Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 79 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Asaphs. Ein Klagepsalm, wie ein Jeremia ihn hätte dichten können inmitten der Trümmer der geliebten Stadt. Er handelt offenbar von einer Zeit, da Feinde in das Land eingedrungen waren, die das Volk Gottes bedrückten, den Tempel entweihten und die Nation an den Rand des Untergangs brachten. Über "Asaph" vergleiche man die Vorbemerkung zum 74. Psalm. Der Verfasser des vorliegenden Psalms war ein echt patriotischer Dichter von Gottes Gnaden. Wollte Gott, wir hätten viele solcher Nationaldichter, deren Lieder den HERRN verherrlichten!


Auslegung

1. Gott, es sind Heiden in dein Erbe gefallen;
die haben deinen heiligen Tempel verunreiniget
und aus Jerusalem Steinhaufen gemacht.
2. Sie haben die Leichname deiner Knechte
den Vögeln unter dem Himmel zu fressen gegeben
und das Fleisch deiner Heiligen den Tieren im Lande.
3. Sie haben Blut vergossen um Jerusalem her wie Wasser;
und war niemand, der begrub.
4. Wir sind unseren Nachbarn eine Schmach worden,
ein Spott und Hohn denen, die um uns sind.


1. Gott, es sind Heiden in dein Erbe gefallen. Ein Ausruf des Entsetzens über einen ruchlosen, feindlichen Einfall; es ist, als wäre der Psalmist vor Schrecken starr. Fremde entweihen deine heiligen Vorhöfe, o Gott, mit ihren Füßen. Ganz Kanaan ist ja dein Land, dein besonderes Eigentum; aber deine Feinde haben es verheert. Die haben deinen heiligen Tempel verunreiniget. Bis in das innerste Heiligtum sind sie in ihrer Frechheit eingedrungen und haben dort ihrem Übermute Lauf gelassen. So waren das heilige Land, die heilige Stadt und das heilige Gotteshaus von den Unbeschnittenen entweiht worden. Es ist schrecklich, wenn sich ruchlose Leute in der Gemeinde des HERRN finden und wohl gar zu ihren Dienern zählen. Dann wird das Unkraut mit dem Weizen ausgesät, und die bittern Koloquinten werden zum Gemüse in den Topf geschnitten. (2. Könige 4,39.) Und aus Jerusalem Steinhaufen gemacht. Nach dem Verunreinigen und Schänden sind sie ans Zerstören gegangen und haben ohne Erbarmen ganze Arbeit getan. Jerusalem, die geliebte Stadt (Off. 20,9), die Freude des ganzen Landes, die Residenz des großen Königs (Ps. 48,3), die heilige Wohnstätte Gottes, war in einen Trümmerhaufen verwandelt. Ach wehe, wehe, das arme Israel! Es ist schlimm genug, wenn wir den Feind in unserem eigenen Hause sehen müssen; aber noch schlimmer ist es doch, wenn wir ihn im Hause Gottes antreffen. Man kann uns keinen härteren Schlag versetzen, als wenn man unseren Glauben antastet. Der Psalmdichter schüttet sein Leid gleichsam Stück um Stück vor Gott aus; er war ein geübter Beter und wusste, wie er sein Anliegen am nachdrücklichsten vorbringen konnte. Wir sollten unsere Sache so sorgfältig vor dem HERRN ausbreiten, als ob der Erfolg des Flehens ganz von unserer Kunst abhinge, Gott das Anliegen eindrücklich vorzustellen. Bei den irdischen Gerichten wenden die Menschen alle Macht der Überredungskunst auf, um ihre Zwecke zu erreichen; so sollten auch wir unsere Anliegen mit allem Eifer darlegen und unsere stärksten Gründe vorbringen.

2. Sie haben die Leichname deiner Knechte den Vögeln unter dem Himmel zu fressen gegeben und das Fleisch deiner Heiligen den Tieren im Lande. Der Feind fügte zu der grausamen Hinmetzelung den Schimpf, indem er die Leichname der Getöteten unbegraben liegen ließ, und die Israeliten waren bei der großen Drangsal nicht imstande, den ermordeten Brüdern die Ehre der Bestattung zu erweisen; so blieben denn die teuren Leiber der Blutzeugen unter freiem Himmel liegen, um von Geiern zerfleischt und von Schakalen und Hyänen gefressen zu werden. Ekelhafte Tiere, die dem Menschen nicht zur Speise dienen können, taten sich an den Menschenleibern gütlich. Das Fleisch des Herrn der Schöpfung ward zur Speise für aasfressende Raben und hungrige Hunde. Schrecklich sind die Nöte des Krieges; und doch sind sie je und je mit ganzer Wucht über Gottes Volk und Gottes Knechte hereingebrochen. Wir verstehen gut, dass solche Ereignisse das Gemüt des Dichters tief erschütterten, und er tat Recht daran, dass er sich an das Herz Gottes wandte und das große Unglück schilderte. Wir könnten uns diese Worte auch in dem Munde eines Christen der ersten Jahrhunderte denken, der das Amphitheater mit all seinen Bluttaten im Sinn hätte. Man beachte auch, wie in den beiden Versen die Bitte mit dem Hinweis auf Gottes Eigentumsrecht an Tempel und Volk begründet wird; wir lesen: dein Erbe, deinen Tempel, deiner Knechte, deiner Heiligen. Der HERR wird doch für die Seinen eintreten und es dem Heer der Feinde nicht zulassen, sie ganz und gar zu verderben!

3. Sie haben ihr (Grundtext) Blut vergossen um Jerusalem her wie Wasser. Die eindringenden Feinde erschlugen Menschen, als ob deren Blut nicht von mehr Wert wäre als ebenso viel Wasser; sie ließen das Blut in Strömen fließen, wie wenn eine Überschwemmung die Ebenen überflutet. Die heilige Friedensstadt ward ein großes, blutiges Schlachtfeld. Und war niemand, der begrub. Die wenigen Übergebliebenen fürchteten sich, diese Aufgabe zu übernehmen. Das war für die Juden, welche auf die Begräbnisse so viel Sorgfalt verwandten, ein schweres Leid, etwas vom Schauerlichsten, das sich denken ließ. Ist es soweit gekommen, dass niemand die Toten deiner Familie, o HERR, begräbt? Lässt sich niemand finden, der eine Schaufel voll Erde dafür übrig hätte, die Leichname deiner ermordeten Heiligen zuzudecken? Was für Herzeleid liegt in diesen Worten! Wie froh sollten wir sein, dass wir in einer so ruhigen Zeit leben, wo die Kriegstrompete auf unseren Gassen nicht gehört wird.

4. Wir sind unseren Nachbarn eine Schmach worden. Die, welche dem gemeinsamen Feind entronnen sind, machen aus uns einen Spott; sie schleudern uns unser Unglück ins Angesicht und fragen höhnisch: "Wo ist euer Gott?" Schwer heimgesuchten Menschenkindern sollte man doch Mitleid zeigen; aber in so vielen Fällen geschieht es nicht, weil eine gefühllose Logik schließt, dass solche, die außergewöhnliches Unglück erleiden, auch außergewöhnliche Sünder sein müssten. Nachbarn insonderheit beweisen oft das Gegenteil von freundnachbarlicher Gesinnung; je näher sie wohnen, desto weniger Teilnahme haben sie. Das ist eine höchst bedauerliche Tatsache. Ein Spott und Hohn denen, die um uns sind. In dem Leide anderer einen Anlass zur Freude finden und sich über ihren Jammer lustig machen, das ist einzig des Teufels würdig und solcher, deren Vater er ist. - So wird vor dem HERRN der traurige Stand der Dinge dargelegt. Asaph war ein ausgezeichneter Rechtsanwalt; denn er gibt eine herzbewegliche Schilderung von Dingen, die er selbst vor Augen hatte und unter denen er selber mitlitt. Wir haben aber einen noch mächtigeren Fürsprecher droben, der unsere Sache unermüdlich vor dem ewigen Thron geltend macht.


5. HERR, wie lange willst du so gar zürnen
und deinen Eifer wie Feuer brennen lassen?
6. Schütte deinen Grimm auf die Heiden, die dich nicht kennen,
und auf die Königreiche, die deinen Namen nicht anrufen.
7. Denn sie haben Jakob aufgefressen
und seine Häuser verwüstet.
8. Gedenke nicht unsrer vorigen Missetaten;
erbarme dich unser bald,
denn wir sind sehr dünn worden.
9. Hilf du uns, Gott, unser Helfer, um deines Namens Ehre willen;
errette uns und vergib uns unsre Sünden um deines Namens willen.
10. Warum lässest du die Heiden sagen: "Wo ist nun ihr Gott?"
Lass unter den Heiden vor unseren Augen kund werden
die Rache des Bluts deiner Knechte, das vergossen ist.
11. Lass vor dich kommen das Seufzen der Gefangenen;
nach deinem großen Arm erhalte die Kinder des Todes.
12. Und vergilt unseren Nachbarn siebenfältig in ihren Busen
ihre Schmach, damit sie dich, Herr, geschmäht haben.


5. HERR, wie lange willst du so gar zürnen? Sollen diese Züchtigungen denn gar kein Ende haben? Sie sind so scharf, so furchtbar, sie zerschmeißen uns; willst du sie noch länger anhalten lassen? Ist denn deine Barmherzigkeit gar dahin, dass du für immer (wörtl.) nur zuschlagen willst? Und deinen Eifer wie Feuer brennen lassen? Es war für den HERRN Grund genug vorhanden, in Eifer zu geraten, da man Götzenbilder aufgerichtet hatte und Israel vom Dienst Jehovas gewichen war; aber der Psalmdichter fleht zum HERRN, er möge sein Volk nicht gar wie mit Feuer verzehren, sondern die Leiden Israels lindern.

6. Schütte deinen Grimm auf die Heiden, die dich nicht kennen. Muss durchaus gestraft sein, so blicke doch etwas weiter um dich; schone deiner Kinder und schlage deine Feinde. Es gibt Länder, wo man dich in keiner Weise anerkennt; so suche doch erst diese mit deinen Gerichten heim und gib deinem irrenden Volke Israel noch eine Gnadenfrist! Und auf die Königreiche, die deinen Namen nicht anrufen. Höre auf uns, die wir zu dir flehen, und lass deinen Grimm aus an denen, die ohne Gebet dahinleben oder, wenn sie beten, die gräulichen Götzen anrufen. Manchmal scheint die Vorsehung mit den Gerechten viel schärfer zu verfahren als mit den Gottlosen, und der vorliegende Vers ist eine auf diesen Anschein gegründete kühne Aufforderung an Gott, des Inhalts: HERR, wenn du deine Zornschalen ausgießen musst, so fang doch bei den Menschen an, die dich in keiner Weise ehren, sondern offen wider dich in Waffen sind; und lass dir’s gefallen, derer zu schonen, die, ungeachtet ihrer vielen Verfehlungen, doch dein Eigen sind.

7. Denn sie 1 haben Jakob aufgefressen. Der Feind würde alle Heiligen verschlingen, wenn er es vermöchte. Wenn diese Löwen uns nicht allesamt vertilgen, so haben wir es dem zu verdanken, dass der HERR seine Engel gesandt und der Löwen Rachen verstopft hat. Und seine (Wohn-) Stätte (oder nach anderer Auffassung: seine Aue) verwüstet. Der Eroberer ließ nichts unversehrt, weder Haus noch Hof, weder Feld noch Flur; alles musste verheert und verwüstet sein. Ja wahrlich, das Herz des Gottlosen ist grausam!

8. Rechne uns nicht zu (wörtl.: Gedenke uns nicht) die Missetaten der Vorfahren. (Grundtext) Die Sünden eines Volkes häufen sich mit der Zeit immer schrecklicher an. Die Generationen speichern bergeshoch die Sünden auf, deren Heimsuchung dann über die Nachkommen hereinzubrechen droht; daher diese dringende Bitte. In den Tagen Josias konnte auch die ernsteste Buße eines Teils des Volkes das Gericht nicht mehr abwenden, das die vorhergegangenen langen Jahre des Götzendienstes über Juda heraufbeschworen hatten. Jedermann hat Ursache, für seine vorigen Sünden Amnestie (Vergessen) zu erbitten, und jedes Volk sollte dies zu seinem beständigen Gebet machen. Eilends komme uns dein Erbarmen entgegen, denn wir sind sehr schwach geworden. (Wörtl.) Komm uns schleunig zu Hilfe, denn unser Volk steht vor der Vernichtung; unsere Zahl ist sehr dünn geworden, und unser Zustand ist jämmerlich. Beachte, lieber Leser, wie der reuige Kummer sich an das Erbarmen Gottes wendet; sieh auch, wie er demgemäß seine Bitte nicht auf das etwa noch vorhandene Gute, sondern auf das Elend gründet. Ach, dass die elenden Seelen es recht lernten, gerade in ihrem traurigen Zustand einen Grund zu finden, der ihr Flehen bekräftigt. Was könnte bewegender das Mitleid herauslocken als schwere Not? Die Bitte unseres Verses ist wie gemacht für einen betrübten Sünder. Wir selber haben Zeiten erlebt, wo diese Worte ein so passender Ausdruck der Seufzer unseres beschwerten Herzens waren wie nur irgendeiner, den der Menschengeist hätte erfinden können.

9. Hilf du uns, Gott unseres Heils, um deines Namens Ehre willen. (Wörtl.) Das heißen wir meisterhaft gebetet. Keine Begründung hat solche Kraft wie diese. Gottes Ehre war in den Augen der Heidenvölker durch die Vergewaltigung des Volkes Gottes und die Entweihung des Tempels verdunkelt und besudelt worden; darum erflehen die tiefbetrübten Knechte Gottes seine Hilfe, auf dass sein ruhmwürdiger Name nicht mehr lästernden Feinden als Zielscheibe des Hohnes diene. Errette uns und vergib uns unsere Sünden um deines Namens willen. Die Wurzel des Übels, die Sünde, wird erkannt und bekannt; Vergebung der Sünde wird erfleht ebenso wie Hinwegnahme der Züchtigung, und beide werden begehrt nicht als Rechtsanspruch, sondern als Gnadengeschenk. Zum zweiten Mal wird der Name Gottes der Bitte zu ihrer Begründung eingefügt. Wenn die Gläubigen sich diese Art des Flehens recht zum Vorbild nehmen, werden sie sich gut dabei stehen; die Ehre des Namens Jehovas anrufen, das ist das mächtigste Waffenstück im Zeughaus des Gebets.

10. Warum lässest du (genauer: Warum sollen) die Heiden sagen: "Wo ist nun ihr Gott?" Warum sollten diese gottlosen Mäuler mit einer ihnen so süßen, uns so bitteren Speise gefüllt werden? Wenn die Trübsale des Volkes Gottes der Spott der Sünder werden und den Gottlosen zum Anlass dienen, die Frömmigkeit lächerlich zu machen, so haben wir guten Grund, uns bei dem HERRN darüber zu beschweren. Lass unter den Heiden vor unseren Augen kund werden die Rache des Bluts deiner Knechte, das vergossen ist. Der Psalmist hält Gott seine alte Verheißung 5. Mose 32,43 vor. Es ist billig, dass solche, die Gottes Volk verhöhnen, weil es unter der Zuchtrute des HERRN schmachtet, selber die gleiche Hand zu fühlen bekommen. Es gibt Leute, die an der Art dieser Bitte Anstoß nehmen; aber uns dünkt, sie haben dazu keinen Grund. Ist es doch jedem lebhaft fühlenden Patrioten natürlich, zu wünschen, dass das seinem Lande zugefügte Unrecht wieder gutgemacht werde, und ebenso muss jeder Christ es herbeisehnen, dass der Gemeinde des HERRN durch den Umsturz des Irrtums eine Ehrenrettung und Rächung zuteilwerde. Die Vernichtung des Antichrists ist die Vergeltung für das von ihm vergossene Blut der Knechte Gottes. Wir können daher nicht um Abwendung dieses Gerichtes bitten; es ist vielmehr etwas vom Herrlichsten dessen, was wir für die Endzeit erhoffen.

11. Lass vor dich kommen das Seufzen der Gefangenen. Können deine Kinder nicht singen und wagen sie es nicht laut zu rufen, so lass doch ihre stillen Seufzer zu deinen Ohren kommen und befreie die Ärmsten von ihren Peinigern. Diese Worte passen für die Betrübten in gar mancherlei Umständen, und ein Mann der Erfahrung wird wissen, wie er sie seiner eigenen Lage anpassen oder in Hinsicht auf andere brauchen kann. Nach deinem großen Arm erhalte die Kinder des Todes. Der Glaube nimmt an Kraft zu, während er betet. Vorhin wandte er sich an Gottes Erbarmen, jetzt an Gottes weithin reichende Allmacht. Von der Bitte für die Schwachen, Elenden (V. 8) erhebt er sich zum Flehen für solche, die sich bereits am Rande des Todes befinden, die schon wie Schlachttiere für die Schlachtbank ausgesondert sind. Wie trostreich ist es für Gläubige, die dem Verzagen nahe sind, zu bedenken, dass Gott sogar solche lebendig erhalten kann, die das Todesurteil schon in sich tragen. Menschen und Teufel mögen uns dem Verderben zusprechen, während Krankheit uns zum Grabe schleppt und Kummer uns in den Staub drückt; aber es gibt Einen, der unsere Seele trotz alledem am Leben erhalten und sie aus dem Abgrund der Verzweiflung heraufbringen kann. Will es der HERR, so wird das Schaf lebendig bleiben, ob es auch bereits in des Löwen Rachen ist. Ja sogar am modernden Gerippe wird das Leben den Tod überwinden, wenn Gott seine Macht offenbart.

12. Und vergilt unseren Nachbarn siebenfältig in ihren Busen ihre Schmach, damit sie dich, Herr, geschmäht haben. Sie haben dein Dasein geleugnet, deine Macht gelästert, deinen Dienst verhöhnt und dein Haus zerstört; darum auf, Allherr, und lass sie es innewerden, dass man dein nicht ungestraft spotten kann. Schütte ihnen ein volles Maß von Schande in den Schoß2 dafür, dass sie den Heiligen Israels beschimpft haben. Gib ihnen strenge Vergeltung, bis sie die volle Zahl der Strafen empfangen haben. Es wird geschehen. Der Wunsch unseres Verses wird eine vollendete Tatsache werden. Der HERR wird seine Auserwählten rächen, ob es auch scheint, als säume er damit.


13. Wir aber, dein Volk und Schafe deiner Weide,
werden dir danken ewiglich
und verkündigen deinen Ruhm für und für.


13. Die Dankbarkeit der Gemeinde des HERRN ist tief und dauernd. Auf den Tafeln ihres Gedächtnisses stehen herrliche Errettungen verzeichnet, und solange sie existiert, werden ihre Söhne diese immer wieder mit Wonne erzählen. Wir haben eine Geschichte, die alle anderen Chroniken überdauern wird, und sie erglänzt in jeder Zeile von der Herrlichkeit des HERRN. Gerade aus den dunkelsten Unglückswolken erstrahlt Gottes Friedensbogen, und die trüben Tage seines Volkes werden das Präludium zu außerordentlichen Erweisungen der Liebe und Allmacht des HERRN.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Dieser Psalm ist in jeder Beziehung das Seitenstück von Ps. 74. Die Berührungen sind nicht bloß stilistisch, die Wechselbeziehungen liegen noch viel tiefer: beide Psalmen haben gleich asaphisches Gepräge, stehen in gleichem Verhältnis zu Jeremia und klagen beide aus gleicher Zeitlage heraus über eine Zerstörung des Tempels und Jerusalems, wie sie neben der chaldäischen Zeit nur die seleuzidische (1. Makkabäer 1,31 [33]; 1. Makkabäer 3,45; 2. Makkabäer 8,3) und in Verbindung mit Entweihung des Tempels und Hinschlachtung der Knechte Gottes, der chasidim (1. Makkabäer 7,13 [12]; 2. Makkabäer 14,6), ausschließlich die seleuzidische auszuweisen hat. Das Tempelzerstörungswerk, welches in Ps. 74 im Gange ist, erscheint in Ps. 79 als vollzogen, und hier wie dort bekommt man nicht den Eindruck der Gräuel eines Krieges, sondern einer Versorgung; es ist geradezu die Religion Israels, um welcher willen die Heiligtümer der Zerstörung und die Bekenntnistreuen der Niedermetzelung verfallen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Die einzelnen geschichtlichen Züge des Psalms lassen sich zwanglos aus der Zeit der chaldäischen Invasion erklären. Außerdem gereicht die Art der Benutzung des Psalms, welche im ersten Makkabäerbuch (1. Makkabäer 1,31; 3,45; 7,13; 7,16 f.) vorliegt, viel eher dieser Hypothese (dass der Psalm im Exil entstanden sei) zur Bestätigung als der ihr gegenüberstehenden (dass der Psalm der makkabäischen Periode angehöre). Der wohl unterrichtete Verfasser dieses Buchs würde V. 2.3 nicht als "heilige Schrift" zitiert haben (1. Makkabäer 7,17), wäre der Psalm ein Produkt der Zeit gewesen, die der Historiker beschrieb. Lic. Hans Keßler 1899.
  Im Jahre 1546 wurde auch die im Stillen entstandene calvinische Gemeinde in Meaux von der katholischen Verfolgungswut betroffen. Vorsichtig hatte sich diese Gemeinschaft allmählich gebildet. Der Wollkrämer Peter Leclerc wurde nach mehrtägigem Fasten und Beten zum Diener des Worts und Sakraments erwählt. Die Versammlungen fanden im Hause Mangins statt. Doch bald wurden sie entdeckt und am 5. September beim Magistrat denunziert. Unbemerkt traten der Lieutenant und der Prévôt der Stadt mit ihren Dienern in die Versammlung, als Leclerc gerade über eine Stelle aus dem ersten Korintherbriefe sprach. Gehorsam ließen sich die Versammelten, etwa 62, binden und ins Gefängnis abführen. Unterwegs sangen sie Psalmen, vorzüglich den 79.: HERR, es sind Heiden in dein Erbe gefallen, die haben deinen heiligen Tempel verwüstet. K. G. von Polenz 1857.


V. 1-4. In der Makkabäerzeit (siehe 1. Makkabäer 7,8-17) sandte Demetrius, der Sohn des Seleukus, den abtrünnigen Hohenpriester Alkimus und den grausamen Feldherrn Bacchides nach Jerusalem; die töteten heimtückisch die Schriftgelehrten und Chasidäer,3 die zu ihnen gekommen waren, um für ihr Volk um Frieden zu bitten. Alkimus ließ sechzig aus ihnen fangen und tötete sie alle auf einen Tag, wie der Psalmdichter geschrieben hat: "Das Fleisch deiner Heiligen haben sie den Tieren gegeben; sie haben Blut vergossen um Jerusalem umher wie Wasser; und war niemand, der sie begrub." Und in jener letzten, schrecklichsten Verwüstung, als sich die römischen Adler um die dem Untergang geweihte Stadt scharten und um den Tempel, von welchem Gott gesagt hatte: "Lasst uns von hinnen weichen"; als nicht ein Stein auf dem andern blieb, als Feuer das Heiligtum verzehrte, als Zion wie zum Felde umgepflügt wurde, Jerusalem von Erschlagenen voll ward und die Söhne Israels um die Mauern der Stadt in solchen Mengen gekreuzigt wurden, dass kein Raum mehr blieb und kein Holz für neue Kreuze; als Schmach und Scham und Schande das Los des Israeliten wurde, dass er als Flüchtling, als ein Auswurf der Menschheit, in allen Landen umherwandern musste; als all diese schmerzlichen Verhängnisse über Jerusalem hereinbrachen, - da war es eine Strafe für viele seit langem gehegte Missetaten; es war die Erfüllung der so oft vergeblich dem Volke vorgehaltenen Drohungen. Ja, schrecklich haben deine Feinde in dir gewütet, o Jerusalem, aber noch schrecklicher deine Sünden! Plain Commentary 1859.
  Als ich in den bewohnten Teil der Altstadt eingetreten war und mich durch einige schmutzige, krumme Gässchen durchgewunden hatte, befand ich mich bei einer scharfen Biegung plötzlich an einem Ort von ganz einzigartigem Interesse: an der Klagemauer der Juden. Es ist das ein schmales, gepflastertes Viereck. Auf der einen Seite stehen die Rückseiten niedriger neuerer Häuser ohne Türen und Fenster; auf der andern Seite ist die hohe Mauer des Haram (des Tempelplatzes), die oben neueren Ursprungs ist, unten aber fünf Reihen vollkommen wohlerhaltener schräg abfallender Quadern hat. Hier ist es den Juden erlaubt, der Umwallung des Heiligtums zu nahen und über den gefallenen Tempel zu klagen, an dessen Steinen sie noch mit Liebe hangen und um dessen Staub sie Wehe fasst (Ps. 102,15 Grundtext). Es war ein Freitag, und eine Menge armseliger Beter hatte sich versammelt - Männer und Frauen von allen Altersstufen und aus allerlei Nationen, gekleidet in sonderbare Trachten aller Länder Europas und Asiens. Greise waren da, bleiche, hagere, von Kummer gebeugte Gestalten, die am Pilgerstab herwankten, und kleine Mädchen mit weißen Gesichtern und glänzenden schwarzen Augen, mit tiefem Ernst bald auf ihre Eltern, bald auf die alte Mauer blickend. Manche waren auf die Knie gesunken und sangen unter Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen des Körpers wehmütig aus einem jüdischen Gebetbuch, andere lagen hingestreckt auf dem Boden und pressten Stirn und Lippen auf die Erde; etliche waren ganz an der Mauer und vergruben ihr Angesicht in die Ritzen und Spalten der alten Steine, andere küssten diese ehrwürdigen Reliquien, wieder andere breiteten ihre Arme aus, als wollten sie die Steine an ihr Herz drücken, und manche benetzten sie mit ihren Tränen und seufzten und stöhnten dabei, als ob ihnen das Herz brechen wollte. Es war ein trauriger, tief ergreifender Anblick. Achtzehn Jahrhunderte der Verbannung und des Elends haben die Gefühle ihres Herzens nicht abgestumpft und ihre Verehrung für das Heiligtum nicht ertötet. An dieser Stätte sehen wir sie versammelt von den Enden der Erde, arme, verachtete, mit Füßen getretene Verbannte mitten unter den Zeichen der Verwüstung ihres Vaterlandes, bei den entehrten Trümmern ihres ehemaligen Heiligtums; da hören wir sie, bald in ehrwürdigen Klängen pietätvoller Andacht, dann wieder in erschütternden Tönen wilden Wehs die prophetischen Worte ihres Psalmdichters ausrufen: Gott, es sind Heiden in dein Erbe gefallen; die haben deinen heiligen Tempel verunreiniget und aus Jerusalem Steinhaufen gemacht. J. L. Porter 1865.


V. 2. Es ist ja wahr, was St. Augustin einmal sagt, dass Begräbnis und Leichenfeier wohl ein Trost für die Überlebenden, aber dem Verstorbenen nichts nütze seien. Sein Leib empfindet nichts davon, und seine Seele achtet nicht darauf. Wie viele heilige Blutzeugen haben kein Begräbnis bekommen, die darüber dachten wie jene zu Pharsalia Getöteten, die in edlem Spott zu ihrem Verfolger sagten: "Du richtest mit deinem Wüten nichts aus; was macht es, ob eine Krankheit oder der Scheiterhaufen unseren Körper auflösen?" Aber es gebührt sich dennoch, dem entseelten Menschenleibe die ihm zukommende Ehre zu erweisen. Darum befahl Jehu sogar eine Isebel zu bestatten, und David dankte den Einwohnern von Jabes, dass sie Saul begraben hatten. Auch Petrus ließ Ananias und Saphira, die auf sein Gerichtswort hin gestorben waren, beerdigen. Es ist ein von selbst einleuchtender Grundsatz der Menschlichkeit, dass man den Toten diese letzte Freundlichkeit nicht versage. Sind sie doch mit uns gleichen Fleisches, und glauben wir doch an eine Auferstehung. Wenn daher die Leichname den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes hingeworfen werden, so beweist das, wenn Gott es verhängt, dass er aufs höchste über die Sünde entrüstet ist (man vergl. Jer. 22,19 das Wort über Jojakim: Er soll wie ein Esel begraben werden, indem man ihn fortschleift und weit draußen vor den Toren Jerusalems hinwirft), wenn aber Menschen es tun, dass sie unmenschlich grausam sind. John Dunster 1613.


V. 2-5. [Das Folgende ist ein Auszug aus den Schriften eines gottseligen Mönches, der die Worte des Psalms auf die Verfolgungen seiner Zeit anwendet. Er schrieb zu Rom in der Reformationszeit und war offenbar ein Freund des Evangeliums.] Wo gibt es heutigestags in diesem unserm schwer heimgesuchten Europa (wenn wir es noch unser nennen dürfen) einen Strom oder Bach, in dem nicht Christenblut geflossen? Und zwar Christenblut, vergossen durch Schwert und Speer von Christen? Darum ist großes Wehklagen in Israel; die Fürsten und die Ältesten trauern, die Jünglinge und die Jungfrauen sind schwach geworden, und die Schöne der Frauen ist dahin. Warum? Das Heiligtum selbst ist öde wie eine Wildnis. Hast du je ein so trauriges Bild gesehen? Sie haben die Leichname deiner Knechte, o Gott, haufenweise hingeworfen, dass die Vögel sie fressen sollten; die Überreste deiner Heiligen, sage ich, haben sie den Tieren im Lande preisgegeben. Welch größere Unmenschlichkeit hätte man je begehen können? So viel Blut ward zu dieser Zeit vergossen, dass die Bäche, ja die Flüsse in der ganzen Umgegend der Stadt davon flossen. Und so ist wahrlich die Schönheit unserer herrlichen Stadt verwüstet worden und alle ihre Lieblichkeit. Ihrer Einwohner ist so wenig geworden, dass man nicht einmal um viel Geld die nötigen Leute bekommen kann, die Leichen hinauszuschaffen und zu begraben; so voller Furcht und Entsetzen waren die Gemüter. Und das alles ist umso bitterer, als wir unseren Nachbarn eine Schmach geworden sind und verhöhnt werden von den Ungläubigen in der Ferne und von den Feinden daheim. Wer mag das ertragen, wer kann da leben? Wie lang soll denn diese schreckliche Zeit der Unruhe dauern? Giambattista Folengo † 1559.
  Deine Knechte, deine Heiligen. Keine zeitlichen Strafheimsuchungen, keine Trübsale irgendwelcher Art vermögen die Kinder Gottes von seiner Liebe zu scheiden, noch die innige Verbindung zwischen Gott und ihnen zu lösen. Das sehen wir hier: wiewohl ihre Leiber fallen und von den Vögeln des Himmels und den Tieren der Erde verzehrt werden, bleiben sie dennoch unter allen diesen Leiden des HERRN Knechte und Heilige. Dav. Dickson † 1662.
  Deiner Heiligen. Hierdurch werden insgemein die rechtgläubigen und wahren Glieder der Kirche Gottes verstanden. Das sind die rechten Chasidim, die ihrem Gott in seine Gnadenhände sehen und ihr Heil nur einzig und allein in seiner Gnade durch den Glauben suchen. Die müssen aber gemeiniglich gar viel darüber leiden. Johann David Frisch 1719.


V. 4. Wir sind eine Schmach worden usw. Wenn diejenigen, welche dem Bekenntnis nach zu Gottes Volk gehören, abfallen von dem, was sie selbst und ihre Väter waren, so müssen sie erwarten, dass man es ihnen vorhält; und es ist gut, wenn gerechter Tadel uns zu aufrichtiger Buße leitet. Aber das Los des neutestamentlichen Israel ist es gewesen, ungerechterweise zu einer Schmach und einem Spott gemacht zu werden; die Apostel selber wurden "ein Auswurf der Welt, ein Abschaum aller Leute" (1. Kor. 4,13). Matthew Henry † 1714.


V. 5. Wie lange, HERR, willst du für immer zürnen? (Wörtl.) Der scheinbare Widerspruch zwischen der Frage "wie lange", die ein Ende erhofft, und der adverbiellen Bestimmung "für immer ", die das Ende ausschließt, erklärt sich aus der erregten und geteilten Gemütsstimmung des Sängers. "Hier verzweifelt die Hoffnung selbst, und die Verzweiflung hofft dennoch" (Luther). Vergl. Ps. 13,5; 89,47. Prof. Friedr. Bäthgen 1904.
  Nicht so lautet die Klage: "Wie lange, HERR, soll diese Bosheit des Feindes noch dauern? Wie lange sollen wir noch diese Verwüstung vor Augen haben?" sondern: "Wie lange, HERR, willst du so gar zürnen? Für immer?" Wir werden demnach durch diese Stelle ermahnt, in allen uns widerfahrenden Trübsalen den Zorn Gottes gegen uns zu erkennen, damit wir nicht, wie es die Welt tut, nur die Bosheit der Feinde anklagen, ohne an unsere Sünde und Gottes Strafe zu denken. Wer anerkennt, dass Gottes Zorn über ihm waltet, der kann nicht anders als zugleich seine Verfehlung anerkennen, es wäre denn, dass er das Unrecht Gott zuschieben wollte, als sei der über einen Unschuldigen zornig. Wolfgang Musculus † 1563.
  Das Wort Eifer weist auf ein Strafen hin, das mit Liebe verbunden ist; denn wenn Gott nicht liebte, sagt Hieronymus, würde er nicht eifersüchtig sein und an seinem Volke nach der Weise eines Ehemannes handeln, der die Sünde seines Weibes straft. Joh. Lorinus 1634.


V. 6. Dass die Heiden und die Ungläubigen Gott nicht kennen und seinen Namen nicht anrufen, ist nicht entschuldbar, sondern ist Sünde und die Vernachlässigung einer Pflicht, welche Gott reizt, seinen Grimm über sie auszuschütten. David Clarkson † 1686.


V. 8. Wiewohl die Propheten heilige Männer waren, machten sie sich doch in einem gewissen Sinn der Sünden ihres Volkes teilhaftig - nicht durch Sündigen, sondern durch Weinen und Flehen und Anrufen der Gnade Gottes. Vergl. Jes. 59,12 und Dan. 9,5. So lasst auch uns nicht nur unsere eigenen, sondern auch die Gebrechen der ganzen Gemeinde des HERRN, deren Glieder wir ja sind, betrauern und bekennen, auch wenn wir persönlich an den Verfehlungen keinen Anteil haben. Wolfgang Musculus † 1563.
  Rechne uns nicht die Missetaten der Vorfahren zu. (Grundtext) Die Juden haben ein Sprichwort, es komme über Israel keine Züchtigung, in der nicht ein Lot Strafe für das goldene Kalb mitenthalten sei. John Gill † 1771.
  Eilends komme uns dein Erbarmen entgegen (wörtl.); es möchte sonst zu spät kommen, denn wir liegen in den letzten Zügen. John Trapp † 1669.
  Denn wir sind sehr schwach geworden. (Wörtl.) Alle Hoffnung auf menschliche Hilfe ist für uns vorbei; darum wird der Ruhm unserer Errettung gänzlich dein sein. Mt. Polus † 1679.


V. 9. Gott, unser Helfer, wörtl.: Gott unseres Heils. Wenn die menschliche Vernunft nach den vielen harten Schlägen zu urteilen hätte, mit welchen Gott sein Volk so oft gezüchtigt und schwer verwundet hat, so würde sie Gott nicht den Helfer, sondern den Verstörer und Unterdrücker seines Volkes nennen. Aber der Glaube des Propheten fällt ein gar anderes Urteil über Gott und sieht sogar in dem zürnenden und rächenden Gott das Heil seines Volkes. Die Götter der Heiden sind, trotzdem sie nicht einmal irdische Strafen verhängen können, doch ihren Anbetern nicht Götter des Heils, sondern des Verderbens. Unser Gott aber ist, selbst wenn er heftig zürnt und züchtigt, nicht ein Gott der Zerstörung, sondern des Heils. Wolfgang Musculus † 1563.
  Um deines Namens willen. Zweimal macht der Psalmist dies geltend, gemäß jener Offenbarung, welche Gott selbst von sich dem Mose gegeben hatte, als er vor Mose vorüberging und den Namen Jehova verkündigte, 2. Mose 34,6 f. Vergl. Ps. 20,2; 23,3; 29,2. J. J. St. Perowne 1864.
  Alles Gute, das Gott den Seinen erweist, sei es zeitlicher oder geistlicher Art, geschieht um seines Namens willen. Nicht um der Feinde willen erhält oder errettet Gott sein Volk; und nicht um ihrer selbst, ihrer Gebete, ihrer Tränen, ihres Glaubens, ihres Gehorsams, ihrer Heiligkeit willen tut Gott an den Seinen große Dinge. Um des Menschen willen hat Gott die Erde verflucht (1. Mose 8,21); aber um seines Namens willen segnet er sie. Die köstlichsten Gnadengüter, die Gottes Volk hat, genießt es um seines Namens willen; so die Vergebung der Sünden Ps. 25,11; 79,9; 1. Joh. 2,12; Leitung Ps. 23,3; Erquickung Ps. 143,11 usw. Ja, ob die Seinen ihn auch kränken, lässt er sie doch nicht im Stich, um seines Namens willen. William Greenhill † 1677.


V. 11. Lass vor dich kommen das Seufzen deiner Gefangenen. Wir können, ohne ein Wort zu sagen, mit einem Seufzer eine lange Geschichte des Kummers erzählen und große Wünsche ausdrücken. Wenn ein Gefangener durch die Eisenstangen blickt, die Tag und Nacht als stumme Schildwachen vor dem Fenster seiner Zelle stehen, und wenn sein Auge dann auf die grünen Felder und Auen da draußen fällt, so seufzt er und wendet sich von dem lieblichen Anblick mit heißer Sehnsucht. Er hat kein Wort gesprochen; doch hat er einen Wunsch geäußert. Der Seufzer war ein Ausdruck seines Verlangens: "Ach, dass ich befreit würde!" Und solche Seufzer hört Gott. Eure Sehnsucht und euer Kummer, wenn diese Sehnsucht nicht erfüllt wird, eure betrübten Gedanken: "Ach, wann werde ich von der Bürde meiner Sünden und von der Kälte meines Herzens befreit werden!" - diese tiefen Wünsche eures Herzens fanden in euren Seufzern Ausdruck und wurden im Himmel droben vernommen. Ph. B. Power 1862.
  Ein morgenländisches Gefängnis ist noch heute eine Stätte großen Elends, namentlich deshalb, weil den Gefangenen so wenig Wasser gereicht wird. Daniel Creßwell † 1844.
  Erhalte die Kinder des Todes, d. i. die dem Tode Verfallenen. Sollten die Kinder Gottes ihrem himmlischen Vater nicht auch darin mehr nachzuahmen suchen, dass sie sich derer annehmen, die dem Tode verfallen sind? Eine hervorragende christliche Dame hält eine Liste über alle, von denen sie vernimmt, dass sie zum Tode verurteilt sind, und betet für sie jeden Tag, bis ihr letztes Stündlein gekommen ist. Steht das nicht mit dem Herzen Gottes im Einklang? William Swan Plumer 1867.


V. 12. Vergilt unseren Nachbarn siebenfältig. Ist das wohl recht? Die Strafe darf doch das Vergehen nicht übersteigen. Gut so; aber man beachte, dass ein Schimpf, den ein gottloser Mensch einem Kinde Gottes (und damit Gott selbst) antut, mit zehntausend Schmähungen, die über den Gottlosen ausgeschüttet werden, nicht aufgewogen werden kann, und dass die geringste Schmach, welche Gott angetan wird, ein unermessliches Böses ist. Abraham Wright 1661.
  Unsern Nachbarn: weil der Hohn solcher unerträglicher und auch unentschuldbarer war als die Unterdrückung, welche entfernte feindliche Völker ausübten. J. J. Stewart Perowne 1864.
  


Homiletische Winke

  V. 4. Die Frommen als Zielscheibe des Spottes der Sünder. Wann sind sie es gerechter- und wann ungerechterweise? Was dünkt die Gottlosen an den Frommen lächerlich? Was sollen wir unter solcher Prüfung tun? Und wie wird das alles enden?
  V. 5. 1) Die Ursache des göttlichen Zornes: der Eifer Gottes um sein Volk. 2) Die Mäßigung des göttlichen Zornes. Hielte der Zorn für immer an, so würde Gottes Volk vergehen, so würden Gottes Verheißungen nicht erfüllt werden, sein Bund dahinfallen und seine Ehre verletzt werden. 3) Wie können wir dem Zorne Gottes Einhalt tun? Durch Gebet, indem wir uns auf Gottes Namen, Gottes Verherrlichung und auf das Blut Jesu berufen.
  V. 8. Das Bekenntnis eines Sünders, seine Bitte und die Begründung dieser Bitte.
  V. 9. 1) Eine dreifache Bitte. 2) Ein ermutigender Gottesname: Gott, unser Helfer. 3) Eine unabweisbare Begründung der Bitte: Um deines Namens Ehre willen.
  1) Die Bitte: Hilf uns usw. a) Erlöse uns von der Sünde. b) Befreie uns aus unseren Nöten. c) Stehe uns bei, dir in Zukunft zu dienen. 2) Ihre Begründung: Um deines Namens Ehre willen; du bist ja Gott unser Helfer. George Rogers 1874.
  V. 10b. Gottes Rache für den Tod der Blutzeugen zu erbitten ist uns erlaubt, ja eine uns obliegende Pflicht.
  V. 11. 1) Der Gefangene. a) Gefesselt in den Ketten der Sünde. b) Gefoltert auf der Marterbank der Sündenerkenntnis. c) Verschlossen in dem Kerker der Verzweiflung. 2) Seine Sehnsucht nach Befreiung. 3) Woher erwartet er Hilfe? Ph. B. Power 1862.
  1) Die zu Rettenden: Die Kinder des Todes. 2) Die erbetene Rettung: Erhalte sie. 3) Das Maß solcher Rettung: Nach deinem großen Arm. C. Le Breton 1849.
  1) Eine traurige Lage: ein Gefangener, seufzend, dem Tode verfallen. 2) Hoffnungsvolle Tatsachen: Gott lebt, ein Gott, der die Seufzer vernimmt, ein Gott, dessen Arm gewaltig ist. 3) Passende Bitten: Lass das Seufzen vor dich kommen; erhalte am Leben die Kinder des Todes.
  V. 13. Welche Verpflichtungen erwachsen der evangelischen Kirche aus dem Blut ihrer Märtyrer, ihren wunderbaren Errettungen und ihrer unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott? Sie sollte dafür besorgt sein, den kommenden Geschlechtern das reine Evangelium zu erhalten.
  1) Die gläubige Gemeinde macht ihre Zugehörigkeit zu Gott geltend: Wir, dein Volk und Schafe deiner Weide. 2) Sie erkennt ihre Verpflichtung zum Danke an: Wir aber - wenn du unserer Not ein Ende machst, dann ist es an uns, dir zu danken usw. 3) Sie fasst den Entschluss, dieser Verpflichtung nachzukommen, und zwar a) dem Herrn ewiglich zu danken, b) seinen Ruhm allen zukünftigen Geschlechtern (Grundtext) zu verkündigen.

Fußnoten

1. Alle alten Übersetzungen haben gelesen; vergl. (die Grundstelle?) Jer. 10,25.

2. Der "Busen" ist hier und oft der durch das Aufschürzen des langen Gewandes entstehende Bausch, der dem Morgenländer als Tasche dient.

3. Die chasidim (Luther: die Frommen) sind jüdische Schriftgelehrte, die sich zur Zeit der Seleukidenbedrückung im Gegensatz gegen die griechisch-jüdische Religionsmischerei zusammenschlossen.