simei schweigend hinnehmen, was uns von einem Ahitophel unerträglich ist. Und wenn mein Hasser wider mich pochte, wollte ich mich vor ihm verbergen. Gegen offene Gegner können wir uns decken; aber wer will sich vor einem verräterischen Freunde schützen? Wenn unsere Feinde groß tun wider uns, so machen wir uns stark zu festem Widerstand; aber wenn solche uns höhnen, die uns Liebe heuchelten, wo sollen wir hin? Unser treuer Heiland musste die Tücke und Treulosigkeit eines hochbevorzugten Jüngers in der schlimmsten Weise erfahren; wir wollen uns nicht wundern, wenn auch wir den Pfad betreten müssen, auf dem wir die blutigen Spuren seiner Füße sehen.

14. Du aber. Er sieht den Verräter, als stände er leibhaftig vor ihm. Er sucht ihn heraus aus der Schar der Feinde, er weist mit dem Finger auf ihn und beschuldigt ihn ins Angesicht. Du aber. Et tu, Brute! Du Ahitophel, du hier? Judas, verrätst du des Menschen Sohn? Ein Mensch meinesgleichen (Grundtext), zu dem ich mich stets gestellt habe, als wäre er mit mir gleichen Standes, den ich nie als Untergebenen, sondern als trauten Freund behandelt habe. Mein Freund und mein Vertrauter (Grundtext), mein Genosse, zu dem ich in den innigsten Beziehungen stand, und der mich kannte, wie ich ihn, denn unsere Herzen hatten sich gegenseitig erschlossen. Nicht ein Fremder, mit dem man sich gelegentlich unterhält, sondern ein naher, teurer Freund, den ich der engsten Gemeinschaft gewürdigt habe. Das ist teuflische Bosheit, wenn ein solcher sich als Verräter erweist. Für solche Schurkerei gibt es keine Entschuldigung. Das Verhältnis des Judas zu dem Herrn Jesus war dem des Ahitophel zu David sehr ähnlich. Auch ihn behandelte der Herr als einen Menschen seinesgleichen. Ja, "welche herzdurchbohrende Bedeutung," sagt Delitzsch, "gewinnt dieses Wort erst im Munde des andern David, welcher, obwohl Gottes Sohn und König ohnegleichen, doch zu seinen Jüngern und unter ihnen zu jenem Ischarioten als der Menschensohn in das menschlich trauteste Verhältnis trat." Der Herr machte ihn zu seinem Genossen und pflog mit ihm als dem Schatzmeister ohne Zweifel oft Beratung. Judas wusste den Ort, wo Jesus so oft einsame Stunden des Gebets verbrachte oder sich mit seinen Jüngern zu trauter Gemeinschaft versammelte (Joh. 18,2), ja er war vertraut mit allen Schritten seines Meisters, und doch verriet er ihn seinen erbarmungslosen Feinden. Mit wieviel Recht hätte der Herr auch auf Judas mit dem Finger weisen und ihm sagen können: Und du - -! Aber der sanftmütige Dulder warnte den Verräter in zarterer Weise, und wenn Judas nicht zwiefach ein Kind der Hölle gewesen wäre, so hätte er sicherlich seine verabscheuenswürdige Absicht aufgegeben.

15. Die wir miteinander trautesten Umgang (süße Vertraulichkeit) pflogen. (Grundtext) Ihre Besprechungen und Beratungen waren nicht von der gewöhnlichen Art, wie sie häufig zwischen Männern, die im öffentlichen Leben stehen, gepflogen werden, wobei die Herzen einander fern bleiben können, sondern ihr Umgang war äußerst vertraut gewesen. Der Verräter hatte die innigste Liebe und das vollste Vertrauen genossen. Beiden hatte ihre traute Gemeinschaft gar oft zu Trost und Ermunterung gereicht. Es waren Geheimnisse nicht gewöhnlicher Art zwischen ihnen. Das Herz hatte sich dem Herzen ausgeschüttet; wenigstens war dies von Davids Seite geschehen. Sosehr die Zuneigung des Mannes, der sich jetzt in seiner wahren Gestalt zeigte, reine Verstellung gewesen sein mochte, der betrogene Freund hatte ihn nicht kalt behandelt, noch seine innersten Gedanken vor ihm zurückgehalten. Schmach über den Elenden, der solche Vertraulichkeit heucheln und das geschenkte Vertrauen so missbrauchen konnte! Im Hause Gottes wandelten unter der Menge. David hatte sich nicht gescheut, sich auch öffentlich unter der im Heiligtum wogenden Menge als seinen Freund zu zeigen. Wie daheim, so waren sie auch beim Gottesdienst unzertrennliche Gefährten gewesen, und die gemeinsame Gottesverehrung hatte ihrer Freundschaft eine besondere Weihe gegeben. Miteinander hatten sie sich über göttliche Dinge unterhalten und sich an der Herrlichkeit der Gottesdienste geweidet. Wenn irgendwelche Bande als unverletzlich geachtet werden sollten, dann gewiss diejenigen, welche durch die religiöse Gemeinschaft geknüpft werden. In der Hintergehung ist ein Maß von verabscheuenswürdiger Gottlosigkeit, das die Gemeinschaft des Bekenntnisses tief entwürdigt. Soll selbst der Altar Gottes mit Heuchelei besudelt werden? Sollen die Zusammenkünfte im Hause des HERRN durch Verräterei entweiht werden? Alles dies war bei Ahitophel tatsächlich der Fall, und in gewissem Maße passen Davids Worte auch auf Judas. Seine Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus beruhte auf dem Grunde des Glaubens; sie waren miteinander verbunden in dem heiligsten Werk, er war mit dem herrlichsten Auftrag ausgesandt worden. Dass er mit Jesus ging und wirkte, um dabei seinen eigenen schändlichen Zwecken zu dienen, stempelte ihn zum Erstgebornen der Hölle. Es wäre ihm wahrlich besser gewesen, er wäre nie geboren worden! (Mt. 26,24) Mögen sich alle, deren Bekenntnis zu Jesus Heuchelei ist, durch des Judas Ende warnen lassen; denn gleich Ahitophel machte er seiner Gnadenzeit mit eigner Hand ein Ende und ging an seinen Ort (Apg. 1,25). Er erwarb sich, entsetzlich genug, die erste Stelle in dem Kalender der denkwürdigen Missetäter. Dass er von der Zwölfen einem verraten ward, gehörte sicherlich zu den schwersten der Leiden, welche unserm Erlöser das Herz brachen, und manche seiner Nachfolger haben, wie sein Vorgänger David, einen ähnlich bitteren Trank schlürfen müssen. Noch immer gibt es Nattern von der Schlangenbrut, welche ihr Gift in die Hand spritzen, die sie liebkost, und um etliche Silberlinge die verkaufen, denen sie die Stellung verdanken, welche es ihnen möglich macht, so schändlichen Verrat zu üben.


16. Der Tod übereile sie,
und müssen lebendig in die Hölle fahren;
denn es ist eitel Bosheit unter ihrem Haufen.

So hätte und hat Jesus nicht gebetet; wohl aber finden wir es natürlich, dass David, der raue Kriegsmann, da er für seine Treue Verrat und Tücke erfuhr, die ihresgleichen suchen, der Qual und Entrüstung seiner Seele in solchen Worten Luft machte. Der Krieger begehrt als solcher die Vernichtung seiner Feinde, denn zu dem Ende kämpft er. Vom Standpunkt des Gesetzes und der Gerechtigkeit aus war Davids Wunsch berechtigt; er führte einen gerechten Verteidigungskampf gegen Menschen, die aller Treue und Gerechtigkeit Hohn sprachen. Lasst uns also die schrecklichen Verwünschungen als Worte aus dem Munde eines Kriegshelden lesen. Der Tod übereile sie.5 Verräter wie diese sind des Todes würdig; es ist keine Möglichkeit, mit ihnen zusammen zu leben, jede ihrer Fußspuren entweiht die Erde. Erschießt man Spione, wieviel mehr solch niederträchtige Schurken! Wie sie mich, ihren König und Wohltäter, mit List ins Verderben zu stürzen suchen, so berücke der Tod sie, sie unversehens überfallend. Und müssen lebendig in die Hölle (die Unterwelt) fahren. Wie die Rotte Korah verschlinge sie die Erde lebendig. In der Blüte des Lebens lass sie zur Unterwelt hinabsinken, lass sie plötzlich den Genuss des Lebens mit den Schrecken des Todes vertauschen! Diese Verwünschungen gehen zwar nicht aus dem Geist des Evangeliums, aber dennoch aus dem Geist des Glaubens hervor, und insofern tragen sie weissagenden Charakter an sich. David war des gewiss, dass Gott die Widersacher seines Gesalbten verstören und aus dem Lande der Lebendigen tilgen werde. Denn Bosheit ist in ihren Wohnungen, in ihren Herzen. (Grundtext) Sie sind zu schlecht, als dass Nachsicht gegen sie walten dürfte; denn ihre Häuser sind Lasterhöhlen und ihre Herzen sprudeln nichts als Bosheit aus. Sie zerrütten das Gemeinwesen, sie sind eine gefährliche Pestilenz, sind Hochverräter und Volksverführer, die gleicherweise nach göttlichem und menschlichem Recht dem Tode verfallen sind. Gott hat das Urteil vollzogen. Ahitophel sowohl als Judas legten Hand an ihr Leben; dem Absalom ward die Eiche zum Galgen, sein wallendes Haar zum Henkerstrick, und des aufrührerischen Volks fiel eine große Zahl im Walde Ephraim. Noch gibt es eine Gerechtigkeit; die Liebe selbst fordert solches. Mit denen, die sich wider Gott empören, als Empörern Mitleid zu haben, ist keine Tugend; wir bitten für sie als für arme, ins ewige Verderben rennende Geschöpfe, aber wir verabscheuen sie als Feinde Gottes. Wir haben es in unseren Tagen weit mehr nötig, vor jener versteckten Ungerechtigkeit, welche das Böse schont und Bestrafung für Unbarmherzigkeit achtet, auf der Hut zu sein, als vor der Rauheit und Härte früherer Jahrhunderte. Wir halten uns so fern von der Szylla, dass die Charybdis uns in ihren Strudel zieht.


17. Ich aber will zu Gott rufen,
und der HERR wird mir helfen.
18. Des Abends, Morgens und Mittags will ich klagen und heulen,
so wird er meine Stimme hören.
19. Er erlöset meine Seele von denen, die an mich wollen,
und schaffet ihr Ruhe;
denn ihrer sind viel wider mich.
20. Gott wird hören und sie demütigen,
der allewege bleibt. Sela.
Denn sie werden nicht anders
und fürchten Gott nicht.


17. Ich (aber) will zu Gott rufen. Der Psalmist wollte nicht die listigen Anschläge seiner Feinde durch Gegenlist zu vereiteln suchen oder ihre Gewaltstreiche nachahmen, sondern im geraden Gegensatz zu ihrem gottlosen Gebaren wollte er unablässig bei seinem Gott Zuflucht und Hilfe suchen. So hat Jesus gehandelt, und für die Gläubigen ist es stets die höchste Klugheit gewesen dasselbe zu tun. Wie dies verschiedene Verhalten den Gegensatz der Charaktere veranschaulicht, so weissagt es auch das entgegengesetzte Geschick: die Gerechten werden zu dem Gott auffahren, der in den Kämpfen der Erde ihre Zuflucht war; die Gottlosen aber werden ins Verderben hinabsinken. Und der HERR wird mir helfen. Jehova wird mein Begehren erfüllen und sich in meiner Errettung verherrlichen. Der Psalmdichter ist seiner Sache ganz gewiss. Er weiß, dass er anhalten wird am Gebet und ist ebenso sehr davon überzeugt, dass er erhört werden wird. Der Bundesname ist die Gewähr der Bundesverheißung.

18. Des Abends, Morgens und Mittags will ich klagen und heulen (oder stöhnen) - nicht vor Menschen, sondern vor Gott. Gottlob, im Himmel gibt es einen Dolmetsch, der sich auf das Übersetzen unserer Seufzer und Klagelaute versteht. Er, der das Mutterherz geschaffen hat, weiß besser noch als eine Mutter die jedem Fremden unverständlichen Klagetöne seines Kindes zu deuten. Die Israeliten rechneten bekanntlich den Tag vom Abend an. Anfang, Mitte und Ende des Tages sollen David auf den Knien finden. Er meint damit, dass er den ganzen Tag ohne Unterlass seinen Kummer und seine Klage vor Gott ausschütten wolle. Seine Feinde waren Tag und Nacht nicht müßig (V. 11); so will er denn ihrer unermüdlichen Geschäftigkeit im Bösen unablässiges Gebet entgegensetzen. So wird er meine Stimme hören. Er ist der guten Zuversicht, dass er mit dieser Waffe den Sieg erringen wird. Er gibt keinem Zweifel Raum, ob er auch werde erhört werden; er spricht, als hätte er schon die Antwort. Wenn unser Fenster gegen den Himmel offen steht, ist auch des Himmels Fenster uns aufgetan. Ein freimütiges Herz findet bei Gott eine freigebige Hand.

19. Er erlöset meine Seele von denen, die an mich wollen6, und schaffet ihr Ruhe. Der Glaube gibt uns einen helleren Blick als das schärfste Fernrohr; er sieht die Bergeshöhen der göttlichen Friedensgedanken, die noch vom dichten Nebel der Zukunft verschleiert sind. (Im Grundtext steht das Perf. der Gewissheit.) Mitten in der Drangsal atmet David schon die freie Luft der kommenden Erlösung. In der tiefsten Schmach weiß er, dass Jehova die Sache seines Gesalbten zum Recht ausführen wird. Frieden wird der HERR ihm geben, Frieden nach außen, Frieden auch in dem jetzt so beunruhigten Herzen. Denn ihrer sind viel wider mich. Die Menge seiner Feinde, die Größe der Not bestärken den Beter in seinem Glauben, dass die Hilfe nicht fern sei; denn wo die Not am größten, da ist Gottes Hilfe am nächsten.

20. Gott wird hören und sie demütigen.7 Sie machen ebensoviel Lärm wie ich, und Gott wird es hören. Die Stimme der Verleumdung, der Bosheit und der Überhebung wird nicht nur von denen vernommen, die durch sie verletzt werden. Sie dringt in den Himmel und beleidigt Gottes Ohr; sie schreit nach Rache, und Rache soll ihr zuteil werden. Gott hört die Seinen und erlöst sie; Gott hört die Gottlosen und demütigt ihr Ungestüm. Ihre unbarmherzigen Hohnreden, ihre niederträchtigen Tücken, ihre feigen Beleidigungen, ihre frechen Lästerungen kommen dem ewigen Richter zu Ohren und werden ihnen von ihm vergolten werden. Er, der von alters her thronet. (Grundtext) Von Uranfang her sitzt Jehova als Richter auf dem Thron; alle Gebete der Heiligen und alle Ruchlosigkeiten der Sünder sind vor seinem Richtstuhl, und er wird dazu sehen, dass beiden Gerechtigkeit widerfahre. Sela. Der Sänger hält inne, ob der Gegenwart des Ewigen von heiliger Scheu ergriffen. Sie, bei denen kein Wechsel ist (Grundtext wörtl.8, und die Gott nicht fürchten. Die ehrfurchtsvollen Empfindungen, von denen er erfüllt ist, erinnern David an den schrecklichen Gegensatz, an die freche Gottvergessenheit seiner Feinde. Er fühlt, dass seine Trübsale ihn näher zu Gott getrieben haben, und er erkennt, dass gerade ihr durch keinen Wechsel unterbrochenes irdisches Gedeihen sie dazu gebracht hat, in solcher Geringschätzung des Allerhöchsten dahinzuleben. Es ist eine für alle Verständigen offenkundige Tatsache, dass lang andauernde Zeiten der Ruhe und des Genusses auf sittlich haltlose Menschen höchst verderblich wirken. Wenn Trübsale sie auch nicht bekehren, so entwickelt sich doch beim Fehlen der Trübsal ihr natürliches Verderben ganz besonders üppig. Stehende Wasser werden faul. Die Sommerwärme brütet viele schädliche Insekten aus. Wer keine Trübsal hat, hat nicht selten auch keinen Gott. Es ist ein mächtiger Erweis der Verderbnis des Menschen, dass er die Güte Gottes in Nahrung für seine Sünde umwandelt. Der HERR bewahre uns davor!


21. Sie legen ihre Hände an seine Friedsamen
und entheiligen seinen Bund.
22. Ihr Mund ist glätter denn Butter,
und haben doch Krieg im Sinn;
ihre Worte sind gelinder denn Öl
und sind doch bloße Schwerter.


21. Er legte Hand an die, die in Frieden mit ihm lebten, entweihte seinen Bund. (Grundtext) Der Psalmist kann das treulose Verhalten des Verräters nicht aus dem Sinn bekommen und geht abermals dazu über es zu schildern. Ruchlos erhebt jener seine Hand wider die, welche ihm einst die Hand zum Freundschaftsbunde gereicht hatten; grausam zerreißt er die zartesten Bande und sucht auf die boshafteste Weise die zu verderben, welche seine Beteuerungen arglos geglaubt haben. Den heiligsten Freundschaftsbund hat er entweiht, er achtet keines Eides und Versprechens.

22. Glatt sind die Butterworte seines Mundes. (Grundtext) Mit Leckerbissen lockt er die Beute in die Falle. Er spart die Butter nicht an dem Braten, den er sich zurichtet. Erst spickt er ihn mit Schmeicheleien, dann klopft er ihn mürbe mit dem Hammer der Bosheit und brät ihn auf dem Feuer des Hasses. Hüte dich vor einem Menschen, der zu viel Honig auf der Zunge hat. Wo sich ein so verlockender Köder darbietet, vermutet man mit Recht eine Falle. Glatte, süße, sanfte Worte sind da am reichlichsten, wo Wahrheit und Treue rar sind. Und Krieg sein Herz. (Grundtext) Butter bringt er dar in herrlicher Schale, aber im Busen verbirgt er Zeltpflock und Schmiedehammer, um damit die Schläfe seines Gastes zu durchbohren (Richter 5,25 f.). Und das tut er dem, der mit ihm im innigsten Freundschafsbunde steht! Ein Ungetüm ist solch ein Mensch, dessen Lippen das Widerspiel seines Herzens sind, und wehe dem Armen, der ihm in die Hände läuft. Seine (Grundtext) Worte sind gelinder denn Öl. Weichere, fließendere, glattere Reden als die seinen kann es nicht geben; es lässt sich kein Haken daran finden, kein Misston fällt ins Ohr, sie gehen glatt ein wie das feinste Öl - und sind doch bloße Schwerter, gezückt zum Kampf. Schmach über dich, du Elender, der du deine Beute leckst und liebkosest, während du im Begriff bist, sie zu verzehren; du Feiger, der du dem Unschuldigen Fallen stellst, als wäre er ein Raubtier. Wahrlich, du selber bist eine Bestie.


23. Wirf dein Anliegen auf den HERRN;
der wird dich versorgen
und wird den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen.

Wirf dein Anliegen, oder die Last, welche dir aufliegt, auf den HERRN. Seine Weisheit legt dir die Bürde auf; deine Weisheit ist es, sie auf ihn zu legen. Er gibt dir dein Teil an Leiden; nimm es hin mit freudiger Ergebung, und dann bring es ihm wieder zurück in fester Zuversicht. Der wird dich versorgen, wird dich aufrechterhalten (wörtl.), dir Tag um Tag die Kraft geben, die du bedarfst, um die dir beschiedene Mühsal und Not zu tragen. Und wird den Gerechten nicht ewiglich (oder: ewiglich nicht) wanken lassen. (Grundtext) Der Gerechte mag schwanken wie die Zweige eines Baumes im Sturme; aber nie und nimmer wird er hinstürzen wie ein entwurzelter Baum, der fällt, um nie wieder aufzustehen. Wer auf dem ewigen Felsen seinen Stand nimmt, der steht sicher. Viel sind derer, welche die Gläubigen stürzen und verstören möchten; aber Gott hat das noch nie zugelassen und wird es nie zulassen. Wie Säulen von Granit stehen die Gottesfürchtigen unbeweglich, zum Ruhm des großen Baumeisters, der sie zu seinem Tempel aufgerichtet hat.


24. Aber, Gott, Du wirst sie hinunterstoßen in die tiefe Grube;
die Blutgierigen und Falschen werden ihr Leben nicht zur
Hälfte bringen.
Ich aber hoffe auf dich.

Den Gottlosen hingegen steht ein schrecklicher Sturz unabwendbar bevor. Mögen sie steigen, so hoch sie wollen, die tiefe Grube gähnt unter ihnen, und Gott selbst wird sie hinabstoßen. Die Blutgierigen und Falschen, sie, die sich mit der zwiefachen Sünde der Grausamkeit und Hinterlist beladen haben, werden ihr Leben nicht zur Hälfte bringen, sei es, dass sie in den Kämpfen, die sie heraufbeschwören, hingerafft werden, sei es, dass sie der Verdruss über das Misslingen ihrer heimtückischen Pläne tötet. Ihrer Gesinnung und Absicht nach waren sie Mörder anderer, in Wirklichkeit werden sie ihre eigenen Mörder. Niemand zweifle daran, dass Tugend das Leben verlängert und jedes Laster es kürzt. Ich aber hoffe (traue) auf dich. Ein weiser Entschluss als guter Schluss des Ganzen. Und ob alle Menschen Lügner waren, dem HERRN darfst du trauen. HERR, stärke uns den Glauben!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Unser Psalm stammt wohl ebenso wie Ps. 11 aus dem Anfange der absalomischen Verfolgungszeit und ist vielleicht nur etwas später als Ps. 11 anzusetzen. In letzterem wies David den Rat seiner Freunde zu schleuniger Flucht unter Hinweis auf sein Gottvertrauen noch energisch zurück. Jetzt aber wandelt ihn selbst ein Augenblick des Verzagens an. So steht es um das arme menschliche Herz. Gott lässt auch die tapfersten seiner Gläubigen zuweilen wanken, um ihnen zu Gemüt zu führen, dass auch der Glaube nicht auf eigenem Verdienst beruhe, sondern als eine Gabe von oben zu betrachten ist. Lic. Dr. H. V. Andreä 1885.


V. 2. Verbirg dich nicht vor meinem Flehen. Eine bildliche Redeweise, hergenommen von dem Verhalten eines Königs, der es einem Missetäter weigert sein Angesicht zu sehen (2. Samuel 14,24), oder eines Feindes, der sich vor dem irregehenden Ochsen seines Nächsten "verbirgt", d. h. ihn nicht sehen will, ihm seine Hilfe entzieht (5. Mose 22,1.3.4, vergl. Jes. 58,7), oder eines falschen Freundes, oder aber eines unwirschen Menschen, der sich in der Voraussicht, um Hilfe angesprochen zu werden, von einem armen, hilfsbedürftigen Menschen nicht sehen lassen will, sondern ihm zu entgehen sucht. Martin Geier † 1681.

V. 2 ff. In großen Nöten scheint es so, als wenn sich Gott vor uns verberge; aber unser lieber Gott kann sich vor unserm Gebet nicht verbergen, das Gebet findet ihn doch und dringt hin durch die Wolken. Aber wir sehen hier, dass die Heiligen Gottes nicht allezeit haben auf Rosen gegangen und in Freuden gelebt, sondern Weinen und Heulen ist ihr täglich Brot gewesen. Johann Arnd 1621.


V. 3. Weder Gebet noch Tränen eines tiefbetrübten Beters können verloren sein. David schöpft gerade aus seiner großen Traurigkeit Hoffnung, dass Gott auf ihn merken und ihn erhöben werde. David Dickson † 1662.
  Ich irre in meinem Kummer umher. (Grundtext) Das hier gebrauchte Wort bedeutet die sinnende, grübelnde (nicht schreiende) Klage, gleich Kummer, wie Wort gleich Gedanke, vergl. Ps. 64,2. Prof. Fr. W. Schultz 1888.


V. 5. Wenn uns wohl ist, so erscheint sich jeder als ein unbesiegbarer Kriegsheld; aber wenn es an den ernsten Kampf geht, da wird unsere Schwäche offenbar. Jean Calvin † 1564.
  Und des Todes Furcht ist auf mich gefallen. Dass David, der doch so herrliche Beweise der Liebe und Gunst Gottes empfangen hatte, von Todesfurcht befallen ward, ist so wenig ein Ausnahmefall, dass es vielmehr einen Gemütszustand abbildet, dem viele der trefflichsten Christen häufig unterworfen sind. Nicht wenige, deren Glaube auf dem rechten Grunde, nämlich Christus Jesus, steht und deren Wandel mit ihrem Bekenntnis übereinstimmt, werden doch fast beständig von Angst vor dem Tode gequält. Es wird anziehend und nützlich sein, zu untersuchen, was für Ursachen doch eigentlich dieser Furcht zugrund liegen mögen, welche Schwermut und Verzagtheit großzieht und unsere Glückseligkeit hindert und zerstört. - Es sind wohl nur wenige durch die Knechtschaft der Sünde so verhärtet oder für alle Mahnungen so ganz unempfindlich, dass sie ihrer Auflösung ohne irgendwelches Gefühl des Schreckens und der Bangigkeit entgegensehen. Es ist etwas so eigentümlich Schauriges in dem Gedanken an diesen unbekannten Wechsel und den darauf folgenden außer aller Erfahrung liegenden Zustand, dass die abgehärtetsten Kriegshelden zugegeben haben, der Gedanke an den Tod erfasse sie mit Entsetzen. Eine der ersten Ursachen der Todesfurcht ist das Schuldbewusstsein. Auch der gefühlloseste Mensch ist sich gewisser Dinge bewusst, die er weder sich noch andern gern gesteht, und wenn jemand auch noch so selbstgerecht ist, so fühlt er sich doch so manches Bösen schuldig, ob er es auch mit aller Kunst zu verbergen sucht. Solange der Christ nur auf sich, auf seine Beschaffenheit und seine Neigungen sieht, muss er sich elend fühlen; aber wenn er auf seinen großen Bürgen Christus Jesus schaut, wird sich sein düsterer Ausblick bald in Freude wandeln. Anhänglichkeit an die Welt ist eine zweite Ursache der Scheu vor dem Tode. Eine dritte ist der natürliche Selbsterhaltungstrieb. Dass unser Leib, den der Hochmut so gern herausstutzt und die Weichlichkeit so gern verzärtelt, dem dunkeln Grabe übergeben werden und sogar eine Speise der Würmer werden soll, ist für den Eigendünkel des Menschen höchst demütigend. Überdies empört sich die Natur gegen den Gedanken der Auflösung; das Verlangen, unser Leben zu erhalten, ist uns offenbar angeboren. Viertens ist es dem Teufel oft gestattet, das Gewissen zu schrecken und damit die Angst vor dem Tode zu verstärken. Unglaube ist eine fünfte Ursache. Wäre unser Glaube mehr in Übung, so würden wir besser befähigt sein, mit gewisser Hoffnung der Unsterblichkeit über das düstere Grab hinaus und hinauf zu blicken. Unsre Todesfurcht mag endlich auch darin einen Grund haben, dass wir bei uns eine Vollkommenheit suchen, die wir da niemals entdecken werden. - Lasst uns aber auf die Gründe sehen, welche geeignet sind, uns von der Todesangst zu befreien. Es mag notwendig sein, vorauszuschicken, dass der Trost des Evangeliums nur den wahren Christen gehört; denn die Gottlosen haben gerechte Ursache, vor dem Herannahen des Todes zu zittern. Wer sich aber im Bewusstsein seiner Unwürdigkeit unter das göttliche Gericht, das in dem Tode liegt, gebeugt hat und zu Christus seine Zuflucht genommen hat, um bei ihm Vergebung und Errettung zu finden, der hat keinen Grund, weder die Schmerzen noch die Folgen des Todes zu fürchten. Denn die Pein des Gewissens, der Stachel des Todes, ist hinweggenommen. Der Tod ist mithin (zweitens) für den Gläubigen nicht mehr ein Feind, sondern ein Freund. Statt dass er uns mit ewigem Jammer schreckte, ladet er uns vielmehr zu ewiger Glückseligkeit. Drittens: Unsere ewige Geborgenheit ruht auf dem Eid, dem Vorsatz und den Verheißungen Gottes. Ein viertes, das wohl geeignet ist, uns die Todesfurcht zu benehmen, ist die Betrachtung der Vorteile, welche er uns bringt; desgleichen der Segnungen, welche uns unsere Auferweckung durch Christus bringen wird. - Auszug einer Predigt von John Grove 1802.


V. 6. Furcht und Zittern ist mich ankommen usw. Bist du etwa in solch bemitleidenswerter Gemütsverfassung, so merke, dass es einem David auch so ergangen ist. Es steht nicht unbedingt im Widerspruch mit der Gottseligkeit, dass unser Herz in Zeiten der Gefahr von Furcht erschüttert wird. Die natürlichen Affekte (Gemütserregungen) werden durch die Bekehrung nicht aufgehoben, wohl aber geläutert und gemildert. David Dickson † 1662.


V. 1-6. Wie natürlich ist diese ganze Schilderung! Er ist in Verwirrung, er grübelt und klagt, er seufzt und stöhnt, sein Herz windet sich in seinem Leibe, und er erwartet nichts anders als den Tod; das versetzt ihn in große Furcht, er zittert, Schauder bedeckt ihn, wie ein Alp liegt auf ihm das Vorgefühl nahen und unausweichlichen Untergangs, so dass er ganz von Schrecken überwältigt wird. Niemand hat ein blutendes Herz so treffend beschrieben wie David. Adam Clarke † 1832.


V. 7 f. O, hätte ich Flügel wie Tauben usw. Manche der wunderlichsten Predigten sind über diesen Text gehalten worden, der bei den alten Gottesgelehrten ganz sonderlich beliebt war. Sie durchforschten Plinius und Aldrovandus, um die ungeheuerlichsten Fabeleien über die Tauben, ihre Augen, ihre Leber, ihren Kropf und sogar ihren Mist zu sammeln, und fanden dann in allem und jedem ein Sinnbild des Christen. Griffith Williams (1636) ergeht sich des langen und breiten darüber, dass David nicht die Flügel einer Heuschrecke begehrt habe, um von Halm zu Halm zu hüpfen, wie die unbeständigen Menschen, die in der Religion wohl Sprünge machen, aber nicht dem vorgesteckten Ziele mit Ausdauer zulaufen; auch nicht Flügel, wie der Strauß sie hat, der, wiewohl er ein Vogel ist, am Erdboden bleibt, gleich den Heuchlern, die sich nie zu himmlischen Dingen aufschwingen; auch nicht Flügel eines Adlers oder eines Pfauen oder eines Käfers oder einer Krähe oder eines Geiers oder einer Fledermaus. Und nachdem er die Ähnlichkeit des Gläubigen mit einer Taube in wer weiß wie vielen Stücken aufgezeigt hat, verweist er uns zum Überfluss für weitere Vergleichungspunkte noch auf den Kardinal Hugo von St. Cyr († 1263) und viele andere Schriftsteller. Unserer Ansicht nach würde es nicht zur Erbauung dienen, diese Blätter mit solchen Abgeschmacktheiten und Unwahrheiten zu beladen. Das eine Sätzlein von Bischof Simon Patrick († 1707) wiegt sie alle auf: "Er hatte mehr den Wunsch als die Hoffnung zu entfliehen." Er sah kein Entrinnen, es wäre denn auf irgendeine unglaubliche oder unmögliche Weise. C. H. Spurgeon 1872.
  Als die alten Gallier den Wein Italiens gekostet hatten, fragten sie, wo solche Trauben wüchsen, und ruhten nicht, bis sie dahin gelangten. So möget auch ihr mit David rufen: O, hätte ich Flügel wie Tauben usw. Der Gläubige ist bereit, alles, was die Welt ihm bieten kann, zu verlieren und die Erde zu verlassen, um das zu genießen, was Gottes Gnade ihm in der Herrlichkeit bereitet hat. (Man vergl. "In die Ferne möcht’ ich ziehen" V. 2 und "Lasst mich gehn" V. 3) William Secker 1660.

  Erst ist der Seel’ die Mutter Erde lieb;
  Sie klammert an die Welt sich, die ihr lacht.
  Am Boden flattert sie, folgt nicht dem Trieb,
  Der leis in ihren Schwingen ist erwacht.

  Doch unterm weiten Himmel find’t sie nichts,
  Das ihr das tiefste Sehnen stillen kann;
  Sie mag nicht ruhn im Strahl des ird’schen Lichts,
  Sie trifft hienieden keine Heimat an.

  Dann - wie ein Bienlein, das sich hätt’ verirrt
  Zu Unkrautsblüten, farbenreich, doch leer -
  Von Kelch zu Kelch sie rastlos kostend schwirrt,
  Fliegt dann enttäuscht davon und kehrt nicht mehr.

  So, wenn die Seele, suchend wahre Ruh,
  Wie Noahs Taube sich umsonst müht ab,
  Dann eilt sie aufwärts, ihrem Ursprung zu,
  Und flieht zu Ihm, der ihr die Schwingen gab!

   Nach Sir John Davies † 1626.

  Ich vermute, David habe hier an die Turteltaube gedacht. Ihre tiefen, klagenden Töne kann man zu gewissen Jahreszeiten den ganzen Tag in den Olivenhainen und den einsamen, schattenreichen Tälern des Gebirges hören; am meisten hat ihr Girren aber mein Gemüt in den großen Gärten um Damaskus bewegt - es klang so gedämpft, so herzbewegend kläglich aus dem Gebüsch bei dem sanften Säuseln der Luft und dem leisen Gemurmel der Bächlein, welche die blütenreichen Baumanger hinabrieselten. Diese zierlichen Tierchen lassen sich durchaus nicht zähmen. Sperrt man sie in einen Käfig, so härmen sie sich zu Tode; sobald man sie in Freiheit setzt, fliehen sie auf ihre Berge (Ps. 11,1). Namentlich findet man diese scheuen Vögel auch in den Wüsten, wo sie den Jägern möglichst fern sind, vor denen sie ganz besonders auf der Hut sind. W. M. Thomson 1859.


V. 10. Mache ihre Zunge uneins, Herr! Das geschah, als das Zeugnis der beiden falschen Zeugen nicht übereinstimmte, ferner in den widersprechenden Aussagen der Grabeshüter. Michael Ayguanus 1416.


V. 13. Wollte ich’s leiden. Es ist beachtenswert, dass unser Herr und Heiland, während er die anderen unsagbar schweren Kämpfe und Leiden seiner Passion mit vollkommenem, bewundernswertem Schweigen ertrug, in diesem einen Stück dem Kummer seines Herzens Luft machte, indem er es vor den Jüngern unter tiefer Erschütterung seines Geistes aussprach, dass einer unter ihnen ihn verraten würde (Joh. 13,21), und dem Verräter selber hernach das Donnerwort zurief: Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuss? Fra Thomé de Jesu † 1582.


V. 15. Die wir freundlich miteinander waren unter uns, buchstäblich: unsere vertrauliche Beratung oder unser Geheimnis süß machten. Eine feine Redeweise, die entweder ausdrücken soll, welches Vergnügen sie gegenseitig an ihrer Freundschaft gehabt hatten, oder, dass sie einander in der traulichsten Weise ihre Geheimnisse mitgeteilt hatten. Henry Hammond † 1660.


V. 16. Die unbußfertigen Sünder fahren in gewissem Sinn alle lebendig zur Hölle; denn sie werden ein klares Bewusstsein ihres Jammers haben und müssen weiterleben, um für und für ihr Elend zu empfinden. Dies Gebet Davids ist eine Weissagung des gänzlichen, endgültigen und ewigen Verderbens aller derer, welche im Geheimen oder öffentlich dem Gesalbten des HERRN widerstanden und sich wider ihn empört haben. Matthew Henry † 1714.
  Alle Menschen, welche in Gleichgültigkeit und offenbaren oder geheimen Sünden dahinleben, häufen sich selbst einen Schatz des Zornes auf den Tag der Vergeltung auf; aber ein plötzliches Gericht kommt über die Heuchler, die ihr Bekenntnis zu Christus durch Falschheit und Verrat an der Wahrheit mit Füßen treten, wie auch Paulus das Anathema ausgesprochen hat über alle, die das Evangelium Christi verfälschen würden. (Gal. 1,8 f.) So kündigt auch dieser Psalm das schreckliche Gericht Jehovas über die Verräter an, ein Gericht, das jenem ähnlich sein wird, das einst über Dathan und Abiram erging, und durch seine Plötzlichkeit und Offenkundigkeit zugleich die Schuld der Missetäter vor aller Welt enthüllen und den Zorn des Allmächtigen wider solche kundtun wird. R. H. Ryland 1853.


V. 18. Der Brauch der Israeliten, drei öffentliche Gebetszeiten zu haben, ist bereits Ps. 55,18 angedeutet. Vergl. Dan. 6,11. Wenn das (nach der Meinung mancher) ein Zug der äußerlichen Frömmigkeit eines Daniel sein soll, so kann dies eben nur solchen anstößig werden, die es im Interesse der Frömmigkeit finden, überhaupt keine geregelten Gebetszeiten zu haben. Prof. Gustav Öhler † 1872.
  Wenn unser gebrechlicher Körper dreimal des Tages der Erquickung durch Nahrung bedarf - wer, der seine eigne Schwachheit kennt, wird dann sagen, dass wir nicht ebenso oft der besonderen Erfrischung für unseren schwachen Geist bedürften? William Swan Plumer 1867.
  Ich kann es von jemand, der es gering achtet und vernachlässigt, die Zeiten besonderen Gebetsumgangs mit Gott einzuhalten, ebenso wenig glauben, dass er häufig und mit brünstigem Geist auf augenblicklichen Antrieb zu Gott flehe, als ich es von solchen, die den von Gott eingesetzten Ruhetag nicht beobachten, glauben kann, dass bei ihnen jeder Tag der Woche zum Sabbat werde. William Gurnall † 1679.
  Die drei Hauptzeiten des Tages werden genannt, nicht sowohl, um damit besondere Gebetszeiten zu bezeichnen, sondern als dichterischer Ausdruck für: den ganzen Tag, allezeit, ohne Unterlass. J. J. Stewart Perowne 1864.


V. 19b. Das Denn gibt den Grund an, warum Gott eingreift: weil es bei Gott allgemeiner Grundsatz ist, den Seinen zu helfen, wenn ihre Not hoch gestiegen ist. A. R. Fausset 1866.
  Denn zu vielen (= in Menge) sind sie ydimIf(i. Dies kann man, da M(i sehr häufig bei den Zeitwörtern des Streitens und Kämpfens steht und auch ähnliche Verbindungen wie an unserer Stelle vorkommen (vergl. Ps. 94,16; Hiob 10,17 f.), von den Feinden verstehen, die in großer Zahl gegen ihn seien. Aben-Ezra aber denkt an die Engel, die in großer Zahl bei David, um ihn9 her seien, ihm zum Beistand, vergl. Ps. 34,8; 2. Könige 6,16 f; 2. Chr. 32,7. Henry Ainsworth † 1622.


V. 20. Der Sitzende der Urzeit (wörtl.) - der von Urzeit her thront. Das Sitzen ist dem Richter und Könige eigentümlich, vergl. Ps. 29,10. Die Taten, durch die Gott schon von der Urzeit her sich als den gerechten König und Richter gezeigt - Gerichte, wie z. B. über die Frevler im Lande Sinear, V. 10, die Rotte Korah, V. 10.16, die Städte der Jordansaue, V. 16 - verbürgen sein bevorstehendes Einschreiten. Er, der schon so lange thront, muss auch jetzt als König und Richter sich zeigen; er kann nicht so spät noch ein anderer werden. Das Sela steht keineswegs "ganz unpassend", sondern es weist hin auf den tiefen Gehalt der wenigen Worte, die reiche Fülle des Trostes, die sie darbieten, und ladet das Gemüt ein, bei ihnen stille zu stehen. Prof. E. W. Hengstenberg 1844.
  Sie haben keine Wechsel. (Buchstäblich) Sie, nämlich diejenigen, welche Gott demütigen wird, also die gottlosen Feinde des Psalmdichters. Was bedeutet aber das Wort Wechsel hier? Viele verstehen es von einer sittlichen Änderung, von Sinnesänderung = meta/noia; aber das Wort kommt nie in solcher Bedeutung vor. Es bedeutet vielmehr Wechsel im Sinn von Aufeinanderfolge, wie z. B. Ablösung der Krieger in der Wache, Ablösung in der Arbeit, Wechsel der Kleider u. dergl. Daher würde man bei Festhalten der sittlichen Bedeutung diese eher so auszudrücken haben: Sie haben keine Ablösung, keine Ruhepause in ihrem bösen Treiben, sondern fahren darin unablässig, mit nimmer ermüdender Ausdauer, fort. Calvin und andere [so auch Spurgeon] verstehen das Wort von Glückswechsel, aber diese Bedeutung ist unbelegbar. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Omlf tOpylixA Ny)" r$e)A. Ansprechend ist die Beziehung dieser Worte auf das vorausgehende Subjekt, nämlich Gott, also auf die Unwandelbarkeit Gottes. (Kimchi.) Dass wÆmlf auch für den Singular Ol stehen könne, wird in der neueren Zeit ja entschieden bejaht. Man kann dann in unserer Stelle die Grundstelle zu Jak. 1,17 finden: "Bei welchem ist keine Veränderung." Der gewiegte Kenner des klassischen Hebräisch, Salkinson, übersetzt in seinem hebräischen Neuen Testament dort im Jakobus denn auch offenbar nach unserer Psalmstelle: Ny)" r$e)A Ol tOpylixA. Nur unterbricht das Sela, das sonst erklärbar ist, bei dieser Deutung der ihm folgenden Worte sehr störend den Zusammenhang, und auch der Schlusssatz "und sie fürchten Gott nicht" steht dann losgerissen da. - James Millard


V. 22. Butter. An den meisten Stellen, wo das Wort vorkommt, hat man an die Dickmilch, das im ganzen Orient so beliebte Erfrischungsmittel, zu denken. So hier eigentlich: Dickmilchspeisen.
  Glatt sind die Butterworte seines Mundes. Von der Art sind die fromme Sprache der Heuchler, die Mildtätigkeit bigotter Fanatiker, die verführerischen Reden von Irrlehrern, die Versprechungen der Welt, die verlockenden Reize des Fleisches, sowie die Versuchungen des Satans, wenn dieser es angebracht findet, als Engel des Lichts zu erscheinen. Bischof George Horne † 1792.
  Als ich wieder vor den Richter kam, fand ich dort einen Herrn Foster von Bedford [in welcher Stadt Bunyan wohnte und wirkte]. Er kam aus einem anderen Zimmer, und als er mich beim Licht der Kerze (denn es war dunkle Nacht, als ich ankam) erkannte, rief er: Was, Sie hier, John Bunyan? Er sagte das mit solch scheinbarer Freundlichkeit, als ob er mir hätte um den Hals fallen und mich küssen wollen [also ein rechter Judas (Spurgeon)]. Das brachte mich ein wenig zum Erstaunen, dass jemand, der mit mir so wenig bekannt war und stets ein heftiger Gegner der Sache Gottes gewesen war, sich gegen mich so freundlich und liebenswürdig zeigte; aber als ich hernach sah, was er tat, kamen mir die Worte in den Sinn: Ihre Worte sind gelinder denn Öl und sind doch bloße Schwerter, sowie jene andern: Hütet euch aber vor den Menschen usw. (Mt. 10,17.) John Bunyan † 1688.


V. 24. Die Blutgierigen und Falschen usw. Ein gottloser Mensch wird entweder vorzeitig hingerafft, sei es durch seine eigenen, das Leben verkürzenden Sünden (Spr. 10,27) oder durch besondere Strafgerichte, so dass er nicht halb so lange lebt, als er nach dem gewöhnlichen Lauf der Natur leben könnte, oder jedenfalls lebt er nicht halb, nicht ein Zehntel, nicht ein Hundertstel so lang, als er leben möchte und zur Ausführung seiner vielen Anschläge nötig hätte. Darum ist er beim Sterben, es mag kommen wann immer, voller Schrecken, Not und Bestürzung, denn der Tod kommt ihm stets zur unrechten Zeit. Er hat nie Gottes Gnadenzeit beachtet, so wird denn Gott auch nicht auf seine Wünsche betreffs der Lebenszeit achten. Joseph Caryl † 1673.


Homiletische Winke

V. 2b. 1) Ein Übel, das man wohl fürchten mag. Verbirg dich nicht, indem du a) in dringender Not lange zu helfen zögerst, b) überhaupt dich weigerst, auf das Flehen (des Sünders) zu hören. 2) Ursachen, die dies Übel herbeiführen können. Sie mögen a) im Beter, b) im Inhalt des Gebets, c) in der Art und Weise des Betens liegen. 3) Übel, die diesem folgen müssen. 4) Heilmittel wider dies Übel. Es gäbe kein Heilmittel. Wenn das Übel anhielte (d. h. Gott nicht hören wollte); aber Durchforschung des eigenen Herzens, aufrichtige Sinnesänderung, Anhalten am Gebet, Berufung auf den Namen Jesu werden zu seiner Hinwegnahme führen.
V. 3b. Wann ist Klagen erlaubt? Wenn es 1) nicht wider Gott, sondern vor Gott geschieht; 2) vor allem über uns selbst, sodann 3) über die Welt als ungerecht und widergöttlich; 4) stets mit heiliger Betrübnis und nicht in selbstsüchtigem Ärger.
V. 5. Die Schrecken des Todes. (Siehe den Auszug aus Grove über Ursachen und Heilmittel der Todesfurcht.)
V. 7 f. Einsamkeit. 1) Ihre vermeintlichen Vorzüge. 2) Ihre großen Versuchungen. 3) Die Segnungen, die sie uns zuzeiten bei rechter Benutzung bringen kann.
V. 9. Ein vorzeitiges Enteilen aus der Trübsal würde 1) Auflehnung wider Gott und 2) feigen Mangel an Glauben beweisen; 3) uns um höchst nützliche Erfahrungen bringen und 4) in andere, schlimmere Trübsale stürzen; 5) uns hindern Gott zu verherrlichen; 6) unsere Ähnlichkeit mit Christus und die Leidensgemeinschaft mit den Seinen vermindern; endlich 7) uns den Himmel weniger begehrenswert machen.
V. 10. Die babylonische Verwirrung der Irrlehren. 1) Im Wesen der Irrlehren begründet, denn es gibt nur eine Wahrheit, und nur die Wahrheit ist in sich selbst eins. 2) Unvermeidlich, denn die Beweggründe der Irrlehrer sind, weil selbstsüchtig, einander entgegen. 3) Durch die Vorsehung geordnet, denn so schwächen sie einander. 4) Gerichtlichen Charakters, denn so quälen sie einander.
V. 11a. Die Emsigkeit der Bosheit.
V. 11b. Die Teufelszwillinge: Unheil und Jammer.
V. 15. Verbindungen auf religiöser Grundlage: 1) Sie stehen auf gutem Grunde; 2) sind nützlich (Rat), 3) lieblich (süß), 4) dienen zu gegenseitiger Stärkung und Begeisterung (miteinander im Hause Gottes), 5) sollten heilig gehalten werden, 6) bedürfen aber sorgfältiger Überwachung.
V. 17. Der Gegensatz. 1) Ein Gottesmensch tut andern nicht Unrecht wie sie ihm. 2) Er ruft Gott an, sie aber tun das nicht. 3) Gott hört die Seinen, hingegen nicht die Gottlosen. 4) Auch am Ende wird Gott anders handeln an den Seinen als an jenen.
V. 18. 1) David will inbrünstig beten ("klagen und heulen"); 2) oft - jeden Tag, dreimal des Tages, d. h. 3) ohne Unterlass.
V. 19. Unsere Kämpfe, unser Helfer, unsere Erfahrungen der Errettung, unser Lobpreis.
V. 20. Die ewige Herrschaft Gottes: der Schrecken derer, die in der Gottlosigkeit beharren.
V. 22. Die Worte des Heuchlers. 1) Sie fließen ihm in Fülle aus dem Munde. 2) Sie kommen nur aus dem Munde. 3) Sie sind sehr glatt. 4) Sie verdecken die Gedanken, statt sie zu offenbaren. 5) Sie schneiden und töten. 6) Sie töten aber auch den Heuchler selber.
V. 23. Kein Gläubiger, dem Gott nicht eine Bürde auferlegt. Doch nicht dazu wird sie ihm auferlegt, dass er sie in eigener Kraft trage - sie würde ihn erdrücken - sondern dass er sie auf den HERRN wälze. Doch legt der HERR sie ihm wieder auf, damit er sie trage, aber aufrecht erhalten vom HERRN, also in der Kraft des HERRN.
V. 23b. Wer sind die Gerechten? Was ist damit gemeint, dass sie wanken? Wessen Zulassung ist dazu nötig, dass dies geschehe? Wird er es zulassen? Nicht ewig - ewig nicht. Warum nicht?
V. 24. Man beleuchte mit dem Schlusswort "Ich aber hoffe auf dich" den ganzen Psalm.

1. Vergl. die folgende Verszeile sowie Ps. 66,11 das Wort hqf(fWm, drückende Last, vom gleichen Stamme.

2. So übersetzen einige, indem sie das Nmi vergleichend auffassen. Doch wird die Sprache dadurch zu stark übertreibend. Natürlich darf man nicht mit Spurgeon beide Auffassungen zusammennehmen, sondern muss sich für eine entscheiden.

3. Die erste Verszeile lautet wörtl. (Verschlinge, d. h.) Vernichte, Herr! Zerteile ihre Zunge (=Sprache). Als Objekt des ersten Zeitworts sind die Feinde zu denken. Da die Vernichtung dieser eben durch Entzweiung ihres Rats geschehen soll, hat Luther die Sätze umgestellt. - Weil das "Zerteile ihre Zunge" an die babylonische Sprachverwirrung erinnert (vergl. glekIe 1. Mose 10,25 ?), vermuten Del. und Bäthg., dass: (lb pi. hier (vergl. Jes. 19,3) gleich llb verwirren (1. Mose 11,9) zu nehmen sei. Dann haben beide Verben das gleiche Objekt: Verwirre, Herr, zerteile ihre Zunge!

4. Subj. sind entweder die Frevler, also die Anhänger Absaloms (so Hupf., Delitzsch u. a.) oder Frevel und Hader aus V. 10, personifiziert gedacht. So Luther nach den alten Übers. und den Rabbin., sowie manche neuere Ausleger.

5. Nach dem Keri, mit prägnanter Konstruktion: Der Tod berücke sie, sie überfallend = überfalle sie hinterrücks. Das Ketiv lautet: Verwüstungen über sie.

6. Besser: dass sie nicht an mich können. Andere fassen -brfq: (das dann kerab zu lesen ist) als Substantiv auf (vergl. V. 22): vom Krieg wider mich, als Gegensatz zu MOl$fbI:.

7. Der Text des ganzen Verses ist dunkel. Mg"(Ayaw: lässt der Form sowie der Stellung neben (ma$:yi nach kaum eine andere Übersetzung zu als: er wird ihnen antworten, d. h. sie erhören, was kaum der Sinn sein kann. Die LXX, welchen Luther folgt, lasen wohl Mdeqe b$"y OmgI"(aywi (Del. u. Bäthg.)

8. Dies ist allerdings eine ziemlich wörtl. Übersetzung, deren Sinn aber verschieden gedeutet werden kann. Spurgeon deutet das Wort mit Aben-Ezra, Calvin u. a. nach Hiob 14,14 auf Wechsel des Geschickes, während Luther es von der Sinnesänderung versteht ("sie werden nicht anders"), was vorzuziehen ist.

9. Diese Auffassung, welche von Hitzig verteidigt wird, liegt allerdings sprachlich näher, vergl. z. B. 1. Könige 1,8; trotzdem findet sich in unserer Stelle kein Anhalt für dieselbe, da doch irgendwie im Zusammenhang angedeutet sein müsste, dass die Engel als Subjekt zu Wyhf gedacht seien.