Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 56 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Dies ist das zweite "güldene Kleinod Davids", das mit dem ersten (Ps. 16, wo man die Vorbemerkungen vergleiche) am Schlusse Ähnlichkeit hat, denn beide enden im Licht des göttlichen Angesichts. Auch unser Psalm birgt in sich ein goldenes Geheimnis, das Leben des Glaubens. Von der stummen Taube unter den Fremden. Das ist wohl der Anfang der Weise, nach welcher der Psalm von dem Vorsteher der heiligen Sängerchöre in Musik gesetzt werden sollte. Doch hat man die Worte von alters her auch als symbolische Bezeichnung des Dichters in seiner damaligen Lage, da ihn die Philister griffen zu Gath, aufgefasst. Man vergl. die Erzählung 1. Samuel 21,11-16 und den auf den gleichen Anlass zurückgeführten Ps. 34.

Einteilung. In V. 2.3 gibt der Psalmist seiner Klage, in V. 4.5 seinem Gottvertrauen Ausdruck. V. 6.7 kehrt er zur Klage zurück, fleht aber mit fester Zuversicht in V. 8-10 und schließt im Ton freudigen Rühmens und Dankens V. 11-14.


Auslegung

2. Gott sei mir gnädig, denn Menschen schnauben wider mich;
täglich streiten sie und ängsten mich.
3. Meine Feinde schnauben täglich;
denn viele streiten wider mich stolziglich.


2. Gott, sei mir gnädig. In meinem großen Jammer wende ich mich an dich, mein Gott. Bei Menschen finde ich kein Erbarmen; drum sei du mir zwiefach barmherzig. Hat deine Gerechtigkeit meine Feinde auf mich losgelassen, so lege dein Erbarmen sie wieder fest. Sie sind ja doch an deiner Kette und können keinen Schritt weitergehen als du ihnen zulassest. Es ist köstlich zu sehen, wie das zarte Taubengemüt des Psalmisten in der Stunde der Gefahr an Gottes Herzen Bergung sucht. Denn Menschen schnauben wider mich. Sie sind doch nur Menschen, ohnmächtige, hinfällige Menschen (vergl. im Grundtext enosh), die wider dich, den starken Gott (Elohim), nichts vermögen und es nicht wagen sollten, deinen Auserwählten anzutasten; aber gleich einem Ungetüm lechzen sie nach meinem Blut, sie stellen mir begierig nach, wörtl.1: sie schnappen nach mir, möchten mich nicht nur verwunden, sondern ganz und gar verschlingen. Wenn die Gottlosen in ihrer Wut gegen uns das Maul aufsperren, sollte uns das veranlassen, unseren Mund weit aufzutun zum Gebet. Wir dürfen die Unbarmherzigkeit und Grausamkeit der Menschen vor Gott als Grund für sein Eingreifen geltend machen. Täglich streiten sie und ängsten mich, Grundtext: Immerfort bedrängen mich Krieger. Die Feinde lassen mir keine Ruhe, und so ungerecht ihr Kampf ist, scheint er ihnen doch gelingen zu sollen, denn meine Bedrängnis wird immer größer. David bringt die Klage gegen seine Widersacher am rechten Ort vor. Wenn wir schon gegen Menschen bei Gott Hilfe suchen können, wieviel mehr gegen den Erzfeind unserer Seele, den Teufel. Wir bitten den HERRN, uns unsere Schuld zu vergeben, was der Bitte Davids "Gott sei mir gnädig" entspricht, und dann flehen wir: "Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen." Je heftiger der Satan uns anficht, desto stärker rufen wir um Errettung.

3. Meine Feinde schnauben täglich. Ihre Gier nach Blut lässt nie nach. Sie gönnen weder sich noch mir einen Rasttag und geben keinen noch so kurzen Waffenstillstand. Es sind ihrer viele, aber ein Geist beherrscht sie. Was ich auch tue, nichts kann sie erweichen und besänftigen. Sie werden nie zufrieden sein, bis sie mich ganz verschlungen haben. Die Wehrwölfe2 der Ammenmärchen finden wir leibhaftig in den Feinden der Kirche, denn diese möchten in der Tat nichts lieber als die Gläubigen zermalmen und verzehren. Denn viele streiten wider mich. Die Sünder leben gern in Herden. Diese Wölfe fallen selten einzeln über uns her, sondern rotten sich in Rudeln zusammen. Die große Zahl unserer Feinde ist ein kräftiger Grund, das Dazwischentreten unseres einzigen Verteidigers zu erflehen. Dieser eine aber ist mächtiger als die ganze Rotte der Verfolger zusammen. Die Feinde der Gottseligen sind auch darin den Wölfen ähnlich, dass sie scharfe Augen haben. Sie sind stets auf der Lauer, wie denn das mit "Feinde" übersetzte Wort des Grundtextes sie nach der Erklärung mancher eigentlich als Späher oder Auflaurer bezeichnet.3 Das letzte Wort des Verses, welches Luther mit vielen Auslegern stolziglich übersetzt, heißt zunächst: in der Höhe. Der Dichter meint damit wohl, dass seine Feinde sich in hoher Stellung befinden. Sein größter Feind, Saul, griff ihn vom Thron aus an, mit all der Gewalt, über welche er in dieser seiner königlichen Stellung verfügte. In solchem Fall ist der Trost nahe zur Hand: Gott hilft uns von einem noch höheren Orte aus, als unsere Feinde je einnehmen können.


4. Wenn ich mich fürchte,
so hoffe ich auf dich.
5. Ich will Gottes Wort rühmen;
auf Gott will ich hoffen und mich nicht fürchten;
was sollte mir Fleisch tun?


4. Wenn ich mich fürchte. David war kein Prahler, er gab nicht vor, dass er sich nie fürchte; auch war er kein stumpfer Stoiker, der keine Angst kennt, weil er überhaupt kein Gefühl mehr hat. Seine Klugheit bewahrte ihn vor der törichten Sorglosigkeit unwissender Menschen; er merkte, in welch furchtbarer Gefahr er schwebte und fürchtete sich. Wir sind Menschen und sind als solche manchem schweren Schlage ausgesetzt, wir sind schwache Menschen und daher unvermögend dem Schicksal zu trotzen, wir sind sündige Menschen und verdienen Züchtigungen, und dies alles mag uns wohl ängstlich machen. Aber der Seelenzustand des Psalmisten war ein eigentümliches Gemisch anscheinend unvereinbarer Stimmungen: er fürchtete sich zwar, aber die Furcht nahm nicht den ganzen Raum seiner Seele ein, denn er fügt hinzu: so hoffe (oder: traue) ich auf dich. Es ist also möglich, dass Furcht und Glaube zu gleicher Zeit das Gemüt erfüllen. Wir sind sonderbare Geschöpfe, und unsere Erfahrungen im geistlichen Leben sind noch sonderbarer. Wir befinden uns oft im Zwielicht, wo sowohl Licht als Dunkel vorhanden sind und es schwierig ist zu sagen, welches von beiden vorherrsche. Das ist aber eine segensreiche Furcht, die uns dazu drängt, desto fester auf Gott zu trauen. Die fleischliche Furcht treibt uns von Gott weg; wenn aber der Geist Gottes in uns wirken kann, treibt uns die Furcht zu Gott hin. Hier haben wir ein sehr einfaches, aber wohlerprobtes Rezept gegen die so verbreitete Krankheit der Menschenfurcht: Nimm eine gute Dosis Gottvertrauen ein, so wirst du von jenem schleichenden Übel geheilt. Merke aber: Auf Gottes Schutz trauen, wenn keinerlei Anlass zur Furcht da ist, das kann man doch nur zur Not noch Glauben nennen; aber sich auf den HERRN verlassen, wenn uns ringsum nichts als Schrecken und Angst anstarren, das ist der in allem weit überwindende Glaube der Auserwählten Gottes. Dieser Ausspruch des Psalmisten ist keine leere Rede; David hat seinen Glauben im Leben bewährt. So lasst es uns auch machen. Ob unsere Furcht durch Dinge in uns oder außer uns veranlasst sei, ob sie von Vergangenem oder Gegenwärtigem oder Zukünftigem, von leiblichen oder geistigen Ursachen, von Menschen oder vom Teufel herrühre, lasst uns Glauben halten, so werden wir bald neuen Mut in unseren Adern fühlen.

5. Ich will Gottes Wort rühmen, oder nach der gewöhnlichen Auffassung des Grundtextes, vergl. Jes. 26,13: Durch Gott, d. i.: dank der Hilfe Gottes, werde ich rühmen sein Wort. Vom Glauben kommt’s zum Loben. Wer vertrauen kann, wird auch bald jubeln können. Der Psalmist ist des gewiss, dass er durch Gott, durch Gottes hilfreiches Eingreifen, des HERRN Wort in Erfüllung gehen sehen und also Anlass haben werde, die Treue der göttlichen Zusagen zu rühmen. Gottes erfüllte Verheißungen sind ein köstlicher Gegenstand des Rühmens. Und selbst ehe die Erfüllung da ist dürfen und sollen wir die Zuverlässigkeit des göttlichen Wortes preisen; was wir schon davon erlebt haben, gibt uns Grund genug dazu. Auf Gott habe ich mein Vertrauen gesetzt. (Grundtext) Nicht mit halbem, sondern mit völligem Glauben sollen wir uns auf Gott stützen und auf ihn allein. Und fürchte mich nicht. Sahen wir zuerst Furcht und Glauben in der Seele des Psalmisten, so nehmen wir hier wahr, wie der Glaube die Furcht vertreibt und das Feld allein behauptet, so dass nun der Sänger triumphierend ausruft: Was sollte mir Fleisch tun? Ja, was in der Tat? Nichts kann mir wirklich schaden; alle Anschläge der Bosheit werden mir schließlich nur zum Besten dienen. Die Menschen sind Fleisch, und Fleisch ist wie Gras; in deinem Namen, HERR, biete ich all dem Wüten der ohnmächtigen Kreatur Trotz. Erst hatten wir zwei Vers voller Klage, nun finden wir zwei voll Vertrauens. Es ist gut, zum Sauren das entsprechende Teil Süßigkeit zu fügen; dann gewinnt das Herbe Wohlgeschmack.


6. Täglich fechten sie meine Worte an;
all ihre Gedanken sind, dass sie mir übel tun.
7. Sie halten zuhauf und lauern
und haben Acht auf meine Fersen, wie sie meine Seele erhaschen.

6. Täglich (Grundtext: den ganzen Tag, d. i. immerfort) fechten sie meine Worte an.4 Das ist so Sitte bei den Gottlosen. Sie spannen unsere Worte auf die Folter und zwingen Deutungen heraus, die man billigerweise nicht darin suchen sollte. In dieser Weise entstellte man ja auch die Worte des Heilands über den Tempel seines Leibes, und unzählige von den Anklagen, die man je und je gegen die Knechte des HERRN geschleudert hat, beruhen auf gleicher absichtlicher Verdrehung. Leute, die dies zu ihrem täglichen Geschäft machen, erlangen darin eine große Kunstfertigkeit. Der Wolf kann in den Worten des Lammes stets einen Grund finden es zu verschlingen. Man kann sogar aus Gebeten Gotteslästerungen machen, wenn man sie das Unterste zu oberst gekehrt liest. All ihre Gedanken sind, dass sie mir übel tun. Auch nicht ein Zug des Wohlwollens oder doch des Mitleids mischte sich in ihre Gedanken über David. Ob sie ihn als König, als Dichter, als Menschen, als Vater, als Kriegsmann oder als Dulder ansahen, es war immer dasselbe, sie sahen durch ihre gefärbte Brille und konnten nicht einen edeln Gedanken gegen ihn fassen. Ihr ceterum censeo war: "Hinweg mit diesem", und Tag und Nacht sannen sie darüber, wie sie ihm Böses zufügen und ihn gänzlich vernichten könnten.

7. Sie halten zuhauf, sie rotten sich zusammen. Feuerbrände brennen desto stärker, wenn sie zusammengehäuft werden. Die Bösewichter fürchten sich, dem Biedern zu begegnen, bis sie ihn mit gewaltiger Übermacht erdrücken können. Heraus ihr Feiglinge, Mann für Mann dem Recken entgegen! Nein, ihr wartet, bis ihr wie eine Räuberbande zuhauf versammelt seid, und auch dann wollt ihr ihn nicht in offenem Kampfe, sondern hinterrücks anfallen. Mut kennt ihr nicht! Sie lauern. Im Hinterhalt warten sie auf den günstigsten Augenblick. Böse Menschen sind stets Memmen. Wer seinem Gegner nicht auf offener Straße zu begegnen wagt, brandmarkt sich selber als Schurken. Auch noch zu unseren Zeiten ist es etwas Alltägliches, dass der gute Ruf ehrlicher Leute mit heimlichen Schlichen und teuflischen Ränken angegriffen wird; das sind die ehrlosen Waffen, mit welchen vermummte Feinde im Dunkeln ihr Werk tun. Sie haben Acht auf meine Fersen, wie der Jäger auf die Spuren des Wildes. Boshafte Menschen beweisen sich oft wunderbar scharfsichtig im Aufspüren wirklicher oder nur angedichteter Fehler der Gerechten. Nicht alle Spione und Spitzel stehen im Sold irdischer Regierungen; nicht wenige von ihnen werden ihren Lohn in glühendroter Münze von dem zu bekommen haben, der listiger ist als alle Tiere auf dem Felde. Wie sie meine Seele erhaschen, Grundtext: wie sie denn auf meine Seele (mein Leben, nämlich es zu vertilgen,) harren. Ihr Verlangen und Hoffen, dem ihr Vorgehen entsprach, ging auf nichts Geringeres, als ihm das Leben zu nehmen. Nur sein zeitliches und ewiges Verderben konnte ihre Gier sättigen. - David war kein Tor, er sah, dass er Feinde hatte, dass ihrer viele waren und dass sie an List und Bosheit gleich zu fürchten waren. Er erkannte, in welcher Gefahr er schwebte, und zeigte darin seine Klugheit, dass er seine ganze Not vor dem HERRN ausbreitete und sich unter göttlichen Schutz stellte.


8. Sollten sie mit ihrer Bosheit entrinnen?
Gott, stoße solche Leute ohne alle Gnade hinunter!
9. Zähle die Wege meiner Flucht,
fasse meine Tränen in deinen Krug. Ohne Zweifel, du zählest sie.
10. Dann werden sich meine Feinde müssen zurückkehren;
wenn ich rufe, so werde ich inne, dass du mein Gott bist.


8. Sollten sie mit ihrer Bosheit entrinnen? Sie sprechen: Ja, es soll uns gelingen. Aber kannst du, HERR, das zulassen? Sie verleumden den Redlichen, um sich selber zu schützen, und suchen ihn zu stürzen, um sich selber zu erheben; sollten sie sich mit solcher Schändlichkeit der rächenden Gerechtigkeit entziehen können? Bis jetzt haben sie es gar geschickt gemacht; aber wird ihrem schnöden Spiel nicht ein Ende gemacht werden? Gott, stoße solche Leute5 ohne alle Gnade hinunter! Hinab mit ihnen vom Tarpejischen Felsen! Wenn Menschen uns hinabzustürzen suchen, so ist es nur natürlich und nicht unstatthaft, zu bitten, dass ihnen die Ausführung ihrer niederträchtigen Anschläge unmöglich gemacht werde. Was Gott so oft schon getan hat, das dürfen wir getrost auch in unserm Fall erbitten. Davids Bitte geht freilich weiter. Dass sich aber solch schreckliches Gericht an den Feinden des Volkes Gottes vollziehen wird, haben wir schon im vorigen Psalm 55,24 gelesen.

9. Du zählest mein Flüchtigsein, mein Flüchtlingsleben. (Grundtext) Bei dir wird keiner der Tage (Targum) meiner Verbannung vergessen, und du kennst auch alle Wege (Luther) meiner Flucht, alle meine Irrfahrten. Jeder Fußtritt, welchen der Flüchtling machte, da er von seinen Feinden so hart verfolgt wurde, ward von Gott nicht nur beobachtet, sondern auch des Zählens und Aufzeichnens (beides liegt in dem Wort des Grundtextes) wert befunden. Nach langen Irrfahrten der Trübsal sind wir vielleicht so verwirrt, dass wir selber kaum mehr wissen, wo wir überall gewesen oder nicht gewesen sind; aber unser allwissender und so zärtlich besorgter himmlischer Vater erinnert sich auch des Kleinsten. Er zählt es alles so genau wie Menschen ihr Gold; denn in seinen Augen ist die Prüfung unseres Glaubens überaus kostbar. Das ist Davids Trost: das Du ist betont. Fasse meine Tränen in deinen Krug. Hiermit sind nicht die kleinen Tränenkrüglein gemeint, welche von den alten Römern6 bei Beileidsbesuchen oder Beerdigungen gebraucht wurden, sondern es ist ein derberes Bild, das David hier anwendet: nach dem Grundtext redet er von einem Schlauch, dem im Morgenlande üblichen Gefäß zum Aufbewahren oder Fortschaffen größerer Mengen von Milch, Wein, Wasser und dergl. Der Ärmste hatte solche Mengen von Tränen geweint, dass es gleichsam eines großen Lederschlauchs bedurfte sie zu fassen. David ist der guten Zuversicht, dass der HERR es der Mühe wert halten werde, seine Tränen aufzufangen und aufzubewahren, etwa wie Menschen den köstlichen Saft der Trauben, und er hofft, das Gefäß, in das sie gesammelt werden, werde ein ganz besonderes sein: dein Schlauch, nicht irgendein beliebiger. Ohne Zweifel, du zählest sie, oder: Stehen sie nicht in deinem Buche7 verzeichnet? Ja gewiss, dort sind sie angemerkt; aber lass nicht nur dies Verzeichnis meiner Leiden, sondern die Leiden selbst als lebendige Tatsachen vor dir gegenwärtig sein, denn diese bewegen das Herz stärker als tote Zahlen und Buchstaben eines Registers, so genau dieses auch sei. Wie herablassend ist der HERR doch, wie genau kennt er uns und alle Umstände unseres Lebens, wie großmütig ist er in seinen Schätzungen, wie liebevoll achtet er auf uns!

10. Dann werden sich meine Feinde müssen zurückkehren, wenn ich rufe.8 Nicht immer ist der Erfolg unserer Gebete augenblicklich sichtbar; aber sie wirken dennoch kräftig. Es gibt Zeiten, wo wir mit den Heiligen, deren die Welt nicht wert war, im Elend gehen müssen in den Wüsten, auf den Bergen und in den Klüften und Löchern der Erde (Hebr. 11,38) und uns nur des getrösten können, dass der HERR jeden unserer Schritte kennt und unsere Tränen zählt; aber diese Zeiten sind die Vorbereitung auf andere, in denen wir die Erhörung unserer Gebete mit Händen greifen können und die Feinde fliehen müssen, sowie unser Ruf um Hilfe zu Gott emporsteigt. Der HERR treibt uns durch seinen Geist zum Beten, wir schreien zu ihm in der Angst unsers Herzens, er hört, er greift ein, und der Feind wird zurückgeschlagen - alles in einem Augenblick. Welch unbezwingliche Artillerie, die die Schlacht zur Entscheidung bringt, sobald ihr Donner erschallt! Welch ein Gott, der auf jeden Schrei seiner Kinder lauscht und sie in einem Nu von den mächtigsten Widersachern errettet! Das weiß ich, dass Gott für mich ist. (Grundtext) Das ist eine der unwandelbaren Grundfesten der Gläubigen. Mögen jetzt auch noch meine Feinde mich drängen und mich scheinbar zum Spielball ihrer Gelüste machen können, das weiß ich dennoch, dies eine ist mir unumstößlich gewiss, dass Gott mir beisteht. Ja, das wissen wir, dass Gott für uns ist, und darum auch, dass niemand wider uns sein kann, der es wert wäre, auch nur einen Augenblick von uns gefürchtet zu werden. Was sollten wir uns denn nach anderen Helfern umsehen, da Gott auf unserer Seite ist, dieser mächtige Bundesgenosse, der bei uns ist, sobald wir das verordnete Signal geben, mit welchem wir beides, unsere Not und unser Vertrauen auf ihn, anzeigen?


11. Ich will rühmen Gottes Wort,
ich will rühmen des HERRN Wort.
12. Auf Gott hoffe ich und fürchte mich nicht;
was können mir die Menschen tun?
13. Ich habe dir, Gott, gelobt,
dass ich dir danken will.
14. Denn du hast meine Seele vom Tode errettet,
meine Füße vom Gleiten,dass ich wandeln mag vor Gott im Licht der Lebendigen.


11. Nachdrücklich wird in diesem und dem folgenden Vers der fünfte Vers wiederholt, und zwar, wie bei den meisten dieser Kehrverse in den Psalmen, mit kleinen Änderungen. Die Ausleger sind geteilter Meinung, wie man übersetzen müsse. Meint David: Durch Gott (dank der Erfahrung seiner Hilfe) werde ich das (göttliche) Wort preisen? Nun, dann will er uns zeigen, dass alles göttliche Empfinden in Gott seine Quelle hat. Oder haben wir zu übersetzen: Gott rühm’ ich, das Wort, so dass der Dichter etwa sagen wollte: Das, was mich, sowie ich Gottes gedenke, am meisten zum Lob stimmt, ist sein Verheißungswort und die Treue, womit er sich zu diesem hält? Ist diese Auffassung die richtige, dann lernen wir hieraus, wie sehr unser Herz an den Verheißungen hangen sollte. Es ist dem Psalmisten ein solcher Genuss, bei dem Lobe Gottes und seines Wortes zu verweilen, dass er den Gedanken sogar zweimal in diesem einen Vers ausspricht.

12. Auf Gott habe ich mein Vertrauen gesetzt. (Grundtext) Wir können nicht zu besorgt sein, ob unser Glaube auch echt sei, und nicht zu genau prüfen, ob er sich wohl einzig auf den HERRN gründe. Und fürchte mich nicht; was können mir die Menschen tun? "Das Wort, das Wort," sagt Tholuck, "steht vor seiner Seele, darauf tritt er, wie auf einen hohen Felsen, an dessen Fuß sich die Wellen brechen, und ruft kühn in alle Welt hinaus: Was können mir Menschen tun?" Er nennt seine Feinde nicht mehr Fleisch (V. 5): sie sind keine bloßen Fleischklumpen, sondern Menschen, welche die Vernunft, die Gott ihnen gegeben hat, schrecklich missbrauchen können. Aber ob sich auch die ganze Menschheit wider ihn erhöbe, so will er sich doch nicht vor ihnen grauen lassen, nun, da seine Zuversicht fest auf Gott gegründet ist. Er fürchtet sich nicht vor dem, was sie ihm anzutun drohen, denn das meiste davon werden sie nicht ausführen können; und selbst dem, was zu tun in ihrer Macht steht, bietet er mit heiliger Kühnheit Trotz.

13. Ich habe dir, Gott, gelobt, Grundtext: Mir liegt (als Pflicht) auf, d. h. ich schulde dir, Gott, was ich dir gelobt habe. Er ist sich dessen wohl bewusst, dass er die Gelübde, welche er in seiner Not abgelegt hat, Gott zu erfüllen schulde. Auch wir sollten solche Versprechungen nicht leichtsinnig behandeln. Freiwillig haben wir sie abgelegt, nun lasst sie uns auch freudig halten. Alle, die ein Bekenntnis ihres Glaubens an Christus als ihren Heiland abgelegt haben, sind durch ihr Gelübde gebunden, zwiefach aber solche, die sich in Stunden bitterster Not aufs Neue dem HERRN geweiht haben. Dieser so häufig geübte Brauch, in Zeiten der Trübsal feierliche Gelübde zu machen, ist nur dann zu empfehlen, wenn er durch die viel weniger allgemeine Gewohnheit ergänzt wird, das Gelobte zu halten, wenn die Not vorüber ist. David will nicht nur das tun, sondern zu den Gelübdeopfern auch noch freiwillige Opfer fügen: Ich will dir Dankopfer bezahlen. (Grundtext) Wie mit Herz und Mund, so sollen wir auch mit Dankesgaben freudig den Gott unseres Heils preisen. Schon David wusste, dass der Herr seiner Gaben nicht bedürfe und sie ohne Herzensdank gar nicht annehme; aber wir sehen, es war ihm nicht, wie leider manchen Christen, darum zu tun, so billig als möglich von seiner Dankesschuld loszukommen.

14. Schwerlich sind die beiden Schlussverse erst nach der Rettung hinzugefügt, sondern dass der Dichter hier redet, als hätte er schon die Hilfe erfahren, fließt aus seinem lebendigen Glauben, der das noch Zukünftige als schon geschehen schaut. Wir begegnen dieser Sprache so oft in den Psalmen, uns Kleingläubigen zur tiefen Beschämung. Mitten in der Not stimmt David das Loblied an. Denn du hast meine Seele, d. i. mein Leben, vom Tode errettet, ja auch meine Füße vom Sturz. (Grundtext) Es würde uns wenig frommen, unser Leben weiter zu fristen, wenn unsere Feinde uns zum Sturz bringen könnten. Lieber nicht mehr leben, als ehrlos leben und vor den Feinden hingestreckt liegen. David aber weiß sich durch Gottes Gnade zu Besserem erhalten: Dass ich wandeln mag vor Gott im Licht der Lebendigen (oder: des Lebens). So herrlich war Gottes Absicht bei seiner Rettungstat: David sollte wie ein Henoch, ein Noah und andere Heilige vor Gott wandeln und in der Huld und Nähe Gottes die Freude und das Glück seines Lebens finden. In der Freiheit der Erlösten zu wandeln, in heiligem Dienst vor Gott und in seliger Gemeinschaft mit ihm, in stetigem Fortschreiten in der Heiligung und in dem Licht des freundlich leuchtenden Angesichts unseres Gottes - das ist unser Beruf, das sei unser Streben! Wir sind in diesem kurzen Psalm mit David wahrlich hoch hinaufgeklommen: im Anfang war er mitten in dem Rachen seiner blutdürstigen Feinde - jetzt weilt er in dem Licht der Nähe Gottes. Den Pfad kann nur der Glaube finden und ersteigen.


Erläuterungen und Kernworte

V. 2. Sei mir gnädig. Dies ist der zweite Psalm, der mit dem Miserere beginnt. Der 51. ist der erste, der 57. der dritte. C. H. Spurgeon.
  Menschen. Der Dichter drückt sich hier wohl zu dem Zweck in so unbestimmter, allgemeiner Weise aus, um dadurch die Wahrheit hervorzuheben, dass die ganze Welt gegen ihn verbündet sei, dass er bei den Menschen keine Menschlichkeit mehr finde und darum der göttlichen Hilfe aufs dringendste bedürfe. Jean Calvin † 1564.
  Täglich. Uns dämmert hienieden kein Morgen, an dem wir mit der Überzeugung uns von unserm Lager erheben und in das Weltgetriebe hinaustreten können, dass uns an dem Tage kein Feind anfechten werde. Ebenso wenig dürfen wir einen Abend erwarten, an dem wir uns mit der Gewissheit aus dem Gewühl der Welt zurückziehen könnten, dass uns nun in der einsamen Kammer nichts Böses nahen könne. Barton Bouchier 1855.


V. 3. Die mich von oben her angreifen (wörtl.) und als Habichte die Taube (V. 1) erhaschen wollen. Friedr. Chr. Oetinger 1775.


V. 4. Es scheinen zwar Furcht und Hoffnung entgegengesetzte Affekte zu sein, die nicht in demselben Herzen wohnen können; aber die Erfahrung zeigt, dass erst da wahrhaft die Hoffnung herrscht, wo die Furcht einen Teil des Herzens einnimmt. Wo das Gemüt ruhig ist, da hat die Hoffnung keine Stätte, sondern ist wie eingeschlummert. Sie zeigt ihre volle Kraft erst da, wo sie das durch Sorgen niedergeworfene Gemüt aufrichtet, das durch Bekümmernis beunruhigte beruhigt. Jean Calvin † 1564.
  Fürchten. Ach, wer kennt keine Furcht? Aber was willst du denn machen, wenn du dich fürchtest? Ei, tu, was du früher getan hast: traue auf den HERRN, glaube allezeit, glaube jetzt. So macht es David hier. Es ist, als sagte er: Was soll ich doch tun? Ich will nur den alten bewährten Weg einschlagen, will mich auf Gottes Gnade und Verheißung werfen, will die Last, die mein Gemüt bedrückt, auf ihn wälzen (Ps. 55,23), will mich aufs Neue an ihn klammern und alles von ihm erwarten. So war David stets mit Schild und Schwert des Glaubens gewappnet und konnte darum diese Waffen gebrauchen, sooft Furcht und innere Anfechtungen auf ihn eindrangen. Elias Pledger † 1676.


V. 4.5. Der Herr Jesus selbst war in seinem Leiden nicht ohne Furcht (Hebr. 5,7). Desto größer aber ist die Geduld, die durchbricht und über dem Wort Gottes und Gebet hält. Die Furcht wird erst bös, wenn sie einem das Wort Gottes vernichtet. Aber wo man wie David gleich das Wort der Geduld ergreift und darüber hält: "Ich will Gottes Wort rühmen", da wird die Furcht überwunden, oder was davon übrigbleibt, fordert einem vielmehr der Weg der Geduld ab. Denn da muss man sich es gefallen lassen, dass die Hilfe Gottes nicht so eilend hereinbricht, sondern dass einem nur ein Wort Gottes zum Trost angeboten wird. Wie sich nun einer gegenüber dem Wort Gottes verhält, so hat er es zu genießen oder zu entgelten. Wer mit David Gottes Wort rühmet, mit dem Trost durch das Wort einstweilen vorlieb nimmt, der kann die Furcht überwinden und die Hilfe abwarten. Wer aber allen ungläubigen Ausflüchten gegen das Wort Gottes Gehör gibt und sich das Sitzen bei diesem oft in einem dunkeln Ort scheinenden Licht verdrießlich werden lässt, der bricht damit die Verbindung zwischen dem Herzen Gottes und seinem Herzen ab und wird in seines Herzens Dunkel gelassen. Karl H. Rieger † 1791.


V. 5. Ich will Gottes Wort rühmen. "Saul und die weltlichen Potentaten mögen ihr Kriegsheer, hunderttausend Mann, und ihre Munition rühmen, ich will Gottes Wort und Verheißung rühmen, die sind meine Kriegsmacht, meine Festung und mein Schutz. Jene verlassen sich auf Wagen und Rosse, wir aber denken an den Namen des HERRN." Johann Arnd † 1621.
  Der Grundtext besagt wohl: Durch den Beistand Gottes werde ich instand gesetzt sein, ihn für die Erfüllung seiner Zusagen zu preisen. Bischof Symon Patrick † 1707.
  Fleisch: ist unsers HERRN Gottes Heu, Jes. 40,6. Wer kann es glauben, dass er, der Papst, der Türk, Fleisch sind und des HERRN Gras oder Heu? Ägypten ist ein Mensch und nicht Gott. Seine Rosse sind Fleisch und nicht Geist, Jes. 31,3. Solches zeucht sich alles nach dem ersten Gebot. Martin Luther † 1546.
  Fürchte die Menschen nicht, sie sind nur Fleisch. Du brauchst und sollst sie nicht fürchten. Wie, auch jenen Mächtigen nicht, auch diese vielen nicht, sie nicht, die die Schlüssel aller Kerker an ihrem Gurt haben, sie nicht, die töten oder lebendig behalten können? Nein, auch diese sollst du nicht fürchten. Nur gib acht, dass sie dir um Gerechtigkeit willen feind seien. Hüte dich, dass du auch nicht das geringste Kind zu deinem Feinde machest, indem du ihm Unrecht tust; Gott richtet das Böse auch an seinen Heiligen. Wenn sie Unrecht tun, so finden sie unter Gottes Flügeln keinen Schutz für ihre Sünde. Das war die Klage des Hieronymus, dass die Sünden der Christen den Barbaren, welche in die christlichen Länder eindrangen, zum Siege verhülfen: Nostris peccatis fortes sunt barbari. Aber wenn der Hass der Menschen dir auf Gottes Wegen entgegentritt und ihr Zorn sich an deiner Heiligkeit entzündet, dann brauchst du dich nicht zu fürchten, ob auch dein Leben die Beute ist, nach der sie jagen. Fleisch kann nur Fleisch verwunden; die Menschen können dich wohl töten, aber nicht dir schaden. Wie solltest du fürchten, dessen beraubt zu werden, was du bereits Christo übergeben hast? Der Feind kommt zu spät: du hast kein Leben mehr zu verlieren, weil du es bereits an Christus ausgeliefert hast; und selbst dein zeitliches Leben kann dir niemand ohne Gottes Zulassung nehmen. Alles, was du hast, ist versichert, und wiewohl Gott dir keine Freiheit von Leiden solcherart zugesagt hat, so hat er es doch übernommen, den Verlust auf seine Rechnung zu nehmen und dir hundertfältig zu vergelten, und das nicht erst in jener Welt. Also brauchst du dich nicht zu fürchten; aber du sollst dich auch nicht fürchten. Sieh, wie der Heiland uns in den sechs Versen Mt. 10,26-31 dreimal befiehlt, uns nicht vor den Menschen zu fürchten. Wenn dein Herz schon vor den Staubgeborenen zittert, was wirst du dann machen, wenn du es mit dem Satan zu tun hast, dessen kleiner Finger dicker ist als eines Menschen Lenden? Kämpfe, in denen wir es nur mit Menschen zu tun haben, sind vergleichbar den Fechtübungen mit stumpfen Waffen, womit sich die Krieger zum scharfen Gefecht vorbereiten. Wenn du nicht einmal einen Striemen an deinem Fleisch von den stumpfen Waffen eines Menschen ertragen kannst, was wirst du machen, wenn Satans Schwert dir in die Seite fährt? Gott rechnet es sich zur Unehre, wenn seine Kinder sich vor den erbärmlichen Menschen fürchten; darum werden wir ermahnt, uns vor ihrem Trotzen nicht zu fürchten und nicht zu erschrecken, sondern Gott, den HERRN, in unseren Herzen zu heiligen. (1. Petr. 3,14 f.; Jes. 8,12 f.) William Gurnall † 1679.
  Ich mache mir weder aus Sichtbarem noch aus Unsichtbarem mehr etwas, wenn ich nur Christus gewinne. Mag der Scheiterhaufen oder das Kreuz mein Los sein, mag man wilde Tiere auf mich loslassen, mir alle Gebeine zerbrechen, die Glieder ausrenken, den ganzen Leib zermalmen, mögen alle Teufel mich martern, - es geschehe, wenn ich nur Christus gewinne. Ignatius von Antiochien, Märtyrer, † 115.
  Menschenfurcht, dieser bluttrunkene, grimmige Götze, wie viele Seelen hat er verschlungen, wie viele in die Hölle hinabgestoßen! Seine Augen blicken voll Hasses auf die Jünger Christi, Spott lauert in seinen Blicken, Hohnlachen kollert in seinem Halse. Haut diesen Götzen um! Er ist es, der so viele unter euch davon abhält, des Gebets zu pflegen, im Kreise der Familie Andacht zu halten, zu eurem Seelsorger zu gehen, um ihm euer Herz auszuschütten, wie auch davon, Christus öffentlich zu bekennen. Ihr, die ihr Gottes Liebe und das Wirken seines Geistes an eurem Herzen erfahren habt, zertrümmert diesen Götzen! Wer bist du denn, dass du dich vor Menschen fürchtest, die doch sterben, und vor Menschenkindern, die wie Gras vergehen? (Jes. 51,12) Fürchte dich nicht, du Würmlein Jakob! (Jes. 41,14) Robert Murray MacCheyne † 1843.
  Der Glaube erstarkt im Kampfe zum Helden; ob er auch mit geringem Mute in den Kampf gezogen ist und im ersten Treffen gewankt hat, so wird er doch immer kühner und dringt immer gewaltiger auf den Gegner ein, bis dieser ihm endlich unter den Füßen liegt. Siehe V. 2-5 dieses Psalms. David Dickson † 1662.


V. 6. Sie martern meine Worte. (Grundtext) John Jewell † 1571, Bischof von Salisbury, einer der bedeutendsten englischen Theologen der Reformationszeit, brauchte bei seinem Sterben, das in Übereinstimmung mit seinem Leben sehr gottselig war, den Schlussvers des Te Deum: "Auf dich hoffen wir, lieber HERR; in Schanden lass uns nimmermehr", worauf die Päpstlichen, mit Unterdrückung des die Zuversicht des Glaubens ausdrückenden Vordersatzes, verbreiteten, der Hauptkämpfer der Ketzer habe in seinen allerletzten Worten gestanden, er sei zuschanden geworden. Francis Bacon von Verulam † 1626.
  Mein Flüchtigsein zählst du. (Grundtext) Reinhard Bake zählt 14 Fluchtzeiten in Davids Leben. - James Millard


V. 9. Fasse meine Tränen in deinen Krug. Unter vielen anderen interessanten Sachen hatte Herr Abott in Kairo auch ein Lacrymatorium oder einen Tränenkrug, der in einem Grabe in Theben gefunden worden war. Diese Antiquität interessierte mich sehr. Es war in alten Zeiten Sitte, ein solches Tränenkrüglein mitzunehmen, wenn man einen Freund besuchen ging, der krank oder in großer Trübsal war. Wenn dann die Tränen dem Leidenden über die Wangen flossen, fing man sie in dem Krüglein auf, versiegelte dies und hob es als Erinnerung auf. Auf diese Sitte bezieht sich wohl auch David in Ps. 56,9. John Gadsby 1862.
  Vergl. Paul Gerhardts Lieder: Ich singe dir mit Herz und Mund

Du zählst, wie oft ein Christe wein’ und was sein Kummer sei;
Kein Zähr- und Tränlein ist so klein, du hebst und legst es bei.

Ferner: Gib dich zufrieden, besonders die Zeilen aus

Er zählt den Lauf der heißen Tränen und fasst zuhauf all unser Sehnen.
Er hört die Seufzer deiner Seelen und des Herzens stilles Klagen, usw.

  Es war eine kostbare Salbe, mit der die Sünderin in dem Hause des Pharisäers die Füße Jesu salbte; aber die Tränen, mit welchen sie sie netzte, waren für den Heiland noch von weit größerem Wert als die köstliche Salbe. Abraham Wright 1661.
  Was für eine Rechnung wird das einst geben, wenn Gott alle Tränen unterdrückter Unschuld den Unterdrückern und Gewalttätigen vorhalten wird! Prof. August Tholuck 1843.


V. 10. Wenn ich rufe. Unseren geistlichen Feinden ist es noch viel grausiger, wenn der Gebetsruf einer gläubigen Seele zu Gott emportönt, als der Kriegslärm der Indianer dem von ihm überraschten feindlichen Stamme ist. Adam Clarke † 1832.
  Es war viel, dass David auf sein Gebet hin von seinen Feinden befreit wurde (Ps. 18,4); da sehen wir die defensive Macht des Gebets. Aber mehr noch ist, dass das Gebet auch eine offensive Macht ist, dass es die Feinde zu Boden wirft und in die Flucht schlägt, wie wir es hier sehen: sie müssen sich zurückkehren. Jeremiah Dyke † 1620.
  Das weiß ich. (Grundtext) Der Glaube fußt auf Felsengrund; er ist nicht ein der Fehlbarkeit unterworfenes Vermuten, sondern ein sicheres Wissen. David Dickson † 1662.


V. 14. Wandeln vor Gott, das heißt zunächst unter Gottes Augen, unter Gottes Fürsorge wandeln; sodann auch da wandeln, wo Gott gegenwärtig zu sein pflegt, wo er von seinem Volke angebetet wird und seine Segnungen triefen lässt, - im Gegensatz zu der gegenwärtigen Lage Davids, da er fern von dem Heiligtum weilen musste. Vergl. 1. Samuel 26,19 f. Wandeln im Licht der Lebendigen heißt im Allgemeinen: leben unter denen, die im Licht leben oder die das Licht im Lande der Lebendigen genießen, vergl. Ps. 27,13; Jes. 38,11; 53,8; Ps. 142,6, im Gegensatz zu den Toten, die in der Finsternis wohnen. Aber namentlich bedeutet es: in einem Zustand der Sicherheit und des Gedeihens leben, wovon das Licht ein bekanntes Bild ist. Hermann Venema † 1787.
  Im Licht der Lebendigen wandeln heißt nichts anderes als das Sonnenlicht genießen und leben. Doch schafft der Beisatz "vor Gott " eine Unterscheidung. Die Gläubigen stehen auf der einen Seite, die ihr Leben stets in Beziehung zu Gott setzen; auf der anderen Seite sind die Gottlosen, die unstet und flüchtig umherirren, weil sie dem HERRN den Rücken kehren, wenn sie auch dem Blick seiner Augen nicht entgehen können. Jean Calvin † 1564.
  Wir können den Sinn dieser Worte nicht auf das Licht des sterblichen Lebens beschränken. Davids Gelübde verbanden ihn zu einem Wandel im Lichte des geistlichen und ewigen Lebens, an dem er durch den Glauben teilhatte. W. Wilson 1860.


Homiletische Winke

V. 2-4. 1) Furcht kommt jeden an zu der einen oder andern Zeit. 2) Oft wendet man unpassende und unwirksame Mittel zur Vertreibung der Furcht an. 3) Hier aber wird uns die einzig richtige und unfehlbar wirksame Weise gezeigt. Robert Morrison † 1834.
V. 4. 1) Was heißt auf Gott trauen? a) Das Herz in Zucht nehmen, dass es sich nicht dem Verzagen preisgebe, nicht in der Furcht versinke; b) sich Gottes getrösten; c) von ihm Hilfe erwarten. 2) Worauf soll sich unser Gottvertrauen gründen? a) Auf Gottes Verheißungen, b) auf seine Vollkommenheiten: seine Macht, Weisheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Allgenügsamkeit. 3) Warum sollen wir in allen Ängsten auf Gott unser Vertrauen setzen? a) Weil niemand anders uns von unserer Furcht befreien kann, dagegen b) es keine Furcht gibt, von der uns Gott nicht befreien könnte, sei es, dass er das, was uns Furcht einflößt, hinwegräumt, oder aber uns die Furcht aus dem Herzen nimmt. Bischof William Beveridge † 1708.
  1) Es gibt eine Furcht ohne Glauben. 2) Es gibt einen Glauben ohne Furcht. 3) Oft aber sind Furcht und Glaube miteinander im Herzen. George Rogers 1872.
V. 5a. 11. 1) Gott steht zu seinem Wort. (Dank der Hilfe Gottes werde ich sein Wort rühmen. Grundtext) 2) Darum lasst uns zu seinem Wort stehen, indem wir a) ihm unbedingt glauben, b) seine Zuverlässigkeit dankbar rühmen.
V. 5b. 12. Der Glaube an Gott das Heilmittel wider die Menschenfurcht.
V. 8. Es gibt wohl ein Entrinnen aus der Sünde, aber nicht ein Entrinnen vor Gottes Gerichten trotz der Sünde oder mittelst der Sünde. Die Barmherzigkeit Gottes sichert uns das erstere, die Gerechtigkeit Gottes verhindert das letztere. George Rogers 1872.
V. 9. Der Trost, dass Gott sich um alle Einzelheiten unsers Lebens in mitleidiger und helfender Liebe kümmert.
V. 10. 1) Die Tatsache, dass Gott für mich ist. (Grundtext) 2) Die Überzeugung von dieser Tatsache: Dies weiß ich. 3) Die rechte Anwendung dieser Überzeugung: Ich rufe. 4) Die Folgen dieser Anrufung: Meine Feinde müssen sich zurückkehren. George Rogers 1872.
V. 13. 1) Die Gelübde vergangener Tage. 2) Die Pflicht der Gegenwart, jene Gelübde zu bezahlen. 3) Neues Gelöbnis für die Zukunft.
V. 14. Die Sprache 1) der Dankbarkeit: Du hast usw.; 2) des Glaubens: dass ich wandeln mag; 3) der Hoffnung: vor Gott im Lichte der Lebendigen. George Rogers 1872.

Fußnoten

1. Alle Alten übersetzen allerdings hier V. 2.3 sowie 57,4 zermalmen; ebenso Bäthgen, Kautzsch u. a., indem sie P)a$f mit persönl. Akkusativobjekt gleich PW$ zermalmen nehmen. Andere halten auf Grund von Amos 8,4; Hes. 36,3 die Bedeutung nachstellen fest.

2. Menschen, die Wolfsgestalt angenommen haben.

3. Wenn man nämlich mit Delitzsch u. a. MyrirAO$ hier wie 5,9 f. als verkürztes part. pol. von rW$ umhergehen, lauern auffasst. Die meisten halten es jedoch für eine Nebenform zu MyrirAOc part. kal von rracf bedrängen, befeinden.

4. Andere übersetzen: Täglich schädigen sie meine Sache.

5. Grundtext: Stürze im Grimm (die) Völker nieder, Gott. Das Gericht ist Sache des Weltrichters, daher der allgemeine Ausdruck Völker, unter welchem alle Verfolger Davids und der Frommen überhaupt, Saul, die Philister usw., zusammengefasst sind.

6. Nach Thomson hat man sie übrigens auch in Palästina gefunden.

7. hrfp:si ist wahrscheinlich nicht abstractum, Zählung, sondern = rpes" Buch.

8. )rfq:)e MwÆybI: gehört nach den Akzenten zum ersten Versgliede. - z)f bezieht sich schwerlich auf "am Tage, da ich rufe", da dieses zu sehr nachschleppen würde. Es wird eher mit V. 9 in Beziehung stehen und mehr ein logisches als ein zeitliches Verhältnis ausdrücken, wie z. B. 40,8; Jer. 22,15: Daraufhin, demnach, infolge dessen, dass du mein Elend so vermerkst.