Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 71 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Eine Überschrift finden wir nicht. Dem Inhalt nach erweist sich der Psalm als das Gebet eines betagten Glaubensmannes, der in heiliger, durch lange und reiche Erfahrung zu besonderer Kraft herangereifter Glaubenszuversicht Gott wider seine Feinde anruft, aber auch für sich weitere Segnungen erfleht. In der gewissen Erwartung der gnädigen Erhörung gelobt er sodann, den HERRN hoch zu preisen.

Einteilung. Die ersten vier Vers sind ein Hilferuf des Glaubens, die nächsten vier ein Zeugnis der Erfahrung. V. 9-13 ruft der Dichter wider seine Feinde zu Gott; dann getröstet er sich in Hoffnung, V. 14-16. Er legt sich wieder aufs Bitten, V. 17, und gibt V. 19-21 abermals der zuversichtlichen Hoffnung Ausdruck, deren sich seine Seele erfreut. Dann schließt er mit dem Versprechen, Gott überströmend zu danken. In dem ganzen Psalm sehen wir einen zwar heiß ringenden, aber durch nichts zu erschütternden Glauben.


Auslegung

1. HERR, ich traue auf dich;
lass mich nimmermehr zuschanden werden.
2. Errette mich durch deine Gerechtigkeit und hilf mir aus;
neige deine Ohren zu mir und hilf mir!
3. Sei mir ein starker Hort, dahin ich immer fliehen möge,
der du zugesagt hast, mir zu helfen;denn Du bist mein Fels und meine Burg.
4. Mein Gott, hilf mir aus der Hand des Gottlosen,
aus der Hand des Ungerechten und Tyrannen.


1. HERR, ich traue auf dich. Jehova hat Anspruch auf unser Vertrauen; lasst es uns ganz und allein auf ihn setzen. Jeden Tag haben wir vor jeder Art des Vertrauens auf Fleisch auf der Hut zu sein, und Stunde um Stunde müssen wir uns an den ewig treuen Gott klammern. Auf ihn sollen wir uns stützen wie jemand, der auf einem Felsen Stand nimmt; aber nicht nur das: wir müssen uns auch bei ihm bergen (wörtl.), wie jemand, der in einer Höhle oder Felskluft Zuflucht sucht. Je besser wir mit dem HERRN bekannt werden, desto fester wird unser Zutrauen zu ihm sein. Gott weiß um unseren Glauben, und doch hört er es gern, dass wir denselben bekennen; darum traut der Psalmdichter nicht nur auf den HERRN, sondern spricht es auch vor ihm aus. - Lass mich nimmermehr zuschanden werden. Solange die Welt steht steh du mir zur Seite; ja immer und ewiglich sei du deinem Knechte treu. Ließest du mich im Stich, so würden die Menschen über meinen Glauben spotten, und was sollte ich ihnen antworten? Meine Verwirrung würde mich verstummen lassen und deine Sache dadurch mit Schmach bedeckt werden. Der Vers ist ein guter Gebetsanfang. Wer so im Glauben zu beten beginnt, der wird sicher mit Frohlocken schließen dürfen.

2. Errette mich durch deine Gerechtigkeit und hilf mir aus. Steh zu deinem Worte, o Gott. Das ist ja ein Stück deiner Gerechtigkeit, dass du die Verheißungen hältst, die du deinen Knechten gegeben hast. Ich habe dir vertraut, und du wirst nicht ungerecht sein, dass du meinen Glauben vergäßest. Ich bin gefangen wie in einem Netz; aber befreie du mich von der Bosheit meiner Verfolger. Neige deine Ohren zu mir und hilf mir. Lass dich zu meiner Schwachheit herab und höre meine matten Seufzer; sei gnädig meinen Gebrechen und siehe freundlich auf mich. Ich suche ja Hilfe bei dir, dem Heiland; so lausche auf mein Flehen und errette mich. Wie jemand, der von den Feinden schwer verwundet und für tot liegen gelassen ist, bedarf ich es, dass du dich über mich neigst und meine Wunden verbindest. Die Bitte um diese Gnadenerweisungen stützt sich auf den Glauben; darum kann Gott sie nicht abschlagen.

3. Sei mir ein Hort der Wohnstatt (Grundtext nach dem masoret. Texte2, in den ich eingehen und wo ich daheim sein kann, wie ein Mann in seinem eigenen Hause; und dann lass mich da in dir als meinem festen Wohnsitz allezeit bleiben. Da Feinde mich belästigen, bedarf ich einer festen, wohlverschanzten Wohnstatt, wo ich eine Belagerung aushalten und dem Ansturm feindlicher Heere Trotz bieten kann; so lass denn deine Allmacht mich schützen und mir zur Festung dienen. Wir sehen hier einen schwachen Mann, der aber in einer unbezwingbaren Burg wohnt; seine Sicherheit gründet sich auf den Turm, in dem er sich birgt, und wird durch seine eigene Schwachheit nicht aufs Spiel gesetzt. Dahin ich immer fliehen möge. Fest verschlossen und verrammelt ist diese Burg gegen alle Feinde. Umsonst würden sie es versuchen, die Tore aufzusprengen; die Zugbrücke ist aufgezogen, das Fallgatter heruntergelassen, die Riegel sind fest in ihren Orten. Aber es gibt ein geheimes Pförtlein, durch welches die Freunde des Burgherrn zu allen Tages- und Nachtzeiten, wann immer sie es wünschen, eingehen können. Es gibt keine Stunde, in der es nicht gestattet wäre zu beten. Die Gnadenpforte steht weit offen und wird offen bleiben, bis zuletzt der Herr des Hauses aufstehen und selber die Tür verschließen wird. Den Gläubigen erweist sich der HERR, ihr Gott, als starker und jederzeit zugänglicher Zufluchtsort, und darin haben sie ein wirksames Schutzmittel gegen alle Übel und Gefahren des irdischen Lebens. Der du zugesagt (wörtl.: verordnet) hast, mir zu helfen. Die Natur ist beauftragt, sich Gottes Knechten freundlich zu erweisen, der Vorsehung ist befohlen, alles zu ihrem Besten zusammenwirken zu lassen, und die Mächte der unsichtbaren Welt sind ihnen zu schützenden Wächtern bestellt. David befahl seinen Feldherren im Beisein des ganzen Heeres, mit dem Knaben Absalom fein säuberlich zu fahren; dennoch fiel dieser. Gottes Befehle haben eine ganz andere Kraft; denn sie erzwingen sich Gehorsam und führen unabänderlich seine Absichten aus. Kein Verderben kann uns verderben, keine Hungersnot uns dem Verhungern preisgeben; wir können ihrer beider lachen, solange uns Gottes Verordnung schützt. Kein Stein auf dem Wege kann uns zu Fall bringen, während Engel uns auf den Händen tragen; und ebenso wenig können die wilden Tiere uns zerreißen, wenn Davids Gott uns von ihrer Blutgier errettet oder Daniels Gott sie vor uns in Scheu hält. (Vergl. Hiob 5,22.23; Ps. 91,11-13.) Denn Du bist mein Fels und meine Burg. In Gott haben wir all die Sicherheit, welche die Natur, die die Felsklüfte, und die Kunst, die die Festungen baut, uns bieten könnten; er ist der allgenügsame, vollkommene Erhalter der Seinen. Er ist unveränderlich wie ein Fels, unüberwindlich wie eine Feste. Wohl dem, der da das Wörtlein mein brauchen darf, und nicht nur einmal, sondern so oft, wie die Betrachtung der verschiedenen Seiten der göttlichen Vollkommenheiten es wünschbar macht. Ist er ein Hort der Wohnstatt? So will ich ihn meinen Wohnhort nennen. Er soll mein Fels, meine Burg, mein Gott (V. 4), meine Zuversicht, meine Hoffnung (V. 5), mein Ruhm (V. 6) sein. Alles, was mein ist, sei sein, alles, was sein ist, mein. Das war der Grund, weshalb der Psalmdichter überzeugt war, dass Gott ihm Heil verordnet habe, weil er ihm Gnade gegeben hatte, sich in stillem, heiterem Glauben alles, was in Gott ist, zu Eigen zu machen.

4. Mein Gott, hilf mir aus der Hand des Gottlosen. Gott ist auf unserer Seite, und diejenigen, welche uns feindlich gegenüberstehen, sind auch seine Feinde, denn sie sind Gottlose; darum wird der HERR gewiss seine Bundesgenossen herausreißen und nicht zugeben, dass die Bösen über die Gerechten triumphieren. Wer solch ein Gebet zum Himmel sendet, tut seinen Widersachern mehr Schaden, als wenn er ganze Batterien Krupp’scher Gussstahlgeschütze auf sie richtete. Aus der Hand (der Faust) des Ungerechten und Tyrannen. Da sie (die Einzahl ist wohl kollektivisch gebraucht) Gott nicht vor Augen haben, entbehren sie des sittlichen Halts und werden daher ungerecht und frevelhaft gegen die Menschen und gewalttätig im Bedrücken und Verfolgen der Gottesfürchtigen. Mit der Hand greifen sie, mit der Faust schlagen sie, und sie würden alle Heiligen ausrotten, wenn Gott es nicht verhütete. Aber der Finger des Allmächtigen ist mehr als ihre Hand und Faust.


5. Denn Du bist meine Zuversicht,
Herr, HERR, meine Hoffnung von meiner Jugend an.
6. Auf dich hab ich mich verlassen von Mutterleibe an;
Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen.Mein Ruhm ist immer von dir.
7. Ich bin vor vielen wie ein Wunder;
aber Du bist meine starke Zuversicht.
8. Lass meinen Mund deines Ruhmes
und deines Preises voll sein täglich.


5. Denn Du bist meine Zuversicht, Herr, HERR, meine Hoffnung von meiner Jugend an. Gott, der uns Gnade gibt, auf ihn zu hoffen, wird gewiss unsere Hoffnung erfüllen; darum können wir es im Gebet vor ihm geltend machen, dass wir auf ihn hoffen. Sein Name ist: Jehova, die Hoffnung Israels (Jer. 17,13, vergl. Jer. 50,7; 1. Tim. 1,1; Kol. 1,27), und da er nicht eine falsche, täuschende Hoffnung sein kann, haben wir Grund zu erwarten, dass unsere Zuversicht gerechtfertigt werde. David3 hatte seinen Glauben schon durch denkwürdige Heldentaten erprobt, als er noch ein Knabe war, bräunlich und schön, und das sind ihm in seinem jetzigen gereiften Alter liebe Erinnerungen, die ihm auch die Gewissheit geben, dass der Gott seiner Jugend ihn in seinem Alter nicht im Stich lassen werde. Das sind hochbevorzugte Leute, die wie ein David, Samuel, Josia, Timotheus und andere sagen können: Du bist meine Zuversicht von meiner Jugend an.

6. Auf dich hab ich mich verlassen oder (bei passivischer Auffassung, welche auf Grund der Lehnstelle Ps. 22,11 von manchen vorgezogen wird): Auf dich war ich gestützt von Mutterleibe an. Ehe er fähig war, die Macht zu verstehen, die ihn stützte, ward er von derselben getragen. Gott kennt uns, ehe wir irgendetwas kennen, und erhält uns, ehe wir eine Ahnung davon haben. Die Auserwählten der Vorzeit lagen in Gottes Schoß, ehe sie auf ihrer Mutter Schoß gelegt wurden; und als ihre kindliche Schwachheit noch so groß war, dass ihre Füße sie nicht tragen konnten, trug und stützte der HERR sie samt ihrer Schwachheit. Wir tun wohl daran, über die Güte, welche Gott uns schon in unserer Kindheit erwiesen hat, nachzudenken; es bietet uns das viel Grund zur Dankbarkeit. Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen.4 Gottes Obhut waltet über seinen Auserwählten, noch ehe diese zu bewusstem Leben erwachen. Jede Geburt ist ein Mysterium der Barmherzigkeit; Gott waltet über Mutter und Kind, sonst wäre ein jedes Wochenbett ein Doppelsarg. Werden die Ehen im Himmel geschlossen, so dürfen wir sicherlich von den Geburten ähnlich sprechen. Unsere Frauen tun wohl daran, Gott für die Gnade zu preisen, die er ihnen je und je in der Stunde ihrer Not erwiesen hat; aber auch jeder, der vom Weibe geboren ist, hat gleichen Grund zur Dankbarkeit. Sie, deren Leben erhalten worden ist, sollte Dank opfern, und ebenso der, dem da das Leben gegeben worden. Mein Ruhm ist immer von dir. Wo Güte ohne Aufhören empfangen worden ist, sollte auch Lobpreis ohne Aufhören dargebracht werden. Gott ist der Kreis, in dem unsere Loblieder beginnen, fortfahren und sich endlos bewegen sollten, da Er es ist, in dem wir leben, weben und sind.

7. Ich bin vor vielen wie ein Wunder. Die Heiligen Gottes sind in der Tat wunderbare Leute; ihre Schattenseite ist oft erstaunlich düster, ihre Lichtseite dagegen von blendender Herrlichkeit. Die Gläubigen sind ein Rätsel, das den ungeistlichen Leuten viel Kopfzerbrechens verursacht; sie sind Sonderlinge, bei denen es den andern Menschen nicht recht geheuer ist, führen sie doch Krieg auf Leben und Tod mit den Lüsten des Fleisches, welche den andern alles in allem sind; wunderliche Leute, aus denen die Weltmenschen nicht klug werden; ein Wunder, das man anstaunt, vor dem man sich anfänglich scheut, für das man aber nach und nach nur noch ein verächtliches Lächeln hat. Wenige verstehen uns, viele schütteln den Kopf über uns. Aber Du bist meine starke Zuversicht, wörtl.: Zuflucht. Das ist die Antwort auf das Rätsel. Sind wir stark, so sind wir es in Gott; sind wir sicher, so ist es der Fall, weil unsere Zuflucht uns birgt; können wir mitten im Sturm heiter blicken, so liegt das daran, dass unsere Seele in Gott als ihren Ruheport eingegangen ist. Wer versteht, was der Glaube eigentlich ist, und die Gründe sieht, auf denen dessen Zuversicht ruht, dem sind die Gläubigen nicht mehr ein Wunder, der wundert sich vielmehr darüber, dass noch so viel Unglaube unter den Menschenkindern vorhanden ist.

8. Lass meinen Mund deines Ruhmes und deines Preises voll sein täglich. Wollte Gott, unser Mund wäre wirklich allezeit dessen voll! Niemand wird dieser Speise überdrüssig. Gottes Brot ist allezeit in unserm Munde, so sei es auch sein Preis. Er füllt uns mit Gutem; so lasst uns auch mit Dankbarkeit erfüllt sein. Dann wäre auch kein Raum fürs Murren oder Afterreden; darum mögen wir wohl mit dem Psalmisten in diesen heiligen Wunsch einstimmen. Übrigens legt der Zusammenhang es näher, den Vers als Bekenntnis zu fassen: Mein Mund ist voll deines Ruhmes, (voll) immerdar deiner Herrlichkeit. Können wir dies in Wahrheit mitsprechen?


9. Verwirf mich nicht in meinem Alter;
verlass mich nicht, wenn ich schwach werde.
10. Denn meine Feinde reden wider mich,
und die auf meine Seele lauern, beraten sich miteinander
11. und sprechen: Gott hat ihn verlassen;
jaget nach und ergreift ihn, denn da ist kein Erretter.
12. Gott, sei nicht ferne von mir;
mein Gott, eile mir zu helfen!
13. Schämen müssen sich und umkommen, die meiner Seele zuwider sind;
mit Schande und Hohn müssen sie überschüttet werden,die mein Unglück suchen.


9. Verwirf mich nicht in meinem Alter. Der Knecht Gottes war seines Herrn nicht müde; seine einzige Sorge war, sein Meister könnte sein müde werden. Jener Amalekiter überließ seinen ägyptischen Knecht dem Verschmachten, als dieser schwach und krank wurde (1. Samuel 30,11 ff.); aber so handelt der Herr der Gläubigen nicht. Er trägt uns bis ins Alter und bis wir grau werden (Jes. 46,4). Wehe uns, wenn Gott sich unser entledigen würde, wie schon so mancher ehedem hoch begünstigte Höfling es von seinem Fürsten erlebt hat. Das Alter beraubt uns der Schönheit und nimmt uns die Kraft zum tätigen Dienst; aber es lässt uns nicht sinken in Gottes Liebe und Gunst. Ein undankbares Land mag seinen invaliden Verteidigern karge Bissen zumessen; aber wer von Gott das Gnadenbrot bekommt, wird mit Gutem gesättigt. Verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. Hab Geduld mit mir und trage meine Schwächen. Von Gott verlassen werden ist das größte denkbare Übel, und wenn der Gläubige nur von dieser schrecklichen Befürchtung frei sein darf, ist er ein glücklicher Mensch. Kein Gott liebendes Herz braucht in dieser Beziehung argwöhnischer Besorgnis Raum zu geben.

10. Denn meine Feinde reden wider mich. Um einen sterbenden Löwen heulen die Hunde. Selbst als Davids Arm Kraft genug hatte, um seine Widersacher zu züchtigen, waren sie frech genug, ihn zu schmähen, und er fürchtet, dass sie sich jetzt, in der Zeit seiner Schwachheit, einen neuen Freibrief, ihn zu lästern, nehmen würden. Eigentlich heißt es: sie reden von mir, und was sie sprechen, folgt im nächsten Vers: Gott hat ihn verlassen; deshalb ist es ihm umso mehr ernst mit der Bitte, dass Gottes Verhalten sie Lügen strafen möge. Und die auf meine Seele lauern, beraten sich miteinander. Die Feinde des Psalmdichters waren sehr heimtückisch. Da sie gewillt waren, ihn gänzlich zu vernichten, hielten sie mit der größten Ausdauer Wacht; dazu fügten sie List, denn sie legten sich in den Hinterhalt, um ihn zu überraschen und in einem Augenblick, da ihm das Glück nicht günstig sei, über ihn herzufallen. Und dies alles taten sie mit der größten Einmütigkeit und Überlegung; sie vereitelten ihre Absichten nicht durch Mangel an Klugheit, noch verhinderten sie deren Ausführung dadurch, dass sie es an Einigkeit hätten fehlen lassen. Der HERR, unser Gott, ist unsere einzige, aber auch allgenügsame Zuflucht vor Nachstellungen allerart.

11. Und sprechen: Gott hat ihn verlassen. Welch empfindlicher Stich! Es gibt in allen Köchern der Hölle keinen giftigeren Pfeil. Unser Erlöser fühlte seine Widerhaken im Herzen festsitzen, und es braucht uns nicht zu wundern, wenn seine Jünger die gleiche Erfahrung machen. Wenn dieser Hohn der Feinde die Wahrheit sagte, so wäre es schlimm um uns bestellt; aber Gott sei Dank, es ist eine freche Lüge. Jaget nach und ergreift ihn, lasst die Hunde auf ihn los, packt ihn, zerreißt ihn; denn da ist kein Erretter. Nieder mit ihm, denn er hat keinen Freund. Man kann ihm ohne Scheu allen Schimpf antun; denn niemand wird ihm zu Hilfe kommen. O ihr Maulhelden, wie verwundet ihr mit euren feigen Prahlereien die Seele des Gläubigen! Nur dadurch, dass sein Glaube zu Gott schreit, wird es ihm möglich, euren grausamen Hohn zu ertragen.

12. Gott, sei nicht ferne von mir. Wissen wir, dass Gott uns nahe ist, so fühlen wir uns sicher, und das mit gutem Recht. Es ist dem Kind im Dunkeln ein Trost, wenn es des Vaters Hand fassen kann. Mein Gott, eile mir zu helfen. Es gibt unserm Beten große Kraft und unserm Glauben einen starken Halt, wenn wir Gott unsern Gott nennen und ihn so an das Bundesverhältnis erinnern, in das er zu uns getreten ist. Der Ruf "Eile " ist uns in diesem Teil des Psalters schon oft vorgekommen; er wird den Betern durch den schweren Druck der Drangsal ausgepresst. Heftige Anfechtungen machen dem lauen, zögernden Beten ein Ende.

13. Schämen müssen sich und umkommen, die meine Seele zuwider sind. Dass dies geschehe, dazu wird es schon genügen, wenn sie sehen müssen, dass du deinen Knecht bewahrst; ihr Neid und ihre Bosheit werden sie, wenn sie solche Enttäuschung erleben müssen, schon von selbst mit verzehrendem Gram erfüllen. Die Vereitelung ihrer Pläne wird sie so in die Enge treiben, dass sie sich nicht mehr zu helfen wissen; sie werden ganz verwirrt werden, wenn sie nach der Ursache ihrer Niederlage forschen. Die Leute, deren Verderben sie suchen, sind so schwach, und ihre Sache ist so verächtlich, dass sie ganz außer Fassung geraten werden, wenn sie sehen, dass jene nicht nur alle Anfeindungen überleben, sondern sogar als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen. Wie bestürzt muss Pharao geworden sein, als Israel sich trotz all seiner Bemühungen, das verhasste Volk auszurotten, so stark vermehrte! Und wie müssen die Schriftgelehrten und Pharisäer von Wut verzehrt worden sein, als sie wahrnahmen, wie das Evangelium sich durch eben die Mittel, welche sie anwandten, um es zu vernichten, von Land zu Land verbreitete! Mit Schande und Hohn müssen sie überschüttet werden, die mein Unglück suchen. Der Gottesknecht wünscht, ihre Schmach und Schande möge vor aller Augen sichtbar werden, indem sie errötend dieselbe als einen Mantel um sich hüllen. Sie würden den Gläubigen zur Zielscheibe des Spottes gemacht haben, wenn Gott ihn verlassen hätte; darum mögen nun in ihnen der Unglaube und die Gottvergessenheit vor aller Welt an den Pranger gestellt werden.


14. Ich aber will immer harren
und will immer deines Ruhmes mehr machen.
15. Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit, täglich dein Heil,
die ich nicht alle zählen kann.
16. Ich gehe einher in der Kraft des Herrn, HERRN;
ich preise deine Gerechtigkeit allein.


14. In den nun folgenden drei Versen tritt der Glaube des angefochtenen Heiligen hervor. Ich aber will immer harren. Wenn ich mich des Gegenwärtigen nicht freuen kann, so will ich vorwärtsblicken auf das, was in Zukunft mein sein wird, und mich so dennoch freuen. Der Glaube fristet sein Leben auch da, wo andere nichts zu essen sehen, und singt sein Lied auf schneebedeckten Zweigen. Es gibt keine Zeit und keinen Ort, wo es unschicklich und unnütz wäre, Gottes zu harren. Die Hoffnung wohnt in allen Landen, die Hölle ausgenommen. Wir dürfen allezeit in stillem Hoffen auf Gott harren; denn wir haben allezeit Grund dazu. Wir wollen allezeit die Hoffnung festhalten; denn sie ist ein Trost, der niemals trügt. Und will immer deines Ruhmes mehr machen. Der Psalmsänger war nicht lässig im Danken; wohl niemand hat darin größeren Fleiß bewiesen. Doch war er mit all dem Lobpreis, den er dem HERRN bisher dargebracht hatte, nicht zufrieden, sondern gelobte, noch immer mehr Gottes Ruhm zu verkündigen. Wenn wir im Guten ohne Aufhören fortfahren und zunehmen, dann sind wir im rechten Fahrwasser. Das ist eine löbliche Art Habsucht, wenn wir in Bezug auf Gottes Verherrlichung immer rufen: Mehr! mehr! Gern lassen wir das eigene Tun und ruhen an Gottes Herzen aus; aber eins können wir nicht lassen, von einem können wir nicht ruhen: Gott zu preisen. "Höher, höher" ist der Ruf des Adlers, während er der Sonne entgegenfliegt; höher, immer höher hinan ist auch unser Streben bei Dienst und Anbetung. Das ist unsre große, beständige Hoffnung, dass wir mehr und mehr den HERRN zu verherrlichen imstande sein werden.

15. Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit, täglich dein Heil. Es ist unsere Pflicht, in dem Maße Zeugnis abzulegen, wie unsere Erfahrung uns dazu befähigt, und andern das nicht vorzuenthalten, was wir geschmeckt und unsre Hände betastet haben. Von allen, die es in ihrer eigenen Geschichte erlebt haben, soll es überall verkündigt werden, wie treu Gott ist im Retten, im Befreien aus der Hand der Feinde und im Erfüllen seiner Verheißungen. Wie wunderbar leuchtet Gottes Gerechtigkeit in seinem Plan des Heils durch. Unser Mund sollte stets davon überfließen. Der Teufel wütet gegen das stellvertretende Opfer Christi, und Irrlehrer allerart machen dasselbe zum Hauptzielpunkt ihrer Angriffe; so sei es denn unsere Sache, diese Schriftwahrheit hochzuhalten und die Freudenbotschaft, welche sie enthält, allerorten und zu allen Zeiten auszubreiten. Wir können den Mund, den Gott uns gegeben hat, auf keine Weise so nützlich brauchen, als wenn wir die Gerechtigkeit Gottes, wie sie sich in der Errettung der an Jesus Glaubenden enthüllt, verkündigen. Der Prediger, welcher auf dies eine Thema beschränkt wäre, würde kein anderes zu suchen brauchen; es ist die medulla theologiae, das Mark und der Kern der geoffenbarten Wahrheit. Hast du etwa, lieber Leser, von diesem herrlichen Schatz bisher geschwiegen? Dann möchte ich in dich dringen, doch das zu verkündigen, dessen du dich in deiner Seele erfreust; wer solch frohe Botschaft für sich behält, tut wahrlich nicht wohl. Die ich nicht alle zählen kann, wörtl.: denn ich weiß (ihrer) keine Zahl. Er wusste, wie köstlich, wie gewiss, wie erhaben und wie wahr Gottes Heil ist; aber was die genaue Berechnung seiner Weite, Mannigfaltigkeit und Allgenügsamkeit betrifft, so fühlte er, dass ihm das Rechenexempel zu hoch sei. HERR, wo mein Rechnen aufhört, will ich glauben, und wenn eine Wahrheit mein Denken übersteigt, so kann ich doch noch danken. Wenn David von seinen Feinden redet, so sagt er wohl, dass ihrer mehr seien denn Haare auf seinem Haupt; da findet er also doch noch ein Bild, das ihre Zahl veranschaulichen kann. Wenn er aber auf die Bundesgnaden des HERRN zu sprechen kommt, erklärt er: "Ich weiß ihrer keine Zahl ", verzichtet also auf jeden Versuch, sie auch nur vergleichsweise abzuschätzen. Zahl und Schranken sind Sache des Geschöpfes; bei Gott und seiner Gnade ist beides ausgeschlossen. Eben darum dürfen wir auch getrost täglich und den ganzen Tag fortfahren, sein herrliches Heil und die wunderbare Gerechtigkeit, die sich in demselben offenbart, zu verkündigen; denn das Thema ist ganz unerschöpflich.

16. Ich gehe einher in der Kraft des Herrn, HERRN. Diese Übersetzung gibt einen schönen Sinn, aber nicht den von dem Dichter beabsichtigten. Der Grundtext lautet: Ich will mit den Großtaten des Herrn, HERRN kommen, d. h. ich will sie beibringen, also anführen, preisen. Der sei uns stets ein hochwillkommener Gast, wer uns von den machtvollen Taten Gottes erzählen kann und uns dadurch ermutigt, auf diesen Gott unser Vertrauen zu setzen. Ich will allein deiner Gerechtigkeit denken. (Luther 1524.) Der Menschen Gerechtigkeit ist es nicht wert, dass man ihrer gedenkt - schmutzige Lumpen verbirgt man am besten; auch gibt es weder unter noch in dem Himmel irgendeine Gerechtigkeit, die der göttlichen vergleichbar wäre. Wie Gott das ganze Weltall erfüllt und darum allein Gott ist und für keinen anderen Raum lässt, so erfüllt auch Gottes in Christus Jesus uns mitgeteilte Gerechtigkeit die Seele des Gläubigen ganz, so dass dieser alles andere für Schaden und Kot achtet, auf dass er Christum gewinne und in ihm erfunden werde, dass er nicht habe seine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, welche von Gott dem Glauben zugerechnet wird. (Phil. 3,8 f.) Was hätte es für Nutzen, einem Sterbenden von irgendeiner anderen Gerechtigkeit zu reden? Und doch sind wir alle am Sterben. Mag, wer will, des Menschen natürliche Unschuld, die Würde unseres Geschlechts, die Reinheit unserer Philosophen, die Liebenswürdigkeit der von keiner Kultur verdorbenen Naturvölker, die selig machende Kraft der Sakramente und die Unfehlbarkeit des Papstes rühmen; - wessen Glaube auf Gottes untrüglichem Worte ruht, dessen unabänderlicher Entschluss ist: Ich will allein deine Gerechtigkeit preisen. Immerdar sei dir, mein HERR und Gott, diese arme, unwürdige Zunge geweiht, deren Ehre es sein soll, dich zu ehren.


17. Gott, du hast mich von Jugend auf gelehret,
und bis hierher verkündige ich deine Wunder.
18. Auch verlass mich nicht, Gott, im Alter, wenn ich grau werde,
bis ich deinen Arm verkündige Kindeskindernund deine Kraft allen, die noch kommen sollen.


17. Gott, du hast mich von Jugend auf gelehret. Es war dem Verfasser des Psalms tröstlich, daran zu gedenken, dass er von seinen frühesten Jahren an ein Schüler des HERRN gewesen war. Niemand ist zu jung, um von Gott gelehrt zu werden, und die gefördertsten Schüler werden die werden, die beizeiten anfangen. Und bis hierher verkündige ich deine Wunder. Er hatte gelernt, andern das, was er wusste, mitzuteilen; er war Schüler und Lehrer zugleich. Er fuhr bis zur Stunde mit beidem fort, mit dem Lernen und dem Verkündigen, und sagte nicht etwa deshalb, weil er schon selber andere lehrte, seinem ersten Lehrer ab. Auch dies war ihm ein Trost; den können solche, die die Schülerstellung dem Evangelium gegenüber verlassen und sich auf die mancherlei falsch berühmten Hochschulen der Weltweisheit und des Unglaubens verlocken lassen, nicht genießen. In unseren Tagen, da so manche wieder das alte helle Licht der geoffenbarten Wahrheit gegen schlechte neue Erfindungen aufgeben, tut ein heiliger Konservatismus dringend Not. Wir gedenken, die Wunder der erlösenden Liebe so lange zu lernen und auch zu lehren, bis wir etwas Besseres oder das Herz mehr Befriedigendes entdecken; aus dem Grunde hoffen wir, dass wir als Silbergreise noch auf demselben Wege erfunden werden, den wir seit den Tagen gewandelt sind, da noch der Flaum der Jugend unsere Wangen zierte.

18. Auch verlass mich nicht, Gott, im Alter, wenn ich grau werde. Es ist etwas Rührendes um den Anblick eines Hauptes, dessen Haar vom Schnee vieler Winter gebleicht ist. Einen alten, treuen Krieger ehrt sein König, ein im Dienst ergrauter Diener wird von seinem Herrn geliebt. Wenn sich unsere Gebrechen mehren, dürfen wir mit Zuversicht eine Vermehrung unserer Vorrechte aus dem Reich der Gnade erwarten, zur Ausgleichung der Beschränkungen, die uns im Gebiet der Natur auferlegt werden. Nichts wird Gott dazu bringen, solche zu verlassen, die ihn nicht verlassen haben. Es ficht uns wohl etwa die Sorge an, er könnte das tun; aber die Küsse seiner Verheißungen schließen solchen Befürchtungen den Mund. Bis ich deinen Arm verkündige Kindeskindern (wörtl.: dem Geschlecht, worunter entweder die Zeitgenossen oder das heranwachsende Geschlecht verstanden werden können). Es verlangte ihn, sein Zeugnis fortzusetzen und zu vollenden; er dachte an die jungen Leute und die kleinen Kinder um ihn her, und da er wusste, von welch weittragender Bedeutung es ist, dass sie in der Furcht des HERRN auferzogen werden, war es sein heißer Wunsch, sie alle damit bekannt zu machen, wie machtvoll Gott sein Volk erhalte, damit auch sie angeleitet würden, im Glauben zu wandeln. Er selber hatte sich auf den allmächtigen Arm Gottes gestützt und konnte darum aus Erfahrung von dessen Allgenügsamkeit reden, und es war ihm ein ernstes Anliegen dies zu tun, ehe sein Leben zu Ende gehe. Und deine Kraft allen, die noch kommen sollen. Er wünschte einen Bericht zu hinterlassen, der auf die noch nicht geborenen Geschlechter übergehe. Er erachtete die Kraft des HERRN für so preiswürdig, dass er alle Zeitalter von ihrem Lobe erklingen lassen wollte, bis keine Zeiten mehr seien. Das ist der eigentliche Zweck, zu dem die Gläubigen leben, und es sollte ihrer aller Sorge sein, sich diesem ihrem angemessensten und nötigsten Lebenswerk mit allem Eifer hinzugeben. Das sind glückliche Menschen, die in der Jugend schon anfangen, den Namen des HERRN zu verkündigen, und nicht damit aufhören, bis ihr letztes Stündlein ihr letztes Wort für ihren guten Herrn und Meister gebiert.


19. Gott, deine Gerechtigkeit ist hoch,
der du große Dinge tust.Gott, wer ist dir gleich?
20. Denn du lässest mich erfahren viel und große Angst
und machst mich wieder lebendig und holest mich wieder aus der Tiefe der Erde herauf.
21. Du machest mich sehr groß
Und tröstest mich wieder.


19. Gott deine Gerechtigkeit ist hoch, genauer: reicht bis zur Himmelshöhe. Hoch erhaben, unausforschlich, unermesslich herrlich ist Gottes heiliges Wesen selbst, wie auch der Weg, auf dem er den Menschen seine Gerechtigkeit mitteilt. Sein Heilsplan erhebt die Menschen von den Pforten der Hölle zu den himmlischen Wohnungen. Der du große Dinge tust, Grundtext: getan hast. Die Heldentaten anderer sind reines Kinderspiel gegen die deinen und nicht wert, von den Zeitgenossen genannt zu werden; die Schöpfung, die Vorsehung, die Erlösung aber sind ganz einzig in ihrer Art. Gott, wer ist dir gleich? Wie deine Werke, so bist auch du selbst über alles erhaben. Dir kommt niemand gleich, und dir macht’s niemand nach, und so fehlt es auch deinen Werken, wie an originalen Seitenstücken, so auch an Kopien. Darum beugen wir uns tief und beten dich im Staube an. Das ist die rechte Stimmung und Stellung des Gläubigen. Wenn er Gott naht, tritt er in ein Gebiet ein, wo alles unendlich erhaben ist; Wunder der Liebe blühen auf allen Seiten, und auf Schritt und Tritt muss er staunen über das, was Gerechtigkeit und Gnade, zu treuem Bunde vereint, miteinander hervorgebracht haben. Wer in den Hochalpen wandert, fühlt sich oft von heiliger Scheu erfasst ob der erstaunlichen Erhabenheit, die sein Blick ringsum wahrnimmt; viel mehr noch ist dies der Fall, wenn wir die Höhen und Tiefen der Gnade und der Heiligkeit des HERRN überblicken. Gott, wer ist dir gleich!

20. Der du uns viel Not und Unglück erfahren ließest, du wirst uns wieder lebendig machen. (Grundtext) Der plötzliche Übergang aus dem Persönlichen zum Nationalen ist auffallend; daher hat man denn schon frühe mich statt uns lesen zu müssen geglaubt, aber wahrscheinlich mit Unrecht. Die Erlebnisse und die Hoffnungen des Psalmdichters sind mit denen seines Volkes innig verflochten. - Wir sehen hier den Glauben aus der unendlichen Größe des HERRN Schlüsse ziehen. Er, der mit solcher Macht schlägt und verwundet, wird sich auch im Retten und Heilen mächtig erweisen. Er hat uns viel schwere Drangsal erleben lassen; er wird uns auch viel herrliche Gnade zu schmecken geben. Er hat uns beinahe getötet; er wird uns auch seine lebendig machende Kraft erfahren lassen. Und ob wir auch schon fast tot und begraben wären, er wird uns auferwecken und aus den Tiefen der Erde wieder heraufholen. So tief der HERR uns sinken lassen mag, er wird dem Hinabgleiten eine Schranke setzen und uns zu guter Zeit wieder emporziehen. Selbst wenn wir ins Grab versenkt werden, haben wir den Trost, dass es tiefer mit uns nun nicht mehr gehen kann, sondern dass wir wieder emporsteigen und zu einem besseren Lande auffahren werden; und dies alles, weil der HERR ein so mächtiger Heiland ist. Ein kleiner Gott würde uns im Stich lassen, aber nicht so Jehova, der Allmächtige. Man kann sich sicher auf ihn stützen, da er die Säulen des Himmels und der Erde trägt.

21. Du wirst meine Hoheit mehren. (Grundtext) Der Psalmist kehrt wieder zu seiner eigenen Person zurück. Als König nahm David an Ansehen, Macht und Einfluss zu. Gott tat große Dinge für ihn und durch ihn, und das ist die ganze Größe, welche Knechte Gottes brauchen und wünschen. Mögen wir solchen Glauben an Gott haben, wie ihn diese Worte erweisen. Und mich wieder trösten. Die engl. Bibel fasst den Sinn anders: und mich allerseits5 trösten oder erquicken. Wie wir von Trübsalen eingeschlossen waren, so werden wir auch von Tröstungen umringt werden. Von oben und von allen Seiten wird sich Licht ergießen und die frühere Düsternis vertreiben. Es wird in der Tat eine große Wandlung vor sich gehen, wenn der HERR wiederkehrt, um uns zu trösten und zu erquicken und alles wiederherzustellen.

 

 

22. So danke ich auch dir mit Psalterspiel für deine Treue, mein Gott;
ich lobsinge dir auf der Harfe, du Heiliger in Israel.
23. Meine Lippen und meine Seele, die du erlöset hast,
sind fröhlich und lobsingen dir.
24. Auch dichtet meine Zunge täglich von deiner Gerechtigkeit.
Denn schämen müssen sich und zuschanden werden,
die mein Unglück suchen.


  Nun kommt das Schlussgelübde, den HERRN zu preisen.

22. So danke ich auch dir, oder besser: So will ich dich auch preisen mit Psalterspiel. Eine so wunderbare, erstaunliche Liebe erheischt feines Lob. David wollte dem besten aller Meister auch die beste Musik weihen. Seine Harfe sollte nicht schweigen, und ebensowenig seine Stimme. (Für) deine Treue, mein Gott. Die Treue ist eine der köstlichsten Eigenschaften unseres Bundesgottes. Auf sie bauen wir und von ihr fließen uns reiche Ströme des Trostes zu. Seine Verheißungen sind gewiss, seine Liebe ist unwandelbar, seine Wahrhaftigkeit unantastbar. Welcher Gläubige wollte ihn nicht preisen, wenn er dessen gedenkt? Ich lobsinge dir auf der Harfe (genauer: will dir auf der Zither spielen), du Heiliger in Israel. Ein neuer Name und ein neues Lied. Der Heilige Israels, das ist ein sehr erhabener und zugleich teuerwerter Name von reichem Lehrgehalt. Es sei unser Entschluss, ihn aus allen Kräften zu verherrlichen.

23. Meine Lippen sollen jubeln, wenn ich dir lobsinge. (Wörtl.) Es soll mir keine Mühe und Arbeit sein, dich zu preisen, sondern eine Erquickung, ein Labsal, eine Wonne. Die Macht und der Wert des Gesanges liegen in der heiligen Freude des Sängers. Und meine Seele, die du erlöset hast. Dass die Seele, das Herz, singe, ist die Seele des Gesangs. Solange die Menschen noch nicht erlöst sind, gleichen sie verstimmten Instrumenten; wenn aber das kostbare Blut sie frei gemacht hat, dann sind sie imstande, dem HERRN, der sie erkauft hat, recht zu lobsingen. Dass wir mit einem so teuren Preise erkauft sind, ist uns ein mehr denn genügender Grund, uns dem eifrigen Dienst Gottes unseres Heilandes zu weihen.

24. Auch soll meine Zunge den ganzen Tag (d. i. immerfort) reden (oder dichten, singen) von deiner Gerechtigkeit. (Wörtl.) Ich will zu mir selbst, zu dir, mein Gott, und zu meinen Mitmenschen reden, und mein Thema soll sein deine Gerechtigkeit. Als Kinder des neuen Bundes fügen wir hinzu: vornehmlich auch die wunderbare Erweisung deiner Gerechtigkeit in der Rechtfertigung des Sünders durch das heilige Opfer deines lieben Sohnes; und dieses allezeit neue und nie zu erschöpfende Thema soll mich den ganzen Tag begleiten, von der Morgendämmerung bis zum Abenddunkel. Andre haben ihre Lieblingsgesprächsgegenstände; so sollen sie auch von dem hören, was mir das Liebste ist. Ich will nimmer aufhören davon zu reden, denn es liegt mir am Herzen und wird zu allen Zeiten zeitgemäß sein. Denn beschämt worden, zuschanden geworden sind, die mein Unglück suchten. (Wörtl.) Wie in vielen andern Psalmen sprechen die Schlußworte von dem als einer vollendeten Tatsache, was in den vorhergehenden Versen nur erbeten worden war. Der Glaube weiß, dass er hat, was er erbittet, und er hat es auch wirklich. Er erfasst die Dinge, die er erhofft, in ihrer Realität (man vergl. Hebr. 11,1 im Grundtext), einer so wahrhaftigen und greifbaren Realität, dass die Seele schließlich nicht anders kann als ein Jubellied anstimmen. Schon sind auch unsere Feinde, die Sünde, Satan, die Welt, überwunden; der Sieg gehört uns!

 

 


Erläuterungen und Kernworte

V. 1. Es ist vor allem nötig, dass wir zu denen gehören, welche auf den HERRN trauen; dann aber auch, dass sich diese Herzensfrömmigkeit nicht in unserm Innern verschließe, sondern allen kundwerde, mit denen wir in Berührung kommen, sogar unseren Gegnern und Feinden. Andernfalls, wenn niemand weiß, dass wir unsere Hoffnung auf Gott setzen, ist es gar nicht möglich, dass wir die Art von Beschämung fürchten, vor welcher sich der Psalmdichter so scheute. Ein Künstler kann nicht zuschanden werden, wenn er bei seinen Mitmenschen gar nicht den Ruf eines Künstlers genossen hat. Man kann einem Kranken nicht sagen: "Arzt, hilf dir selber", es sei denn, er habe wegen seiner Heilkunst in gutem Ansehen gestanden. So wird es auch niemand einfallen, über einen Mann, bei dem man nie gemerkt hat, dass er seine Hoffnung auf Gott setze, zu spotten: "Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun, hat er Lust zu ihm" (Mt. 27,43). Die Sorge, welche der Psalmdichter hier ausspricht, befällt demnach nur solche, deren Vertrauen auf dem HERRN steht; andere werden von ihr nicht gequält. Wolfgang Musculus † 1563.


V. 2. Errette mich durch deine Gerechtigkeit. Neige deine Ohren zu mir. Lass meine Errettung die Frucht deiner Treue und meines Flehens sein, so wird sie umso köstlicher sein. John Trapp † 1669.


V. 3. Dahin ich immer fliehen möge. Es gibt einen Weg zu unserm starken Wohnhort; und wir kennen diesen Weg. Es ist eine Tür da, und wir haben den Schlüssel dazu. Kein Wachtposten hält uns zurück: der Hort ist unser Wohnhort; wer dürfte uns hindern, uns in ihm niederzulassen und uns alles, was er enthält, anzueignen? Könige können, so leutselig sie gegen ihre Untertanen gesinnt sein mögen, nicht immer jedermann zu sich lassen. Infolge der vielen Ansprüche, die an sie gestellt werden, und der Beschränktheit ihres Vermögens zu helfen, vor allem aber auch wegen der Notwendigkeit, das Gefühl für ihre Würde aufrecht zu erhalten, können sie den Zutritt zu sich nur zu gewissen Zeiten und unter Beobachtung steifer Förmlichkeiten gestatten. Der König aller Könige hingegen erlaubt uns, freimütig zu seinem Gnadenthron zu kommen, und befiehlt uns, in allen Dingen unsere Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor ihm kund werden zu lassen (Phil. 4,6). Wir können nicht zu kühn in ihn dringen und brauchen nie zu fürchten, dass wir ihm durch unablässiges Kommen lästig fallen. William Jay † 1853.


V. 5. Denn Du bist meine Hoffnung. Nicht nur steht unsere Hoffnung auf Gott, sondern er selbst ist unsere Hoffnung. "Gott, unser Heiland, und der Herr Jesus Christus, der unsere Hoffnung ist," sagt Paulus 1. Tim. 1,1. Und ein anderes ähnliches Wort des Paulus (Kol. 1,27) zeigt uns noch einen tieferen Sinn: "Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit." Christus selbst ist unsere Hoffnung als der einzige Urheber derselben; Christus ist unsere Hoffnung als das Ziel derselben; und Christus, das A und das O, ist unsere Hoffnung auch als derjenige, welcher sie in uns wirkt, wie da steht: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit. Jedes Sehnen unsers Herzens, jeder Hoffnungsstrahl, der in uns aufleuchtet, jede Ahnung der Herrlichkeit, die uns durchdringt, jede Stimme, die uns im innersten Herzen verheißungsvoll von dem Guten zuflüstert, das für uns in Bereitschaft sei, wenn wir Gott lieben wollen, ist ein Licht von Christus, das uns leuchtet, ist eine Berührung Christi, die uns zu neuem Leben weckt, ist die Stimme Christi, welche spricht: "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen", kurz, ist Christus in uns, die Hoffnung der Herrlichkeit, Christus, der uns durch seinen uns innewohnenden Geist zu ihm selbst, unserer Hoffnung, zieht. Denn der Inhalt unserer Hoffnung ist nicht die Herrlichkeit des Himmels, nicht die Freude, nicht der Friede, nicht die Ruhe von der Arbeit, nicht die Erfüllung aller unserer Wünsche, sondern unsere Hoffnung ist Christus, unser Gott. Nichts, was Gott etwa schaffen könnte, ist das, was wir erhoffen; nichts, was Gott uns geben könnte außer sich selbst, keine erschaffene Herrlichkeit oder Schönheit oder Hoheit oder Glück oder Reichtümer. Worauf wir hoffen, ist Gott unser Heiland selber, dass seine Liebe, seine Seligkeit, die Freude unsers Herrn selber, der uns also geliebt hat, auf ewig unsre Freude und unser Teil sei. E. B. Pusey † 1882.
  Von meiner Jugend an. Welche Freude wird es uns im Alter gewähren, wenn wir in der Jugend unseres Schöpfers gedacht und ihn als unseren Meister anerkannt haben. Hat doch selbst der Heide Seneka († 65) gesagt, eine gut verlebte Jugend sei der größte Trost des Alters. David konnte Gott zuversichtlich um Errettung aus der Hand der Gottlosen anflehen, weil Gott seine Zuversicht war von seiner Jugend an. Darauf gründete er die Hoffnung, dass der HERR ihn auch im Alter nicht verlassen werde. Vergl. V. 5 f. mit V. 9 und V. 17 mit V. 18. Ein treugesinnter Meister wird einen ausgedienten Knecht nicht davonjagen. Als der römische Prokonsul dem Polykarp († um 156) befahl, Christus zu verleugnen und beim Kaiser zu schwören, antwortete dieser: "Sechsundachtzig Jahre diene ich ihm, und er hat mir nie Übels getan; wie könnte ich ihm fluchen, meinem König und Heiland?" Jakob konnte sagen: "Gott ist mein Hirt gewesen mein Leben lang bis auf diesen Tag" (1. Mose 48,15). Wohin sollte ich gehen, um einen besseren Meister zu finden? "Du allein hast Worte ewigen Lebens." Er, der der Halt meiner Jugend gewesen ist, wird die Stütze meines Alters sein. Ich darf mich ganz auf die Verheißungen dessen werfen, der mich bisher durch seine gnädige Vorsehung erhalten hat. In den vorigen Tagen behütete Gott mich, da schien seine Leuchte über meinem Haupte, und ich ging bei seinem Lichte in der Dunkelheit (Hiob 29,3 f.), und wiewohl jetzt die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster geworden sind an meinem natürlichen Horizont (Pred. 12,2), so ist doch der HERR mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? (Ps. 27,1) Ja, ob ich schon wanderte im Tal der Todesschatten, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich (Ps. 23,4). Ich habe überschwengliche Erfahrung von seiner Gnade und seinem Nahesein. Ein frommer Mann hat einmal gesagt: "Ich habe in meiner Jugend das gewonnen, was ich um alles in der Welt nicht jetzt erst zu gewinnen haben möchte." Oliver Heywood † 1702.


V. 5-8. Er hat einen festen Boden, darauf er treten kann - die Erfahrungen eines langen Menschenlebens. Er hat aber auch wiederum seinerseits ein Menschenleben lang Hoffnung und Glauben gehalten, schon von der Jugend an, wo der Leichtsinn am schwersten dazu kommen lässt. Er hat Außerordentliches erfahren, so dass er vor vielen als ein Wunder erscheint - so schöne Erfahrungen hat er gemacht, weil er bei niemand anderm als bei Gott die Zuflucht gesucht hat. Er hat indes auch nicht, wie die meisten, Gottes Hand bloß da erkannt, wo sie ungewöhnlicherweise in das Leben eingreift; selbst die gewöhnlichen Taten Gottes werden ja vor dem Auge des Glaubens zu Wundern. Schon das ist ihm ein Gegenstand des Preises, dass er aus dem dunkeln Mutterschoße ans Tageslicht gebracht worden. Und ist nicht die Erhaltung des Embryo (der Leibesfrucht) in dem dunkeln, engen Raum eine Wundertat? Ist sie nicht gleich beim Entstehen des Menschen ein Unterpfand für das, was man nachher immer aufs Neue wieder im Leben erfährt, dass wir einen Gott haben, der auch aus dem Tode wieder ans Licht bringt? (Ps. 68,21.) Wenn wir so wenig zu loben finden, was anders ist der Grund, als weil wir für die tagtäglichen Wunder keine Augen haben? Der Sänger aber, der für die tagtäglichen Wunder Gottes Augen hat - sein Mund ist auch tagtäglich Gottes Ehre voll. Prof. August Tholuck 1843.


V. 6. Gott sei gelobt, dass ich je geboren ward. Thomas Halyburton †1712.


V. 7. Ich bin vor vielen wie ein Wunder oder ein wunderbares Zeichen. Das hebräische Wort hat (wie auch unser deutsches Wort Wunder) Doppelsinn. Manche Ausleger sind der Meinung, es sei hier im günstigsten Sinn genommen: der Psalmist sei in vieler Augen ein Wunderzeichen der göttlichen Güte. Aber der ganze Ton des Psalms spricht gegen diese Auffassung. Hieronymus übersetzt wohl richtig portentum ein abschreckendes Zeichen. Alexander Geddes † 1802.
  
  Wer ist der Braut des Lammes gleich?
  Wer ist so arm und wer so reich?
  Wer ist so hässlich und so schon?
  Wem kann’s so wohl und übel gehn?
  Lamm Gottes, du und deine sel’ge Schar
  Sind Menschen und auch Engeln wunderbar!
  
  Aus Gnaden weiß ich auch davon;
  Ich bin ein Teil an deinem Lohn,
  So elend, als man’s kaum erblickt,
  So herrlich, dass der Feind erschrickt,
  So gottlos, dass wohl alle besser sind,
  Und so gerecht wie du, des Vaters Kind.
  
  Ein Wurm, bis in den Staub gebeugt,
  Der auf den Thron des Königs steigt,
  Bekümmert, trübe, bloß und krank,
  Und doch voll lauter Lobgesang;
  So schwach, dass meine Kunst in nichts besteht,
  So stark, dass Satan aus dem Wege geht.
  
  Verfolgt, verlassen und verflucht,
  Doch von dem Herrn hervorgesucht,
  Ein Narr vor aller klugen Welt,
  Bei dem die Weisheit Lager hält.
  Verdrängt, verjagt, besiegt und ausgefegt,
  Und doch ein Held, der ew’ge Palmen tragt! usw.
  
  E. G. Woltersdorf † 1761.
  
  Man vergleiche auch die bekannte Stelle in dem 5. Kapitel des Briefes an Diognet (aus dem 2. Jahrhundert): "Zwar sind die Christen weder dem Lande, noch der Sprache, noch den bürgerlichen Lebenseinrichtungen nach von den übrigen Menschen verschieden; denn sie bewohnen weder eigene Städte noch reden sie eine besondere Sprache, noch führen sie ein sonderliches Leben. Aber wiewohl sie sich in Bezug auf Kleidung, Speise und andere Dinge des äußerlichen Lebens den Sitten des Landes anschließen, zeigen sie doch eine Eigentümlichkeit des Verhaltens, die allen verwunderlich ist. Sie bewohnen ihr Vaterland, aber als Gäste. Sie haben als Mitbürger alles mit den andern gemein und leiden doch alles, als wären sie Fremde. Sie sind im Fleische, aber sie leben nicht nach dem Fleische. Auf der Erde wandeln sie, aber im Himmel sind sie Bürger. Sie gehorchen den Gesetzen, aber sie übertreffen die Gesetze durch ihr Leben. Sie lieben alle, und alle verfolgen sie; sie verzeihen und werden verurteilt; sie werden getötet und leben doch; sie sind Bettler und machen viele reich; sie haben an allem Mangel und haben doch alles im Überfluss; sie werden geschmäht, und die Schmach gereicht ihnen zur Ehre; man flucht ihnen, sie segnen; man schilt sie, sie geben jedem seine Ehre; sie tun Gutes und werden als Übeltäter bestraft; wenn sie bestraft werden, freuen sie sich. Wie Fremde bekriegen die Juden sie, und die Griechen verfolgen sie, und doch vermögen, die sie hassen, keine Ursache ihres Hasses anzugeben." - Dazu das Lied: "Es glänzet der Christen inwendiges Leben" von Christ. Friedr. Richter † 1711.
  Der Messias zog nicht die bewundernden Blicke der Menschheit auf sich. Er fesselte wohl die Aufmerksamkeit und erregte Verwunderung. Aber je länger, je weniger eigentliche, tiefere Bewunderung. Einige wenige, deren Augen Gott geöffnet hatte, sahen allerdings in einem gewissen Maße die wahre Größe, welche bei all der äußeren Niedrigkeit und scheinbaren Geringheit an ihm war. Sie sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit, eine Herrlichkeit, welche allen kreatürlichen Glanz verdunkelt. Aber die große Masse derer, welche ihn sahen, verwunderte und entsetzte sich wohl über ihn, schaute jedoch nicht in seine verborgene Herrlichkeit. Seine äußere Erscheinung war ihnen, zumal im Gegensatz dazu, dass er die Messiaswürde beanspruchte, anstößig. Der galiläische Mann vom Lande, der Zimmermann aus Nazareth, der "Sohn Josephs", der dennoch Gott als seinen Vater in Anspruch nahm, der von sich erklärte, er sei das Brot des Lebens und das Licht der Welt, und behauptete, dass das ewige Schicksal eines jeden von dem Annehmen oder Verwerfen seiner Person und seiner Botschaft abhinge - alles dies erregte in den Herzen der großen Mehrzahl seiner Landsleute aus Staunen und Unwillen, Verachtung und Schrecken gar seltsam gemischte Gefühlsbewegungen. Er war vielen in der Tat ein Wunder. So auch dem römischen Landpfleger. Selbst die Freunde Jesu traf der Ausgang, welchen er nahm, trotz der uns so deutlich scheinenden Vorherverkündigungen desselben, offenbar wie ein Donnerschlag. Sie wurden von Verwirrung und Entsetzen ebenso überwältigt wie von Gram. Welch maßloses Erstaunen mag sich auf ihren Angesichtern abgespiegelt haben, als Jesus ihnen ankündigte: "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten!" Wie muss erst ihre Bestürzung zugenommen haben bei den aufeinanderfolgenden Auftritten in Gethsemane, in dem Palast des Hohenpriesters und dem Richthause des Landpflegers, bis sie zuletzt ihn, von dem sie gehofft hatten, er würde Israel erlösen, gleich einem schwerer Verbrechen überführten Sklaven ans Kreuz genagelt sahen, von den Menschen verflucht und von Gott verlassen! Da erreichte ihre Verwunderung den höchsten Grad - sie entsetzten sich über ihn und ärgerten sich an ihm. John Brown 1853.


V. 7-9. Über diese Verse predigte Joh. Kaspar Lavater, als er Ende des Jahres 1799 zum ersten Mal nach seiner Verwundung durch Mörderhand wieder vor seiner Gemeinde auftreten konnte. Er sagte in dieser Predigt u. a.: "Noch durch nichts bin ich so sehr im Vertrauen auf Gott aufs Neue gestärkt worden, wie durch das, was mir im Lauf dieses Jahres von Anfang an bis auf diese Stunde Angenehmes und Unangenehmes widerfuhr. Ich kann sagen, ich trage Momente der gefühlten göttlichen Langmut auf meiner Brust. Jeder wiederkehrende Schmerz meiner Wunden soll mir ein Ruf der Erweckung ein, mit neuem Mute, neuer Geduld und Demut, mit neuer Treue und Liebe in die Fußtapfen dessen zu treten, an dessen unnennbare Liebe und unbeschreibliche Wundenschmerzen für uns meine tausendmal leidlicheren Wunden mich täglich erinnern sollten." - Nach F. W. Bodemann 1877.


V. 9. Verwirf mich nicht in meinem Alter; denn jetzt bedarf ich dein am dringendsten. Saepe nigrum cor est, caput album: oft findet sich bei einem weißen Haupt ein schwarzes Herz. Salomo, Asa, Lot und viele andere hat Satan in ihrem Alter sich zur Beute gemacht, die er, als sie jung waren, von fern nicht so leicht überlisten konnte. Sogar heidnische Weise mahnen uns, für unser Alter Sorge zu tragen, da es nicht allein komme, sondern mit vielen Gebrechen Leibes und der Seele behaftet sei. Das wusste auch David; darum betete er so, wie wir es hier finden. Die alten Leute sind selten, die auf ihr geistliches Leben anwenden können, was Kaleb Josua 14,11 von sich bezeugen konnte. John Trapp † 1669.
  Es ist für einen Menschen, der das Alter über sich kommen sieht, weder unnatürlich noch unpassend, um besondere Gnade und Kraft zu bitten, damit er durch sie befähigt werde, dem zu begegnen, was er nicht abwenden und dem er doch nicht anders als mit Furcht entgegensehen kann; denn wer könnte die Gebrechen des Alters ohne schwere Gedanken nahen sehen? Wer wünschte wohl, ein alter Mann zu sein? Wer kann einen Mann betrachten, der vor Alter wankt und vor mannigfachen Gebrechen zusammenbricht, einen Mann, dem Gesicht und Gehör geschwunden sind, einen Mann, der allein steht inmitten der Gräber aller seiner Jugendfreunde; einen Mann, der sich selber und der Welt zur Last ist; einen Mann, der am Ende des letzten Aktes des seltsamen, ereignisvollen Lebensdramas steht und wohl gar sagen muss:
  
  Ich habe lang gelebt, und ich bin müde -
  Ein welkes Blatt, das zitternd hängt am Zweige, -
  Und was das Alter fröhlich könnt gestalten,
  Gehorsam, Liebe, Ehre von den Meinen.
  Ist mir versagt. -
  
  Und wer kann an dies alles denken, ohne sich besondere Gnade für den Fall zu erbitten, dass er so lange leben sollte, diese Tage der Schwachheit und Gebrechlichkeit aus eigener Erfahrung kennen zu lernen? Und wer sollte wohl nicht einsehen, wie wohlangebracht es im Blick auf solche Gebrechen ist, die Huld Gottes in frühen Jahren zu suchen? Albert Barnes † 1870.
  28. Juni 1770. Heute trete ich in mein 68. Jahr ein. Ich fühle, dass ich alt werde. Mein Augenlicht ist sehr geschwächt, so dass ich kleine Schrift nur bei sehr hellem Lichte lesen kann. Meine Kraft hat stark abgenommen, so dass ich viel langsamer gehe als noch vor etlichen Jahren. Auch mein Gedächtnis, sowohl für Personen, als für Namen, ist schwach geworden, so dass ich mich oft einen Augenblick besinnen muss, um sie mir in Erinnerung zu rufen. Wollte ich für den andern Morgen sorgen, so müsste ich, befürchten, dass mein Leib meinen Geist niederdrücken und entweder, infolge der Abnahme meiner Verstandeskräfte, Eigensinn oder, infolge der Zunahme der körperlichen Gebrechen, mürrisches Wesen erzeugen werde. Aber du, HERR, mein Gott, wirst es wohl machen. John Wesley † 1791.
  Auch die Kirche hat jetzt, da sie an Jahren hochgekommen ist, Anlass genug, sich diese Bitte anzueignen, da der Glaube ermattet, die Liebe erkaltet und die Gebrechen eines geistlichen Greisenalters mit Macht über sie kommen. Bischof George Horne † 1792.


V. 11. Die Leiden Christi riefen den Hohn heraus: "Gott errette ihn, hat er Lust zu ihm." Davids Widerwärtigkeiten verleiteten seine Feinde gar schnell zu dem Schluss: "Gott hat ihn verlassen - da ist kein Erretter." Alle Arten von Trübsalen unterwerfen uns leicht den schlimmsten falschen Beurteilungen böswilliger Menschen; aber bei Drangsalen solcher Art, wo es an schweren Selbstanklagen des Leidenden nicht fehlt, werden die Leute besonders leicht verleitet, unbarmherzig absprechende Urteile zu fällen, weil die Not selbst seltener Art ist und geeignet, schlechte Eindrücke hervorzurufen, und weil vor allem auch die Seufzer, mit denen die Betrübten ihren inneren Gefühlen, in der Hoffnung, sich dadurch zu erleichtern, Luft machen, als Zeugnis gegen sie verwendet und als der wahre Ausdruck ihres Gemütszustandes betrachtet werden. Richard Gilpin † 1700.


V. 14. Ich aber will immer harren. Siehe, HERR, ich habe zu dir gefleht und bin getröstet. Die Hoffnung hat mich’s also gelehrt. Ich bin froh; weil ich auf dich vertraut habe, werde ich nimmermehr zuschanden werden. Der Kummer drang auf mich ein mit gewaltiger Heeresmacht, schrecklich gerüstet, und belagerte mit großem Geschrei meine Festung. Das Getöse seiner Reisige schreckte mich. Am Tor stehend, gebot er Schweigen und sprach mit lauter Stimme: "Siehe da den Mann, der auf Gott traute, der sprach: Ich werde nimmermehr zuschanden werden, und sich der Hoffnung vertröstete!" Und als er bemerkte dass ich ob dieser Worte errötete, trat er noch näher auf mich zu und sprach: "Wo sind die Verheißungen, auf welche du bautest? Wo die Befreiung? Was haben dir deine Tränen genützt? Welche Hilfe haben dir deine Gebete vom Himmel gebracht? Du hast gerufen: niemand hat dir geantwortet; du hast geweint: wer ist von Mitleid für dich bewegt worden? Du hast zu deinem Gott geschrien, er aber schweigt. Du hast zu ihm gebetet, und er hat sich vor dir verborgen; es war da keine Stimme noch Antwort noch Aufmerken ... Darum auf, fleh zum Menschen um Hilfe, dass er dich aus dem Gefängnis befreie!" Bei diesen Worten erhob sich solch ein Waffengeklirr im Lager, solch ein Geschrei von Menschen und Lärm von Trompeten, dass ich kaum den Mut aufrecht halten konnte; und wenn meine liebe Hoffnung mir nicht Hilfe gebracht hätte, würde der Kummer mich gepackt und gefesselt in sein Gefängnis gebracht haben. Da aber kam Hoffnung glänzend in himmlischer Klarheit, und sagte mit süßem Lächeln: "O Streiter Christi, wo ist dein Mut? Was bedeutet dieser Kampf in deinem Gemüt?" Bei diesen Worten schämte ich mich. "Fürchte dich nicht," sprach sie darauf, "das Übel wird dich nicht übermögen; du sollst nimmermehr umkommen. Siehe, ich bin mit dir, dich zu erretten. Weißt du nicht, was geschrieben steht: Der Tor spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott? Die Verzweiflung hat zu dir geredet, wie die närrischen Weiber reden; niemals wird der Kummer dich überreden können, dass es keinen Gott gebe oder dass Gott nicht auf den einzelnen achthabe." Girolamo Savonarola † 1498.


V. 15. Die ich nicht alle zählen kann. David versucht sich V. 14 im Rechnen mit Hinzuzählen: Ich will immer deines Ruhmes mehr machen. Aber schon in dieser ersten Hauptart der heiligen Rechenkunst wird er gründlich zuschanden. Seine Kunst ist bald zu Ende, die bloße Aufzählung der Gnaden des HERRN erdrückt sein Gemüt; er muss sein Unvermögen eingestehen. Ob man den Ursprung und die Dauer, den Wert, den Reichtum oder die Mannigfaltigkeit des göttlichen Heils in Betracht ziehe, immer ist es weit über alle Schätzung erhaben. C. H. Spurgeon 1872.


V. 17. Gott, du hast mich von Jugend auf gelehret. Fragt ihr mich, wie David von Gott belehrt worden sei, so möchte ich dagegen fragen, was ihm nicht zur Lehre gedient habe? Gott lehrte ihn durch den Hirtenstab und lehrte ihn durch das Königszepter. Er lehrte ihn durch den begeisterten Ruf der Menge: "Saul hat Tausend geschlagen, aber David Zehntausend," und er lehrte ihn ebenso viel, wenn nicht mehr, durch die Verachtung, mit der man ihm am philistäischen Hofe begegnete. Er lehrte ihn durch die Pfeile, welche Jonathan aus Freundschaft für ihn abschoss, und er lehrte ihn durch den Wurfspeer, mit welchem Saul auf sein Leben zielte. Er lehrte ihn durch die Treulosigkeit Ahitophels und sogar seines sonst so treuen Joab, und er lehrte ihn durch die Treue Abisais und Mephiboseths und ebenso, lasst es mich gleich hinzufügen, durch den Aufruhr Absaloms und die Selbstsucht Adonias; das alles waren Mittel und Wege, durch welche der HERR seinen Knecht David lehrte. Und auch ihr, die ihr in Gottes Lehre seid, seid versichert, dass es in eurem Leben nichts gibt, wodurch er euch nicht lehren könnte: durch Tröstungen und Trübsale, durch Wunden und durch deren Heilung, durch das, was er gibt, und durch das, was er nimmt, will er euch unterweisen. Er lässt seine Schüler vieles verlernen, um sie etwas Rechtes lehren zu können; er zeigt ihnen ihre Torheit, um sie weise zu machen; er nimmt ihnen ihre falschen Vertrauensstützen, um sie mit Kraft zu erfüllen; er lässt sie innewerden, dass sie nichts sind, um ihnen zu zeigen, dass sie alles in Ihm, in Jesus, seinem geliebten Sohne, haben. James Harrington Evans † 1849.
  Die Jugend bedarf eines Lehrers, um Tugend anzunehmen. Darum haben sich denn auch alle gebildeten Völker um gute und weise Lehrer für die Jugend bemüht. Bei den Spartanern ward von dem Magistrat und den Senatoren einer zum Aufseher über die Erziehung und die Sitten der Knaben ernannt. In Athen wurden zwölf Männer durch Volkswahl ernannt, welche die Sitten der Jugend veredeln sollten. Gott aber ist selbst der Erzieher seiner Knechte. Plato sagt einmal, es gebe nichts Göttlicheres als das Erziehen der Kinder, und Sokrates, Gott sei der Verstand des Weltalls. So sind denn alle ohne Gott ohne Verstand, mit ihm und durch ihn aber werden sie in einem Augenblick weise. Philo bemerkt in seiner Abhandlung über Kain und Abel: "Irdische Lehrmeister können das Gemüt ihrer Schüler nicht füllen, wie man Wasser in ein Gefäß gießt; wenn aber Gott, der Quell aller Weisheit, dem menschlichen Geschlecht Erkenntnis mitteilt, tut er es ohne Verzug, in einem Augenblick." Die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, lehrt euch alles (1. Joh. 2,27). Thomas Le Blanc †1669.


V. 17.18.
  
  Durch viele Not und Plagen
  Hat mich der HERR getragen
  Von meiner Jugend auf;
  Ich sah auf meinen Wegen
  Des Höchsten Hand und Segen:
  Er lenkte meines Lebens Lauf.
  
  Sein Weg war oft verborgen;
  Doch wie der helle Morgen
  Aus dunkeln Nächten bricht,
  So hab ich stets gespüret:
  Der Weg, den Gott mich führet,
  Bringt mich durchs finstre Tal zum Licht.
  
  War Menschenkraft vergebens,
  So kam der Herr des Lebens
  Und half und machte Bahn.
  Wusst’ ich mir nicht zu raten,
  So tat Gott große Taten.
  Und nahm sich mächtig meiner an.
  
  Bis zu des Alters Tagen
  Will Er mich heben, tragen
  Und mein Erretter sein.
  Dies hat Er mir versprochen,
  Der nie sein Wort gebrochen;
  Ich werde sein mich ewig freun.
  
  Er wird mir schwachem Alten,
  Was Er versprochen, halten,
  Denn Er ist fromm und treu;
  Bin ich gleich matt und müde:
  Er gibt mir Trost und Friede
  Und steht mit Mut und Kraft mir bei.
  
  Nach wenig bangen Stunden
  Hab ich ganz überwunden;
  Ich bin vom Ziel nicht weit.
  Triumph! o welche Freuden
  Sind nach dem letzten Leiden
  Vor Gottes Thron für mich bereit.
  
  Ich warte froh und stille,
  Bis meines Gottes Wille
  Mich nach dem Kampfe krönt;
  An meiner Laufbahn Ende
  Sink’ ich in Jesu Hände,
  Der mit dem Richter mich versöhnt.


V. 18. Melanchthon schreibt im Jahr 1558, zwei Jahre nach dem Tode seiner Frau, ein Jahr vor seinem Abscheiden: In dem Greise erlischt die Sehnsucht nach der verstorbenen Frau nicht, wie wohl in Jüngeren. Wenn ich täglich meine Enkel ansehe, so gedenke ich nicht ohne Seufzen ihrer Großmutter; mein Schmerz erneut sich beim Anblick der Verwaisten. Sorgte sie doch für die ganze Familie; sie erzog die Kleinen, pflegte die Kranken, linderte durch ihre Zusprache meine Schmerzen, lehrte die Kinder beten. Darum vermisse ich sie allenthalben. Ich gedenke, wie sie fast täglich die Worte des Psalmisten wiederholte: Verlass mich nicht, Gott, im Alter. Das will ich fortan ohne Unterlass für mich beten. Rudolf Kögel 1895.
  Wie werden Schiffe, die lange Reisen zurückgelegt haben und drei oder vier Jahre dem heimatlichen Hafen fern gewesen sind, durch heiße und kalte Himmelsstriche gefahren sind, den Äquator wieder und wieder gekreuzt, viele Schwierigkeiten und schwere Stürme durchlebt haben und doch über Wasser geblieben sind, ich sage, wie werden solche Schiffe, wenn sie auf dem Meer nahe dem Hafen zusammentreffen, sich gegenseitig beglückwünschen! Und alte Jünger des Herrn sollten auch miteinander Gott preisen, dass er die Gnade in ihren Seelen lebendig erhalten hat. Ich möchte euch fragen, wie viele Schiffe ihr nicht schon vor euren Augen habt verunglücken sehen, wie viele, die, wie sich der Apostel ausdrückt, am Glauben Schiffbruch gelitten haben? Dieser und jener ist in verdammliche Irrtümmer oder doch in falsche Ansichten und Lehren verfallen, andere sind auf den Sandbänken weltlicher Vorteile festgefahren oder an Klippen zerschellt, ihr aber seid erhalten geblieben! Das sollte euch bewegen, diesen euren Gott, den Gott aller Gnade, desto mehr zu preisen. Lasst mich euch noch stärker ans Herz dringen. Sind keine unter euch, die ihr euch schon lang zu Christus bekennt, den alten, hohlen Eichen zu vergleichen, die im Walde mitten unter gesunden stehen und bei oberflächlicher Betrachtung diesen gleichen, denen aber der Regen, den sie trinken, nur dazu dient, ihr Verfaulen zu vollenden? Solche sind dem Fluche nah. Oder wachsen noch an euch lebendige Früchte, wie Liebe und Glaube, gleichwie in der ersten Zeit und reichlicher als damals? O dann preiset Gott und hebt eure Häupter empor, denn eure Erlösung naht, und werdet stark im Vertrauen, dass der Gott aller Gnade, der euch zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu berufen hat, euch auch für diese bewahren und binnen kurzem in ihren Besitz setzen wird. Thomas Goodwin † 1679.
  Abfall im Alter ist schrecklich. Wer fast bis auf die Spitze eines Turms geklettert ist und dann hinunterstürzt, tut einen umso schwereren Fall. Ein fast Genesener wird, wenn er einen Rückfall bekommt, umso gefährlicher krank. In der Offenbarung 12,4 lesen wir von Sternen, die vom Himmel auf die Erde geworfen werden durch den Schwanz des Drachen: es wäre ihnen besser gewesen, sich nie so hoch gesetzt zu haben. Der Ort, wo die Israeliten sich mit den Töchtern Moabs so törlich versündigten, war Jericho gegenüber, nur drei Stunden östlich vom Jordan; sie sahen ihr Erbteil vor ihren Augen liegen und gingen sein dennoch verlustig. Wie erbärmlich ist es doch, wenn alte Leute so nahe dem Eingang in den Himmel der Sünde verfallen, wie Eli im Alter seine Söhne verzärtelte, Juda in Blutschande fiel, David in Ehebruch, Asa in seiner Krankheit die Ärzte suchte, aber nicht den HERRN, und Salomo die Höhen und Götzenaltäre baute. So durchschifft mancher Seemann das weite Meer und leidet beim Hafen Schiffbruch. Das Getreide verspricht oft reiche Frucht, wenn es noch im Halm steht, und bringt doch keine Ernte. Wie mancher Baum, der mit Blüten beladen war und doch zur Zeit, da man Früchte erwartet, nichts trägt! Gedenket an Lots Weib; lasst diese Salzsäule euch zur Würze dienen. Thomas Adams 1614.
  Bis ich deinen Arm verkündige Kindeskindern. Er sieht es als die Hauptaufgabe seines Lebens an, Gottes Wunder zu verkündigen: wenn er noch länger auf Erden erhalten wird, so ist dies das Geschäft, für das er leben will. Gibt es auch bessere Prediger von Gottes Taten, als greise Eltern im Kreise ihrer Kinder, als Großeltern im Kreise ihrer Enkel? Prof. August Tholuck 1843.


V. 19. Gott, wer ist dir gleich - sei es an Größe oder an Güte, an Macht oder an Barmherzigkeit, an Gerechtigkeit, Wahrheit oder Treue, an Vollkommenheit seines Wesens oder der Werke seiner Hände? Und wer ist zu preisen, zu fürchten und anzubeten wie er? John Gill † 1771.


V. 22. Du Heiliger in Israel. Dieser Name Gottes kommt im Psalter nur noch an zwei anderen Stellen (Ps. 78,41; 89,19) vor. In Jesaja dagegen z. B. finden wir ihn dreißigmal. J. J. Stewart Perowne 1864.


V. 23. Meine Lippen und meine Seele. Heuchler preisen Gott mit den Lippen allein; David mit Seele und Lippen zugleich. William Nicholson † 1671.


Homiletische Winke

V. 1-7. Die mancherlei Gründe, welche der Psalmist anführt, um den HERRN zum Erhören zu bewegen. Er beruft sich 1) auf die Gerechtigkeit und Unparteilichkeit Gottes: Errette mich nach deiner Gerechtigkeit; 2) auf Gottes Zusage: der du zugesagt hast usw.; 3) auf Gottes Macht: mein Fels, meine Burg; 4) auf die enge Verbindung, in welcher er mit Gott steht: mein Gott, meine Zuversicht usw.; 5) auf die sittliche Beschaffenheit seiner Widersacher: sie sind Gottlose, Ungerechte, Tyrannen; 6) auf sein Gottvertrauen: denn Du bist meine Zuversicht usw.; 7) auf Gottes bisherige gnädige Fürsorge: auf dich bin ich gestützt von Mutterleibe an; 8) auf seine Dankbarkeit: mein Ruhm ist immer von dir; 9) auf den Umstand, dass er niemand anders hat, auf den er sich verlassen könnte: Du bist meine starke Zuversicht. Adam Clarke † 1832.
V. 1. Der Glaube ist eine gegenwärtige Handlung, eine persönliche Handlung, hat es nur mit Gott zu tun, weiß, was er will, und ertötet seine Befürchtungen mit der Waffe des Gebets.
V. 2. Eine Berufung 1) auf die Macht Gottes: Errette mich; 2) auf die Treue Gottes: nach deiner Gerechtigkeit; 3) auf die Vorsehung Gottes: Hilf mir aus; 4) auf die Herablassung Gottes: Neige deine Ohren zu mir; 5) auf die Barmherzigkeit Gottes: Hilf mir.
  Hilf mir aus, das ist, befreie mich: von wem, wovon, wie, durch welche Macht, zu welchem Zweck?
V. 3. Des Gläubigen sicherer Wohnort und sein beständiges Zufluchtsuchen bei demselben.
V. 4. 1) Wenn Gott für uns ist, sind die Gottlosen wider uns. 2) Wenn die Gottlosen wider uns sind, ist Gott für uns.
V. 5. Gott der Mittelpunkt unsers Glaubens und Hoffens.
V. 7a. angewandt 1) auf den Heiland; 2) auf den Gläubigen: dieser ein Wunder in Bezug auf das, a) was er war, b) was er jetzt ist, c) was er hernach sein wird; 3) auf den Sünder: dieser ein Wunder dreien Welten: a) den Engeln, b) den Gottseligen, c) den Teufeln und den Verdammten. Marwell Fenn 1830.
  Man betrachte den Text mit Bezug auf David, auf Christus und auf den Christen. 1) David war ein Wunder a) als Mensch, b) als König, c) als Knecht Gottes, 2) Christus ein Wunder a) in seiner Person, b) in seinem Leben, c) in seinen Wundertaten, d) in seinem Lehren, e) in seinem Leiden, f) in seiner Himmelfahrt und der himmlischen Herrlichkeit, welche er jetzt als unser Mittler genießt. 3) Der Christ ein Wunder a) sich selbst, b) der Welt, c) den höllischen Geistern, d) den Engeln im Himmel. John Cawood 1830.
V. 8. 1) Wessen voll? Voll Murrens, voller Zweifel, voller Befürchtungen? Nein, voll Ruhmes. Wessen Ruhmes? Menschenruhmes? Selbstruhms? Nein, Deines Ruhmes, Deines Preises. Wann? Täglich, das ist immerdar, den ganzen Tag und jeden Tag.
V. 9. Das Alter hat mancherlei an sich, was die huldreiche Nähe Gottes dringend nötig macht. 1) Im Alter genießt man nur wenig natürliches Vergnügen, wie z. B. Barsillai anerkannte (2. Samuel 19,35). 2) Im Alter nehmen die Trübsale des Lebens gemeiniglich zu. 3) Das Alter gebietet Achtung und findet sie auch bei Kindern, die sich ihrer Pflicht bewusst sind, und bei allen ernsten Christen; aber man weiß auch, wie oft alte Leute mit Geringschätzung behandelt und vernachlässigt werden. Dies ist besonders der Fall, wenn sie wegen Armut oder Gebrechen von andern abhängig sind. Ebenso widerfährt derartiges Leid nicht selten solchen, die im öffentlichen Leben gestanden haben, wenn sie ihre jugendliche Lebhaftigkeit und den Glanz ihrer reichen Begabung verloren haben. A. Fuller † 1815.
  Wir sehen hier 1) Furcht dem Glauben beigemischt. Das ist a) dem Alter natürlich, b) ihm nahegelegt durch die Art, wie die Welt alten Leuten gegenüber zu handeln pflegt. 2) Glauben der Furcht beigemischt. a) Alt sein ist keine Sünde, kann vielmehr b) eine Krone der Ehren sein (Spr. 16,31).
V. 11.12. Zwei große Lügen und zwei treffliche Bitten.
V. 13.14. 1) Was die Gottlosen mit ihrer Feindschaft gegen die Gerechten gewinnen: Schämen müssen sich usw. V. 13. 2) Was die Gerechten durch jener Feindschaft gewinnen: Ich aber usw.
V. 15. 1) Der Entschluss, den der Psalmsänger fasst: a) zu verkündigen, wie Gottes Treue (Gerechtigkeit) sich in seinen Heilserweisungen bezeugt hat; b) dies öffentlich zu tun: "mein Mund;" c) beständig: täglich, d. i. immerdar. 2) Der Grund, den er dafür angibt: "denn ich weiß deiner Heilserweisungen keine Zahl." Die Ewigkeit ist zu kurz, all deinen Ruhm zu erzählen; darum will ich jetzt schon damit beginnen und unablässig damit fortfahren.
V. 17. Nur Gott kann uns so lehren, dass die Dinge durch Erfahrung unser Eigentum werden, und die Lektionen, welche er uns gibt, sind stets nützlich und wichtig. Er lehrt alle seine Schüler, sich selbst, ihre Verderbtheit, Armut und Knechtschaft erkennen. Er lehrt sie sein Gesetz, dessen Reinheit, dessen Forderungen und Drohungen. Er lehrt sie sein Evangelium, dessen Reichtum, Gnadencharakter und Vernunftgemäßheit. Er lehrt sie ihn selber erkennen als versöhnten Gott, als ihren Vater und treuen Freund. Sein Lehren geschieht mit Kraft und Autorität. Wir können das Lehren dieses göttlichen Meisters an seinen Wirkungen erkennen; es erzeugt stets Demut - die Schüler sitzen zu seinen Füßen; es erzeugt das Gefühl der Abhängigkeit von diesem Meister, Abscheu vor der Sünde, Liebe zu Gott als Lehrer, Gehorsam gegen das Gelernte, Verlangen nach weiterer Vervollkommnung, und endlich führt es uns täglich zu Jesus. James Smith † 1862.
V. 17.18. Eine Predigt eines alten Mannes. Predigt von C. H. Spurgeon, Botschaft des Heils, 2. Jahrg. S. 33, 1876. Baptist. Verlag, Kassel.
V. 18. Das besondere Zeugnis des gottseligen Alters; worauf es beruht, an wen es sich richten sollte und was für Erfolg wir von ihm erhoffen dürfen.
V. 19. Man könnte eine sehr lehrreiche Predigt ausarbeiten über den Gegenstand: Die großen Dinge Gottes.
V. 20. . 1) Der zukünftige Nutzen gegenwärtiger Trübsale. "Hernach," sagte Äneas zu den Genossen seines Schiffbruchs, "wird es uns eine Freude sein, an diese Erlebnisse zu denken." 2) Der gegenwärtige Nutzen zukünftiger Gnadenerfahrungen.
V. 22. Ein auserlesener Gegenstand für die Lobgesänge der Gläubigen: Gottes Treue, wie sie sich in der Geschichte des Volkes Gottes und in unserer eigenen Erfahrung erweist.
V. 23. 1) Die Seele der Musik: Sie liegt nicht im Instrument oder in der Stimme, sondern in der Seele des Spielers oder Sängers. 2) Die Musik der Seele: Die Seele, die du erlöset hast. Die Erlösung ist der Gegenstand der Musik einst verlorener, jetzt geretteter Seelen; sie ist der eine große Gegenstand der Lobgesänge der Begnadigten im Himmel.
V. 24a. (Grundtext). Wie können wir unsere Familiengespräche erbaulich und nützlich gestalten?

Fußnoten

1. Luther folgt den LXX, welche mit einigen hebr. Handschriften zO(mf lesen: diese Lesart wird von vielen Neueren mit Berufung auf die Lehnstelle Ps. 31,3 angenommen.

2. Spurgeon hält mit vielen älteren Auslegern David für den Verfasser des vorliegenden Psalms. Diese Annahme ist sehr unwahrscheinlich, zunächst deshalb, weil der Psalm sich der Hauptsache nach als eine (allerdings sehr schöne) Zusammenstellung aus anderen Psalmen (bes. Ps. 22; 31; 35; 40) erweist und wir eine solche Kompilation einem so originalen Dichter wie David doch kaum zuschreiben dürfen. Ferner halten wir das Fehlen der Überschrift für ein sicheres Zeichen, dass die Sammler den Psalm nicht als davidischen Ursprungs angesehen haben. In den LXX wird er allerdings David zugeschrieben; aber daneben wird dort eine andere Überlieferung angegeben, wonach derselbe ein Lied der Rechabiten und der ersten Verbannten gewesen sein soll. - Die Vorliebe Spurgeons und anderer Ausleger, möglichst alle Psalmen David zuzuweisen, streitet nicht nur hie und da gegen den augenscheinlichen Tatbestand, sondern scheint uns auch Gottes Wirken zu verkleinern, als ob der HERR nicht noch gar manche anderee Männer dazu berufen und durch seinen Geist erleuchtet hätte, Israel heilige Psalmen zu geben. Übrigens steht dieser Annahme, als hätten wir in David den Verfasser fast aller Psalmen zu suchen, die gegenteilige, bei andern beliebte, welche dem David alle oder doch fast alle Psalmen abspricht, an Grundlosigkeit jedenfalls um nichts nach. - James Millard

3. Wie Luther übersetzt schon das Targum. Ähnlich versteht Delitzsch das Wort vom Loslösen der Frucht aus dem mütterlichen Schoße. Andere übersetzen nach den LXX und Hieronymus: mein Versorger. Doch haben offenbar schon die alten Übersetzer die Bedeutung nur geraten. Sehr leicht kann man bei Berücksichtigung der Grundstelle Ps. 22,10 das hebr. yzrg als Schreibfehler für das dortige yxg erklären, ebenso da skepasth/j der LXX für e)kspasth/j (vergl. o(e)kspasaj me 22,9); ebensogut kann aber sowohl im Hebr. als in den LXX ein absichtliches Wortspiel vorliegen.

4. So schon Symmachus. Aber wahrscheinlich hat bbs hier doch die Bedeutung umkehren wie das vorhergehende bw# und ist ausnahmsweise wie dieses zur Umschreibung des Adverbialbegriffs wieder gebraucht.