Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 65 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Auch dieser Psalm ist dem Vorsteher der Tempelmusik zum Einüben und Aufführen überwiesen. Wenn jemand seine Sache gut macht, hat es keinen Zweck, aus bloßer Veränderungssucht einen andern mit dessen Aufgaben zu betrauen. Ein Psalm Davids, ein Lied. Wir haben also ein religiöses lyrisches Gedicht vor uns. Bei zwei Psalmen, dem 30. und dem 48., haben wir bereits eine ähnliche Bezeichnung gefunden, und nun folgt eine Reihe von vier solchen zum Gesang besonders geeigneten Dichtungen. Es war geziemend, dass auf Psalmen, welche besonders der schmerzlichen Sehnsucht und dem Flehen Ausdruck gaben, solche freudigeren Tons folgen.

Inhalt
David besingt die Herrlichkeit Gottes, wie sie sich sowohl in der Gemeinde des HERRN als auch in der Natur offenbart. Wir hören hier also das Lob der Gnade und der Vorsehung. Es mag sein, dass David damit beabsichtigte, Gott für eine besonders reiche Ernte zu preisen oder ein Erntedanklied zum Gebrauche aller Zeiten zu dichten. Der Psalm scheint verfasst zu sein, nachdem auswärtige Feinde durch einen hervorragenden Sieg darnieder geworfen waren. Der Psalm ist eins der herrlichsten Lieder, die es überhaupt in irgendeiner Sprache gibt.

Einteilung. In V. 2-5 wird uns der Weg vorgeführt, auf dem man zu Gott nahen kann. V. 6-9 sehen wir Gott als Antwort auf Gebet Wunder tun, für die er gepriesen wird. V. 10-14 enthalten das eigentliche Erntelied.


Auslegung

2. Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion,
und dir bezahlt man Gelübde.
3. Du erhörest Gebet,
darum kommt alles Fleisch zu dir.
4. Unsre Missetat drücket uns hart;
Du wollest unsre Sünde vergeben.
5. Wohl dem, den du erwählest und zu dir lässest,
dass er wohne in deinen Höfen;
der hat reichen Trost von deinem Hause,
deinem heiligen Tempel.


2. Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion. Manche der älteren Ausleger (wie Kimchi, Calvin, die engl. Bibel) übersetzen: Auf dich wartet Lobgesang, Gott, zu Zion. Mag Babylon den Antichrist anbeten, Zion bleibt seinem König treu; ihm, und ihm allein, bringt es das ewige Opfer der Anbetung dar. Alle, die in Zion das Blut der Besprengung gesehen haben und sich der Gemeinde der Erstgeborenen angehörig wissen, können Zions nicht gedenken, ohne dem Gott Zions Lobpreis darzubringen; seine Wohltaten sind zu zahlreich und zu kostbar, um vergessen zu werden. Die Lobgesänge der Heiligen warten auf ein Zeichen von dem göttlichen Meister, und wenn er sein Angesicht zeigt, brechen sie alsbald mit Macht hervor. Gleich einem Chor, der versammelt ist, um einem Fürsten den Willkommen- und Ehrengruß zu bieten, und auf den Augenblick harrt, da er erscheint, so versparen wir unsere besten Lobgesänge, bis der Herr sich in der Versammlung seiner Heiligen offenbart, ja eigentlich bis zu dem Augenblick, da er vom Himmel her erscheinen wird. Der Lobpreis harrt auf des HERRN Gefallen und fährt fort, ihn zu loben, ob er uns nun gerade Zeichen seiner Huld gewähre oder nicht; er wird nicht bald müde, sondern singt die ganze Nacht hindurch in der gewissen Hoffnung, dass der Morgen kommt. Wir wollen fortfahren, singend zu harren und harrend zu singen, auch unter den Tränen dieser Zeit unsre Harfen stimmend; aber o welch herrliche Musik wird das sein, die wir einst anstimmen werden, wenn die Zeit gekommen ist, da der Herr in seiner Herrlichkeit erscheint und sein Volk zur ewigen Heimat dringt! - Diese Bemerkungen berühren sich mit der Übersetzung und Auslegung, welche Luther unserer Stelle gibt: Gott, man harret und lobet dich zu Zion (Übers. vom J. 1524), oder (nach der spätern Übers.): Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion, d. i. in Geduld, in stiller Ergebung. Andere (Jsaaki, Stier u. a.) meinen, die Worte seien zu fassen: Dir gilt Schweigen als Lobgesang, d.h. dir ist Schweigen das beste Lob. Und eine Gemeinde, die unter dem überwältigenden Eindruck der Barmherzigkeit Gottes in anbetendes Schweigen versänke, würde dadurch sicherlich Gott höher preisen, als es die schönsten Stimmen im Verein mit der feierlichsten Musik tun können. Doch sollen wir darum den Gesang nicht vernachlässigen; war doch auch dieser Psalm bestimmt, gesungen zu werden. Wir tun aber gut, ehe wir den Mund zum Singen öffnen, die Seele zu stiller Ergebung und gläubigem Harren zu stimmen und uns in Demut dessen bewusst zu werden, dass unser Lobpreisen, wenn es aufs höchste kommt, doch Jehovas Herrlichkeit gegenüber nur ein Schweigen ist.1
  Und dir bezahlt man Gelübde. Vielleicht sind bestimmte Gelübde gemeint, welche Israel in einer Zeit zwiefacher Not, nämlich der Dürre in Feld und Flur und der Kriegsdrangsal, abgelegt hatte. Sowohl Völker als auch christliche Gemeinden sollen ihre Versprechungen gegen den HERRN ehrlich und pünktlich einlösen; denn mit Gott kann man nicht ungestraft Scherz treiben. Dieselbe Pflicht haben die einzelnen. Wir sollen unsre Gelübde nicht vergessen oder sie nur einlösen, um von den Menschen gesehen zu werden; Gott sollen wir sie bezahlen, und unser Auge soll dabei einfältig auf Gottes Wohlgefallen gerichtet sein. Die Gläubigen haben alle ein Gelöbnis auf sich, das sie bei ihrer Bekehrung abgelegt haben, und manche von ihnen haben in ernsten Stunden besondere Verpflichtungen übernommen - nicht, um sich damit die Seligkeit zu verdienen oder eine höhere Stufe der Heiligkeit zu erreichen, sondern weil der Geist Gottes sie dazu trieb. Solche Verpflichtungen müssen treulich erfüllt werden. Wir sollten beim Versprechen sehr bedachtsam, im Erfüllen äußerst pünktlich sein. Ein nicht gehaltenes Gelübde brennt auf dem Gewissen wie ein glühendes Eisen. Handle es sich bei solchem Versprechen um den Dienst des HERRN, ums Geben oder Loben oder was es sei - nie sind Gelöbnisse Kleinigkeiten, über die wir leichten Sinnes hinweggehen dürfen. Ist die Zeit des Dankens da, so sollten sie nach allen unseren Kräften erfüllt werden und nichts daran fehlen.

3. Du erhörest Gebet. Gott hat nicht nur in vergangenen Zeiten Gebet erhört, er tut es jetzt und muss allezeit Gebet erhören, da er sich niemals ändert. Welch herrlicher Name ist das doch, der hier dem Gott und Vater unsers Herrn Jesus Christus beigelegt wird: der Gebetserhörer. (Man vergl. die Form des Grundtexts) Jedes rechte und aufrichtige Gebet wird so gewiss erhört, wie es dargebracht wird. Man beachte, wie der Dichter sich in diesem Psalm fort und fort unmittelbar an Gott wendet und mit ihm redet: er glaubt offenbar an einen persönlichen Gott; er betet nicht eine bloße Idee, einen unwirklichen Begriff an. Darum kommt alles Fleisch zu dir. Das ermutigt Menschen aus allen Nationen, dir, dem allein wahren Gott, ihre Bitten vorzutragen, der seine Göttlichkeit damit erweist, dass er denen antwortet, die sein Antlitz suchen. Fleisch sind sie und darum schwach; gebrechlich und sündig, darum haben sie das Beten nötig; und du bist solch ein Gott, wie sie ihn brauchen, denn du bist mitleidig und neigst dich zu dem Flehen der armen, ohnmächtigen Geschöpfe. Viele kommen jetzt zu dir in demütigem Glauben und werden mit Gutem gesättigt; aber noch mehr werden durch die Anziehungskraft deiner Liebe zu dir gezogen werden, und zuletzt wird die ganze Welt dir zu Füßen liegen. Zu Gott kommen ist der Kern aller wahren Religion; wir kommen zu ihm reuevoll, Vergebung bei ihm suchend, aber auch hoffnungsvoll, seine Gaben erflehend, des Dankes voll, für seine Wohltaten ihn preisend, freudevoll, uns seinem Dienst weihend. Falsche Götter müssen mit der Zeit ihre enttäuschten Verehrer verlieren, denn wenn die Menschen erleuchtet werden, lassen sie sich nicht länger zum Besten halten; wer immer aber den wahren Gott auf die Probe stellt, wird durch seinen eigenen Erfolg ermutigt, auch andere zu überreden, dem gleichen Gott zu trauen.

4. Haben mich Verschuldungen überwältigt. (Grundtext) In diesem ersten Versteil braucht der Dichter die erste Person der Einzahl: wo es sich um das Schuldbekenntnis handelt, will er allen vorangehen. Seine Missetaten stehen wider ihn auf, und deren Schuld würde ihn ganz übermannen, wenn er nicht der Sühne, der Vergebung gedenken dürfte, welche alle seine Vergehungen bedeckt. Wenn die Gnade nicht ins Mittel träte, würden unsere Sünden uns alle überwältigen vor Gottes Richtstuhl wie vor dem Richtstuhl unseres Gewissens und in dem Kampf des Lebens. Wehe dem Mann, der diese Widersacher gering achtet, und zwiefach wehe dem, der sie für Freunde hält! Am besten fährt, wer ihre verderbliche Macht erkennt und sich vor ihnen zu dem flüchtet, der Missetat vergibt. Unsere Übertretungen - Du sühnst sie. Du hast eine Sühne bereitet, einen Gnadenthron, der dein Gesetz ganz bedeckte. Man beachte den Wechsel der Zahl: der Glaube des einen Bußfertigen, der im ersten Versgliede nur in seinem eigenen Namen geredet hatte, umfasst hier alle Gläubigen zu Zion. Und er ist so überzeugt von der Weite der vergebenden Gottesliebe, dass er nun im Namen aller Frommen den Lobpreis der Gnade anstimmt. Welch ein Trost, dass unsere Sünden, die uns zu mächtig sind, dies nicht auch für Gott sind! Sie würden uns von Gott fernhalten; er aber fegt sie hinweg, tut sie sich selber und uns aus den Augen. Sie sind uns zu stark, nicht aber unserm Erlöser, der da mächtig ist, ja allmächtig, uns von ihnen zu erretten. Auch das ist unserer Beachtung wert: wie sich der Priester in dem heiligen Waschbecken wusch, ehe er das Brandopfer darbrachte, so leitet uns David an, erst Reinigung von unseren Sünden zu suchen, ehe wir dem HERRN das Lobopfer bringen. Wenn wir unsere Kleider gewaschen und helle gemacht haben im Blute des Lammes, dann können wir in Gott wohlgefälliger Weise das Lied anheben zu Ehren dessen, der auf dem Stuhl sitzt, und des Lammes (Off. 7,9.10.14).

5. Wohl dem. den du erwählest und zu dir lassest, dass er wohne in deinen Höfen. Auf die Reinigung folgt die Segnung, und wahrlich, eine reiche Segnung ist es. Sie umfasst die Erwählung, die wirksame Berufung, die Gewährung des Zutritts und die Aufnahme in Gottes Hausgenossenschaft. Das erste ist, dass wir von Gott erwählt sind nach dem Wohlgefallen seines Willens; das allein ist schon ein reiches Glück. Da wir aber von uns aus weder zu Gott kommen können noch wollen, wirkt er mit seiner Gnade in uns und zieht uns mächtig zu sich; er besiegt unser Widerstreben und hebt unser Unvermögen durch die allmächtige Kraft seiner umwandelnden Gnade auf. Auch das ist kein geringer Segen. Des weiteren werden wir durch das Blut seines Sohnes mit Gott versöhnt und durch seinen Geist zu vertrauter Gemeinschaft mit ihm geführt, so dass wir mit Freimut ihm nahen können und nicht länger zu denen gehören, welche Gott fern sind wegen ihrer bösen Werke. Und die Krone von allem ist, dass wir Gott nicht nahen mit der Gefahr schrecklicher Vernichtung wie Nadab und Abihu, sondern als von Gott Erkorene, als Gottes ständige Hausgenossen. Das ist eine Glückseligkeit, die alles Denken übersteigt. Dies Hausrecht ist ein Zeichen der Kindschaft; denn der Knecht bleibt nicht ewiglich im Hause, der Sohn aber bleibet ewiglich. Sehet, welch eine Liebe der Vater uns erzeiget hat und welch ein Glück er uns zuteil werden lässt, dass wir in seinem Hause wohnen dürfen und es nie und nimmer zu verlassen brauchen! Ein Glück, das einmal ein Ende nimmt, ist nur ein halbes Glück. Gott aber mögen seine Gaben und Berufung nicht gereuen. In den Vorhöfen des großen Königs wohnen dürfen heißt geadelt werden; dort ewig wohnen dürfen heißt ins himmlische Paradies versetzt sein. Und doch ist dies das Teil eines jeden, den Gott erwählt und zu sich nahen lässt, ob seine Sündenschuld ihn auch einst überwältigt hatte. Er darf sich ewiglich ersättigen an den Gütern des Hauses Gottes, seines heiligen Tempels. In vollen Zügen darf er diese genießen; denn für alles, was Gottes Gnade darreicht, dankt man, wie Delitzsch treffend sagt, nicht besser, als dass man danach hungert und dürstet und die arme Seele damit sättigt.


6. Erhöre uns nach der wunderbaren Gerechtigkeit, Gott, unser Heil,
der du bist Zuversicht aller auf Erden
und ferne am Meer;
7. der die Berge festsetzt in seiner Kraft
und gerüstet ist mit Macht;
8. der du stillest das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen
und das Toben der Völker,
9. dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen.
Du machst fröhlich, was da webet, beide, gegen Morgen und gegen Abend.


6. Mit furchtbaren (Ehrfurcht gebietenden) Taten antwortest du uns in Gerechtigkeit, Gott unsers Heils. (Grundtext) Gottes herablassende Huld offenbart sich darin, dass er Gebete erhört, und seine Erhabenheit darin, dass er die Antwort auf solche Weise gibt, dass die Seinen dadurch mit heiliger Ehrfurcht erfüllt werden. In erster Linie ist hier ohne Zweifel davon die Rede, dass der HERR die Feinde seines Volkes in solcher Weise zunichtemacht, dass alle, die es sehen, auch die Frommen, darüber von Schrecken ergriffen werden. Wer wollte nicht den Gott fürchten, dessen Schläge also zermalmen? Wir wissen nicht immer, was wir bitten, wenn wir beten; wenn die Erhörung, die sachgemäße Antwort auf unser Gebet, kommt, ist es möglich, dass wir vor ihr erschrecken. Wir bitten um Heiligung, und Prüfung ist die Antwort; wir bitten um ein größeres Maß des Glaubens, und ein größeres Maß von Trübsal ist die Folge; wir bitten um Ausbreitung des Evangeliums, und Verfolgung zerstreut uns! Dennoch ist’s gut, mit Bitten fortzufahren; denn nichts kann uns schaden, was uns der HERR in seiner Liebe gibt. Furchtbare Taten werden sich doch noch als segensreiche Taten erweisen, wenn sie als Antwort auf gläubiges, demütiges Gebet geschehen.
  Man sehe in diesem Vers, wie Gerechtigkeit und Heilserweisungen miteinander verbunden sind, furchtbare Taten mit gnädiger Erhörung von Gebeten. In Jesus verschmelzen sich diese Gegensätze. Gott kann, wiewohl er der Retter ist und bleibt, unsere Gebete in einer Weise erhören, die den Unglauben unsers Herzens verwirrt; wenn der Glaube in diesem furchtbaren Gott aber den Retter, den Heiland entdeckt, erinnert er sich, dass die Dinge nicht sind, was sie scheinen, und wird gutes Muts. Er, der so erschrecklich ist, ist auch unsere Zuflucht vor dem Schrecken. Der du bist Zuversicht aller auf Erden, wörtl.: aller Enden der Erde. Die Bewohner der fernen Inseln trauen auf Gott; auch die von Zion am weitesten entfernt sind, setzen ihre Zuversicht doch auf Zions Gott, Jehova. Selbst diejenigen Erdbewohner, die in frosterstarrten oder in glühend heißen Ländern wohnen, wo die Natur, so oder anders, ihre Schrecken offenbart, wie auch die, welche die Schauerwunder des Meeres schauen, flüchten sich doch von den Schrecken Gottes zu dem Gott, der sich also schrecklich offenbart. Wohl erweist sich sein Arm gewaltig im Schlagen, aber auch im Retten. Und ferne am Meer. Beide Elemente haben ihre auserwählte Schar von Gläubigen. Gab das Land dem Mose Älteste, so das Meer Jesu Apostel. Noah lebte, als alles um ihn her eine Wasserflut war, so still und friedlich in Gemeinschaft mit Gott wie Abraham in seiner Hütte. Alle Menschen sind gleich abhängig von Gott. Die Seefahrer werden sich dessen in der Regel am stärksten bewusst; aber in Wirklichkeit sind sie es nicht mehr als der Landmann, und der Landmann nicht mehr als irgendjemand anders. In Land und Meer ist kein Raum fürs Selbstvertrauen, da Gott die einzige wahre Zuversicht ist für die Menschen, seien sie zu Wasser oder zu Lande. Der Glaube ist eine Pflanze, die in allen Zonen und Elementen gedeiht, und alle, die, wo es auch sei, den Glauben in Übung bringen, machen die Erfahrung, dass Gott im Erhören der Gebete schnell und mächtig ist. Die Erinnerung hieran sollte uns Mut und Feuer geben, wenn wir mit unseren Anliegen zu Gott nahen.

7. Der die Berge festsetzt in seiner Kraft. Er hat sie einst festgestellt in ihren Gründen, und er hält sie fest, dass sie nicht fallen durch Erdbeben oder Sturm. Die festesten verdanken ihm ihre Festigkeit und Sündhaftigkeit. Die Philosophen aus der Schule der Gottesvergesser sind von ihren Gesetzen der Gebirgsbildung zu sehr in Anspruch genommen, als dass sie Zeit hätten, an den großen Gebirgsbildner zu denken. Ihre neptunischen, plutonischen und vulkanischen Theorien werden vielfach als Bolzen und Riegel gebraucht, um den HERRN aus seiner eigenen Welt auszuschließen. Unser Dichter ist anderer Meinung; er sieht Gottes Hand die Alpen und Anden feststellen und singt darum des Schöpfers Lob. Lasst mich nur immerhin solch unphilosophischen Einfaltstropf sein wie David; er war doch dem weisen Salomo näher verwandt als irgendeiner unserer modernen Hypothesenschmiede! Und gerüstet ist mit Macht. Der HERR selber ist mit Stärke gegürtet (wörtl.); darum legt er auch einen Gürtel der Stärke um die Hügel, dass sie dastehen, gegürtet und gepanzert mit seiner Kraft.
  Lasst uns aus solchen Naturbetrachtungen die Lehre entnehmen, dass wir kleinen Geschöpflein, wenn wir wahre Festigkeit und Beständigkeit wünschen, beim Starken Stärke suchen müssen. Ohne ihn würden die ewigen Hügel in Staub zerfallen; wieviel mehr müssen all unsere Pläne und Werke zugrunde gehen, wenn sie sich nicht auf seine Macht stützen. Ruhe, liebe gläubige Seele, auf dem Grunde, auf dem die Berge ihren festen Halt finden, auf der unverkürzbaren Macht des HERRN!

8. Der du stillest das Brausen des Meeres. Ein leichter Hauch aus Gottes Munde glättet die See zu einem Spiegel, ja auch bergeshohe Wogen zu sanftem Kräuseln. Gott tut dies. Stille kommt von dem Gott des Friedens; wir brauchen nicht nach einem Orkan auszuschauen, wenn der Ruf erschallt, dass der HERR kommt. Das Brausen seiner Wellen. Jede einzelne im Aufruhr des Sturmes tobende und brüllende Woge wird beruhigt durch Gottes Stimme. Mögen, die auf dem Meer fahren, den Gott preisen, der über die Wellen gebietet. Und das Toben der Völker. Die Nationen sind so schwer zu regieren wie das Meer. Sie sind ebenso wilden Stürmen unterworfen, sind ebenso trügerisch, ruhelos und unbändig; sie wollen den Zaum nicht dulden, noch sich durch Gesetze in Schranken halten lassen. Der Thron Kanuts des Großen (Königs von Dänemark und England, † 1036) war von den hochgehenden Wogen nicht mehr gefährdet als der Thron so manches andern Monarchen, wenn die Volksmassen nach Unglück rangen und ihrer Herren müde wurden. Gott allein ist der König der Nationen. Das Meer gehorcht ihm, und auch die noch unruhigeren Völker werden durch ihn im Zaum gehalten. Die menschliche Gesellschaft verdankt ihre Erhaltung der fortwährend tätigen Macht Gottes. Die Leidenschaften würden die sofortige Auflösung der Welt sichern, Neid, Ehrgeiz, Herrschsucht und Rohheit würden morgen die Anarchie gebären, wenn Gott es nicht verhütete. Davon haben wir an den französischen Revolutionen den klaren Beweis. Gott sei gepriesen, der das Gebäude der gesellschaftlichen Ordnung aufrecht hält und die Ruchlosen, die so gern alles umstürzen würden, im Schach hält. Jedes Gotteskind, das in Drangsal gerät, sollte alsbald zu ihm fliehen, der das Brausen des Meeres stillt; ihm ist nichts zu schwer.

9. Dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen. Die Zeichen der Gegenwart Gottes sind nicht eine Seltenheit, auch sind sie nicht auf irgendwelche Gegend beschränkt. Sansibar sieht sie so gut wie Zion, und Helgoland so gewiss wie das heilige Land. Solche Zeichen sind manchmal schreckliche Naturereignisse, wie Erdbeben, Springfluten, Wirbelwinde, Bergstürze oder Seuchen; und wenn sie sich zeigen, zittern auch die trotzigsten Naturvölker vor Gott. Zu andern Zeiten sind es schreckliche Taten der Weltregierung, wie der Umsturz Sodoms und die Vernichtung Pharaos. Die Kunde von solchen Gerichten läuft bis an der Erden Enden und erfüllt alle Welt mit Furcht und Entsetzen vor einem so heiligen und mächtigen Gott. Gott sei Dank, wenn wir uns ob seiner Zeichen nicht entsetzen sondern freuen! Mit heiliger Ehrfurcht frohlocken wir, wenn wir seine Machttaten schauen. Wir fürchten ihn, aber nicht mit sklavischer Furcht. Du machst jubeln die Aufgänge des Morgens und des Abends. (Wörtl.) Ost und West macht Gottes Güte fröhlich. Unsere Morgenstunden werden von der Hoffnung beleuchtet, und auf die Dämmerstunde wirft die Dankbarkeit ihren milden Schein. Ob die Sonne komme oder gehe, wir preisen Gott und lassen in den Toren des Tages unser Jubellied erschallen. Wenn der liebliche Morgen hervortritt mit dem Rosenrot der Jugend auf den Wangen, so sind wir fröhlich, und wenn der stille Abend uns so friedlich zulächelt, so freuen wir uns wieder. Wir glauben nicht daran, dass der Tau das Sterben des Tages beweine; wir sehen in den glitzernden Tropfen nur Perlen, die der scheidende Tag seinem Nachfolger hinterlässt, dass er sie von der Erde aufhebe. Die gläubige Seele schaut Gott; darum tragen ihre Tage einen Freudenkranz. Sie kann nicht fasten, denn der Bräutigam ist bei ihr. Nacht und Tag sind ihr gleich lieb, denn der gleiche Gott hat sie beide gemacht und beide gesegnet. Sie wüsste von keiner Freude, wenn Gott sie nicht fröhlich machte; aber er hört nie auf, denen Freude zu bereiten, welche ihre Freude in ihm suchen.


10. Du suchest das Land heim und wässerst es
und machest es sehr reich. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.
Du lässest ihr Getreide wohl geraten, denn also bauest du das Land.
11. Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes;
mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs.
12. Du krönest das Jahr mit deinem Gut,
und deine Fußtapfen triefen von Fett.
13. Die Weiden in der Wüste sind auch fett, dass sie triefen,
und die Hügel sind umher lustig.
14. Die Anger sind voll Schafe,
und die Auen stehen dick mit Korn,
dass man jauchzet und singet.


10. Du suchest das Land heim und wässerst es. Wann immer Gott einen Besuch macht, lässt er einen Segen zurück; das ist mehr, als man von jedem Besucher sagen kann. Wenn der HERR sich zu gnädiger Heimsuchung aufmacht, hat er stets eine Fülle nützlicher Gaben für seine vielbedürftigen Geschöpfe bei sich. Der Psalmist stellt Gott hier dar als das Land durchwandelnd wie ein Gärtner, der seinen Garten besieht und jede Pflanze, die es bedarf, tränkt, und das nicht dürftig, sondern so reichlich, bis das Erdreich ganz mit dem labenden Trunk gesättigt ist. Ach HERR, suche so deine Gemeinde heim und auch mich, das arme, welke Pflänzlein! Lass deine Gnade mich ganz überfluten; wässere mich, denn kein Blümlein deiner Au bedarf es mehr.

Dürr ist das Erdreich, tot das Samenkorn,
Fließt nicht darauf dein frischer Lebensborn.
O HERR, dein armes Pflänzlein lechzt nach dir;
Komm selbst zu mir!

  Und machest es sehr reich. Millionen Geldes könnten die Menschheit nicht so bereichern wie es die Regenschauer tun. Der Boden wird durch den Regen reich gemacht und gibt dann seinen Reichtum dem Menschen hin; aber der Urgeber aller Gaben ist Gott. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Die meisten Ausleger, auch neuere, verbinden diese Worte mit dem Vorhergehenden: Du machest es sehr reich (d. i. bewässerst oder segnest es reichlich) mit dem (oder: einem) Gottesbach voll Wassers. Die Bäche der Erde trocknen in der Dürre schnell aus, und ebenso unterliegen alle menschlichen Hilfsquellen dem Schicksal, dass sie meist gerade dann versiegen, wenn sie am unentbehrlichsten sind; aber Gottes Bach, der Kanal, worin der Regen aus dem Himmel auf die Erde hinabgeleitet wird, ist unerschöpflich. Dieser Strom hat weder Grund noch Ufer. Den Regenfluten, welche gestern aus den Wolken niedergeströmt sind, können morgen neue folgen, und doch wird es darum den Behältern über dem Himmelsgewölbe an Wasser nicht gebrechen. Ja, Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle: wie wahr ist dies auch im Reich der Gnade, wie Johannes es ausspricht: Aus seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. - Durch diesen Gottesbach wird das Land reich gemacht. Die Alten erzählten viel von dem Flusse Paktolus (in Lydien), der über Goldsand fließe; aber dieser Gottesbach, der droben sein Bett hat und aus dem der Regen herniederkommt, birgt noch viel reichere Schätze. Denn am Ende liegt der Reichtum der Menschen doch hauptsächlich in dem Ertrag der Felder, ohne den sogar das Gold nicht von dem mindesten Wert wäre. - Du lassest ihr Getreide wohlgeraten, wörtl.: Du bereitest ihr Getreide. Gott ist’s, der das Getreide in seinen verschiedenen Arten dem Menschen zur Nahrung darreicht. Wir hören wohl im Handelsverkehr von "prepared corn-flour " (präpariertem Maismehl) sprechen; aber Gott hat es präpariert, lange ehe ein Mensch daran rührte. So gewiss wie das Manna von Gott für die Kinder Israel bereitet ward, bereitet Gott auch das Getreide, das wir täglich genießen. Was für ein Unterschied ist darin, ob wir Weizenähren oder Manna einsammeln, und was hat es zu sagen, dass das eine zu uns heraufkommt aus dem Schoß der Erde und das andere aus den Wolken hernieder? Gott wirkt ebensosehr drunten wie droben; es ist ein ebenso großes Wunder, dass Speise aus dem Staube aufsprosst, wie wenn sie aus dem Himmel niederfällt. Wenn du jenes (das Land) also bereitet hast. (Wörtl.) Diese Bereitung des Erdreichs geschieht eben durch den von Gott gespendeten Regen. Es ist uns ja bekannt, wie völlig die Ernteaussichten im Morgenlande davon abhängig sind, ob der Frühregen zu rechter Zeit und reichlich das Land heimsucht. Auch unsere Äcker müssen vom HERRN bereitet werden, wenn sie Frucht tragen sollen. Gepriesen sei der große Gott, der die schwellenden Millionen der Erde von Jahr zu Jahr mit Brot versorgt. Eben so treulich bereitet er seinen Erlösten auch das geistliche Brot vom Himmel. Er gibt Speise denen, die ihn fürchten; er gedenkt ewiglich an seinen Bund (Ps. 111,5).

11. Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes. Furchen und Schollen sind mit Wasser gesättigt, die Schollen durch die Regengüsse niedergeschwemmt (wörtl.), die Furchen, als wären sie Rinnsale, mit Wasser gefüllt. Mit Regen machst du es weich. Die Dürre hatte die Erde eisern gemacht; aber der reichliche Regen erweichte den Erdboden. Und segnest sein Gewächs. Neuer Trieb kommt durch den ihr nun reichlich zuströmenden Lebenssaft in die Pflanzenwelt, dass alles mächtig emporschießt. Der Same keimt und sendet die lieblich grünen Schösslinge hervor, und zarter Duft erfüllt die Luft, ein Geruch des Feldes, das der HERR gesegnet hat. Dies alles kann uns als Bild der Wirkungen des Heiligen Geistes dienen. Auch erniedrigt er alles Hohe, füllt die Leere unserer Herzen, erweicht das Gemüt und lässt heilige Gewächse hervorsprossen und sich mehren.

12. Du krönest das Jahr mit deinem Gut, oder: mit deiner Güte.2 Eine reiche Ernte ist einer der deutlichsten Erweise der Güte Gottes und ist die Krone des Jahres. Der HERR selber besorgt die herrliche Ausschmückung; er setzt dem Jahr die goldene Krone der wogenden Ähren aufs Haupt. Oder wir können den Ausdruck auch so verstehen, dass Gottes Liebe das Jahr wie mit einer Krone, einem Kranz umgebe; jeder Monat hat seine Edelsteine, jeder Tag seine Perlen. Nimmer endende Güte gürtet die Jahreszeiten mit einem Ring der Liebe. Die göttliche Vorsehung macht einen vollständigen Rundgang um das ganze Jahr. Und deine Fußtapfen3 triefen von Fett. Wenn Gott das Land mit Regen heimsucht, schaffen seine Fußtapfen Fruchtbarkeit. Man sagte von den tartarischen Horden, dass da kein Gras mehr wachse, wohin die Füße ihrer Pferde getreten hätten; so mag man im Gegenteil sagen, dass die Spuren Jehovas an der Segensfülle erkennbar seien, welche sein Gang zurücklässt. Auch geistliche Fruchtbarkeit müssen wir vom HERRN erwarten; denn er allein kann Zeiten der Erquickung und fröhliche Pfingstfeste geben.

13. Die Weiden in der Wüste sind auch fett, dass sie triefen. Nicht nur auf die von Menschenfleiß bearbeiteten Äcker strömt der Regen nieder, sondern auch die einsamen Fluren der Steppe, wo das Wild wohnt und Nomaden ihre Herden weiden, erquickt der gütige HERR mit belebenden Schauern, dass die eben noch dürren Triften von Segen triefen. Tausend Oasen erfreuen sich der Heimsuchung des barmherzigen Herrn. Die Vögel der Luft, die wilden Ziegen und die flüchtigen Rehe loben ihren Schöpfer, während sie an den aufs Neue vom Himmel her gefüllten Bächen ihren Durst löschen. Auch die ganz vereinsamten und vor Dürre verschmachtenden Seelen sucht Gott in seiner Liebe heim. Und die Hügel sind umher lustig, wörtl.: gürten sich mit Jubel. In der Dürre waren sie kahl und traurig; aber nach dem erfrischenden Regen lachen sie den Beschauer an im lieblichen Schmuck der Blumen.

14. Die Anger sind bekleidet mit (Herden von) Schafen. (Wörtl.) Die Schafe, deren Wolle hernach dem Menschen die Kleidung darreicht, bekleiden erst selber die Fluren. Die Weiden mit dem üppigen Grase scheinen ganz von den Herden bedeckt. Und die Auen hüllen sich in Korn. (Wörtl.) Wie das Weideland, so werden auch die Äcker durch den Regen fruchtbar. Gottes Wolken bringen uns, gleich Elias Raben, sowohl Brot als Fleisch. Weidende Herden und wogende Ähren sind gleicherweise die Gaben dessen, der uns so wunderbar erhält, und für beides haben wir ihm Dank darzubringen. Schafschur und Ernte sollten beide dem HERRN geheiligt sein. Dass man jauchzet und singet, oder wie andere nach dem Wortlaut übersetzen: Sie (die Anger und Auen) jauchzen einander zu und singen. Die Erde lässt Gottes Preis erschallen ob seiner Güte, und geöffnete Ohren vernehmen diesen Jubel der Kreatur. Die Herden blöken fröhlich des Schöpfers Preis, und die rauschenden Ähren singen dem HERRN ihr sanftes Lied. Sie singen: die Stimme der Natur ist für Gott klar vernehmbar; sie ist nicht nur ein Geräusch, ein Lärm, sondern ein Lied. Harmonisch klingen die Töne, welche die lebendigen Geschöpfe hervorbringen, zusammen mit dem Rieseln des Wassers und dem Rauschen des Windes. Die ganze Natur ist ein Loblied auf den Ewigen; wohl dem, der es versteht und selber mitsingt.

  Dich, o Jehova, lobpreisen die Berge und Gründe,
  Dir braust das Meer einen Psalm in erhabnen Akkorden;
  Dir singt der Wald seine Lieder in ahnendem Beben,
  Dir jauchzt die grünende Flur und die weidende Herde!
  Goldne Gefilde, sie bringen in wogendem Reigen
  Dir, HERR, den Dank, der allein Deinem Namen gebühret!
  Himmel und Erde, stimmt ein in den Chor der Erlösten:
  Alles, was Odem hat, lobe den HERRN! Halleluja!


Erläuterungen und Kernworte

V. 2. Nach dem überlieferten Text ist zu übersetzen: Dir ist das Stillesein (vergl. Ps. 62,2) ein Lobgesang. Dieser schöne Gedanke, wonach schon die stille Ergebung in den Willen Gottes von ihm als ein Lobgesang angenommen wird, scheitert jedoch an dem Parallelgliede und dem gesamten Inhalt des Psalms, wonach er Dichter Gott mit lauten Tönen preist. Die alten Übersetzer mit Ausnahme des Targum haben in dem fraglichen Wort ein Partizip gesehen. Hieronymus: tibi silens laus im Sinne von tibi silet laus. Dies würde etwa bedeuten können: Auf dich harrt still der Lobgesang, d. i. die lobsingende Gemeinde, dass du dich gnädig zu ihr wenden mögest. Allein im Grunde würden sich Subjekt und Prädikat in diesem Satze doch ausschließen. Die LXX und der Syrer übersetzen: Dir gebührt Lobgesang, was allein einen natürlichen und zum Parallelgliede passenden Sinn gibt. - Nach Prof. Friedrich Baethgen 1892.
  Auf dich richtet sich Stillesein (vertrauens- und ergebungsvolles Schweigen, Ps. 62,2) als Loblied, o Gott, in Zion. "Lob" ist Beifügung, auch nach den hebräischen Akzenten. Die Zusammenstellung "Schweigen als Loblied" ist sehr paradox und hat doch ihre volle Wahrheit. Was kann Gott mehr preisen als vertrauensvolles Stillesein? Vergl. 2. Mose 14,14; Jes. 30,15. Das Dir des Grundtexts besagt: dir gehört zu, dir wird zuteil, wie der Parallelismus im folgenden Versglied lehrt. Besagt V. 2a: Dir wird Vertrauen geschenkt, so V. 2b: Dir wird für gerechtfertigtes Vertrauen gedankt. Prof. Fr. W. Schultz 1888.


V. 3. Das ist einer der Ehrentitel Gottes, dass er der Gebetserhörer ist. Er weist nie ein Gebet zurück, das den Namen verdient, so schwach und unwürdig der Beter auch sein mag. Alles Fleisch darf zu ihm kommen. Wird er denn, spricht der Glaube, etwa mein Gebet allein zurückweisen? Es ist allzumal ein Herr, reich über alle, die ihn anrufen (Röm. 10,12). Du, Herr, bist gut und gnädig, von großer Güte allen, die dich anrufen (Ps. 86,5). Er ist ein Vergelter denen, die ihn suchen (Hebr. 11,6). Das sollen wir so sicher glauben, wie dass Gott ist. So gewiss Gott der wahre Gott ist, so gewiss ist auch, dass nie jemand, der ihn ernstlich gesucht hat, unbelohnt von ihm gegangen ist. Er gibt einfältiglich jedermann und rücket’s niemand auf (Jak. 1,5). David Clarkson † 1686.
  Dass Gott die Gebete der Seinen erhören will, wird erhellt aus folgenden Betrachtungen. 1) Alle, die aus Gott geboren sind, haben in sich einen übernatürlichen instinktiven Gebetstrieb. (Gal. 4,6) Es ist für sie, wenn Gottes Gnade ihre Herzen berührt hat, so natürlich zu beten, wie es für die Kinder natürlich ist, zu schreien und nach der Mutterbrust zu verlangen, sobald sie zur Welt geboren sind. Man vergleiche, wie Apg. 9,11 von Paulus als Zeichen seiner Bekehrung hervorgehoben wird: Siehe, er betet. 2) Es ist ein hervorragender Teil des Mittlerwerkes Christi, dass er die Gebete der Seinen vor den Vater bringt und fürbittend für sie eintritt. 3) Gott hat in seinen Verheißungen seine Treue darauf verpfändet, dass er Gebete erhören will, z. B. Mt. 7,7; Jes. 65,24. 4) Die Schrift ladet uns auf die mannigfaltigste Weise ein, mit unseren Anliegen vor den HERRN zu kommen. Gott sendet seinen Kindern sogar Trübsale, um sie dazu zu drängen, ihn zu suchen. (Hos. 5,15.) Er gibt ihnen gewisse Hoffnung des Erfolgs (Ps. 50,15), mag ihre Not auch aufs Äußerste gekommen sein (Jes. 41,17). Er zeigt ihnen, dass sie, mag er auch zu ihrer Erprobung noch so lange mit der Hilfe verziehen, doch zuletzt durchdringen werden, wenn sie im Beten nicht lasch werden. (Lk. 18,7 f.) 5) Das Wesen Gottes selbst sowie die nahe Beziehung, in der er zu seinem Volke steht, verbürgen die Erhörung. Es gebricht ihm nicht an Macht und Vermögen, die heiligen Wünsche der Seinen zu erfüllen; und er ist gütig und wird ihnen kein Gutes, dessen sie wirklich bedürfen, vorenthalten. Er hat ein väterliches Herz voll Mitleid gegen sie, hat die Liebe einer Mutter gegen den Säugling an ihrem Busen. Wer sie antastet, der tastet seinen Augapfel an. Er weigert ihnen nie eine Bitte, es sei denn zu ihrem Besten. 6) Die Heiligen aller Zeiten haben es erfahren, dass Gott Gebet erhört. 7) Noch eins, woraus wir schließen können, dass Gott Gebet erhören will, ist die augenblickliche Erleichterung und Stillung des Herzens, welche das Gebet oft den Gläubigen gewährt, während die volle Antwort auf das Gebet noch nicht gekommen ist. (Ps. 138,3.) Thomas Boston † 1732.
  Alles Fleisch. Mit Fleisch ist der Mensch in seiner Schwachheit und Bedürftigkeit bezeichnet. J. J. Stewart Perowne 1864.


V. 4. Haben Fälle von Missetat mich übermannt. (Grundtext) Das Wort yr"b:dIi ist hier so wenig wie Ps. 35,20; 105,27; 145,5, vergl. 1. Samuel 10,2; 2. Samuel 11,18 f. bedeutungslos: es zerlegt den Tatbestand in seine einzelnen Fälle und Umstände. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Die Verschuldungen überwältigen uns, d. h., sie sind uns zu stark, als dass wir sie verleugnen oder ihre Anklage widerlegen könnten; sie unterwerfen uns der Forderung gebührender Strafe. Es bleibt daher keine andere Zuflucht als die Barmherzigkeit Gottes. Ps. 143,2; 130,3 f. Prof. Hermann Venema † 1787.
  Du bedeckest sühnend unsere Übertretungen: das Du ist betont, gleichsam um die Überzeugung auszudrücken, dass Gott allein solches tun könne. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Die heiligen Männer Gottes hatten keinen anderen Grund der Hoffnung für die Vergebung der Sünden als den, auf welchen sich auch das geringste Glied des Volkes Gottes stützt. Denn David stellt sich wohl beim Bekennen der Sünde allein hin vor alle andern: Meine Verschuldungen haben mich überwältigt; aber in der Hoffnung auf Gottes Vergebung schließt er sich mit dem ganzen Volke Gottes zusammen: Unsere Übertretungen - Du sühnest sie. David Dickson † 1662.


V. 5. Wohl dem. Man vergleiche die bisherigen Seligpreisungen des Psalters. Sie nehmen an geistlicher Tiefe zu. Die erste pries den selig, der sich in Gottes Wort vertieft, Ps. 1,1. Die zweite beschrieb den Begnadigten, Ps. 32,1. Die dritte und vierte priesen das Vertrauen auf den HERRN, Ps. 34,9 und Ps. 40,5. Die fünfte bezog sich auf den sich in Taten der Barmherzigkeit erweisenden Glauben, Ps. 41,2. Die vorliegende steigt zu dem Urquell aller Seligkeit, der göttlichen Erwählung, auf. C. H. Spurgeon 1872.
  Dieser heilige Prophet hält es aus der Maßen hoch und teuer, wem die Gnade geschieht und so gut kann werden, dass er möge kommen zu Gottes Hause oder Kirche, oder auch in seine Höfe. Nun war zu der Zeit, weil der König David lebte, Gott noch kein Haus oder Tempel gebauet, ohne dass die Hütten Mosis dastund mit der Lade und Gnadenstuhl, dazu an keinem steten Orte, wiewohl er damit umging, einen köstlichen Tempel zu bauen und großen Vorrat dazu schaffete; es ward ihm aber gewehret, bis auf seines Sohnes Salomons Regiment. Noch fähret er zu aus rechter voller großer Freude und Dankbarkeit und nennet den Ort, da Gott wohnet, ein Schloss oder Tempel oder Gottes Haus und Gottes Hof, und war doch eine geringe Hütte, nur zwanzig Ellen lang und zehn Ellen breit, ohne Fenster und stets finster, ohne dass sie umher einen offenen Raum hatte, hundert Ellen lang und fünfzig breit, als ein Kirchhof. Noch preiset er es so trefflich über alle Güter und Gnade, wo ein Mensch dazu berufen und erwählet wird, dass er mag so nahe zu ihm kommen in den Hof und Tabernakel. Nun war es doch nichts denn hölzerne Bretter und gewirkte Teppiche und ein Kirchhof ohne Mauer, aus einem Netz gezogen. Warum rühmet er es denn so hoch über alle Schlösser und königliche Gebäude, ja über aller Welt Güter und Schätze? Antwort: Er war ein Mann Gottes und voll Geistes und wusste wohl, dass Gott denselben Ort sonderlich bestimmet hatte, dass er da reden und gegenwärtig sein wollte, und wer dahin käme, dass der Gott selbst hörete, und was er da betete oder ihm gesagt würde, das sollte Ja sein und gehalten werden. Da wollte ich traun auch zulaufen, wenn ich eine solche Stätte oder Haus wüsste (ob es auch von eitel Blättern oder Spinnwebe gemacht wäre), da ich möchte hören, als von Gott selbst, was mir not zur Seligkeit wäre, und alles haben sollte, was ich bitten würde, und nicht achten, wie geringe es immer wäre. Siehe, darum rühmet und preiset der Prophet so fröhlich: Gott habe Lob und Dank, dass wir doch einen Ort haben, da Gott selbst wohnet, sein Wort prediget, und verkündiget seinen Willen, erhöret unser Gebet und hilft uns aus allen Nöten. Was wollen wir mehr haben, oder was können wir Besseres begehren? Denn wenn wir das haben, so haben wir einen höheren Schatz denn alle Könige und Fürsten, und wollen nicht viel danach fragen, ob alle Welt zürnet und alle Teufel nicht lachen. Darum mag ich billiger rühmen und sagen: O wohl dem! Welch ein seliger Mensch ist es, der zu den Gnaden kommt und so selig ist, dass er mag zu dir kommen, da du wohnest, d. i., da er dich oder dein Wort mag hören. Das ist die Herrlichkeit, der keine auf Erden zu gleichen, und nicht auszusprechen ist. Nun, das hat er so herrlich gerühmet, da es noch nicht so reichlich war, als hernach worden ist in Christo; wir aber sollten erst diesen Vers viel fröhlicher singen, und ohne Unterlass rühmen, wenn wir auch das Herz hätten, das es verstehen, und Augen und Ohren, die es sehen und hören könnten. Aber der Teufel tut uns die Schalkheit, dass wir diese Freude und unseren Schatz nicht sehen, den wir viel herrlicher haben, denn jene hatten. Denn es ist jetzt nicht mehr darum zu tun, dass man laufe gen Jerusalem oder sonst an einen einzelen Ort, sondern er hat jetzt einen andern Tempel oder Kirche gebauet, welcher Mauer gehet um die ganze Welt her. (Kol. 1,23; Ps. 19,5; Mk. 16,15) Wenn der heilige Prophet David solches erlebet und so große Ehre und Gnade gesehen hätte, er hätte sich, achte ich, zu Tode gefreut, weil er so kann rühmen, dass Gott da wohnet in dem kleinen, engen Winkel. Dass man siehet, wie ihnen die Leute haben können zunutze machen und wohl brauchen, das wir so jämmerlich verachten, die wir doch Gottes Wort so reichlich und so großes Kirchen- oder Gotteshaus haben durch die ganze Welt. Was wollen wir sagen an jenem Tage, wenn sie daher treten werden und sprechen: O hätten wir die Ehre und Gnade mögen haben, die euch geschehen ist, wie wollten wir so fröhlich gesungen und gesprungen haben, wie ihr habt mögen spüren in unseren Psalmen? Was habt ihr getan, die ihr es hattet in allen Kirchen, in allen Häusern und allen Orten? Da werden sie einmal müssen rot werden und mit allen Schanden stehen und sich selbst verdammen, die es so schändlich verachtet haben. Aber Gott behüte uns und gebe uns die Gnade, dass wir unter dem Häuflein sein, die Gottes Wort lieb und teuer halten. Martin Luther 1534.
  Die Worte spielen auf die Opfer an, an denen die geweihten Personen Anteil hatten. Prof. Hermann Venema † 1787.


V. 6. Mit furchtbaren Taten antwortest du uns in Gerechtigkeit. (Grundtext) Der Sinn ist: "HERR, du erhörest uns immer, dass aus wunderbaren Befreiungen ebenso deine Kraft erhellt wird wie einst, als unsre Väter aus Ägypten gingen." Gott hat die Kirche stets nicht auf gewöhnliche Weise, sondern mit Erweisung furchtbarer Macht gerettet. Jean Calvin † 1564.
  Der du bist Zuversicht aller Enden der Erde usw. Gott ist dies an sich, potenziell, abgesehen davon, ob die Menschen es erkennen; aber es kommen Zeiten, wo es auch von allen erkannt werden wird. (Ps. 22,28 f.) Ein Vorbild darauf war, dass die Königin von Reicharabien "vom Ende der Erde" zu Salomo kam (Mt. 12,42). A. R. Fausset 1866.


V. 9. Die Ausgangsstätten des Morgens und des Abends sind die Gegenden, wo der Morgen und der Abend hervorgehen oder aufgehen. )cfOm (Ausgang, Aufgang), das sonst nur vom Morgen vorkommt, da die Sonne aufgeht, ist hier durch ein sogenanntes Zeugma auch auf den Abend bezogen. Auch die Araber sprechen von den beiden Aufgängen, wie Bäthgen bemerkt. Gott erfüllt Ost und West, die ganze Kreatur, voran natürlich die Menschen dort, mit Jubel. Luther hat irrigerweise das Wort von den des Morgens und Abends hervorgehenden und sich fröhlich regenden und webenden Geschöpfen (Menschen, Vieh, den wilden Tieren) verstanden. - James Millard


V. 10. Der Gottesbach ist nach Bäthgen und andern der Regen, welcher in einem Kanal oder einer Rinne (glepIe) aus dem über dem Himmelsgewölbe gedachten Ozean auf die Erde hinabgeleitet werde. Vergl. Hiob 38,25: Wer hat dem Platzregen eine Rinne geteilt? - Delitzsch übersetzt Brunnen und versteht darunter den unerschöpflichen Segensspeicher und insbesondere die Fülle der himmlischen Wasser. - Fr. W. Schulz übersetzt Bach und fasst das Wort kollektivisch: Gottes Bäche wurden voll Wassers. "Der Bach Gottes" sei jeder Bach, zu dem sich Gott mit seinem Segen und Regen bekenne. - James Millard
  Der Bach Gottes ist den irdischen Strömen entgegengesetzt. Mögen diese versiegen, die göttlichen Hilfsquellen sind unerschöpflich. Joseph Addison Alexander 1850.
  Und wässerst es. Was ist gemeiner in der Welt denn Wasser, und wer hat je daran gedacht, einmal Gott dafür zu danken? Aber wie nötig und köstlich es ist, das würden wir wohl müssen sagen, wenn wir sollten eine Stunde kein Wasser haben. Und dass es Gottes Gabe sei vom Himmel, das kann er uns auch wohl lehren, wenn er uns einen Monden oder zwei nicht regnen lässt, da beide, Brunnen und Bäche, vertrocknen, dass beide, Menschen und Vieh, um Wasser schreien müssen. Solche Erfahrungen zeugen und zeigen uns fein, dass er es selbst tun muss und mit keinem menschlichen Vermögen und Fleiß nichts dazu geholfen sei, dass ein Halm oder Körnlein aus der Erde wachse, und müsse unserthalben alles, was da lebet, verschmachten und alle Gewächse vergehen. Aber wo er Wasser gibt, da nimmt es alles zu und züchtiget sich und trägt Früchte, dass sich alles erholen und gedeihen kann. Martin Luther 1534.
  Denn also bauest du das Land. Du bist der rechte Bauherr, der das Land bauet, viel mehr und besser denn der Ackermann, welcher nichts mehr dazu tut, denn dass er den Acker bricht, pflügt und säet und danach liegen lässt. Gott aber muss stets dabei sein, mit Regen und Wärme, und alles tun, dass es wachse und wohl gerate, dieweil der Ackermann daheim liegt und schläft, und nichts getan hat, ohne dass er das Erdreich vorbereitet. Aber Gott muss es selbst bauen, wo etwas soll herauswachsen; sonst müsste der Bauer wohl ewig pflügen, säen und sich zu Tod arbeiten, ehe er ein Hälmlein herausbrächte, und ist alle seine Mühe und Arbeit verloren, wo es Gott nicht selbst tut. Nicht, dass er darum nicht soll arbeiten und tun alles, was er weiß und kann, denn er selbst hiermit die Arbeit fördert und lobet, weil er spricht: seine Furchen und sein Gepflügtes; sondern will uns allein zeigen, dass es nicht genug an derselben ist, ja gar nichts schaffet, wo er es nicht selbst ausrichtet, über unser Zutun, Gedanken und Rat. Denn wo es soll in unserm Witz und Macht stehen, wie wir es selbst möchten erdenken, so würde doch nichts daraus, und würde uns gehen gleich wie jenem Bauer, der unserm HERRN Gott auch zu klug war, und konnte es ihm nimmer recht machen, wie er es wittern ließ, dass er ihn bat, er wollte ihn nur einmal selbst lassen wittern, wie er wollte, und Gott seine Bitte erhörete und sagte es ihm zu. Da fing der Bauer an und machte es, wie er es haben wollte, und ging so vonstatten nach alle seinem Wunsch, dass es regnete und die Sonne schien, wenn er wollte, und war das köstlichste Wetter, wie man es wünschen sollte, und stand aufs Allerschönste, dass er meinte, so ein gut Jahr zu kriegen, desgleichen kein Mensch erlebt hätte. Aber aufs Letzte, da er erntete, fand er eitel hohle Ähren und ledig Stroh; da dachte er erst daran, dass er hätte des Windes vergessen. Martin Luther 1534.


V. 10-14. Der Regen hat eine erweichende Kraft. Wenn der Erdboden durch lange Dürre oder harte Fröste eisern geworden ist, so genügen einige gute Regenschauer, ihn weich zu machen, dass er bearbeitet werden kann. Das gleiche mag von der Gnade gesagt werden. Wie verhärtet ist manchmal das Menschenherz durch den Betrug der Sünde! Aber mag jemand hier sein, dessen Herz hart ist wie ein Kiesel: wenn Jesus jetzt einige Tropfen seines gnädigen Regens vom Himmel her auf ihn fallen ließe, würde der harte Kieselstein zur Wasserquelle werden. - Der Regen hat eine befruchtende Kraft. Alle Arbeit des Landmanns ist verloren, wenn Gott den Frühregen oder den Spätregen versagt. Der Psalmdichter schildert diese Wirkung des Regens in den Versen 10-14. Ausbleiben des Regens bringt eine Hungersnot über das Land. So auch im Geistlichen. Wenn Christus nicht seinen Gnadenregen niederträufeln lässt, gibt es keine Frucht, und alle Mühe der geistlichen Ackerleute ist umsonst; aber wenn die Schauer sich ergießen, werden die Fluren grün. - Der Regen erquickt und belebt, dass Menschen und Tiere fröhlich werden und die Pflanzen ihre Häupter erheben. Die Vögel zwitschern, die Tiere des Feldes freuen sich, jedes in seiner Art; ja auch über die unbeseelte Kreatur kommt eine Art Freude. Der Psalmdichter spricht ja auch davon: Die Anger und Talgründe jauchzen einander zu und singen. (V. 14 Grundtext) Wenn nach langer Dürre ein Regen niederfällt, ertönt gleichsam die ganze Natur von Musik, dem Schöpfer zu Ehren. Ist es nicht ebenso, wenn Christi Gnadenregen auf Herz und Haus und Gemeinde niederträufelt? Ralph Robinson † 1655.


V. 12. Du krönest das Jahr. Eine reiche Ernte ist die Krone des Jahres, und solcher Segen entspringt der unverdienten Güte Gottes. Du umgibst und schmückst es mit Segen als mit einem Diadem. Eine feine Ausdrucksweise. Adam Clarke † 1832.
  Die Kräuter, Früchte und Blumen werden hier sehr schön als eine feine, farbenprächtige Krone dargestellt, die der Erde von ihrem Schöpfer aufs Haupt gesetzt wird. Samuel Burder 1839.
  Deine Fußtapfen triefen von Fett. Wenn ein Eroberer durch die Lande zieht, so triefen seine Fußtapfen von Blut. Feuerschein und rauchende Trümmer bezeichnen den Weg, den er gezogen, und Tränen, Seufzer und Flüche geben ihm das Geleit. Aber wo der HERR wandelt, triefen seine Fußtapfen von Fett (wie Luther sagt: Wo Gott geht, da wächst es wohl). Wenn die Könige des Altertums ihre Länder bereisten, verursachten sie eine Teuerung, wo immer sie verweilten; denn die Höflinge, von denen das Hoflager wimmelte, vertilgten gleich den Wanderraupen oder den Heuschrecken in unersättlicher Gier alles, was sie fanden. Aber wo der König der Könige hinkommt, da macht er das Land reich. - Mit einem kühnen, dem Hebräer geläufigen Bilde werden die Wolken als der Wagen Gottes dargestellt. "Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen" (Ps. 104,3). Und während Jehova so auf dem Wolkenhimmel einherfährt, träufelt der Regen auf das Land nieder; daher werden die Wagenspuren (Grundtext) Jehovas durch den Segen bezeichnet, welcher das Erdreich erfreut. Wohl dem Volke, das einen solchen Gott anbetet, dessen Kommen für seine Kreaturen so glückbringend ist. C. H. Spurgeon 1872.


V. 13.14. Die Hügel waren, wo sie nicht beackert waren, buschig und grün und mit zahlreichen Schafherden besät, die breiten Täler mit wogenden Ähren bedeckt und die Felder voll von Schnittern und Garbenbindern, die mitten in der Ernte waren. Esel und Kamele empfingen ihre Last an Garben und weideten sich, da ihnen das Maul nicht verbunden war und niemand sie störte, nach Herzenslust an der reifen Frucht. Eduard Robinson † 1864.


V. 14. Dass man jauchzet und singet. Auch unsere Erntezeiten sind Zeiten der Freude; aber ich wünschte, unsere Pflüger und Schnitter schrieben auch so frommen Herzens alles Gott zu wie der Psalmdichter hier: Du - du - du, V. 10 ff. Nicht ein Wort von Menschen, von menschlicher Geschicklichkeit und Arbeitsamkeit. Wie grundverschieden von jenem Manne, dessen Feld wohl getragen hatte und dessen einziger Gedanke war: Ich will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! (Lk. 12,19.) Barton Bouchier 1855.


Homiletische Winke

V. 2a. Die Angemessenheit der Stille im Gottesdienst, ihr rechter Platz und richtiger Gebrauch und ihre Macht.
  Dir wird Ergebung als Lobpreis. (Grundtext) Gläubige Ergebung ein Gott wohlgefälliger Lobpreis.
V. 2b. Beschränkungen, Vorteile und Verbindlichkeit der Gelübde.
V. 3a. Das Hören und Gewähren unserer Bitten ist Gottes Vorrecht, Gepflogenheit, Freude und Ehre.
V. 4. 1) Ein demütigendes Bekenntnis: Verschuldungen hatten mich überwältigt. a) Wann überwältigt uns die Sünde? Wenn wir nicht wachen, uns in Versuchungen begeben, sogar nach den heiligsten Beschäftigungen und Erlebnissen. b) Wie? Vermöge unserer angeborenen Verderbnis, unserer natürlichen Anlagen, bei Vernachlässigung der Gnadenmittel und Mangel an Gemeinschaft. c) Wen? Auch die Besten. Ein David muss es von sich bekennen. Lasst uns die Warnung beherzigen. 2) Ein ermutigendes Bekenntnis: Du sühnst unsere Vergehungen. Die Sünde ist getilgt: a) von Gott; b) durch Sühnung; c) ganz.
  1) Ein Notruf: Die Stadt Menschenseele belagert. 2) Ein Freudenruf: Die Stadt Menschenseele befreit. Edwin Gorsuch Gange 1872.
V. 5. Innige Gemeinschaft mit Gott ist die Grundlage unserer wahren Glückseligkeit. Diese Wahrheit erhellt aus der Erwägung, was die drei Hauptbestandteile der Glückseligkeit sind: Betrachtung des edelsten Gegenstandes, zur Befriedigung aller unserer Verstandeskräfte; Liebe zum höchsten Gut, zur Befriedigung der edelsten Kräfte unseres Willens; und die dauernde süße Empfindung und Gewissheit der Liebe eines allmächtigen Freundes, der uns erlösen wird von allem Übel, welches unsere Natur befürchten könnte, und uns all das Gute mitteilen wird, welches ein Geschöpf weislich und unschuldig begehren kann. So kommen alle Fähigkeiten des Menschen in ihren höchsten und köstlichsten Beschäftigungen und Freuden in Übung. Isaac Watts † 1748.
  Erwählung, wirksame Berufung, Zulassung zu Gott, Annahme bei Gott, Bewahrung bis ans Ende, volle Befriedigung. Der Vers ist ein ganzer Folioband von Gottesgelehrsamkeit en miniature.
V. 8. Der HERR der Urheber und Erhalter des Friedens.
V. 9. Zeichen der Gegenwart Gottes, teils Schrecken, teils Freude hervorrufend.
  Jubel in Ost und West. Missionspredigt.
V. 10. Gottes Gnadenheimsuchungen und ihre Folgen.
  Gottes Brünnlein reich und nimmer versiegend. In der Natur und im Reich der Gnade.
V. 10-14. Erntepredigt. 1) Die Allgemeinheit der Güte Gottes. Er sucht die Erde heim im Rundlauf der Jahreszeiten. 2) Die Reichlichkeit seiner Hilfsquellen: Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle, ist nicht gleich den Brunnen der Menschen, welche versiegen. 3) Die Mannigfaltigkeit seiner Wohltaten: Getreide, Wasser, Gewächs usw. 4) Die Unaufhörlichkeit seiner Segnungen: Du krönest das Jahr, umgibst es mit Gutem. E. G. Gange 1872.
V. 11. Gottes Gnade gleich dem Regen in 1) ihrem Ursprung, 2) ihrer Reichlichkeit, 3) ihren Wirkungen auf das Menschenherz und die ganze Kreatur: erweichend, ebnend usw., 4) ihrer Fruchtbarkeit.
  Frühling im Herzen. Predigt von C. H. Spurgeon. Siehe Ackerpredigten Nr. 10, Schwert und Kelle Jahrg. 3. Baptist. Verlag, Kassel, 1883.
V. 12. Die Fußtapfen Gottes in der Natur.
V. 14c. (Grundtext) Das Loblied der Natur und wer es vernimmt.

Fußnoten

1. hYfmidIu bedeutet jedoch nicht Schweigen des Mundes, sondern Schweigen der Unruhe des Herzens, also
stille Ergebung, vergl. 62,2. Delitzsch übersetzt daher: Dir ist Ergebung Lobpreis, d. h. Ergebung wird dir als Lobpreis zuteil oder dargebracht. Ewald, Kautzsch, Bäthgen u. a. übersetzen nach LXX usw.: Dir gebührt Lobpreis, indem sie hYfmidI (pt. fem. kal von hmfdIf) lesen. Dazu passt das Folgende am besten. Auf den Einwurf, dass hmfdIf (gleich sein) in der Bedeutung angemessen sein nicht vorkomme, erwidert Bäthgen, dass das synonyme hwf$f Esther 3,8 ebenfalls diese Bedeutung habe.

2. Eigentlich: das Jahr deiner Güte.

3. Eigentlich: Geleise, Wagenspuren: Gott fährt daher, 5. Mose 33,26 (Grundtext).