Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 88 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Lied, ein Psalm. Diese schwermütige Klage lautet wenig wie ein Lied, noch weniger wie ein Psalm. Doch ist nicht zu übersehen, dass das Wort Psalm nicht speziell Loblieder bezeichnet, sondern überhaupt religiöse Lieder, die mit Musikbegleitung zu singen sind. Wir möchten darin, dass auch dieser "nächtlichste aller Klagepsalmen", wie Delitzsch ihn nennt, als ein Gesang und Musikstück bezeichnet ist, fast die Absicht vermuten zu zeigen, dass der Glaube sich auch der Trübsale rühmt. Wahrlich, wenn irgendeiner, dann ist dieser Gesang ein Lied des Kummers und ein Psalm der Schwermut. Von den Kindern Korah, oder, wie manche es auffassen: den Kindern Korah übergeben. Die Kinder Korah, die schon so oft zum Singen von Jubelliedern zusammengetreten waren, werden nun aufgefordert, dieses einem Grabgesang ähnlich schwermütige Lied zur musikalischen Ausführung zu übernehmen. Wer im Heiligtum dient, darf sich seine Aufgaben nicht nach eigenem Belieben wählen, sondern muss seine Gaben für jeden Dienst, den Gott ihm überträgt, willig zur Verfügung stellen. Dem Musikmeister. Dieser soll die Sänger leiten und zusehen, dass sie ihren Auftrag gut ausführen; denn heiliger Kummer sollte mit ebenso liebevoller Sorgfalt zum Ausdruck gebracht werden wie der frohlockendste Lobpreis. Im Hause Gottes soll nichts nachlässig getan werden. Es ist viel schwieriger, dem Gram eines betrübten Herzens im Gesange den richtigen Ausdruck zu geben, als Freudenklänge erschallen zu lassen. Die folgenden Worte hat Luther (in der späteren Zeit) nach dem Vorgang jüdischer Ausleger übersetzt: Von der Schwachheit der Elenden. (Vergl. zu Ps. 53) Delitzsch übersetzt: Nach schwermütiger Weise mit gedämpfter Stimme vorzutragen. Wie wir diese Worte nicht mehr mit einiger Sicherheit deuten können, so auch das folgende, maskil, nicht, wiewohl es dreizehnmal vorkommt. (Siehe zu Ps. 32.) Eine Unterweisung übersetzt es Luther mit manchen Auslegern; und wahrlich, die Glaubenskämpfe und Leiden des einen Gläubigen sind voll reicher Unterweisung für andere! Aus tiefer Erfahrung geschöpfte Lehren sind mit Gold nicht zu bezahlen. Hemans des Esrahiten. Welcher Heman ist hier als Verfasser des Psalms bezeichnet? Wahrscheinlich der in 1. Könige 5,11 genannte Weise. Doch denken viele an den (vielleicht mit jenem Weisen identischen) berühmten Sangmeister Davids, den Genossen Asaphs und Ethans (1. Chr. 15,19).1 Die Sache ist von wenig Belang; wer immer den Psalm geschrieben haben mag, er war ein Mann von tiefer Leidenserfahrung. Seine Klagen erinnern sehr an das Buch Hiob.2

Einteilung. Albert Barnes († 1870) teilt den Psalm in zwei Stücke: eine Beschreibung der Leiden des Dichters, V. 2-10, und ein Gebet um Erbarmen und Befreiung aus den Leiden, V. 11-19. Wir wollen aber lieber Vers um Vers betrachten und werden auf diese Weise den naturgemäß diesem unter dem schwersten Gemütsdruck verfassten Psalme anhaftenden Mangel an Zusammenhang besser nachempfinden. Der Leser wolle zuerst den Psalm im Ganzen überlesen.


Auslegung

2. HERR Gott, mein Heiland,
ich schreie Tag und Nacht vor dir.
3. Lass mein Gebet vor dich kommen,
neige deine Ohren zu meinem Geschrei!
4. Denn meine Seele ist voll Jammers,
und mein Leben ist nahe bei der Hölle.
5. Ich bin geachtet gleich denen, die in die Grube fahren;
ich bin wie ein Mann, der keine Hilfe hat.
6. Ich liege unter den Toten verlassen,
wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen,deren du nicht mehr gedenkestund die von deiner Hand abgesondert sind.
7. Du hast mich in die Grube hinuntergelegt,
in die Finsternis und in die Tiefe.
8. Dein Grimm drückt mich,
und drängest mich mit allen deinen Fluten. Sela.
9. Meine Freunde hast du ferne von mir getan;
du hast mich ihnen zum Gräuel gemacht.Ich liege gefangen und kann nicht auskommen.
10. Meine Gestalt ist jämmerlich vor Elend.
HERR ich rufe dich an täglich;ich breite meine Hände aus zu dir.
11. Wirst du denn unter den Toten Wunder tun
oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? Sela.
12. Wird man in Gräbern erzählen deine Güte
und deine Treue im Verderben?
13. Mögen denn deine Wunder in der Finsternis erkannt werden
oder deine Gerechtigkeit im Lande, da man nichts gedenket?
14. Aber ich schreie zu dir, HERR,
und mein Gebet kommt frühe vor dich.
15. Warum verstößest du, HERR, meine Seele
und verbirgest dein Antlitz vor mir?
16. Ich bin elend und ohnmächtig, dass ich so verstoßen bin;
ich leide deine Schrecken, dass ich schier verzage.
17. Dein Grimm gehet über mich,
dein Schrecken drücket mich.
18. Sie umgeben mich täglich wie Wasser
und umringen mich miteinander.
19. Du machest, dass meine Freunde und Nächsten
und meine Verwandten sich ferne von mir halten um solches Elends willen.


2. HERR, Gott mein Heiland, wörtl.: Jehova, Gott meines Heils. Wahrlich ein hoffnungsvoller, vielversprechender Name, mit welchem der Dichter unseres Psalms den HERRN anredet; aber das ist auch der einzige Lichtstrahl in dem ganzen Psalm. Der schwergeprüfte Beter nimmt durch alles Dunkel seines Leidens hindurch seine Zuflucht unmittelbar zu Gott als seinem Helfer, dem alleinigen Urheber des Heils für Leib und Seele. Solange jemand in Gott noch seinen Heiland sehen kann, ist es nicht völlig Mitternacht in ihm. Solange wir noch von dem lebendigen Gott als dem Gott unseres Heils sprechen können, wird das Lämplein unsrer Hoffnung nicht ganz verlöschen. Es ist eins der Kennzeichen des echten Glaubens, dass er sich an Jehova, den Retter und Helfer, wendet, wenn sich ihm alle anderen Stützen als trüglich erwiesen haben. Ich schreie Tag und Nacht vor dir.3 Das Unglück hatte die Funken seines Gebets nicht ausgelöscht, sondern sie vielmehr zu desto größerer Glut angefacht, bis sie brannten wie ein hellodernder Ofen. Sein Gebet war persönlich - wer immer sonst nicht betete, er flehte zu Gott. Er betete mit heißem Ernst, er schrie zu Gott. Und er betete ohne Unterlass; weder die Geschäftigkeit des Tages noch die Müdigkeit der Nacht konnten ihn zum Schweigen bringen. Wahrlich, solches Flehen konnte nicht vergeblich sein! Vielleicht hätte, wenn die Schmerzen Heman nicht unablassig gequält hatten, auch sein Schreien je und dann ausgesetzt; es ist gar so übel nicht, dass uns die Krankheit keine Ruhe lässt, wenn wir die ruhelosen Stunden im Gebet verbringen. Tag und Nacht sind beide passende Zeit zum Beten. Dieses ist kein Werk der Finsternis; darum lasst uns mit Daniel beten, wenn man uns sehen kann! Doch da wir zum Flehen kein Licht brauchen, lasst uns auch Jakob ähnlich sein und am Jabbok mit Gott ringen, bis die Morgenröte anbricht. Das Böse hat sich in Gutes verwandelt, wenn es uns ins Gebet treibt. Ein Wort des Textes ist noch unsrer besondern Beachtung wert: das vor dir, das uns darauf hinweist, dass das Schreien des Psalmisten nicht eine mehr instinktive Äußerung des Schmerzes, sondern das Seufzen eines unter dem Einfluss der Gnade stehenden Herzens zu Jehova, dem Gott des Heils, war. Welchen Nutzen hat es, Pfeile in die Luft zu schießen? Der Bogenschütze hat scharf nach dem Ziel zu schauen, dem sein Pfeil gilt; wir müssen unsre Gebete mit ganzem Ernst zum Himmel richten. So dachte Heman auch - seine Gebetsseufzer waren alle für das Herz Gottes bestimmt. Er hatte kein Auge für die Zuschauer, wie die Pharisäer, sondern er war sich bei all seinem Flehen allein dessen bewusst, dass er vor Gott stand.

3. Lass mein Gebet vor dich kommen! Gewähre ihm Gehör; lass es mit dir reden! Wiewohl es mein Gebet ist und darum gar unvollkommen, versage ihm doch nicht deine gnädige Beachtung. Neige deine Ohren zu meinem Geschrei! Mein gellendes Wehklagen ist freilich keine Musik, außer für das Ohr der Barmherzigkeit; doch lass dich durch seine Missklänge nicht verstimmen, denn es ist der ganz natürliche Ausdruck meiner Seelenangst! Mein Herz spricht darin, so lass dein Ohr hören! Es mag allerlei Hindernisse geben, die unsre Gebete in ihrem Flug zum Himmel aufhalten; so lasst uns den HERRN bitten, sie aus dem Wege zu räumen! Und es mögen auch Anstöße vorhanden sein, die den HERRN hindern, unseren Bitten wohlwollende Beachtung zu schenken; so lasst uns ihn anflehen, auch diese hinwegzutun! Wer Tag und Nacht gebetet hat, kann es nicht ertragen, all seine Mühe verloren zu sehen. Nur solche Leute, die beim Gebet gleichgültig sind, kümmern sich nicht darum, ob und welchen Erfolg ihre Gebete haben.

4. Denn meine Seele ist voll Jammers. Ich bin mit Leiden gesättigt bis zum Überdruss. Wie ein bis zum Überlaufen mit Essig gefülltes Gefäß ist mein Herz so voll Unglücks und Jammers, dass es nicht mehr fassen kann. Er hatte das Haus voll Kummers und die Hände voller Not, aber, was noch schlimmer war, auch das Herz voll Wehes. Schon ein wenig Herzeleid ist schmerzlich genug; was muss es sein, damit gesättigt zu sein! Und wieviel schlimmer noch ist es dann, seine Gebete leer zurückkommen sehen zu müssen, während die Seele voll Kummers bleibt! Und mein Leben ist nahe bei der Hölle (d. i. der Unterwelt). Es war ihm, als müsste er sterben, ja er fühlte sich schon halb tot. Alle seine Lebenskraft war im Schwinden; sein geistliches Leben verfiel, sein geistiges Vermögen nahm ab, und auch die Flamme seines leiblichen Lebens flackerte, als wollte sie im nächsten Augenblick verlöschen. Er war dem Tode näher als dem Leben. Unser etliche können sich in die Erfahrung des Psalmisten lebhaft hineinversetzen; denn manchesmal haben wir dies Tal des Todesschattens durchwandert und Monat um Monat darin geweilt. Wirklich sterben, um dann bei Christus zu sein, das wird ein Festtagsvergnügen sein, verglichen mit dem Elend, in dem wir uns befanden, als ein viel schlimmerer als der leibliche Tod seine schrecklichen Schatten über uns warf. Der Tod würde als eine Erlösung begrüßt werden von denen, deren Schwermut ihnen das Dasein zu einem lebendigen Tod macht. Können denn aber auch wirklich fromme Menschen solche Leiden erfahren müssen? Jawohl; und manche unter ihnen sind ihr Leben lang solcher Knechtschaft unterworfen. Ach HERR, lass dir’s gefallen, die Deinen, die also auf Hoffnung gefangen liegen (Sach. 9,12), in Freiheit zu setzen! Möge keines deiner in solcher Traurigkeit befangenen Kinder sich die Hitze befremden lassen, als widerführe ihm etwas Seltsames, sondern vielmehr sich freuen, da es die Fußtapfen der Brüder sieht, die vor ihm diese Wüste durchwandelt haben.

5. Ich bin geachtet gleich deinen, die in die Grube fahren. Meine Schwäche ist so groß, dass andre sowohl wie ich selbst mich schon zu den Toten rechnen. Wenn die, welche um mich sind, nicht bereits meinen Sarg bestellt haben, so haben sie sich doch wenigstens schon über mein Begräbnis unterhalten, meinen Nachlass besprochen und ihr Teil berechnet. Mancher ist, schon ehe er tot war, begraben worden, und die einzige Trauer, die man um ihn hatte, war die, dass er die gierigen Erwartungen seiner heuchlerischen Verwandten nicht durch schleuniges Hinabfahren in die Grube zu erfüllen beliebte. Auch manchen schwer heimgesuchten Gläubigen ist es so ergangen, dass es ihre hungrigen Erben dünkte, sie hätten zu lang gelebt. Ich bin wie ein Mann, der keine Kraft hat (wörtl.), bin nur noch der Schatten eines Mannes. Ich lebe nur noch dem Namen nach; meine ganze Lebenskraft ist gebrochen. Ich kann kaum noch über mein Krankenzimmer schleichen, meine Geisteskräfte sind noch mehr geschwächt als die des Leibes, und am allerschwächsten ist mein Glaube. Wer mit Krankheit und Schmerzen Leibes und der Seele vertraut ist, wird zu solchen Worten wenig Erklärung bedürfen; sie sind Schwergeprüften gar wohl bekannte Seufzer.

6. Ich bin zu den Toten freigelassen. (Grundtext nach den alten Übersetzungen.4 Ich bin entbunden alles dessen, was den Menschen mit dem Leben verknüpft, vertraut mit des Todes Pforten, ein freier Bürger der Stadt des Grabes; ich fühle mich nicht mehr als einer der Packesel der Erde, sondern fange an, einen Vorschmack von der Ruhe zu empfinden, die mir im Grabe zuteil werden wird. Es ist traurig weit gekommen, wenn der Tod unsre einzige Hoffnung ist und wir keine andre Befreiung mehr erwarten als diejenige, welche uns die Verwesung durch die schauerliche Auflösung aller Bande bringen wird. Wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkest. Er fühlte sich gänzlich vergessen wie solche, deren Leichnam auf dem Schlachtfeld verscharrt ist. Wie ein zum Tode verwundeter Krieger, der unter den Haufen der Erschlagenen, von niemand beachtet, verblutet und bis zum letzten Todesseufzer ohne Mitleid und Hilfe bleibt, so musste Heman in einsamem Kummer seine Seele ausseufzen, unter der schrecklichen Empfindung, dass sogar Gott selbst ihn vergessen habe. Wie völlig entsinkt doch manchmal auch frommen, sonst so tapfern Männern der Mut! Unter dem Einfluss gewisser Seelenstörungen bekommt alles ein schauerlich düsteres Ansehen, und das Herz taucht in die tiefsten Tiefen des Jammers. Für Leute, die von eiserner Gesundheit und voll Lebensmutes sind, ist es ein billiges Vergnügen, solche zu tadeln, deren Leben von der Schwermut Blässe angekränkelt ist5; aber das Übel ist so wirklich wie eine klaffende Wunde, und es ist umso schwerer zu ertragen, als es eben hauptsächlich in dem Gebiet der Seele liegt, so dass es den Unerfahrenen eine bloße Sache der Einbildung, ein krankhaftes Hirngespinst zu sein scheint. Lieber Leser, zieh nervös überreizte und hypochondrische Leute nie ins Lächerliche! Ihre Qualen sind wirkliche Qualen; wiewohl ihre Krankheit zum guten Teil in der Einbildung liegt, ist sie doch nicht ein eingebildetes Leiden. Und die von deiner Hand abgesondert sind. Es war dem armen Heman als ob Gott selbst ihn von seiner leitenden und helfenden Hand abgeschnitten, ihn zu den durch die göttliche Gerechtigkeit Gerichteten hinweggetan hätte. Er klagte voller Trauer darüber, dass die Hand des HERRN sich von ihm gewandt und ihn von Gott, dem Quell seines Lebens, geschieden habe. Das ist wahrlich bitterer Wermut! Die Stiche und Hiebe, welche Menschen uns versetzen, sind Kleinigkeiten gegen den Schmerz, wenn Gott ein gnadenhungriges Herz mit seinen Pfeilen trifft. Sich von dem HERRN gänzlich dahingegeben zu fühlen und weggeworfen als hoffnungslos verdorben, das ist der höchste Grad der inneren Verlassenheit.

7. Du hast mich in die unterste Grube gelegt, in dichte Finsternis, in große Tiefe.6 Was für eine Häufung starker Ausdrücke, deren jeder den äußersten Kummer abbildet! Heman vergleicht seinen verzweifelten Zustand mit dem Eingesperrtsein in einem unterirdischen Gefängnis, der Verbannung in die finstern Regionen der Toten, dem Versinken in die Abgründe unter den Meeresfluten. Keiner der Vergleiche ist übertrieben. Das Gemüt kann in viel größere Tiefen hinabsinken als der Körper; ihm öffnen sich bodenlose Abgründe. Das Fleisch vermag nur eine gewisse Anzahl Wunden zu ertragen, nicht mehr; aber die Seele kann aus zehntausend Wunden bluten und stündlich aufs neue den Tod schmecken. Wie schmerzlich ist es für den frommen Heman, zu fühlen, dass der HERR, den er doch liebt, ihn in das Grab der Verzweiflung legt, dichte Finsternis über ihm aufhäuft, dass alle Hoffnungssterne ihm erlöschen, und unbewegliche Massen von Kummer auf ihn schaufelt! Übles, das von so guter Hand kommt, erscheint in der Tat übel. Und doch, könnte der Glaube nur zu Wort kommen, er würde das niedergedrückte Gemüt erinnern, dass es besser ist, in des HERRN Hand zu fallen als in der Menschen Hand, und er würde dem verzweifelnden Herzen auch sagen, dass Gott nie einen Joseph in eine Grube gelegt habe, ohne ihn dann wieder herauszuziehen, um ihn auf einen Thron zu setzen, dass er nie einen Abraham von Beängstigung und dichter Finsternis habe überfallen lassen, ohne ihm seinen Gnadenbund neu zu enthüllen, und dass er sogar nie einen Jona in die Meerestiefen geworfen habe, ohne das Werkzeug bereitzuhalten, das ihn sicher ans Land bringen sollte. Aber ach, wenn unser Gemüt sich unter solch schwerem Druck befindet, vergisst es das alles und ist sich nur seines unaussprechlichen Jammers bewusst. Dann sieht der Bedauernswerte wohl den Löwen, aber nicht den Honig in dessen Leibe; er fühlt die Dornen, merkt aber nicht den Wohlgeruch der Rosen, mit denen sie geschmückt sind. Derjenige, welcher jetzt diese Worte in aller Schwachheit auslegt, weiß in seinem Innern von den Abgründen seelischer Angst mehr, als er sagen möchte oder dürfte. Er hat das stürmische Kap oft umsegelt und ist manchesmal an den düsteren Küsten der Verzweiflung hingetrieben. Oft hat er mit einem Manne der Vorzeit (Hiob 30,17.28.15) stöhnen müssen:

Die Glieder frisst mir weg der Nächte Schmerz,
Und meine Quäler sinken nie in Schlummer.
In Trauer geh’ ich ohne Sonne hin -
Und gegen mich gekehrt ist Todesbangen!

  Wer solche bittern Leiden aus Erfahrung kennt, wird mit denen, die sie erdulden, mitfühlen; aber von andern wäre es töricht, Mitleid zu erwarten, und ihr Bedauern wäre auch wenig wert, selbst wenn wir es erlangen könnten. Es ist ein unaussprechlich großer Trost, dass unser Herr und Heiland solche Leiden aus Erfahrung kennt, und zwar durch und durch, da er sie alle und mehr als alles, was wir leiden können, ausgenommen die damit bei uns verbundene Sünde, durchgemacht hat, als er in Gethsemane tief betrübt war bis an den Tod.

8. Dein Grimm drücket mich. Eine schreckliche Lage, die schlimmste, in der sich ein Mensch befinden kann! Der Zorn ist schwer an sich, aber Gottes Zorn ist ein Gewicht, das mit keiner menschlichen Waage gewogen werden mag. Wenn der mit vollem Druck auf einer Seele lastet, so ist sie wahrlich bedrückt! Der Grimm Gottes ist die Hölle der Hölle; wenn er auf dem Gewissen ruht, so fühlt der Mensch Qualen, die nur von den Martern der Verdammten übertroffen werden können. Weder Freude noch Friede, ja nicht einmal die Betäubung der Gleichgültigkeit kann über jemand kommen, auf dem diese furchtbarste Bürde liegt. Und drängest7 mich mit allen deinen Fluten (wörtl.: sich brechenden Wogen). Er stellt Gottes Zorn dar als über ihn hereinbrechend wie die Wogen der See, die schwellen und toben und sich wutschnaubend am Ufer brechen. Wie konnte seine gebrechliche Barke hoffen, diesen brandenden Wogen, weiß wie die blinkenden Zähne des hungrigen Todes, zu trotzen? Furchtbare Sturzseen der Trübsal brachen mit Allgewalt über ihn herein. Er fühlte sich von allen Seiten bedrückt und bedrängt, wie Israel in Ägypten, als es schrie vor Elend, Angst und Not. Es schien ihm unmöglich, dass jemand noch mehr leiden könne; es war ihm, als hätte das Unglück an ihm alle seine Künste erschöpft, als wären buchstäblich alle Trübsalswogen über ihm zusammengeschlagen. Das haben wir gemeint, und doch ist es in Wirklichkeit nicht ganz so arg gewesen. Das Schlimmste könnte noch schlimmer sein; es gibt bei jedem Weh noch etliches, das es mildert. Gott gebietet noch über andre, viel schrecklichere Wogen, die, wenn es ihm beliebte, sie über uns gehen zu lassen, uns in den höllischen Abgrund hinwegfegen würden, aus dem seit langem alle Hoffnung verbannt ist.
  Sela. Eine Pause tut not. Noch schwimmt der Psalmist, und er erhebt nun sein Haupt über den Wogengischt und schaut umher, einen Augenblick Atem holend, bis die nächste Woge kommt. Selbst das Klagen muss seine Ruhepausen haben. Die lange Nacht ist in Wachen eingeteilt; so hat auch das Trauern seine Zwischenzeiten. Solch schmerzerfüllte Musik strengt Stimmen und Saiten stark an; darum ist es gut, den Sängern eine kleine Weile die Ruhe des Schweigens zu gönnen.

9. Meine Freunde hast du ferne von mir getan. Wenn wir je Freunde brauchen, dann wahrlich in den düstern Stunden der Verzweiflung und in der beschwerlichen Zeit leiblicher Krankheit; darum klagt der Leidende schmerzlich, dass Gott in seinem wunderlichen Walten seine Vertrauten von ihm entfernt habe. Vielleicht war seine Krankheit ansteckend oder machte ihn levitisch unrein, so dass er nach dem Gesetz von seinen Nebenmenschen abgesondert werden musste; vielleicht hielt die Furcht die Freunde von seinem mit der Pest geschlagenen Hause fern, oder es war sein guter Name solch ein Schimpf geworden, dass sie seinen Umgang mieden. Den meisten Freunden genügt ein geringer Entschuldigungsgrund dazu, dem Heimgesuchten den Rücken zu kehren. Die Schwalben entschuldigen sich ja auch nicht bei uns, dass sie uns im Winter allein lassen. Doch ist es ein durchdringender Schmerz, wenn wir so von denen verlassen werden, die mit uns durch die zarten Bande inniger Freundschaft verknüpft sind; es ist eine schwärende, fressende Wunde, die nimmer heilen will. Du hast mich ihnen zum Gräuel gemacht. Sie wendeten sich von ihm, als wäre er ekelhaft und unrein geworden, und dies wegen irgendeines Übels, das ihm vom HERRN auferlegt worden war; darum bringt er seine Klage vor den, welcher der eigentliche Urheber seines Jammers ist. Wer noch von den Genossen seiner Freude umschmeichelt ist, kann wenig ahnen, welches Elend sein Teil sein würde, wenn er in Armut geriete oder falschen Anklagen zum Opfer fiele; denn dann würden die Schmarotzer seines Wohllebens einer nach dem andern ihrer Wege gehen und ihn seinem Schicksal überlassen, noch dazu nicht ohne ihrerseits durch bissige Bemerkungen sein Elend zu vergrößern. Die Menschen sind weniger fähig, durch Freundschaft zu segnen, als durch Treulosigkeit ein Fluch zu sein. Die Gifte, welche die Erde hervorbringt, sind tödlicher, als ihre Arzneien heilkräftig sind. Die große Mehrzahl der Leute, die sich um einen Menschen scharen und ihm schmeicheln, ist wie zahme Leoparden; wenn sie ihm die Hand lecken, tut er wohl, des eingedenk zu sein, dass sie mit gleichem Behagen sein Blut schlürfen würden. "Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt." Ich liege gefangen (wörtl.: bin eingeschlossen) und kann nicht auskommen. Er war an seine Kammer gefesselt und fühlte sich wie ein Aussätziger im Isolierhaus oder wie ein Verbrecher in seiner Zelle. Auch sein Gemüt war wie mit eisernen Ketten gebunden; die Tür der Hoffnung war fest verriegelt, die Flügel der Freude waren ihm ganz beschnitten. Wenn Gott die Freunde von uns ausschließt und uns mit unserm Schmerz einschließt, dass unser Herz sich einsam in Gram verzehren muss, so ist es kein Wunder, wenn wir unser Lager mit Tränen schwemmen.

10. Mein Auge vergeht vor Elend. (Grundtext) Er weinte sich die Augen aus. Er erschöpfte seine Tränenquellen, er verweinte seine Sehkraft. Wenn uns im Leid die Tränen sanft wie ein milder Regen rinnen, so sind sie ein großer Segen; aber wenn sie in Fluten niederstürzen, richten sie schwere Zerstörungen an. HERR, ich rufe dich an täglich! Seine Tränen netzten seine Gebete, löschten aber ihre Inbrunst nicht. Er hielt am Beten an, wiewohl keine Antwort kam, ihm die Tränen von den Augen zu wischen. Nichts kann einen wahrhaft Gläubigen dazu bringen, vom Beten abzulassen; das Beten ist ihm zur Natur geworden, er muss es tun. Ich breite meine Hände aus zu dir. Er nahm von selbst die Stellung eines Bittenden an. Die Menschen brauchen keinen Anstandslehrer oder Zeremonienmeister, wenn sie mit ganzem Ernst um Gnade flehen: die Natur gibt ihnen selber die naturgemäßen und entsprechenden Gebärden ein. Wie ein Kindlein beim Schreien die Arme nach der Mutter ausstreckt, so hob dieses betrübte Gotteskind seine Hände auf zu seinem Helfer. Alles an ihm betete: seine Augen weinten, seine Stimme rief, seine Hände waren ausgestreckt, und sein Herz war am Brechen - das heißt fürwahr gebetet!

11. Wirst du denn unter den Toten Wunder tun? Warum also mich sterben lassen? Solange ich lebe, kannst du an mir die Herrlichkeit deiner Gnade erweisen; aber wenn ich in jenes unbekannte Land gegangen bin, wie kannst du dann an mir noch deine Liebe erzeigen? Wenn ich umkomme, wirst du einen Anbeter verlieren, der sowohl selber dich verehrte als auch in seinen Erfahrungen ein Ruhm der Wunder deines Wesens und deiner Taten sein konnte. Das ist ein kräftiger Beweis, darum wiederholt er ihn: Oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? Er denkt nur an die Gegenwart, nicht an den Jüngsten Tag, und macht mit Nachdruck geltend, dass der HERR unter den Menschenkindern eins weniger haben würde, das ihn preist. Die Schatten stimmen nicht mit ein in die Sabbatchöre, die abgeschiedenen Geister singen keine Freudenpsalmen, aus Gräbern und Grüften erschallen keine Dankeslieder. Wohl ist es wahr, dass die Seelen der zur Ruhe eingegangenen Gläubigen Gott Ehre geben; aber die niedergeschlagenen Gedanken des Psalmdichters steigen nicht in himmlische Höhen, sondern blicken nur auf das finstere Grab. Er bleibt auf dieser Seite der Ewigkeit stehen, wo er im Grabe wahrlich keine Wunder sieht und keine Gesänge hört.
  Sela. Am Rand des offenen Grabes sitzt er zu stillem Sinnen nieder, um dann das alte Thema wieder aufzunehmen.

12. Wird man in Gräbern erzählen deine Güte (Gnade)? Deine so liebreich zarte Gnade - wer wird ihr Zeugnis geben in der kalten Gruft, wo Wurm und Made sich am Schmause gütlich tun? Die Lebenden mögen "Meditationen inmitten der Gräber"8 abfassen; aber die Toten wissen nichts (Pred. 9,5) und können darum auch nichts erzählen. Und deine Treue im Verderben? Wenn der HERR seinen Knecht der Unterwelt, dem Ort des Verderbens, preisgäbe, ehe sich die göttliche Verheißung an ihm erfüllte, so würde seine Treue unmöglich verkündigt werden können. Der Dichter rechnet hier nur mit dem irdischen Leben und beurteilt die Sache von dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit und des gegenwärtig lebenden Geschlechts. Wenn jemand, der sein Vertrauen auf Gott setzt, vom HERRN verlassen würde und in Verzweiflung stürbe, so könnte aus seinem Grabe keine Stimme dringen, um die Menschen davon zu unterrichten, dass der HERR ihm doch zum Recht verholfen und ihn von seinen Trübsalen erlöst habe. Es würden aus dem Rasenhügel keine Lieder emporsteigen, die Wahrhaftigkeit und Güte des HERRN zu preisen, sondern, sofern die Menschen in Betracht kommen, würde eine Stimme, deren Lust es war, Gottes Gnade zu rühmen, zum Schweigen verurteilt sein und ein Menschenkind, das mit ganzer Liebe vor aller Welt für den HERRN eintrat, von dem Schauplatz seiner Zeugenschaft entfernt sein.

13. Mögen denn deine Wunder in der Finsternis erkannt werden? Wenn der Sänger nicht hier, im Licht des Lebens, die Wundermacht des HERRN nachweisen darf, wie soll er das im Land der Finsternis und des Todesschattens tun können? Würde seine Zunge, wenn sie in einen Klumpen Staub verwandelt ist, das taube, kalte Ohr des Todes beschwören können? Ist nicht ein lebendiger Hund besser als ein toter Löwe (Pred. 9,4) und ein lebender Gläubiger für die Sache des HERRN auf Erden von größerem Wert als alle die Abgeschiedenen miteinander? Oder deine Gerechtigkeit im Lande, da man nichts gedenket? Was soll man im Lande des Vergessens von dir erzählen? Wo Gedächtnis und Liebe verloren sind, wo die Menschen nichts kennen und von niemand gekannt sind, vergesslich und vergessen sind - was für Zeugnisse für Gottes Heiligkeit könnten da noch abgelegt werden? Die ganze Beweisführung läuft darauf hinaus: wie wird Gottes Ehre bewahrt bleiben, wenn der gläubige Beter unerhört stirbt, und wer wird dann Gottes Treue und Gerechtigkeit bezeugen?

14. Aber ich schreie zu dir, HERR. (Das Ich ist zu betonen: Ich aber usw.) Ich halte an, zu dir, dem lebendigen Gott Jehova, um Hilfe zu rufen, ungeachtet dessen, dass du so lange verziehst, mir zu antworten. Ein wahres Gotteskind kann man am anhaltenden Gebet erkennen. Der Heuchler mag einen gewaltigen Anlauf nehmen; aber der echte Gläubige hält an, bis er sein Ziel erreicht, seine Sache gewonnen hat. Und mein Gebet kommt frühe vor dich. Schon ehe die Sonne sich aufgemacht hatte, war er auf dem Wege, Gott entgegenzugehen. Wenn der HERR zu säumen beliebt, so hat er ein Recht, zu tun, wie er will; aber wir dürfen darum nicht im Beten säumig werden. Ja, wenn wir meinen, der HERR verziehe die Verheißung, so müssen wir nur desto eifriger sein, ihn zu überlaufen, damit wir nicht durch sündliche Trägheit selber den Segen hindern.

15. Warum verstößest du, HERR, meine Seele? Hast du mich nicht selber vorzeiten erwählt und willst mich jetzt verwerfen? Sollen aus deinen Auserkorenen ewig Verstoßene werden? Gibst du, veränderlichen Menschen gleich, denen einen Scheidebrief, um die deine Liebe einst geminnt hat? Kannst du deine Liebe in Abscheu wandeln? Und verbirgest dein Antlitz vor mir? Magst du mich nicht einmal mehr ansehen? Hast du keinen freundlichen Blick mehr für mich übrig? Warum diese frostige Kälte gegen einen, der sich in helleren Zeiten im Licht deiner Gunst gesonnt hat? Wir dürfen solche Fragen an den HERRN richten, ja wir sollten es, wenn wir in ähnlicher Lage wie Heman sind. Das ist nicht ungeziemende Zudringlichkeit, sondern heilige Freimütigkeit. Es mag uns das Übel beseitigen helfen, welches den HERRN zum Eifer reizt, wenn wir ihn mit dem Ernst der Aufrichtigkeit bitten, uns zu zeigen, warum er mit uns hadert. Er kann ja doch nicht anders als gerecht und gnädig mit uns handeln; darum hat er unzweifelhaft für jeden Hieb, den er uns mit seiner Rute erteilt, nach dem Urteil seines väterlich liebenden Herzens vollgenügenden Grund. So lasst uns denn suchen, diesen Grund kennen zu lernen, um daraus Nutzen zu ziehen.

16. Ich bin elend und hinsterbend von Jugend auf. (Grundtext) Sein Leiden hatte nun schon so lang gewährt, dass er sich kaum erinnerte, wann es begonnen habe; es schien ihm, als wäre er schon seit seiner Kindheit Tagen an der Pforte des Todes gewesen. Das war wohl eine Übertreibung seines von der Schwermut niedergedrückten Gemüts; und doch mag es sein, dass Hemans Wiege schon unter Trauerweiden stand und er sein Leben lang mit einer unheilbaren Krankheit oder einem körperlichen Gebrechen behaftet war. Es gibt so manche gottselige Menschenkinder, deren ganzes Leben eine lange Lehrzeit der Geduld ist, und diese haben Anspruch sowohl auf unser Mitleid als auf unsre besondere Verehrung - unsre Verehrung, wagen wir zu sagen, denn seit unser Heiland der Mann der Schmerzen und ein Vertrauter des Leidens geworden, sind Leiden und Schmerz in den Augen der Gläubigen zu Ehren gekommen. Ein lebenslanges Siechtum kann sich durch Gottes Gnade als ein lebenslanger Segen erweisen. Lieber leiden von der Wiege bis zum Grabe, von der zarten Jugend bis zum hohen Alter, als sich selber überlassen werden, um sein Ergötzen an der Sünde zu finden.
  Ich leide deine Schrecken, dass ich schier verzage. Die lange Prüfung hatte die scharfe Schneide des Leidens nicht abgestumpft, Gottes Schrecken hatten ihre Schrecken nicht verloren; vielmehr waren sie nur immer niederdrückender geworden und hatten Heman in ratlose Verzweiflung getrieben. Er war nicht imstande, seine Gedanken zu sammeln; er ward so hin und her geworfen, dass er seine Lage nicht ruhig und vernünftig beurteilen konnte. Nur durch Krankheit kann das Gemüt so verwirrt und zerrüttet werden, und wenn dazu noch die Empfindung des göttlichen Zornes kommt, ist es nicht verwunderlich, wenn die Vernunft es schwer findet, die Zügel festzuhalten. Wie nahe dem Wahnsinn verwandt manchmal solcher Gemütsdruck sein mag, das zu entscheiden ist nicht unser Beruf; aber wir reden, was wir wissen, wenn wir sagen, dass zuzeiten das Gewicht einer Feder genügt, um das Zünglein der Waage auf die linke Seite zu bringen. Danket Gott, ihr Vielgeprüften, wenn ihr euern Verstand behalten habt! Danket ihm, dass der Teufel selbst das Federlein nicht hinzufügen kann, solange der HERR dabeisteht, um das Gleichgewicht zu erhalten! Wir preisen den unvergleichlich weisen Steuermann, dass unser Schiff, obgleich wir das Riff gänzlicher Verwirrtheit gestreift haben, doch noch seetüchtig ist und dem Ruder gehorcht; wiewohl es von der Stunde an, da es vom Stapel gelaufen ist, bis zum gegenwärtigen Augenblick von vielen Stürmen hin und her geworfen worden ist, durchschneidet es doch noch die Wogen und trotzt dem Sturmwind.

17. Dein Grimm gehet über mich. Was für ein Ausdruck, besonders nach dem Grundtext: Deine Zornesgluten gehen (wie Fluten) über mich! Und doch ist es ein Mann Gottes, der solches durchmacht! Suchen wir eine Erklärung? Es schien ihm so zu sein; aber es ist nicht alles wie es scheint. Strafender, verdammender Zorn ergießt sich niemals über den geretteten Menschen, denn Jesus schirmt ihn davor; aber eines Vaters Zorn mag allerdings auch über das seinem Herzen teuerste Kind kommen, nicht umso weniger, sondern umso mehr, weil er es liebt. Da Jesus als mein Stellvertreter meine Schuld getragen hat, kann mein Richter mich nicht strafen; aber mein Vater kann und wird mich züchtigen. In diesem Sinne mag der Vater sein fehlendes Kind sogar die ganze Strenge seiner Entrüstung fühlen lassen, und unter der Empfindung dieser Zornesgluten mag das arme zusammengebrochene Menschenkind sich im Staube winden und mit Elend überhäuft sein - und dennoch mag es bei alledem von Gott geliebt sein und von dem Auge seines himmlischen Vaters mit dem zartesten Mitleid überwacht werden. Dein Schrecken drücket mich, wörtlich: Deine Schrecken vernichten mich. Dabei braucht der Grundtext noch eine sonst unerhörte, verstärkende Form des Zeitworts. Überdies steht eigentlich (wie überhaupt in diesen Versen) das Perfektum. Es ist dem Psalmisten, als hätte sich das Gericht schon an ihm vollzogen, als wäre er bereits vernichtet durch die furchtbaren Schrecken des Allmächtigen. Und doch kann er noch beten - und köstliche Zeiten der Erquickung harren sein vom Angesicht des HERRN!

18. Sie umgeben mich täglich (allezeit) wie Wasser. Deine Züchtigungen strömen über mich, überall hindringend, alles überschwemmend und erstickend. Solch eindringender und durchdringender Art ist die Macht der seelischen Leiden; man kann sich ihrer nicht erwehren. Diese Wasser saugen sich ein wie der Tau in Gideons Fell; sie ziehen den Geist in die Tiefe wie der Wirbel ein Schiff; sie schlagen über der Seele zusammen, wie die Sintflut die grüne Erde unter Wasser setzte. Und umringen mich miteinander. Die Seelenängste trieben ihn von allen Seiten ein. Er war wie ein angeschossenes Reh, dem die Hunde sich an die Ferse heften und an der Kehle sitzen. Du armes Menschenkind! Und doch bist du bei Gott lieb und wert!

19. Freunde und Gefährten hast du von mir entfernt. (Grundtext) Mögen sie sich auch dem Leibe nach in meiner Nähe befinden, so sind sie doch so unfähig, mit mir in solchen tiefen Wassern zu schwimmen, dass es ist, als ob sie fern am Ufer ständen, während ich mit den Wogen ringe. Aber ach, sie scheuen mich, selbst die nächsten Freunde fürchten sich vor einem so verstörten Menschen, und die einst mit mir Rats pflogen, meiden mich jetzt ängstlich! Der Herr Jesus kannte die Bedeutung dieser Worte in ihrer ganzen Bitterkeit, als er in seinem Leiden war. In schrecklicher Einsamkeit trat er die Kelter, und all sein Gewand ward bespritzt von dem roten Blut dieser sauren Trauben. (Vergl. Jes. 63,3) Nicht wenigen ist einsamer Kummer beschieden; mögen sie nicht darüber murren, sondern damit in die engste Gemeinschaft jenes teuersten Freundes und Genossen eintreten, der niemals von seinen schwergeprüften Brüdern fern ist. Und meine Vertrauten (sind die) Finsternis.9 (Grundtext) Statt meiner bisherigen Vertrauten ist nun die Finsternis mein einziger Vertrauter geworden. Ich pflege nur noch mit der düstern Schwermut trauten Umgang; alle andern Freunde sind verschwunden. Ich bin wie ein Kind, das einsam im Dunkeln schreit. Wird der himmlische Vater sein Kind da lassen? Damit bricht er ab, und jedes Wort, das wir hinzufügten, würde nur den Eindruck dieses unerwarteten Schlusses zerstören.
  Wir haben uns nicht daran gewagt, diesen Psalm mit Bezug auf den Herrn Jesus zu erklären; aber wir sind völlig überzeugt, dass, wo die Glieder sind, auch das Haupt, und zwar vornehmlich, zu sehen ist. Eine gemischte Erklärung wäre schwierig und verwirrend gewesen. Doch mögen etliche in die Erläuterungen und Kernworte aufgenommene Bemerkungen andrer Ausleger dem sinnenden Leser Anleitung genug geben, Jesus als den Mann der Schmerzen in diesem Psalm wiederzuerkennen.


Erläuterungen und Kernworte

Zu der Überschrift und dem ganzen Psalm. 1) David war nicht der einzige, der seelische Not und Schmerzen kannte; denn hier sehen wir einen andern, Heman den Esrahiten, in so tiefer Seelenangst, wie nur je David oder irgendein andrer sie durchgemacht hat. 2) Das sind nicht lauter Schwachköpfe und Menschen von beschränktem Gesichtskreis, die unter Gemütsdruck schmachten und von dem Gefühl des Zornes Gottes in den Staub gebeugt werden; denn hier ist Heman, einer der größten Weisen Israels, der keinem außer allein Salomo an Weisheit nachstand, und dennoch ist er in der allerschwersten Drangsal der Seele, die man sich bei einem Gläubigen nur denken kann. 3) Wenn Gott es für gut findet, einen an Gaben und Gnaden hervorragenden Mann auf die Probe zu stellen, so kann er ihm eine Last aufbürden, die seiner Kraft entspricht. Das sehen wir hier an Heman. 4) Menschen von großer Klugheit müssen in ihrer Not denselben Weg einschlagen wie die schlichteren Leute; das ist, sie müssen zu Gott ihre Zuflucht nehmen genau wie die andern, müssen geradeso ihre Rettung allein in der Gnade dessen suchen, der, wie er es ist, der das Maß der Trübsal zuteilt, auch allein trösten, lindern und retten kann. Das lehrt uns Hemans Beispiel. 5) Was dieses und jenes Gotteskind in vergangenen Zeiten an Angst des verwundeten Herzens durchgemacht hat, das mögen später andre, die Gott ebenfalls lieb und wert sind, ebenso erfahren. Alle sollten sich daher auf Ähnliches gefasst machen und keiner die Prüfung, wenn sie eintrifft, sich etwas Seltsames bedünken lassen, sondern sich damit trösten, dass andre Heilige, deren Namen in der Schrift verzeichnet sind, in gleicher Anfechtung gewesen sind. Dazu soll dieser Psalm dienen, der eben darum eine Unterweisung Hemans genannt ist. 6) Was zu der einen Zeit für ein Kind Gottes eine Ursache des Klagens und Trauerns ist, das mag hernach sowohl für den Betreffenden selbst als auch für andre Gläubige ein Anlass der Freude und des Lobsingens werden. So ward Hemans bitteres Herzweh ein Lied zu Gottes Ehre und zum Trost aller betrübten Seelen, die unter dem Bewusstsein ihrer Schuld und der Empfindung des Zornes Gottes meinen verschmachten zu müssen. Ja, bis an der Welt Ende wird dieser Herzenserguss Hemans bleiben: ein Psalmlied, vorzusingen, von der Schwachheit der Elenden. 7) Aufs tiefste betrübte Seelen, die mit ihrem Gram zu Gott flüchten, um durch Christus Versöhnung und Trost zu erlangen, haben keinen Grund, zu befürchten, dass sie nicht geliebte und wertgeschätzte Kinder Gottes seien, weil sie so schwer unter Gottes Zuchtrute leiden müssen. Denn hier ist einer, der den Kelch der Leiden hat leeren müssen (und zwar so ganz bis auf die Neige, wie nur je einer, der diesen Psalm lesen wird), und der dennoch von Gott so geliebt und so hoch geehrt ward, dass er mit seiner Feder einen Beitrag zu der Heiligen Schrift liefern und andern ein Vorbild des Glaubens und der Geduld werden durfte, nämlich Heman der Esrahite. David Dickson † 1662.
  Zum ganzen Psalm. Wir hören in diesem Psalm die Stimme des leidenden Erlösers. 1) Das klägliche Geschrei des Dulders, V. 2 f. Erinnert sehr an Ps. 22,2 f. 2) Seine Seele ist tief betrübt bis an den Tod, V. 4-6. 3) Er fühlt die Hölle, V. 7 f. 4) Tiefe Schmach, Verachtung von den Nächsten, gänzliche Hilflosigkeit, V. 9. 5) Die Wirkung der Seelenangst auf seinen Körper, V. 10a. 6) Ergebung in Gottes Willen, V. 9 b. 7) Die Hoffnung der Auferstehung, V. 11-13.10 8) Sein Anhalten am brünstigen Flehen, V. 14 f. 9) Die lange Dauer und die Mannigfaltigkeit seiner Leiden, V. 16-18. 10) Die Verlassenheit seiner Seele, V. 19. Andrew A. Bonar 1859.
  Weil in diesem Psalm nichts vorkommt, wie sonst in den Bußpsalmen, das eine Vermutung auf besondere Verschuldungen gäbe, womit das gepresste Herz sich solche Not zugezogen hätte, so gehören diese ausnehmenden Demütigungen mehr in die Zahl derjenigen Versuchungen, die Gott über manche seiner Kinder und Gnadengenossen, die er zu seinem Reich tüchtig machen will, kommen lässt und darunter manche heilsamen Absichten ausführt. Z. B., es gibt unter solchen Erfahrungen vom Feuereifer Gottes eine tiefere Erkenntnis des natürlichen Verderbens; es werden allerlei im Herzen steckende Zweifel aufgerüttelt, die gründlicher geheilt werden können, wenn sie herauskommen, als wenn sie in uns stecken bleiben. Man bekommt eine größere Achtung vor dem Heil Gottes, vor der Erlösung aus der Sünde und allem Übel. Es wird mancher Verstand und Aufmerksamkeit aufs Wort Gottes geschärft und erweckt. Die Inbrunst im Gebet wird unterhalten, die Geduld bekommt ihr völliges Werk, wenn man zwar immer im Zagen ist, aber doch Kraft findet, auszuhalten. Die Welt wird einem desto mehr entleidet, das Vertrauen auf Menschen abgeschmelzt, das mitleidige Herunterlassen zu den Niedrigen gefördert, der Glaube zu reinerer Absicht auf Gott allein geläutert usw., dass man also wohl selig preisen darf, die dergleichen Zucht erdulden, damit sie Gottes Heiligkeit erlangen. Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Dieser Psalm steht im ganzen Psalter einzig da in seiner durch keinen Lichtstrahl unterbrochenen Düsternis, in der hoffnungslosen Wehmut seines Tones. Selbst die trauervollsten andern Psalmen und sogar die Klagelieder wechseln doch noch je und dann die Tonart und haben Klänge der Hoffnung; nur in diesem Psalm ist und bleibt es Nacht bis zum Ende. Neale und Littledale 1860.


V. 2. Mein Heiland. Dies Wörtlein mein öffnet für einen Augenblick ein Spältchen zwischen den Wolken, durch welches die Sonne der Gerechtigkeit einen einzigen Strahl wirft. Allgemein finden wir es sonst so, dass ein Psalm, der mit Klagen beginnt, mit Lobpreis endet, wie wenn die Sonne durch Nebel verschleiert aufgeht, dann aber durchbricht und beim Untergehen noch ihre letzten Strahlen mit vollem Glanz aussendet. Hier ist es anders: die Sonne wirft ihren ersten Strahl über den Horizont gerade in dem Augenblick, da sie aufgeht; kaum ist der Strahl aber erschienen, so breiten sich dicke, finstere Wolken über ihn. Die Sonne setzt ihren Lauf den ganzen Tag in Wolken gehüllt fort und geht in einer noch dunkleren Wolkenbank unter: Und meine Vertrauten sind die Finsternis. Joseph C. Philpot † 1869.
  Vor dir. Andre suchen einen versteckten Winkel, wo sie gegen Gott murren können; der Psalmdichter aber tritt vor den HERRN und schüttet vor ihm seinen Kummer aus. Wenn das jemand wagt, so sind seine Leiden wirklicher Art und nicht eine Ausgeburt der Verdrießlichkeit oder der Auflehnung wider Gott. C. H. Spurgeon 1874.


V. 4. Meine Seele ist voll Jammers. Hören wir, in welche Tiefen der Seelennot drei würdige Jünger des Herrn in diesen unseren Zeiten geraten sind, da sie unter der Empfindung des Zornes Gottes über die Sünde schmachteten. Die gottselige Frau Brettergh wurde auf ihrem Sterbebette schwer von Furcht vor dem Tode bedrängt. Höllenangst bemächtigte sich ihrer. Sie klagte, dass sie in einer grausen Wüste des Verderbens stecke; ihre Sünde habe sie zu einer Beute des Satans gemacht. Sie wünschte, dass sie doch nie geboren oder doch lieber zu irgendeinem andern Geschöpf als zu einem Weibe gemacht worden wäre. Oft rief sie, während ihr die Tränen beständig aus den Augen quollen: "Wehe, wehe, wehe mir schwachem, bedauernswertem, elendem, gänzlich verlassenem Weibe!" - Einem Mann Gottes, namens Peacock, kamen in einer Zeit schrecklicher Prüfung und innerer Verlassenheit einige kleine Sünden zum Bewusstsein, und er wehklagte: "Wegen dieser Sünden brennt mir die Hölle im Gewissen!" Bei einer andern Gelegenheit jammerte er aufs kläglichste: "Wehe mir Elendem! O wie ist mein Herz so unglücklich! Ich bin lauter Elend und Jammer! Die Last meiner Sünden drückt mich so hart, dass mein Herz darunter brechen will. O welch ein entsetzlicher Zustand, die Höllenhunde hetzen mich!" Als die Umstehenden ihm rieten, er möchte doch beten, antwortete er: "Ich kann nicht beten!" Und als die Freunde darauf sagten: "Dann lass uns für dich beten," erwiderte er: "Missbraucht doch nicht Gottes Namen, indem ihr für einen Verworfenen betet!"
  Welch schreckliche Angst, welch entsetzliche Qualen, welche Siedehitze der Höllenglut der teure Gottesmann John Glover innerlich in seinem Gemüt erfahren hat, das kann, wie John Foxe (der berühmte Martyrologe, † 1587) sagt, keine Zunge ausdrücken. Foxe erzählt: "In meinen jungen Jahren war ich etliche Mal bei ihm, und ich erfuhr, teils durch den Augenschein, teils aus dem, was er sagte, dass er durch die Leiden der letzten fünf Jahre so abgezehrt und heruntergekommen war, dass er kaum irgendwelche Speise zu sich nehmen und keinen ruhigen Schlaf finden konnte, dass ihm alle Freude am Leben genommen war, ja ihm nahezu jeder Gebrauch der Sinne unmöglich war. Wenn er sich irgendeiner Untreue bewusst wurde, geriet er darob in solches Entsetzen, dass er, wenn er schon leibhaftig in dem tiefsten Abgrund der Hölle gewesen wäre, kaum völliger hätte an seinem Seelenheil verzweifeln können. In diesem unerträglichen Gemütszustand hatte er, wie er sagte und es begreiflich ist, keinerlei Genuss von Speise und Trank, und dennoch war er genötigt, wider Willen Nahrung zu sich zu nehmen, damit nur die Zeit seiner Verdammnis noch möglichst hinausgeschoben werde; denn er dachte nichts andres, als dass er den Augenblick, da der Odem aus seinem Körper wiche, in die Hölle hinabstürzen würde."
  Damit nun aber nicht etwa ein Kind Gottes durch das Erzählte ins Verzagen komme, muss ich alsbald berichten, dass jede dieser drei geplagten Seelen zuletzt mächtig aufgerichtet wurde. Sie stiegen alle, ehe ihr Ende eintrat, aufs herrlichste aus diesen äußersten Tiefen der geistlichen Not empor.
  Lasst uns aus die entzückten Jubellieder lauschen, die der Frau Brettergh entquollen, als ihr heißgeliebter Seelenfreund zu ihr wiedergekehrt war: "O Herr Jesu, du betest für mich? Lieber, köstlicher Heiland, wie ist das so wunderbar! Wie erstaunlich ist dein Erbarmen! O deine Liebe ist unaussprechlich; wie gnädig hast du an mir gehandelt! Mein Herr und mein Gott, dein Name sei ewig hochgelobt; du hast mir den Weg des Lebens kundgetan. Im Augenblick des Zorns verbargst du dein Angesicht eine kleine Weile vor mir; aber mit ewiger Gnade hast du dich mein erbarmt! (Jes. 54,8) Und nun hast du mir deine tröstliche Gegenwart wieder enthüllt; ja, Herr, du hast deine Magd angesehen und hast dich mir mit der Fülle der Freude und überschwenglichem Trost wieder genaht. O gepriesen sei dein Name, mein Herr und mein Gott! O welche Freude und Wonne genießt meine Seele! Es übersteigt alle Begriffe. Mein Vater, wie gnädig, wie wunderbar gnädig bist du mir! Ja, HERR, ich schmecke, wie freundlich du bist, ich bin deiner Liebe versichert! So gewiss ich des bin, dass du der Gott der Wahrheit bist, so gewiss weiß ich nun auch, dass ich dein bin, HERR mein Gott! Das erkennt meine Seele wohl. Gelobet sei der HERR, der mich also getröstet und mich in ein Paradies geführt hat, das mir lieblicher ist als der Garten Eden. O der Freude, der entzückenden Freude, die ich fühle! O preiset den HERRN für seine Gnade und für diese Wonne, welche meine Seele in vollen Zügen. genießt. Gelobt sei sein Name ewiglich!"
  Man höre ferner, welch himmlischer Friede, welch köstlicher Trost Peacocks Herz erquickte und entzückte, als der Sturm vorüber war. Schon als einigermaßen Stille eingetreten war, sagte er: "Wahrlich, mein Herz und meine Seele waren weit weg verschlagen und tief erschüttert durch Anfechtungen und Gewissensbisse; aber Ruhe ist, Gott sei Dank, schon wieder ziemlich eingekehrt. Darum begehre ich ernstlich, dass man mich nicht als einen Verworfenen oder Abtrünnigen brandmarke. Alle Fragen, Einwürfe und Zweifel, die darauf hinausgehen, widerrufe ich. Für die unbedachtsamen Äußerungen, die ich in der Zeit der Anfechtung getan habe, bitte ich Gott demütig und herzlich um Vergebung." Hernach strahlte allmählich das Licht voller in sein Herz, so dass er in Worte wie diese ausbrechen konnte: "Ich fühle, Gott sei gelobt, wunderbaren Trost nach dieser - wie soll ich es nennen?" "Angst," ergänzte einer der Anwesenden. "Nein," sprach er, "das ist zu wenig. Besäße ich fünfhundert Welten, so könnte ich eine solch herrliche Rettung nicht vergelten. O das Meer ist nicht so voll Wassers, die Sonne nicht so voll Lichtes als der HERR voller Gnade; ja, seine Gnade ist zehntausendmal größer. Was habe ich für Ursache, die erstaunliche Barmherzigkeit Gottes zu preisen, die einen so Elenden und Unwürdigen zu einem solchen Stand der Herrlichkeit und Würde erhöht hat! Der HERR hat mich hoch geehrt durch seine Güte. Ich bin des gewiss, dass er ein herrliches Reich für mich bereitet hat. Niemand kann glauben, was für eine Wonne mein Herz erfüllt."
  Über den dritten, John Glover, wollen wir Foxe hören: "Obgleich dieser treue Knecht Gottes viele Jahre solch heftige Anfechtungen und gewaltige Faustschläge des Satans erduldete, befreite ihn der HERR, der ihn die ganze Zeit gnädiglich bewahrt hatte, zuletzt nicht nur von aller Trübsal, sondern verhalf ihm eben durch die Prüfung zu solchem Sieg über das Fleisch, wie man es sonst nicht leicht findet. Er war gleichsam schon so in den Himmel versetzt und der Welt in Worten und Gedanken so abgestorben, dass er fast ein völlig himmlisches Leben führte und vor allem, was nicht geistlich war, einen Abscheu hatte." Robert Bolton † 1631.
  Hölle. Das Wort, welches in unseren Bibeln Hölle übersetzt ist, heißt im Hebräischen Scheol, im Griechischen Hades. Das hebräische Wort bezeichnet nach den einen das Totenreich als das unersättlich Fordernde, vergl. Hab. 2,5; Spr. 30,15 f.; wahrscheinlicher ist die Erklärung: Versenkung, Abgrund. Das griechische Wort heißt: die ungesehene Welt. (Vergl. die bei Homer übliche Form )Ai!dhj.) - Aus den Vorstellungen und Grübeleien der jüdischen Rabbinen über die Scheol scheint die römische Kirche ihre Lehre vom Fegfeuer ausgestaltet zu haben. Es sei hinzugefügt, da unter den Anhängern der späteren rabbinischen Lehre die Anschauung üblich war, dass alle, die vom Samen Abrahams seien, ob sie auch vor der allgemeinen Auferstehung die Scheol bewohnten, doch am Ende der Gehenna, dem Ort des ewigen Feuers, entrinnen würden. Plain Commentarty 1859.


V. 4-7.11-13. Er ist wie ein Mann, dem alle Lehensfrische geschwunden, also nur noch wie der Schatten eines Mannes, ja wie ein schon Verstorbener. Er ist "unter den Toten ein Entbundener" (LXX), d. i. ein aus dem Verbande des Lebens Entlassener (wie etwa lateinisch der Tote defunctus heißt). Der Toten gedenket Gott nicht, nämlich tatsächlich, indem ihr Zustand geschichtslos, der immer gleiche bleibt; sie sind ja losgeschnitten von Gottes leitender und helfender Hand. Ihr Wohnort ist die Grube der tief unten gelegenen Orte, die finstern Regionen, die untermeerischen Tiefen, deren geöffneter Schlund für den Einzelnen das Grab ist. - Das Jenseits, der Wohnort der Schatten, ist geschichtslose, immer gleiche Finsternis. Es ist der Ort des Untergangs, das Land der Vergessenheit (lh/qhj), wo es vorbei ist mit Denken, Fühlen, Handeln (Pred. 9,5.6.10), wo die gedanken- und gedächtnislose Monotonie des Todes herrscht. So stellte sich das Jenseits im Alten Testament dar, auch noch im Prediger und den Apokryphen (Sir. 17,25 f. nach Jes. 38,18 f.; Bar. 2,17 f.), und so musste es sich darstellen; denn im Neuen Testament ist nicht bloß die Vorstellung von dem Zustande nach dem Tode, sondern dieser Zustand selbst ein andrer geworden. - Nach dem Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 5. Wie ein kraftloser Mann. Im Grundtext ist die Antithese noch stärker. In dem hier für Mann gebrauchten Wort liegt nämlich der Begriff der Kraftfülle. Joseph Addison Alexander 1850.


V. 6. Losgeschnitten von deiner Hand. (Wörtl.) Hüte dich in der Zeit innerer Anfechtung vor raschem Urteil über deinen Zustand! Du bist nicht abgeschnitten, nur abgesondert, beiseite gelegt, sei es nun für eine Weile, sei es für das ganze zeitliche Leben; aber du bist doch noch ein Glied an dem Leibe, dessen Haupt Christus ist. Die einen müssen leiden, die andern wirken; aber jeder ist dem andern nötig. (Eph. 4,16; 1. Kor. 12,21) Deine Füße mögen festgelegt sein, die so behende waren, und du bist nun darüber traurig, dass sie nicht mehr rennen und eilen können. Aber gräme dich nicht dermaßen darüber und sei nicht neidisch auf die, welche laufen können; auch du hast ein Werk zu vollbringen. Welcher Art dieses auch sein mag, sicherlich ist es eben die Arbeit, welche Gott dir zu tun gibt. Deine Aufgabe mag sein, still zu liegen, weder Hand noch Fuß zu rühren, kaum ein Wort zu reden, kaum ein Lebenszeichen von dir zu geben. Sei unbesorgt: wenn Er, dein himmlischer Meister, es dir zu tun gegeben hat, so ist es sein Werk, ein Werk für ihn, und er wird es segnen. Lass dich nicht vom Kummer verzehren! Sage nicht, das und jenes sei eine Arbeit, aber dieses sei keine - was weißt du davon? Was für eine Arbeit haben denn wohl, meinst du, Daniel in der Löwengrube getan oder Sadrach, Mesach und Abednego in dem glühenden Ofen? Ihr Werk gereichte ihnen zu Lob, Preis und Ehre: sie verherrlichten Gott durch ihr Leiden. - Anonym: Krankheit, deren Anfechtungen und Segen. (Engl.) 1868.


V. 8. Auch Paulus, dies auserwählte Rüstzeug, hatte auswendig Streit, inwendig Furcht (2. Kor. 7,5). John Welch † 1622.


V. 9. Es gibt Zeiten, wo mich eine unsagbare Traurigkeit beschleicht, wo sich meinem Seele ein entsetzliches Gefühl der Verlassenheit bemächtigt, ein tiefes Sehnen nach irgendeiner freundlichen Hand, einer liebevollen Stimme, die mich tröstete wie in vormaligen Zeiten. Es ist mir, als wäre ich in einer menschenleeren Öde und diese Wüste auch in mir, alles in Verwüstung einhüllend und mein Innerstes verfinsternd. In der ersten Zeit meiner Krankheit war es nicht so. Damals war es mir alles so neu und fremd, und eine wundersame geistliche Kraft erfüllte meine Seele, dass ich mich wie auf Engelshand getragen und emporgehoben fühlte. Die Liebe und Gütigkeit, welche meine Krankheit hervorrief, überraschten mich so freundlich. Die zarte Sorgfalt verwandelte mir die Schmerzen in eine Quelle der Freuden. Meine Hoffnung war kräftig, die Genesung schien so nah - nur noch einige kurze Wochen, so würde die Gesundheit wiedergekehrt sein und nichts mehr von der Krankheit zurückbleiben außer der Erinnerung an all die genossene Liebe und Teilnahme, gleichsam wie ein Lichtstreifen, den meines Heilands Füße hinter sich gelassen hatten, als er mit mir über das stürmische Meer gewandelt war.
  Aber jetzt, da diese Hoffnung in die Ferne gerückt ist, da die zurückkehrende Gesundheit auf dem Wege zu säumen scheint, da die Genesung sich verschleppt und die Prüfung sich wie eine endlose Kette in die Länge zieht, wird meine Seele matt und müde und die Last immer größer, immer schwerer. Selbst denen, welche mich am innigsten lieben, sind meine Schmerzen und meine Hilflosigkeit jetzt etwas Gewohntes, während die Leiden für mich trotz der Länge der Prüfung ihre scharfe Spitze behalten. Meine Leiden sind ihnen eine langweilige, oft gehörte Geschichte, die durch ihre Wiederholung das Gefühl abstumpft. Es ist ihnen fast etwas ganz Selbstverständliches geworden, dass ich bei einem schönen Plan aus dem Spiel gelassen, bei einem angenehmen Gang zurückgelassen werde; etwas Selbstverständliches, dass die Freuden des Lebens an mir mit geschlossener Hand und abgekehrtem Angesicht vorübergehen und Siechtum, eintönige Tage und dunkle Schatten mein Teil seien.
  Und ach, Gott, mein Geist will manchmal unterliegen unter einer namenlosen Furcht, diese Vereinsamung werde immer noch tiefer werden, wenn es dein Wille sein sollte, dass mein Siechtum sich verlängert! Ich kann nicht mehr mit denen, die ich liebe, Verkehr pflegen wie vordem; werde ich ihnen so teuer bleiben, wie wenn ich an ihrer Seite bleiben und an allen ihren Unternehmungen und Freuden hätte tätigen Anteil nehmen können? Ich muss andre meine Stelle einnehmen und meine Arbeit für sie tun sehen; werde ich nicht in ihrer Wertschätzung verlieren, werden andre nicht in das Erbteil an Liebe eintreten, das mein hätte sein können? Werden sie nicht mein überdrüssig werden, überdrüssig der oft gehörten alten und doch immer neuen Leiden, und sich mit einem Gefühl der Erleichterung zu solchen wenden, die ein fröhlicheres Gemüt und ein heitereres Leben haben?
  Mein Gott, mein Gott, zu wem soll ich mich wenden um Trost als zu dir, zu dir, der du den bittern Kelch der Verlassenheit bis zu den Hefen geleert hast, auf dass du würdest ein Bruder der Einsamen, ein barmherziger und treuer Hoherpriester für die verlassenen Seelen; zu dir, der du allein in das donnernde Gewölk einzutreten vermagst, da kein Mensch helfend zuspringen kann, wo die vom Wetter überfallene, von dem Sturm hin und her geworfene Seele einsam und allein leidet und mit den Wogen ringt; zu dir, der du allein kannst Sturm und Wellen gebieten, dass eine große Stille wird?
  Wie ein Kind, das im Dunkeln ist, schreit mein Herz nach dir; es ruft nach deinen liebenden Armen, nach deiner tröstlichen Stimme, nach deinem durchbohrten Herzen, dass ich an ihm mein schmerzendes Haupt ausruhen und den Pulsschlag der Liebe spüren könne. Anonym: Christus der Tröster (Engl.) 1872.
  Zum Gräuel: als einen Unreinen, der vom gesellschaftlichen Verkehr ausgeschlossen ist. 1. Mose 46,34; 43,32; vergl. Hiob 9,31; 19,13-19; 30,10. Und kann nicht auskommen, oder darf nicht ausgehen: wer des Aussatzes verdächtig war, musste sieben Tage verschlossen werden; wer mit dieser Krankheit behaftet war, durfte nicht unter andre Leute, sondern musste einsam wohnen. 3. Mose 13,4.46. William Kay 1871


V. 10. Mein Auge vergeht vor Elend (wörtl.): HERR, ich rufe dich an täglich! Das Weinen darf das Beten nicht hindern; wir sollen in Tränen säen. Lasst Bitten und Tränen miteinander gehen; sie werden miteinander angenommen werden: "Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen." (2. Könige 20,5) Matthew Henry † 1714.


V. 11. Die Verstorbenen, Grundtext Rephaim. Die Bezeichnung der Toten als Rephaim ist nicht, wie Hengstenberg meint, Übertragung des Namens der Rephaim (Rephäer), eines kanaanitischen Riesengeschlechtes, auf die der Phantasie in riesiger Gestalt (1. Samuel 28,13) erscheinenden Abgeschiedenen, sondern stammt von einer Wurzel, welche einerseits den Begriff des Welken und Schlaffen, anderseits den des Gereckten und Langgestreckten ausdrückt und daher ebenso wohl zur Bezeichnung der Schattengestalten der Unterwelt als der Riesen, der Recken der Vorzeit, gebraucht werden konnte. General-Sup. K. B. Moll † 1878.
  Eine aufmerksame Erwägung scheint mir wenig Raum zum Zweifel zu lassen, dass die Toten Rephaim genannt wurden, weil man die Scheol (das Totenreich) als den Wohnort der gefallenen Geister oder der begrabenen Riesen der Vorzeit ansah. F. W. Farrar 1863.


V. 14. Aber. Dies Aber ist offenbar der Ausdruck seines Entschlusses, trotz allem wie bisher den HERRN anzurufen. Angenommen, du findest am Gebet und andern Andachtsübungen keine Erquickung; gebrauche sie dennoch! Bist du so schwach, dass du keine Esslust hast? Nimm dennoch die Speise, die man dir zur Stärkung bringt; sie wird dir Kraft und Esslust geben. Sprich: Ob ich verdammt werde oder selig werde, ob ich ein Heuchler sei oder nicht - ich bin fest entschlossen, mit ernstem Flehen fortzufahren. Thomas Goodwin † 1679.


V. 14.15. Mit der Verdunklung des Gemütes ist beim Christen etwas verbunden, das seinen Seelenzustand von dem Schrecken, der den Heuchler überfällt, wesentlich unterscheidet, und das ist das mächtige Wirken der Gnade an seinem Herzen, das meist gerade dann sehr sichtbar wird, wenn sein Friede und sein vormaliger Trost am meisten erschüttert sind. Je weniger er sich des Bewusstseins der Liebe Gottes freuen kann, desto stärker wird sein Schmerz sein über die Sünde, welche ihm die Freude verdunkelt hat; je ferner sich Christus seinen Blicken entzogen hat, desto fester hängt er sich mit seiner Liebe an Christus und desto flehentlicher ruft er ihm nach, wie wir hier an Heman sehen. O welch brünstige Gebete steigen da aus dem betrübten Geist gen Himmel; heißes Liebesweh nach Gott erfüllt ihn! Kein von dem erzürnten Vater aus seiner Gegenwart verbanntes Kind kann stärker danach verlangen, wieder freien Verkehr mit dem Vaterherzen zu haben, als solch ein Christ danach, dass Gottes Angesicht, das sich ihm jetzt verhüllt hat, wieder gnadenvoll über ihm leuchte. William Gurnall † 1679.


V. 15. Warum verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie oft hören wir Fromme unter dieser dunkeln Wolke seufzen! Für ein Kind des Lichtes ist es aber auch die schrecklichste Finsternis, eine "Finsternis, die man greifen mag", wenn Gott sein Angesicht vor ihm verbirgt. Das Gemüt wird dadurch völlig umwölkt und verwirrt. Die klarsten Beweise der Gnade und des Gnadenstandes verdunkeln sich. Die Bibel selber erscheint fest versiegelt. Alles Gute ist uns so fern, hinter der Wolke verborgen, dass wir nicht dazu gelangen können. Über unserm Weg liegt schauerliche Düsternis. Wir wissen nicht, wo wir sind, wohin wir unseren Fuß setzen, nach welcher Richtung wir uns wenden sollen. Welchen Weg Gott gegangen sein mag, wissen wir nicht. Aber Er weiß, wo wir sind; lasst uns ihn anflehen: "Suche du uns, HERR, denn wir sind verloren!" Christus ist vor uns verborgen, oder es werden uns, wie dort den Jüngern, die Augen gehalten, dass wir ihn nicht erkennen. Aber trotz alledem haben die wahren Israeliten Licht in ihren Wohnungen - wenigstens so viel Licht ist in ihren Herzen, dass sie ihr Verderben sehen, dass sie das Wirken des Unglaubens, der Eigengerechtigkeit, der Feindschaft ihres Herzens, sowie die verdoppelte Emsigkeit des Satans und die erbärmlichen Vorteile, welche er in solchen trüben Zeiten über sie zu gewinnen sucht, erkennen. William Huntington † 1813.


V. 16. Ich bin elend und hinsterbend von Jugend auf (Grundtext) Wieviel müssen manche doch leiden! Ich habe ein Kindlein gekannt, das im Alter von zwanzig Monaten wohl schon mehr körperliche Schmerzen ausgestanden hatte als die ganze Gemeinde von etwa tausend Seelen, mit der sich seine Eltern zum Gottesdienst versammelten. Asaph scheint ein wehmütiges Herz gehabt zu haben. Jeremia lebte und starb klagend. Heman hatte wohl dasselbe Los und dieselbe Gemütsrichtung. William S. Plumer 1867.
  Wir fanden die Hitze an diesem Tage drückender als je zuvor. Die Sandhügel, zwischen denen wir uns im gewöhnlichen Kamelsschritt langsam hinbewegten, warfen die Sonnenstrahlen auf uns zurück, bis uns das Gesicht glühte, als ob wir an einem heißen Ofen wären. Vielleicht war es eben dieser Teil der Wüste Sur, durch welchen einst Hagar wanderte, als sie in ihr Heimatland zurückkehren wollte. Und auf eben diesem Wege mag Joseph das Jesuskindlein getragen haben auf der Flucht nach Ägypten. Schon in seiner zartesten Jugend fingen die Leiden des Erlösers an, dass er klagen konnte: Ich bin elend und hinsterbend von Jugend auf. Vielleicht brannten diese sengenden Strahlen auf seine jugendliche Stirn und trocknete dieser von Wüstensand geschwängerte Glutwind seine Kinderlippen aus, während die Hitze des göttlichen Fluches sein Mittlerherz zu zerschmelzen begann. Selbst in der Wüste sehen wir Jesus als den Bürgen unsrer Sünden. R. M. MacCheyne † 1843.


V. 17. Deines Grimmes Gluten gehen über mich: wie Sturzseen flüssigen Feuers. William Kay 1871.


V. 18. Wie Wasser: nicht nur, weil man im Wasser versinkt und ertrinkt, sondern weil das Wasser den kleinsten Riss und Spalt herausfindet, bis auf den Grund dringt und sich überall Bahn bricht, wo es einmal Eingang gefunden hat, so dass es ein treffendes Bild der eindringenden und alles überwältigenden Macht der Anfechtung und Trübsal ist. Kardinal Hugo a St. Caro † 1263.


V. 19. Du machest, dass meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich ferne von mir halten. Wenn ein Familienvater sein eigensinniges Kind recht wirksam züchtigen will, so sagt er wohl zu den anderen Gliedern des Haushalts: "Seid nicht vertraulich mit ihm, zeigt ihm keine Freundlichkeit, beschämt es!" John Colquhoun 1814.
  Durch den ganzen Psalm schreibt der fromme Heman all seine Trübsale der Hand Gottes zu, und so in Sonderheit auch den Verlust seiner Freunde. Er tadelt diese nicht, dass sie lieblos und unbedachtsam an ihm handeln, sondern sieht über alle Mittelursachen hinweg zu dem, der alles in der Hand hat. Die Heilige Schrift versichert uns, dass Gott es sei, der Frieden gebe und das Übel schaffe (Jes. 45,7), dass beides, Böses und Gutes, aus dem Munde des Allerhöchsten komme (Klgl. 3,38), dass auch kein Sperling auf die Erde falle ohne unseren Vater (Mt. 10,29). "Ich allein kann töten und lebendig machen; Ich kann schlagen und kann heilen." (5. Mose 32,39). Job Orton † 1783.


Homiletische Winke

V. 2. Gläubiges (Gott, mein Heiland), brünstiges (ich schreie) und anhaltendes (Tag und Nacht) Gebet. - George Rogers 1874.
V. 3. Beten heißt hinzutreten zu Gott. 1) Die erbetene Audienz, oder die Gnade der Zulassung. 2) Die erhoffte Gewährung, oder der Segen der Erhörung. 3) Erklärung des Vorgangs, oder wie die Bitte zu Gott kommt und Gott sich zu dem Beter neigt.
V. 4. Ein frommer Mensch kann geraten 1) in innere Not, a) in Seelennot, b) in Jammersfülle; 2) in äußere Not, a) durch leibliche Leiden, b) durch Verfolgung usw.; 3) in äußere und innere Not miteinander.
V. 5. Wie ein Mann, der keine Kraft hat. (Wörtl.) 1) Die eigene Schwäche wird uns a) zu gewissen Zeiten b) in mancherlei Weise c) schmerzlich bewusst. 2) Das soll a) uns in der Demut erhalten, b) uns auf die Knie treiben und c) zur größeren Verherrlichung Gottes dienen.
V. 5.6. Die Gerechten und die Gottlosen. 1) In ihrer Ähnlichkeit a) im leiblichen Tode, b) in körperlichen Gebrechen. 2) In ihrem Unterschied. Die Gerechten mögen den Gottlosen gleich geachtet werden, sind aber wesentlich von ihnen verschieden: a) da sie nur den leiblichen Tod erleiden, b) weil Gottes Kraft in ihrer Schwachheit verherrlicht wird (2. Kor. 12,9), und c) weil ihnen das Sterben Gewinn ist. - George Rogers
V. 7.8. 1) Wie erscheinen die Trübsale der Kinder Gottes diesen selbst? a) Äußerst heftig: Du hast mich in die unterste Grube gelegt; b) unerklärlich: in dichte Finsternis; c) tief erniedrigend: in große Tiefe; d) hart: Dein Grimm drücket mich; e) maßlos: und drängest mich mit allen deinen Wogen. 2) Wie sind sie in Wirklichkeit? a) Nicht äußerst heftig, sondern leicht; b) nicht unerklärlich, sondern Gottes Willen gemäß; c) nicht erniedrigend, sondern zur Erhöhung führend (1. Petr. 5,6); d) nicht hart, sondern mild; nicht im Zorn, sondern in Liebe zugemessen; e) nicht über die Maßen, sondern mit Maßen zugeteilt (Jer. 46,28); nicht "alle deine Wogen", sondern nur etliche Wellen; wie die leichte Bewegung im Hafen gegenüber dem ungestümen Meer draußen. - George Rogers
V. 8. "Für Schwergeprüfte". Predigten von C. H. Spurgeon, 6. Band, Seite 80. Baptist. Verlag, Kassel 1877.
V. 8b. Du drängest mich mit allen deinen (brandenden) Wogen. Eine Beschreibung, die auf uns passt, wenn Schwermut uns beständig drückt, wenn allerlei Not uns zu verschlingen droht, wenn Krankheit uns lähmt, wenn wir uns in der Arbeit für das Reich Gottes oder im Beten behindert fühlen.
V.10. 1) Weinen vor Gott: Mein Auge usw. 2) Flehen zu Gott: Ich rufe usw. 3) Harren auf Gott: täglich. 4) Vertrauen auf Gott: Ich breite meine Hände usw. Diese meine Hände können nichts ausrichten ohne dich. George Rogers
V. 11-13. 1) Die falsche Voraussetzung. Dass ein Kind Gottes a) gänzlich dem Tode anheimfallen, b) für immer im Grabe liegen, c) völlig untergehen, d) stets in der Finsternis bleiben, e) gänzlich vergessen werden könne, als ob es nie ein Dasein gehabt hätte. 2) Die sich aus dieser Voraussetzung ergebenden Folgerungen. a) Gottes Wunder würden aufhören, an ihm zu geschehen. b) Kein Lobpreis würde mehr von ihm Gott gebracht werden. c) Gottes ihm bewiesene Güte würde unbekannt bleiben. d) Gottes Treue würde in die Brüche gehen. e) Die Wunder, welche Gott vormals für ihn und an ihm gewirkt hat, würden für andre unsichtbar, also verloren sein. f) Gottes frühere Gerechtigkeit gegen ihn würde vergessen werden. 3) Die Bitte, welche sich auf diese Folgerungen gründet. Wirst du usw. Du kannst nicht zugeben, dass der Ruhm deiner an deinen Kindern erwiesenen Gnade verstumme, und doch können nur sie dich preisen. "Was willst du denn für deinen großen Namen tun?" (Jos. 7,9.) George Rogers
V. 14. 1) Verzögerte Gebetserhörungen: Aber ich schreie usw. 2) Vorausgenommene Gebetssegnungen: Mein Gebet komme frühe vor dich! So sollten wir täglich im Morgengebet die für den Tag nötige Gnade vorausnehmen. - George Rogers
V. 14b. Die Vorzüge früher Morgen-Gebetsversammlungen.
V. 15. Gottes Züchtigungen sind 1) oft geheimnisvoll und doch gerecht; 2) gerecht und doch geheimnisvoll.
  Ernste Fragen, die zu strenger Selbstprüfung, reuigem Bekennen, ernstlicher Selbstbekämpfung und süßen Erquickungen führen.
V. 16. Die Leiden der Frommen 1) können, auch wenn sie schwer sind, sehr lang anhalten: (Ich bin elend und hinsterbend von Jugend an. Wörtl.); 2) können sehr heftig sein bei aller langen Dauer: a) schmerzhaft (elend), b) gefährlich (hinsterbend), c) schrecklich (leide dein Schrecken) und d) außer Fassung bringend (dass ich schier verzage). - George Rogers
  Was Christus alles für die Seinen gelitten hat.
V. 17. 1) Gottselige Leute sind oft schwer Geprüfte. 2) Schwer Geprüfte beurteilen das, was Gott tut, oft falsch. 3) Er nimmt sie nicht beim Wort, sondern ist gütiger, als sie in ihrer Verwirrung argwöhnen. George Rogers
V. 19. 1) Das Glück des Lebens hängt nicht wenig davon ab, ob wir traute Freundschaft genießen. 2) Der Schmerz des Verlustes lieber Freunde ist groß. 3) In solchem wie in jedem andern Herzeleid schöpfen wir den besten Trost aus dem festen Glauben an Gottes alles leitende Vorsehung und aus dem Nachsinnen über dieselbe. Joseph Lathrop 1845.

Fußnoten

1. Zu den Überschriften dieses und des folgenden Psalmes sei noch Folgendes bemerkt: 1) Die Beifügung "Der Esrahite" soll Heman und Ethan aller Wahrscheinlichkeit nach als Söhne (Nachkommen) Serahs, des Sohnes des Patriarchen Juda, bezeichnen. Siehe 1. Chr. 2,6. 2) unter den beiden sind wahrscheinlich jene 1. Könige 5,11 [4,31] genannten Weisen gemeint. 3) Doch ist die Frage, ob die Weisen 1. Könige 5,11 als berühmte Männer der Vorzeit angeführt sind, wie es nach 1. Chr. 2,6 scheint, oder als Zeitgenossen Salomos. Nur im letzten Fall lassen sie sich als Verfasser der Psalmen 88 und 89 denken. 4) Es fragt sich dann noch, ob die esrahitischen Weisen Heman und Ethan nicht vielleicht mit den gleichnamigen levitischen Sangmeistern aus Davids Zeit in der Überschrift der beiden Psalmen verwechselt worden oder überhaupt mit ihnen identisch sind. Die andere Überschrift in Ps. 88, "der Kinder Korah", lässt den Korahiten Heman (den Sangmeister) als Verfasser vermuten. Immerhin könnte aus irgendeinem Grunde das Lied eines Dichters aus dem Stamme Juda der Sammlung korahitischer Lieder einverleibt und so bei der Aufnahme in den Psalter wie die andern als korahitisches Lied bezeichnet worden sein. - Die ganze Frage über die Verfasser hat ja übrigens nur geschichtliches Interesse, und ihre Untersuchung ist überdies, weil zu keinem sicheren Ergebnis führend, undankbar.

2. Unser Psalm erinnert in Gedanken und Ausdrücken so sehr an das Buch Hiob, dass Delitzsch die interessante Vermutung aufgestellt hat, der Weise Heman sei der Verfasser des Buches Hiob, und Godet hat (dabei allerdings gegen Delitzsch den Sangmeister Heman mit dem Weisen identifizierend) in seinen "Bibelstudien" diese Vermutung bekräftigt. Eins scheint über alle Zweifel erhaben: dass Ps. 88 und das Buch Hiob beide dem Kreis der "Weisen" entstammen, der sich zu Salomos Zeit zu bilden angefangen hatte.

3. Ähnlich schon die alten Übers., und wohl dem Sinne nach richtig, wiewohl der überlieferte Text dies inkorrekt (MOy statt MmfOy) ausdrücken würde. Die sprachlich nächstliegende Übers.: Am Tage = zur Zeit, wo ich nachts vor dir schreie, komme usw. (V. 3) trifft schwerlich den Sinn des Psalmisten.

4. Vergl. Hiob 3,19. Doch ist der Tod nach alttestamentlicher Anschauung ganz und gar kein Zustand der Freiheil. Luther glossiert das frei: d. i. des sich niemand annimmt noch ihm anhänget. Hitzig u.a. übers. dagegen: unter den Toten ist mein Lager, d.h. bin ich hingestreckt.

5. Anspielung auf das bekannte shakspearesche Wort (aus dem Hamlet): Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt.

6. Diese Übers. (von Kautzsch) bringt die starken Ausdrücke des Grundtexts (die wohl sämtlich das Totenreich bezeichnen) zur Geltung.

7. Die Bedeutung des Zeitworts ist hier fraglich; nicht so der allgemeine Sinn des Satzes, vergl. Ps. 42,8.

8. "Meditations among the tombs" ein einst berühmtes kleines Werk von James Hervey † 1758.

9. Man mag auch (mit Schultz) erklären: Sie sind mir erschreckliche, ertötende Finsternis statt erweiternden Lebenslichtes.

10. Da macht freilich wieder einmal die Dogmatik die Exegese; denn die Fragen V. 11-13 fordern ein Nein als Antwort. Man wird ja nicht sagen dürfen, dass Heman die Auferstehung leugne; aber sie bleibt bei ihm außer Betracht, er sieht nur auf den Zustand der Abgeschiedenen. Es kommt dazu, dass im Alten Testament die künftige Auferstehung noch nicht so hell geoffenbart war, weil auch die Macht des Todes noch nicht gebrochen war.