Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 9 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Davids, von der schönen Jugend, vorzusingen. Die Bedeutung von Nbl twm-l(o ist sehr ungewiss; man hat die Worte von alters her sehr verschieden gelesen und übersetzt. Luther las twm l( als ein Wort, das er (vergl. Ps. 46,1) "von der Jugend" übersetzt. Nbl übersetzte Luther früher: (von der Jugend) des Sohnes; später fasste er es im Sinne von Nb"lf weiß, lilienweiß, dann schön. - Vielleicht sind die Worte das Stichwort eines alten Liedes, nach dessen Weise der Psalm gesungen werden sollte. Auch dann bleibt fraglich, wie die Worte zu übersetzen seien, vielleicht: "Nach: Tod dem Sohne", oder; "Nach: Stirb für den Sohn". Am Schluss von Ps. 48 mag mit den Worten twm-l( dieselbe Tonweise angedeutet sein. - Andere übersetzen: "Auf den Tod des Sohnes". - Etliche jüdische Ausleger fassen ben als Eigennamen: "Auf den Tod des (1. Chr. 15,18 genannten Musikers) Ben". Das Targum versteht unter dem ben den Zweikämpfer Goliath (= 1. Samuel 17,4), als wäre dieser Psalm ein Siegeslied, das David (in späteren Jahren) auf den Tod dieses Feindes Israels gedichtet habe. Mögen wir diese Deutung als rabbinische Spielerei abweisen, ein Triumphlied haben wir offenbar vor uns. Wir wenden es gerne allegorisch auf den Sieg des Sohnes Gottes über den Feind unserer Seele an. Möge dieser Siegesgesang den Kindern Gottes in ihren Kämpfen den Glauben stärken und den Mut der zagenden Frommen beleben.
  Über die Reihenfolge der Psalmen sagt Andrew Alexander Bonar († 1859): "Es ist oft zu bemerken, dass die Psalmen nach inneren Gründen aneinander gereiht sind. Man kann bezweifeln, dass die gegenwärtige Reihenfolge diejenige sei, in welcher sie ursprünglich Israel übergeben worden; eher wird ein Späterer, etwa Esra bei der Zusammenstellung des Kanons, vom Geiste angetrieben worden sein, seine Aufmerksamkeit auf die beste Anordnung der Psalmen zu richten. Man beachte, dass, wie der 8. Psalm den Schluss des 7. wieder aufnimmt, so die ersten Vers des 9. offenbar auf den 8. zurückschauen. Die Herrlichkeit des Namens Jahwes, die im vorhergehenden Psalm so hoch gepriesen wurde, scheint dem Sänger Israels noch in den Ohren fortzuklingen. Und V. 11 kommt er wieder darauf zurück, indem er das Vertrauen derer rühmt, welche diesen Namen kennen. Es ist, als erfüllte der Wohlgeruch des göttlichen Namens noch immer die Luft, in der der Sänger atmet."

Alphabetische Anordnung. Dieser Psalm ist der erste, welcher alphabetische Anordnung hat. Doch ist diese nicht ganz regelmäßig und ist nicht völlig durchgeführt. Auch der 10. Psalm hat Spuren alphabetischer Anordnung, und zwar so, dass manche mit den LXX diesen als Fortsetzung des 9. Psalms ansehen. Außer diesen beiden sind noch sieben Psalmen, nämlich Ps. 25; 34; 37; 111; 112; 119; 145; alphabetisch geordnet, d. h. das erste Wort jeder Verszeile, jedes Verses oder jeder Strophe fängt der Reihe nach mit einem Buchstaben des hebräischen Alphabetes an.

Einteilung. Der Ton des Liedes wechselt so sehr, dass es schwierig ist, eine Gliederung anzugeben. Am besten scheint uns die folgende: Vers 2-7 sind ein Dank und Jubellied. Vers 8-13 beteuert der Sänger wiederholt sein gläubiges Vertrauen im Blick auf die Zukunft. Gebet beschließt den ersten, größeren Teil des Psalms in Vers 14.15. Der zweite, kürzere Teil dieses Triumphgesanges läuft in allen seinen Teilen dem ersten parallel und ist somit eine Art Wiederholung desselben. Vers 16.17: Jubel über frühere Gerichte Gottes, Vers 18.19: Ausdruck der festen Zuversicht zu der göttlichen Gerechtigkeit in der Zukunft, und Vers 20.21: Gebet als Schluss des Ganzen. Wir wollen bei der Betrachtung dieses Psalms die Siege unseres Erlösers feiern; fürwahr eine köstliche Aufgabe, wenn der heilige Geist uns darin beisteht.


Auslegung

2. Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen,
und erzähle alle deine Wunder.
3. Ich freue mich, und bin fröhlich in dir,
und lobe deinen Namen, du Allerhöchster,
4. dass du meine Feinde hinter sich getrieben hast;
sie sind gefallen und umkommen vor dir.
5. Denn du führest mein Recht und Sache aus;
du sitzest auf dem Stuhl, ein rechter Richter.
6. Du schiltst die Heiden, und bringest die Gottlosen um;
ihren Namen vertilgest du immer und ewiglich.
7. Die Schwerter1 des Feindes haben ein Ende;
die Städte hast du umgekehret; ihr Gedächtnis ist umkommen samt ihnen.


2. Der Sänger beginnt sein Lied mit heiligen Entschließungen. Ich will2 dem Herrn danken. Es braucht manchmal unsere ganze Entschiedenheit, den Herrn angesichts seiner Feinde zu bekennen und zu geloben, dass wir seinen Namen preisen wollen, mag schweigen, wer will. Hier aber sieht der Glaube schon die Feinde vollständig darniederliegen, und darum strömt der Gesang von heiliger Freude über. Es ist ja unsere Pflicht, den Herrn zu preisen; aber wir wollen diese Pflicht als unser seliges Vorrecht ausüben. Man beachte, wie Davids Lobpreis dem Herrn allein geweiht ist. Ja, Ihm allein gebührt der Dank und Preis. Wohl mögen wir auch gegen die erkenntlich sein, durch welche Gott uns seine Segnungen vermittelt; aber unser Dank muss weite Schwingen haben und hoch zum Himmel aufsteigen. Von ganzem Herzen. Mit halbem Herzen Gott danken ist so viel wie ohne Herz, nur mit den Lippen Gott nahen. Ich will erzählen alle deine Wunder. Die rechte Art, unseren himmlischen Vater zu loben, ist die, von seinen Führungen dankbar zu erzählen. Das ist ein Thema, worüber die Gottesfürchtigen oft miteinander reden sollten, und es heißt noch nicht, Perlen vor die Schweine werfen, wenn wir etwa auch Gottlose merken lassen, wie viel Liebe und Fürsorge wir vom Herrn erfahren haben. Alle deine Wunder. Dankbarkeit für einen Erweis der göttlichen Gnade frischt das Andenken an tausend andere in uns auf. Nehmen wir ein Glied der silbernen Kette göttlicher Barmherzigkeit zur Hand, so zieht es eine ganze Reihe teurer Erinnerungen nach sich. Da haben wir schon jetzt ein Stück Ewigkeitsarbeit; denn wir werden nie damit zu Ende kommen, alle Liebesbeweise Gottes zu seinem Preise zu verkündigen. Haben wir ein Auge für unsere Sündhaftigkeit und Nichtigkeit, so muss uns jede einzelne Tat Gottes, für uns oder in uns gewirkt, - dass er uns das Leben erhalten, die Sünden vergeben und uns zur Bekehrung geführt hat, dass er uns erlöst und heiligt, - als ein Wunderwerk erscheinen. Ja noch im Himmel wird ohne Zweifel die Gnade uns nicht nur ein Gegenstand des Entzückens, sondern auch des Staunens sein.

3. Ich will mich freuen und fröhlich sein (frohlocken) in dir. Ein heiterer und froher Sinn ist die zum Preise der Güte Gottes dienlichste Gemütsverfassung. Die Vögel erheben ihren Schöpfer mit frohlockendem Gesang, die Herden blöken fröhlich und tummeln sich auf den Weiden zu seinem Preise, und die Fische springen ihm zu Ehren im Wasser auf vor Ergötzen. Moloch mag mit Schmerzensgeschrei und Dschaggernaut mit Todesgestöhn und unmenschlichem Geheul verehrt werden, - Er aber, des Name die Liebe ist, hat Wohlgefallen an dem heiligen Frohsinn und der durch den Geist gewirkten Freude seines Volkes. Sich täglich neu zu freuen ist eine Zierde des christlichen Charakters. Freude ist ein passendes Gewand für die Zionssänger. Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb, ob wir nun das Gold unseres Beutels oder das Gold unserer Lippen auf den Altar bringen. Ich will loben deinen Namen, du Allerhöchster. Lobgesänge sind der passende Ausdruck innerer Dankbarkeit, und es wäre gut, wenn wir den Gesang noch mehr pflegten, um Gott damit zu verherrlichen. B. Power (1862) sagt sehr richtig: "Die Matrosen lichten die Anker mit munteren Rufen, der Ackersmann pfeift in die frische Morgenluft hinaus, während er sein Gespann antreibt, und das Milchmädchen singt ihr ländliches Lied, während sie in der Frühe ihrem Beruf nachgeht. Wenn die Krieger ins Feld hinausziehen, schreiten sie, wiewohl sie teure Angehörige zurücklassen, nicht nach den Klängen einer Trauerweise einher, sondern nach dem lebhaften Takt eines munteren Marsches. Ein dankbar frohes Gemüt würde uns den gleichen Dienst leisten, wie jenen Musik und Gesang. Könnten wir uns nur entschließen, den Herrn zu preisen, so würden wir über manche Schwierigkeit hinwegkommen, die wir mit gedrücktem Gemüt nie überwinden können, und wir würden doppelt so viel leisten, als wenn der Herzschlag matt und die Seele mutlos und verzagt ist. Wie der böse Geist Sauls vor alters den Harfenklängen des Sohnes Isais weichen musste, so würde auch der Geist der Schwermut oft von uns fliehen, wenn wir nur einen Lobgesang anstimmen wollten."

4. Deswegen, dass meine Feinde rückwärts wichen; sie sind gefallen und umgekommen vor deinem Angesicht. (Wörtl.) Gottes Gegenwart ist jederzeit imstande, unsere wütendsten Feinde niederzustrecken; legt der Herr Hand an sie, so ist ihr Untergang ein so vollständiger, dass auch die Flucht sie nicht mehr retten kann. Sie straucheln und fallen, um nicht wieder aufzustehen; vor seinem Blick vergehen sie. Wir müssen aber, wie David, sorgfältig darauf bedacht sein, ihm, dessen Gegenwart uns den Sieg verleiht, auch alle Ehre zu geben. Wenn wir als Kinder des neuen Bundes in diesen Versen das Siegeslied unseres Herzogs vernehmen, so lasst uns aus dem Triumphgesang des Erlösers zugleich einen Triumphgesang der Erlösten machen und uns mit ihm über die vollständige Niederlage aller seiner Feinde freuen.

5. Denn du hast mein Recht und meine Sache hinausgeführt; du hast dich auf den Thron gesetzt als gerechter Richter. (Grundtext) Der Wahlspruch Wilhelms von Oranien, des Befreiers der Niederlande, lautete: Je maintiendrai, Ich erhalt’s; er war gewillt, seinem Volke seine verbrieften und beschworenen Rechte zu schirmen. Der Christ hat einen noch besseren und zugleich demütigeren Wahlspruch: Du erhältst3. Gott und mein Recht (Dieu et mon droit4) sind durch meinen Glauben eins geworden. Solange der alte Gott lebt, wird mein Recht mir nicht genommen werden. Wenn wir die Sache und die Ehre unseres Gottes zu verfechten suchen, mögen wir allerlei Vorwürfen und falschen Beurteilungen ausgesetzt sein; aber wir finden reichen Trost darin, dass, der auf dem Thron sitzt, unsere Herzen kennt und uns deshalb nicht dem Gericht fehlbarer Menschen überlassen wird, die nur sehen, was vor Augen ist, und in ihren Urteilen oft viel Unwissenheit und wenig Großmut zeigen.

6. Du hast die Heiden gescholten, den Gottlosen umgebracht, ihren Namen vertilget auf immer und ewig. (Grundtext) Gott warnt die Gottlosen, ehe er sie verderbt; aber wenn einmal das Maß voll ist, hört er nicht eher mit Schlagen auf, als bis er die Gottlosen so zerschmettert hat, dass auch ihr Name vergessen wird und ihr Gedächtnis wie ein übelriechender Docht für immer ausgelöscht ist. Wie oft kehrt in diesem und dem vorigen Vers das Wörtlein Du wieder, um uns zu zeigen, dass der Ausdruck der Dankbarkeit geradeswegs zu Gott aufsteigt, wie der Rauch vom Altar bei ruhiger Luft. Lass auch du, meine Seele, deinen Lobgesang mit Macht zu ihm emporsteigen, der dein Erlöser war und ist!

7. Der Feind (kollektivisch für: die Feinde) - vernichtet sind sie, Trümmer auf ewig; und die Städte hast du zerstört, vertilgt ist ihr, ja ihr (der Feinde) Gedächtnis. (Grundtext) Nun jauchzt der Psalmist über den gefallenen Feind. Er beugt sich gleichsam über seine im Staube liegende Gestalt und höhnt seine einst so prahlerisch gerühmte Stärke. Es scheint fast, als nehme er dem Prahler sein Triumphlied aus dem Mund und singe es ihm zum Spott. Ähnlich spricht unser erhöhter Erlöser zum Tod: Wo ist dein Stachel? Und zum Grabe: Wo ist dein Sieg? Der da Beute suchte, ist selbst zur Beute geworden, und der einst gefangen führte, selbst in Ketten gelegt. Ihr Töchter Jerusalems, geht aus eurem König entgegen, ihn mit Zimbeln und Harfen zu preisen!


8. Der Herr aber bleibt ewiglich;
er hat seinen Stuhl bereitet zum Gericht.
9. Und Er wird den Erdboden recht richten,
und die Völker regieren rechtschaffen.
10. Und der Herr ist des Armen Schutz,
ein Schutz in der Not.
11. Darum hoffen auf dich, die deinen Namen kennen;
denn du verlässest nicht, die dich, Herr, suchen.
12. Lobet den Herrn, der zu Zion wohnet;
verkündiget unter den Völkern sein Tun!
13. Denn er gedenkt und fragt nach ihrem Blut;
er vergisst nicht des Schreiens der Armen.

Im Lichte der Vergangenheit schwinden die ängstlichen Zweifel um die Zukunft. Weil der allmächtige Gott den Thron seiner Macht für alle Zeiten innehat, können wir mit rückhaltlosem Vertrauen frohlocken über unsere für alle Zukunft gegründete Sicherheit.

8. Die feste Grundlage unserer Freude ist das unaufhörliche Leben und die unwandelbare Herrschaft unseres treuen Bundesgottes. Der Feind selbst und sein Zerstörungswerk findet ein für alle Mal ein Ende, der Herr aber bleibt und thront (Grundtext) ewiglich. Der ewige Bestand der göttlichen Herrschaft gibt uns starken, nie wankenden Trost. Er hat seinen Stuhl bereitet (aufgestellt) zum Gericht, er hält ihn zum Gericht bereit. Wir verstehen den Ausdruck von der Pünktlichkeit und Schnelligkeit der göttlichen Gerechtigkeit. In den himmlischen Gerichtshöfen werden die Kläger nicht durch langen Aufschub mürbe gemacht. Das Reichsgericht dort oben tagt das ganze Jahr über. Und wenn Tausende zugleich vor den Stuhl des Richters der ganzen Erde kommen, so soll doch weder ein Kläger noch ein Beklagter darüber Beschwerde führen können, dass Gott nicht bereit gewesen sei, ihrem Vorbringen Gehör zu schenken.

9. Wie immer es bei irdischen Gerichten zugehen mag, von dem himmlischen Richterstuhl ergeht gerechtes Gericht. Parteilichkeit und Ansehen der Person ist dem Heiligen in Israel gänzlich fern. Und alle jetzigen Erweisungen seiner Gerechtigkeit sind ein Vorspiel und eine Weissagung des kommenden großen Endgerichtes: Und Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und den Völkern ihr Urteil sprechen, wie es recht ist. (Grundtext) Wie sollte doch die Aussicht, einst vor dem unparteiischen Tribunal des großen Königs erscheinen zu müssen, uns ein Hemmschuh sein, wenn wir zur Sünde gelockt werden, und anderseits ein Trost, wenn man uns verleumdet oder bedrückt.

10. Und so ist der Herr, der dem Gottlosen am Tage des Gerichts keinen Schutz gewährt, eine Burg (der Zuflucht) dem Unterdrückten, eine Burg für die Zeiten der Not.5 (Grundtext) Gottes Volk ist hienieden vielerlei Bedrückung ausgesetzt, sowohl von Menschen als vom Satan, und es ist den Heiligen oft, als müssten sie unter dem Druck schier zermalmt werden; aber für alle, auch die größte Not ist beim Herrn Schutz und Hilfe zu finden. Wie die Schiffe sich vor dem Sturme in den Hafen flüchten, so eilen Gottes Kinder in den Anfechtungen unter die Flügel ihres gerechten und gnädigen Gottes. Er ist eine sichere Feste; auch die Heerscharen der Hölle können sie nicht erstürmen, und von ihren erhabenen Zinnen kann der Glaube mit heiliger Geringschätzung auf seine Feinde hinabblicken.

11. Darum hoffen (vertrauen) auf dich, die deinen Namen kennen. Wie das die schlimmste Unwissenheit ist, von Gott nichts zu wissen, so ist das die beste Erkenntnis, deren Mittelpunkt der Name Gottes ist. Diese höchste Erkenntnis führt zu der köstlichsten Würde, dem Glauben. O wie verlangt unsere Seele danach, Gott noch besser kennen zu lernen! Der Unglaube, dieser krächzende Nachtvogel, kann das Licht der göttlichen Erkenntnis nicht ertragen; er flieht vor dem Sonnenlicht des großen, gnadenreichen Namens Gottes. Welch sicherer Bergungsort ist der Name Jahwe, wie unerschöpflich die Fülle, die er dem Glauben darbietet! Wir erinnern noch an andere Ausdrücke der Schrift, die uns das Wesen Jahwes näher nach einzelnen Richtungen hin kundtun, wie z. B.: Der Herr sieht (1. Mose 22,14). Der Herr unsere Gerechtigkeit (Jer. 23,6; 33,16). Ich, der Herr, dein Arzt (2. Mose 15,26). Der Herr ist der Friede (Richter 6,24). Der Herr mein Panier (2. Mose 17,15). Mit dem Kennen des göttlichen Namens ist aber auch ein erfahrungsmäßiges Bekanntsein mit den Eigenschaften Gottes gemeint. Jede derselben ist ein Anker, der die Seele davor bewahrt, in den Stürmen des Lebens ein Spielball der Wellen zu werden. Denn du verlässt nicht, die dich, Herr, suchen. Der Herr mag eine Zeitlang sein Angesicht vor seinem Volk verbergen, aber noch nie hat er solche, die noch ihm fragen, wirklich völlig und endgültig verlassen. Mögen denn die gebeugten Seelen, die den Herrn suchen, aus dieser Tatsuche Trost schöpfen und, wenn sie Ihn gefunden haben, sich hoch freuen; denn wenn Gott schon denen so gnädig ist, die ihn suchen, was muss erst seine Treue gegen die sein, die ihn gefunden haben!

  Zerbrochenen Herzen verheißest du Ruh,
  Erfreust, die gebeugt sind von Sorge und Schmerz;
  Mit Liebe begegnest Gefallenen du,
  Den Suchenden öffnet sich freundlich dein Herz.

  Doch was du, o Jesu, den Deinen erst bist,
  Kein Griffel kann’s schreiben, kein Mund es erzählt.
  Ja, was uns die Liebe des Heilandes ist,
  Das wissen nur die, die er selber erwählt.

12. Lobsinget dem Herrn, der zu Zion wohnet; verkündiget unter den Völkern seine (großen) Taten. (Grundtext) Davids Herz fließt von Dankbarkeit über; darum muss er auch andere aufrufen, Gott zu preisen, so wie er selbst es in den zwei ersten Versen zu tun gelobt hatte. Ein vom himmlischen Feuer der Dankbarkeit entzündetes Herz entflammt in andern dieselbe Glut. Sind wir des Lobes voll, so lässt es uns keine Ruhe, bis wir unsere ganze Umgebung dazu bewogen haben, sich mit uns in dieser seligen Beschäftigung zu vereinen. Singen und Predigen, das Loben Gottes im Liede und das Verkündigen seiner Taten, sind hier als Mittel zur Verherrlichung Gottes nebeneinander genannt, und es ist sehr bemerkenswert, dass mit allen Wiederbelebungen der evangelischen Predigt ein plötzliches Hervorbrechen des Geistes des Gesangs verbunden war. Zur Zeit der Reformation waren Luthers Psalmen und Lieder überall in aller Leute Mund; auch in Frankreich war der Gesang französischer Psalmen das sicherste Kennzeichen der Evangelischen. In der großen englischen Erweckung unter Wesley, und Whitfield im 18. Jahrhundert waren die Lieder von Charles Wesley, Cennick, Berridge, Toplady, Hart, Newton und vielen anderen die Frucht der wiederbelebten Frömmigkeit. Und auch unser reicher Schatz an deutschen Kirchenliedern und geistlichen Gesängen ist ja eine Frucht der Zeiten neu erwachten Glaubenslebens, der Zeit der Reformation, des Pietismus usw., während der Rationalismus eine wahre Hungersnot in dieser Beziehung hervorbrachte. Wie mit der Wiederkehr des Frühlings die Singvögel ihre Weisen erschallen lassen, so erscheinen auch die geistlichen Sänger jedes Mal, wenn durch Gottes gnädige Heimsuchung ein neuer geistlicher Frühling hereinbricht und die Wahrheit wieder mit Macht verkündigt wird. Darum, meine Brüder, lasst uns fortfahren zu singen und zu predigen; beides wird ein Zeichen sein, dass der Herr noch immer in Zion wohnt. Und wenn wir uns mit Gottes Volk versammeln, dann lasst uns auch dessen eingedenk sein, dass der Herr in Zion, inmitten seiner Gemeinde wohnt und dass uns heilige Ehrfurcht vor ihm, der in unserer Mitte ist, geziemt.

13. Denn er, der Blutschulden rächt 6, gedenket an sie (die gleich genannten Elenden); er vergisst nicht des Schreiens der Elenden. Wenn Gott nach dem Blut der Unterdrückten fragen wird, so wird der geschlachteten Blutzeugen zuerst gedacht werden. Er wird seine Auserwählten rächen. Auch die Heiligen, die dann noch auf Erden leben, wird Gott anhören. Aller Schmach werden sie entledigt und vor dem Verderben bewahrt werden, wenn des Herrn furchtbares Gericht anhebt. Der Mann mit dem Schreibzeug an seiner Seite (Hes. 9,2 ff.) wird sie alle mit einem Zeichen versehen, ehe die Würger Erlaubnis bekommen, die Feinde des Herrn zu schlagen. Das Schreien der Elenden, die auf den Herrn trauen, soll weder durch die Donnerstimme der göttlichen Gerechtigkeit, noch durch das Wehgeschrei der Verdammten erstickt werden.


14. Herr, sei mir gnädig, siehe an mein Elend unter den Feinden,
der du mich erhebest aus den Toren des Todes,
15. auf dass ich erzähle all deinen Preis
in den Toren der Tochter Zion, dass ich fröhlich sei über deiner Hilfe.


14. Erinnerungen aus der Vergangenheit und festes Vertrauen im Blick auf die Zukunft geleiten David, den Mann Gottes, an den Gnadenthron, wo er für die Bedürfnisse der Gegenwart zu Gott fleht. So füllt er seine Zeit halb mit Loben, halb mit Bitten aus. Wie könnte er sein Leben nützlicher zubringen? Sein erstes Gebetswort: Herr, sei mir gnädig, passt für alle Menschen und alle Umstände. Es zeugt von Demut und Selbsterkenntnis und wendet sich an den rechten Helfer, den Gott aller Gnade. So wie Luther gewisse Sprüche der Schrift eine Bibel im Kleinen zu nennen pflegte, so können wir diese unscheinbare Bitte ein Gebetbüchlein heißen, denn sie enthält das innerste Mark alles Betens. Sie sagt multum in parvo, viel mit wenig Worten. Diese Leiter mag kurz erscheinen, und doch reicht sie von der Erde bis zum Himmel. Weiter bittet David: Siehe an mein Elend (das ich leide) von meinen Hassern. (Wörtl.) Andere (und zwar schon etliche der alten Übersetzer) lesen den Vers als Aussage: Der Herr hat sich mein erbarmt, hat gesehen, was ich leide von denen, die mich hassen. Wie herrlich ist, was null vom Allerhöchsten ausgesagt wird: Der du mich erhebest aus den Toren des Todes. Welch glorreiche Erhebung! Durch Krankheit, Sünde, Verzweiflung und Versuchung allerart sind wir tief gesunken, und bereits schien das düstere Tor des Kerkers sich zu öffnen, um uns auf ewig aufzunehmen; aber unter uns walteten die ewigen Arme, und sie hoben uns empor bis an des Himmels Tore. John Trapp († 1669) sagt treffend: "Gott hält mit seiner Hilfe sehr oft zurück, bis unsere Lage ganz verzweifelt geworden ist, und errettet uns, wenn wir nur noch das Grab vor uns sehen."

15. Lasst uns den Zweck nicht übersehen, den David im Auge hat, wenn er Gnade begehrt. Es ist die Verherrlichung Gottes: dass ich erzähle all deinen Preis. Die wahren Frommen sind nicht so selbstsüchtig, nur an sich zu denken. Sie begehren die Juwelen der Gnade, damit auch anderer Augen dieselben leuchten und funkeln sehen und den bewundern mögen, der den Seinen solch unschätzbare Kleinode schenkt. Der Gegensatz zwischen den Toren des Todes V. 14 und den Toren der Tochter Zion V. 15 ist überraschend. Lasst uns zu Herzen fassen, woraus wir errettet und wozu wir erhoben sind! Muss uns das nicht zu jubelnder Freude über das Heil des Herrn begeistern, wie der Psalmist sagt: dass ich über deine Hilfe (oder dein Heil) frohlocke (Grundtext)? Und wenn wir erwägen, was für ein Erbarmen es ist, das uns solches Heil bereitet hat, muss da unsere Bitte um immer neue Gnade (V. 14) nicht mit mehr Eifer und Inbrunst empordringen? Wenn David sagt: "Dass ich erzähle allen deinen Preis", so steht ihm dabei wohl vor der Seele, wie sich in seiner Errettung der ganze Reichtum der Gnade in all ihrer Tiefe und Höhe verherrlichen werde.
  Damit schließt der erste Teil dieses lehrreichen Psalms; und ehe wir fortfahren, drängt es uns, auszusprechen, dass wir von ferne nicht die Tiefen desselben erschöpft haben. Die Verse sind voll köstlicher Wahrheiten, und unter der Erleuchtung des Heiligen Geistes mag der Leser, wie es der Schreiber dieser Bemerkungen dutzende Male getan hat, wieder und wieder den Psalm durchgehen und jedes Mal wieder neue Schönheiten darin finden.


16. Die Heiden sind versunken in der Grube, die sie zugerichtet hatten;
ihr Fuß ist gefangen im Netz, das sie gestellet hatten.
17. So erkennt man, dass der Herr Recht schafft.
Der Gottlose ist verstrickt in dem Werk seiner Hände. Zwischenspiel. Sela.


16.17. Das Wort higgajon von der revidierten Bibel in Übereinstimmung mit vielen Erklärern mit Zwischenspiel übersetzt, wird von anderen Auslegern (z. B. Ötinger, Tholuck, Hengstenberg) als Aufforderung zum sinnenden Nachdenken 7 aufgefasst. Wir sollen mit tiefem Ernst bei der Betrachtung dieses schrecklichen Gemäldes von Gottes überwältigenden Gerichten über seine Feinde stillstehen. Sinne nach! Pause! Bedenkt euch wohl und bereitet eure Herzen feierlich zu, wie es der Suche würdig ist, die wir betrachten! So lasst auch uns an diese Verse mit demütigem Geiste herantreten und zuerst darauf merken, dass Gottes Wesen die Bestrafung der Sünde erfordert. Der Herr hat sich kundgetan; er hat Gericht geübt. (V. 17 a Grundtext) Die beiden Sätze stehen sachlich im engsten Zusammenhang: Gottes Wesen offenbart sich in seinen Gerichten. Seine Heiligkeit und sein Abscheu vor der Sünde tun sich darin kund. Ein Herrscher, der gegen das Schlechte ein Auge zudrückte, würde bald von all seinen Untertanen selbst als schlecht erkannt werden; hingegen offenbart derjenige, welcher strenge Gerechtigkeit beim Richten walten lässt, seine eigene Gerechtigkeit. Solange unser Gott Gott ist, will und kann er den Schuldigen nicht schonen, ausgenommen auf dem einen herrlichen Wege, wobei er gerecht bleibt und gerecht macht den, der da ist des Glaubens an Jesum (Röm. 3,26). Sodann lasst uns auf die Art und Weise seines Gerichts merken. Sie ist eigenartig weise, und ihre Gerechtigkeit ist über alle Einsprache erhaben. Er lässt die Gottlosen das Gericht an ihnen selbst vollziehen. Der Gottlose ist verstrickt in dem Werk seiner (eigenen) Hände (V. 17). Die Heiden sind versunken in der Grube, die sie zugerichtet hatten; ihr Fuß ist gefangen im Netz, das sie (heimlich) gestellt hatten (V. 16). Wie schlaue Jäger bereiteten sie eine Fallgrube für die Gottesfürchtigen und fielen selbst darein. Der Fuß des Opfers entkam ihren künstlichen Schlingen, aber das Netz umgarnte sie selbst. Die grausame Schlinge war mit viel Mühe zugerichtet, und sie beweist nun ihre Wirksamkeit dadurch, dass sich der darin verfängt, der sie gelegt hat. Verfolger und Bedrücker werden oft durch ihre eigenen boshaften Pläne zugrunde gerichtet. Trunkenbolde töten sich selbst, und Verschwender bringen sich an den Bettelstab; streitsüchtige Leute machen sich durch ihre kostspieligen Prozesse selber Bankrott, und die Lasterhaften werden von bösen Krankheiten hingerafft. Die Neidischen nagen an ihrem eigenen Herzen, und die Lästerer laden den Fluch auf ihre eigene Seele. So können die Menschen in ihrer Strafe ihre Sünde lesen. Sie haben den Samen der Sünde ausgestreut, und die natürliche Folge ist die reife Frucht der Verdammnis.

 


18. Ach, dass die Gottlosen müssten zur Hölle gekehrt werden,
alle Heiden, die Gottes vergessen!
19. Denn er wird des Armen nicht so ganz vergessen,
und die Hoffnung der Elenden wird nicht verloren sein ewiglich.


18. Die Gerechtigkeit, welche bisher den Gottlosen bestraft und den Gerechten erhalten hat, bleibt stets dieselbe; deshalb wird sicherlich auch in künftigen Tagen einem jeden gerechte Vergeltung zuteilwerden. Die Gottlosen müssen zur Hölle kehren, alle Heiden, die Gottes vergessen. (Grundtext)
  Wie ernst ist dieser Vers, insbesondere mit seiner Warnung an alle die, welche Gott vergessen! Auch die äußerlich braven Menschen, welche nicht von Herzen fromm, die ehrbaren, welche keine Beter sind, die wohltätigen, welche nicht gläubig werden, die liebenswürdigen, welche sich nicht bekehren, - diese alle werden samt den offenkundig Gottlosen dahinfahren müssen, wohin sie gehören, in die finstere Gottesferne des Totenreiches der Unseligen, die der Gott-losigkeit entspricht, in
der sie hienieden gelebt haben, ja in die Hölle, die für den Teufel und seine Engel bereitet ist. Es gibt ganze Nationen, deren Leben mit dem Ausdruck Gottvergessenheit treffend gekennzeichnet ist. Der Menschen, die äußerlich ehrbar leben und dennoch unter das Urteil fallen, dass sie Gottes vergessen haben, sind weit mehr als der gemeinen und ruchlosen Sünder. Die Gottvergessenheit ist die Wurzel wie des alten (Röm. 1,18 ff.), so des modernen Heidentums. Das Vergessen scheint eine kleine Sünde zu sein; wer aber in der Gottvergessenheit lebt und stirbt, bringt ewigen Zorn über sich selbst.

19. Die Barmherzigkeit ist ebenso bereit, ihr Werk zu treiben, als nur immer die Gerechtigkeit es sein kann. Denn nicht für immer wird der Arme vergessen. (Grundtext) Die armen Gotteskinder, die unter dem Druck der Gottlosen seufzen, fürchten leicht, der Herr habe sie vergessen; wohlan, ob es so wäre, oder wenigstens so zu sein scheint, sollen sie sich doch freuen, dass das nicht ewig der Fall sein wird. Wohl flüstert Satan solch zitternden Seelen ins Ohr, ihre Hoffnung werde zuschanden werden; sie haben aber hier die göttliche Versicherung: Die Hoffnung der Elenden wird nicht verloren sein ewiglich. Das Volk des Herrn ist ein gedemütigtes, bekümmertes, in sich selbst zunichte gemachtes Volk, voll Empfindung seiner Mängel und Bedürfnisse; täglich müssen sie ihres Gottes harren (hwfq:tIi) und von der Hoffnung auf das, was er verheißen hat, leben. Solche Leute mögen warten müssen, aber sie werden stets die Erfahrung machen, dass sie nicht vergeblich warten.


20. Herr, stehe auf, dass die Menschen nicht Überhand haben;
lass alle Heiden vor dir gedichtet werden!
21. Gib ihnen, Herr, einen Meister,
dass die Heiden erkennen, dass sie Menschen sind. Sela.


20. Das Gebet ist des Gläubigen Kriegswaffe. Wenn uns die Feinde zu mächtig werden, so rufen wir unseren großen Verbündeten herbei, welcher sozusagen im Hinterhalt liegt, bis der Glaube durch den Ruf: "Herr, stehe auf", das Signal gibt. Wäre unsere Sache auch fast verloren, sie wird doch bald wieder gewonnen sein, wenn der Allmächtige sich aufmacht. Er wird nicht dulden, dass der schwache Mensch (enosch) ihm trotze und seinen Rat zunichte mache, indem er über sein Volk völlig und endgültig die Überhand gewinnt. Er wird ihrem Prahlen durch schnelles Einschreiten ein Ende machen. Lass die Heiden vor dir (wörtl.: vor deinem Angesicht) gerichtet werden. Vor den Augen Gottes werden die Gottlosen Strafe leiden, und er, der jetzt die Langmut selbst ist, wird dann kein Erbarmen mit ihnen haben, weil sie keine Tränen der Reue bei sich aufkommen ließen, solange ihre Gnadenzeit währte.

21. Wir mögen, wie Luther, übersetzen: Setze ihnen, Herr, einen Meister8, d. i. lass sie, die sich so gerne als die Herren aufspielen, erkennen, dass du der Herr über sie bist. Meist übersetzt man jedoch: Bereite ihnen Schrecken, Herr, d.i. setze ihnen einen Gegenstand des Schreckens, dass die Heiden erkennen, dass sie Menschen sind. Man möchte es für unmöglich halten, dass Menschen so eingebildet werden könnten, bei sich selber zu leugnen, dass sie Menschen sind, ohnmächtige, hinfällige, sterbliche Menschen (enosch) Dennoch erscheint die Erkenntnis von der Schwachheit und Vergänglichkeit des Menschen hier als eine Lektion, welche nur der göttliche Schulmeister (Hiob 36,22) gewissen stolzen Geistern beizubringen vermag. Trügen wir eine Königskrone, wir blieben dennoch Menschen; kämen wir zu den höchsten Würden dank hervorragender Gelehrsamkeit, wir wären nicht mehr als Menschen; schmückte uns der Lorbeer als Lohn der Tapferkeit und großer Eroberungen, darüber kämen wir doch nicht hinaus, gleich andern nur Menschen zu sein; ja wenn sich aller Reichtum eines Krösus, alle Weisheit eines Solon, die ganze Macht eines Alexander und die Beredsamkeit eines Demosthenes auf einen Menschen vereinigte, wäre er deshalb mehr als nur ein Mensch? Daran lasst uns immer gedenken, damit wir nicht, wie die, von welchen der Psalm redet, erst durch Furcht und Schrecken lernen müssen, dass wir nur Menschen sind.
  Ehe er diesen Psalm verlässt, wird es für jeden Schüler des göttlichen Wortes von großem Nutzen sein, denselben noch einmal zu durchgehen, und zwar als Triumphgesang des Erlösers, der darin die Ehre von all seinen Siegen seinem Vater zu Füßen niederlegt. Freuen wir uns mit an seiner Freude, so wird unsere Freude vollkommen sein.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Der "Historie von Bruder Heinrichs von Züthphen Märtyrertode" im Dithmarschen, welche Luther 1525 an die Christen zu Bremen sandte, wo jener bis wenige Wochen vor seinem martervollen Tode (11. Dez. 1524) gewirkt hatte, fügte Luther sehr passend eine kurze Auslegung des 9. Psalms bei.
  Fünf Jünglinge aus Frankreich, die in Lausanne Theologie studiert hatten und nun in ihr Vaterland zurückkehrten mit der Absicht, dort das Evangelium zu verkünden, wurden bei ihrer Ankunft in Lyon von einem Späher verraten und dann nach langer Gefangenschaft am 16. Mai 1553, nachdem sie mutig ihren Glauben bekannt hatten, aus dem Platz des Terreaux in Lyon verbrannt. Auf dem Wege zum Richtplatz stimmten sie den 9. Psalm an. Aus Rauch und Flammen vernahm man noch die Worte: "Getrost, Brüder, getrost!" (Näheres z. B. in F. Pipers Evang. Kalender 1860.) - James Millard
  Wir müssen dieses Loblied nach meinem Dafürhalten als die Sprache unseres großen Fürsprechers und Mittlers ansehen, wie er inmitten der Gemeinde Gott rühmt (Ps. 22,23) und uns lehrt, im Glauben seinen großen Endsieg über alle unsere Widersacher im Voraus zu genießen. John Frey 1842.


V. 2. Wie der Duft eines Gesäßes den Inhalt verrät, so sollten auch unserm Munde liebliche Zeugnisse von der Gnade entströmen, welche unsre Herzen erneuert hat; werden wir doch Gefäße der Barmherzigkeit genannt (Röm. 9,23). William Cowper 1612.
  Von ganzem Herzen. Die Hebräer schreiben dem Herzen das ganze Regiment über den Menschen zu, als ob darinnen alle Kraft zu denken, zu wollen und zu wirken bestünde. Daher wann sie sagen "von ganzem Herzen", ist es so viel als mit Hinstrecken aller Kräfte Leibes und der Seelen. Johann David Frisch 1719.
  Das "von ganzem Herzen" soll zugleich die Größe der dem Sänger gewordenen Errettungen zeigen und ihn von den Heuchlern unterscheiden, den groben, welche den Herrn für seine Gnade bloß mit dem Munde, und den feinen, welche ihn nur mit halbem Herzen preisen, indem sie im geheimen die Errettung mehr sich selbst als ihm zuschreiben. Alle deine Wunder: die wunderbaren Erweisungen deiner Gnade. Der Sänger zeigt durch diese Bezeichnung, dass er ihre ganze Größe erkennt. Wo dies geschieht, da preist man auch den Herrn mit ganzem Herzen. Die Halbherzigkeit und die Verringerung der göttlichen Gnaden gehen Hand in Hand. Das bI: ist das bI: instrum. Das Herz ist das Werkzeug des Preises, der Mund nur sein Organ. Prof. D. E. W. Hengstenberg 1842.
  Wenn wir etwas Gutes vom Herrn empfangen haben, so tun wir wohl daran, bei passender Gelegenheit anderen davon zu erzählen, und zwar so, dass wir es unmittelbar auf Gottes Hand zurückführen. Warum tun wir dies nicht immer? Lauert da etwa halbverborgen der Unglaube, ob das Gute wirklich von Gott gekommen sei, oder schämen wir uns, dies vor Leuten anzuerkennen, die vielleicht über solche Dinge lachen? Wer weiß denn mehr von den Wundern Gottes zu erzählen als sein Volk? Wie können wir erwarten, dass die Welt seine Taten sehe, wenn Gottes Kinder davon schweigen? Darum lasst uns sorgfältig auf die Gelegenheiten achten, wo wir deutlich sein Eingreifen hervorheben können. Gott wird gewiss wieder ehren, die ihn ehren; wenn wir gerne von seinen Taten reden, wird er es uns an Stoff zum Reden nicht fehlen lassen. Philip Bennett Power 1862.


V. 2.3. Da siehst du, dass, wer da spricht, er wolle dem Herrn danken, ihn loben und sich freuen und frohlocken, dass derselbe ein fröhlich Herz hat, das sich mit Trost und gewisser Zuversicht auf Gottes Güte und Gnade übergebe. Daher haben alle Worte große Kraft und einen Nachdruck in sich. Er spricht nicht schlecht: Ich will danken dem Herrn, sondern setzet hinzu, von ganzem Herzen. Spricht auch nicht: Ich will deine Werke erzählen, sondern: deine Wunder, und dieselbigen alle. Also springet und hüpfet sein Geist vor Freuden auf und frohlocket in Gott, seinem Heiland (Lk. 1,46 ff.), der ihm große Dinge getan hat, und diese Wunder, so hernach erfolgen. Das sind aber Gottes Wunder, dass er durch die, die nichts sind, diejenigen bekehre, die alles sind, und dass er durch die, welche in einem verborgenen Glauben leben und der Welt gestorben sind, erniedrige und demütige die, die in Ehren blühen und vor der Welt einen herrlichen Namen und großes Ansehen haben, und dass er so groß Ding alles tue ohne Gewalt, ohne Harnisch, ohne Tat und Werk, sondern allem durchs Kreuz und Blutvergießen. Dass er aber saget, er wolle alle Gotteswunder erzählen, ist so zu verstehen, dass er redet aus einer hitzigen Begierde des Herzens, die er hat zu den wunderlichen Taten und Werken Gottes, die er alle gerne erzählen wollte, wenn er könnte. Denn Hiob spricht Kap. 9; 10: Gott tut große Dinge, die nicht zu forschen sind, und Wunder, deren keine Zahl ist. Man kann es auch also verstehen, dass er sonst nichts denn Gottes Wunder erzählen wollte; als wollte er sagen: Alles, was ich hinfort reden und sagen werde, das soll nur von deinen Wundern sein. Martin Luther 1519.


V. 4. Umgekommen vor dir, wörtlich: vor deinem Angesicht, das ist, vor deinem Zornblicke. Denn wie das Angesicht des Herrn denen freundlich leuchtet, die ihn fürchten und ihm dienen, so steht es wider die, so Böses tun (Ps. 34,17). B. Boothroyd 1824.


V. 6. Ihren Namen vertilgest du. Das widerfährt den Gottlosen in der Kirche. Die verlassen sich daraus, dass sie dem Kirchenregister einverleibt und den Namen der Christen führen; aber sie sollen hier und dort ausgetilgt werden. Johann David Frisch 1719.


V. 9. Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit usw. Bei diesem Gericht werden Tränen nichts ausrichten. Da wird kein Gebet mehr Erhörung, kein Versprechen der Besserung mehr Annahme finden. Die Reue kommt dann zu spät. Noch weniger werden da Reichtümer und Ehrentitel, Zepter und Diademe etwas nützen. Die Untersuchung wird so sorgfältig und streng geführt werden, dass kein einziger leichtfertiger Gedanke, nicht ein unnützes Wort (das wir im späteren Leben nicht bereut haben) vergessen wird (Mt. 12,36). Wie viele, die jetzt mit Lust, ja mit wilder Gier sündigen, als ob unser Gott von Holz oder Stein wäre und weder sehen noch hören, noch die Sünde bestrafen könnte, werden dann vor Entsetzen und Scham verstummen! Dann werden die Tage deiner Lust vorüber sein, ewige Dunkelheit wird über dich hereinbrechen, und anstatt deiner Vergnügungen werden ewig währende Qualen dein Teil sein. Thomas Tymme 1634.
  Ein Jahrtausend später konnte selbst Paulus in seiner großen Rede auf dem Areopag keine besseren Worte finden, um die Athener über den kommenden Tag des Gerichts zu belehren, als diesen Satz in der Übersetzung der LXX. William S. Plumer 1867.
  Dem schuldbeladenen Gewissen ist es unerträglich, von diesem Tag reden zu hören; denn die Gottlosen wissen gar wohl, dass es sich dabei um ihre Verdammung handelt. Ich glaube, wenn man eine allgemeine Sammlung auf der ganzen Welt veranstalten würde, um Gott dadurch zu bestimmen, keinen Gerichtstag zu halten, so würden die Weltmenschen sich nicht besinnen, all ihren Reichtum und Besitz hinzugeben, müssten sie auch bettelarm in einer weiten Wüste zurückbleiben. Sofort würde der habsüchtige Richter dort seine Bestechungsgeschenke hervorholen und der klug das Recht verdrehende Anwalt seinen Geldsack ausleeren; gerne würde der Wucherer seinen unrechten Gewinn doppelt herausgeben. Aber alles Geld der Welt kann nicht eine Sünde tilgen, sondern jeder wird Rechenschaft geben müssen und gerechte Verdammnis alle Gottlosen treffen. Henry Smith † 1591.


V. 10. In der Not. Hier ist die Dietenbergische Version nicht ungeschickt: zu gelegener Zeit in der Angst. Denn so leistet Gott den Seinigen am meisten Schutz, wann es die rechte Zeit ist. Johann David Frisch 1719.


V. 11. Darum hoffen oder vertrauen auf dich, die deinen Namen kennen. Der Glaube ist eine Gnadengabe, die mit Verständnis erfasst werden muss. Obwohl es Erkenntnis ohne Glauben geben kann, so doch keinen Glauben ohne Erkenntnis. Die Erkenntnis muss ihre Fackel vor dem Glauben hertragen. 2. Tim. 1,12: "Ich weiß, an wen ich glaube." Wie den Paulus bei seiner Bekehrung ein Licht vom Himmel umleuchtete, so lässt Gott, ehe er Glauben wirkt, ein Licht in den Verstand hineinscheinen. Ein blinder Glaube ist so schlimm wie ein toter Glaube; ja, man mag ebenso wohl ein Auge ohne Sehkraft gut nennen als einen Glauben ohne Erkenntnis. Fromme Unwissenheit zieht sich Verdammnis zu; damit verwerfen wir die römische Kirche, weil sie es geradezu für ein Stück ihrer Religiosität hält, das Volk in Unwissenheit zu erhalten. Sie hat damit einen Altar für den unbekannten Gott aufgerichtet. Man behauptet dort, Unwissenheit sei die Mutter der Andacht; aber wo dem Verstand die Sonne untergegangen ist, da ist es sicherlich im Gemüte Nacht. Ja, Erkenntnis gehört so notwendig zum Wesen des Glaubens, dass die Schrift manchmal den Glauben mit dem Namen Erkenntnis belegt. So Jes. 53,11: "Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen", wo Erkenntnis für Glaube steht. Thomas Watson 1660.
  Wer durch selige Erfahrung Gottes heilige Eigenschaften und seine Gnadentaten für sein Volk kennt, kann der anders, als voll Zuversicht auf ihn hoffen? Wir vertrauen uns einem Menschen nicht an, bis wir ihn kennen, und bei schlechten Leuten lassen wir’s beim Kennen bewenden. Wer aber des Herrn Namen kennt, der wie eine ausgeschüttete Salbe ist, der liebt und ehrt ihn und findet seine Freude und Ruhe in ihm. John Trapp † 1669.


V. 12. Jahve, der allüberall zu Preisende, heißt der Zion Bewohnende (wörtl.), seit sein irdischer Thron, die Bundeslade, auf dem Schlossberge Jerusalems zu stehen gekommen ist (Ps. 76,3); es ist sein Beiname in der Periode des vorbildlichen Königtums der Verheißung. - Dass das Heil Jahves von Zion aus aller Welt, auch der außerisraelitischen, zu ihrem Heil kund werden soll, ist, wie wir hier und anderwärts sehen, eine schon in den Davidischen Psalmen pulsierende Idee; die spätere Prophetie schaut in größeren, zukunftsgeschichtlichen Zusammenhängen, wie sich diese Idee dereinst verwirklichen wird. Was den Völkern verkündigt werden soll, heißt wytfOlyli(A (seine großen Taten), seit dem Liede Hannas 1. Samuel 2,3 in Psalmen und Propheten Bezeichnung der magnalia Dei. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 13. Es kommt eine Zeit, wo der Herr nach allem unschuldig vergossenen Blut der Seinen, das die Verfolger und Bedrücker wie Wasser auf die Erde ausgegossen haben, eine sehr sorgfältige und genaue Nachforschung halten wird ($radIf), eine strengere Untersuchung als selbst die der spanischen Inquisition. Wehe den Verfolgern, wenn die Zeit kommt, wo Gott eine genaue Nachfrage nach dem Blut eines Hooper, Bradford, Latimer, Taylor, Ridley und anderer Gottesmänner halten wird. Ja, die Zeit kommt, wo Gott nachforschen wird, wer diese und jene Prediger zum Schweigen gebracht und abgesetzt hat, wer andern den Mund gestopft, wieder andere eingekerkert oder verbrannt hat, die einst brennende und scheinende Lichter waren und gern alles daran wendeten, ja sich selbst aufopferten, damit nur Sünder gerettet werden möchten und Christus verherrlicht. Es kommt eine Zeit, wo Gott eine sehr eingehende Untersuchung über alle Handlungen und das gesamte Verfahren der geistlichen Gerichtshöfe, der hohen Kommissionen, Assisen, und wie sie alle heißen mögen, veranstalten und mit den Verfolgern so verfahren wird, wie diese einst mit seinem Volk. Thomas Brooks † 1680.
  Es gibt eine vox sanguinis, eine Stimme des Bluts (1. Mose 4,10); und sollte, der das Ohr gepflanzt hat, sie nicht hören? Einst, als die Erde voll war von den Grausamkeiten der Tyrannen, ward die alte Welt im Wasser begraben. Die Stimme des Blutes schrie zum Himmel und ward erhört, und die Fenster des Himmels öffneten sich und ließen das Strafgericht herabregnen. Edward Marbury † 1649.
  Er vergisst nicht das Schreien der Armen. Das Gebet ist ein sicherer Hafen für den schiffbrüchigen Menschen, ein Rettungsseil für die in den Wellen Versinkenden, ein Stab für die müden, wankenden Glieder, eine Diamantgrube für die Armen, ein Arzt für die Krankheit und ein Schutzengel der Gesundheit. Aufrichtiges Beten sichert uns die Fortdauer bisheriger Segnungen und zerstreut die Wolken unserer Trübsale. O segensreiches Beten, du unermüdlicher Besieger alles menschlichen Wehs, du sichere Grundlage wahrer Glückseligkeit, du Quelle immerwährender Freude, du Mutter der wahren Lebensweisheit! Wer recht beten kann, ist reicher als alle um ihn her, ob er auch in äußerster Dürftigkeit schmachtete, während der Elende, der nie seine Knie beugen gelernt hat, unter allen Menschen am hilflosesten ist, ob er auch als Weltherrscher auf stolzem Throne säße. Johannes Chrysostomus † 407.


V. 14. Der du mich erhebest aus den Toren des Todes. Tod oder Grab gleich einem Kerker. An dessen Eingang und Türe kommt manchmal ein frommes Herz. Da greift Gott zu, errettet’s noch und nimmt’s den Feinden unter den Händen weg und in seinen Schutz. Das rühmt die Kirche an dem Herrn, ihrem Gott. Johann David Frisch 1719.


V. 15. Allen Preis Gottes erzählen heißt, von ganzem Herzen und allen Kräften der seligen Pflicht sich hingeben, des Herrn Wunder zu rühmen. Ein gelegentliches "Gott sei Dank" ist keine geziemende Erwiderung auf die ohne Aufhören uns zuströmenden reichen Wohltaten Gottes. William S. Plumer 1867.


V. 16. Während sie andern Gruben graben, werden diese Gruben als Gräber für sie selbst zugerichtet. Sie müssen nur erst das Maß ihrer Sünde voll machen. Sie hecken nur ihr eigenes Verderben aus. Nicht einmal Ruhm ist auf diesem Felde zu ernten, denn wenn im Ränkeschmieden irgendetwas Rühmliches läge, so würde Satan, jener große Ränkeschmied, der wahrhaft mit Ingenieurkunst anderen Gruben gräbt, uns alle übertreffen und alle Ehre vorwegnehmen. Um den Ruhm wollen wir aber den Satan und seine Helfer nicht beneiden. Mögen sie immerhin an ihrem Treiben Gefallen finden. Der Tag kommt, wo die Tochter Zions sie geringschätzig verlachen wird, wo es heißen wird: Mache dich auf und dresche, du Tochter Zions (Micha 4,13). Und gewöhnlich ist die Befreiung der Kinder Gottes mit der Vernichtung ihrer Feinde verknüpft, wie Sauls Tod und Davids Befreiung, die Rettung der Israeliten und der Ägypter Untergang im Roten Meer. Die Gemeinde des Herrn und ihr Widerpart verhalten sich wie die Schalen einer Wage; wenn die eine steigt, muss die andere fallen. Richard Sibbes † 1635.


V. 17. Der Herr hat sich kundgetan; er hat Gericht geübt. Die Qual der Verdammten wird dadurch sehr gesteigert werden, dass sie sich dann der Erkenntnis Gottes nicht mehr werden verschließen können. Dann werden sie ihr ganzes Leben überschauen und erkennen, was sie verscherzt haben. Die Blindheit, Stumpfheit und Vergesslichkeit wird von ihnen genommen sein; aber es wäre falsch, zu meinen, dass sie deshalb heiliger und glücklicher werden; nein, noch niederträchtiger und daher noch viel elender. Wenn Gottes Gericht über sie ergeht und die Rache über sie ausgegossen wird, dann haben sie keine Wahl mehr, sie müssen es zu Herzen nehmen, ob sie wollen oder nicht. Jetzt nehmen sie sich keine Zeit, an Gott zu denken, noch geben sie Ewigkeitsgedanken Raum; aber ach, dann werden sie Muße genug haben an einem Ort, wo ihre Gedanken durch nichts von ihrem Elend abgezogen werden. Ja es wird auf die Tafeln ihres Herzens eingegraben sein. Könnten sie nur vergessen! Vernichtung würden sie für die größte Wohltat halten. Aber nachdem sie den Rat des Herrn verworfen haben, soll er am Ort ihrer ewigen Gefangenschaft stets vor ihnen geschrieben stehen, damit sie ihn zu ihrer Qual überall finden, wohin sie auch blicken. Nach Richard Baxter † 1691.
  Wenn der Herr an dem von ihm ausgeübten Gericht erkannt wird, dann müssen seine Gerichte offenkundig sein. In der Tat vollziehen sich viele Gerichte Gottes wie auf einer Bühne. Dies zunächst, damit hinreichend Zeugen seiner Gerichte vorhanden seien und so eilt urkundlicher Bericht darüber, wenigstens im Gemüt und Gedächtnis treuer Menschen, auf die kommenden Geschlechter sich überliefere. Zweitens, damit seine Gerechtigkeit und sein Gerichtsverfahren eine gute Wirkung auf diejenigen ausübe, welche noch nicht davon betroffen sind. Aus diesem Grunde drohte Gott, Jerusalem vor den Augen aller Völker zu strafen (Hes. 5,6-8.14.15). Jerusalem lag nicht in einem Winkel der Welt, sondern inmitten der bedeutendsten Völker. Wie diese nun all die Beweise göttlicher Gunst, die außerordentlichen Taten des Herrn zum Wohl, zur Befreiung und Rettung Jerusalems wahrgenommen hatten, sollten sie an dieser Stadt auch Gottes Gericht und sein schmerzliches Missfallen über die Sünde erkennen, damit beides, die Güte und der Ernst Gottes, offenkundig werde. Mit seinen öffentlichen Gerichten an etlichen Sündern erweist Gott anderen Gnade und legt ihnen zugleich die Pflicht auf, sich dadurch vor ähnlichem Geschick warnen zu lassen. Drittens straft Gott auch diese und jene Gottlosen vor den Augen der Menschen zum Trost und zur Ermutigung für sein Volk. Ps. 58,11.12: Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache sieht. Wir sollen uns zwar nicht über die Strafe freuen, sofern unsere Mitgeschöpfe darunter leiden, sondern vielmehr über die Erfüllung der göttlichen Drohung gegen die Sünde und über den Erweis der Heiligkeit Gottes. Nach 2. Mose 14,30 f. hat Gott nach dem Untergang der Ägypter im Roten Meer ihre Leichen an die Küste schwemmen lassen. Dadurch wurde dies furchtbare Gericht des Herrn über die Ägypter dem Volk Israel noch einmal so recht vor Augen geführt, und da, heißt es, fürchtete das Volk Gott und glaubte an ihn und an seinen Knecht Mose. So wurden sie durch Gottes offenkundiges Gericht über die Ägypter in ihrem Glauben gestärkt. Joseph Caryl † 1673.
  Wenn Gott seine Hand an den Sünder legt, so erkennen die Frommen mit Zittern seine Große, Majestät und Macht, sowie die Art und Weise seines Richtens; sie richten sich selbst und räumen aus dem Wege, was Gottes Zorn hervorrufen könnte. Wie das Feuer um sich her Glanz verbreitet, so stellen die Gerichte Gottes der Welt seine Herrlichkeit, Gerechtigkeit und Heiligkeit vor Augen. William Greenhill † 1677.
  Das lesen wir nicht nur im Worte Gottes, sondern die ganze Geschichte und die Erfahrung eines jeden gibt davon Zeugnis, wie Gott gerechte Vergeltung übt, indem er den Gottlosen im Werk seiner Hände verstrickt. Gleich nach Haman an seinem eigenen Galgen ist vielleicht das auffälligste Beispiel hiefür eines aus der Schreckenszeit der französischen Revolution. Es wird berichtet, dass innerhalb neun Monaten, nachdem die Königin Marie Antoinette unter dem Richtbeil ihr Leben geendet hatte, alle, die an ihrem frühen Tode schuld waren, ihre Ankläger, die Richter, die Geschworenen und die Zeugen, soweit wenigstens ihr Schicksal bekannt ist, auch unter dem Richtschwert endigten, wie ihr unschuldiges Opfer. Barton Bouchier 1855.


V. 18. Solche Leute werden hier Gottlose genannt, welche Gott vergessen, kaum an ihn denken und, wenn es je geschieht, ohne Liebe und ohne Ehrfurcht. Gott vergessen und gottlos sein ist ein und dasselbe. Wer die Allgenügsamkeit und Heiligkeit Gottes nicht schätzt, wer in Gott nicht sein Glück und sein Teil, seine Stärke und seinen Beistand sucht, ihn nicht fürchtet, noch sich seinem Willen und seinen Geboten unterordnet, wer nicht nach der Verherrlichung Gottes als dem höchsten Ziele seines Lebens trachtet, der muss doch gewiss ein Gottloser genannt werden. Gott aus den Gedanken ausschließen, ihm keinen Raum darin lassen, das heißt eben gott-los sein. Wenn man daher auch von einem solchen Menschen nicht sagen kann, dass er ein Trunkenbold sei, fluche oder betrüge oder die Frommen verfolge, wenn man nur sagen muss, dass er sein Leben zubringe, ohne an Gott zu denken, so genügt das für das Urteil, dass er unter dem Zorne Gottes ist und ohne Gnade in die Hölle fahren wird, wenn er sich nicht zu Gott bekehrt. John Howe † 1705.

  Die Hölle ihre Wohnung, voll von Feuer,
  Das niemand löscht, der Ort der Qual und Pein.
   Nach John Milton † 1674.

  Machtloser Will’, der Hölle Element,
  Unfruchtbar stets, und all sein Mühen kehrt
  Nur auf ihn selbst zurück. - Peinvolle Angst,
  Der Selbstsucht wohl verdient’ und eigne Plage!
  Bosheit durchbohrte gern den Feind, vor dem sie bebt,
  Und der, voll Hohn die Lippe, sucht zu töten;
  Doch keiner sieht den andern, keiner hört -
  Denn Dunkel hüllt in seinem Kerker jeden ein.
  Im Hunger schmachtet Lust, Gram trinkt die eigne Träne,
  Einsam für sich ein jedes. Hass führt Krieg
  Wider sich selbst und knirscht ob seiner Rette,

  Daran die Seele wund sich zerrt und reibt.
  Traurig die Öde jedes rasenden Gemüts,
  Jedes am eignen Ort, einsam in seinem Kerker;
  Keim Mitgefühl darf lindern ihre Qual. Nach
   J. A. Heraud 1830.


V. 19. Sogar ein Heide sagte, als ein von einem Habicht verfolgtes Vöglein ihm in den Schoß flog: Weil du zu mir Zuflucht genommen hast, will ich dich nicht deinem Feind preisgeben! Wie viel weniger wird Gott eine Seele ihrem Feind ausliefern, wenn sie bei ihm Rettung sucht. William Gurnall † 1679.
  Gottes Kinder müssen harren und hoffen können. Wie man etwa sagt, Gott erhöre uns manchmal, indem er uns nicht erhöre, so kann man auch sagen, er würde uns manchmal unsere Bitte verweigern müssen, wenn er nicht deren Erfüllung aufschöbe. Es verhält sich damit, um ein Bild von Chrysostomus († 407) zu gebrauchen, wie mit einem Kapital, das lange auf der Bank liegt und zuletzt mit Zins und Zinseszins seinem Besitzer zurückgezahlt wird. Verlassen wir uns aber so auf die Menschen, denen wir Geld ausleihen, können und sollen wir nicht auch dem Herrn vertrauen und auf eine reiche Erfüllung seiner Verheißungen hoffen? Durch Aufschub der Erhörung veranlasst uns Gott zu fleißigerem Beten, und je länger wir warten, je mehr wir anhalten am Gebet, desto mehr Trost wird uns zuteil und umso sicherer können wir sein, zuletzt Erhörung zu finden. Wir wollen zwischen Aufgeschoben und Ausgehoben genau unterscheiden. Gott ist die Liebe: Was tut’s, wenn er uns warten lässt? Er handelt darin nur als weiser Erzieher. Vergessen kann und will er uns nimmer. Wer warten kann, dessen Hoffnung wird nicht ewig ausbleiben, wird also nicht verloren sein. Richard Capel † 1656.


V. 20. Herr, stehe auf! Was bezweckt der Psalmist mit dieser Bitte? Betet er um den Untergang seiner Feinde und spricht er einen Fluch über sie aus? Nein, hier redet nicht ein Mensch, der seinen Feinden Unglück wünscht, sondern ein Prophet, der in der Sprache der heiligen Schrift das Übel vorhersagt, das um ihrer Sünde willen über sie kommen muss. Aurelius Augustinus † 430.


Homiletische Winke

V. 2. 1) Der einzige unseres Lobes Würdige: der Herr. 2) Die überaus zahlreichen Veranlassungen zu seinem Lob: alle deine Wunder. 3) Die rechte Art des Lobens: von ganzem Herzen. Benjamin Davies 1866.
V. 2 b. Ich will erzählen usw.: Eine nimmer endende Aufgabe und ein immerwährender Genuss.
  Deine Wunder. Die Schöpfung, die Vorsehung und die Erlösung sind lauter Wunder, weil Gottes Eigenschaften darin in solchem Grade hervortreten, dass dadurch die Verwunderung des ganzen Weltalls erregt wird. Ein reichhaltiges Thema.
  V. 3. Der geistliche Gesang. Seine Wechselbeziehung zu heiliger Freude.
  Die Pflicht, die Unübertrefflichkeit und die Veranlassungen heiligen Frohsinns.
  V. 5. Das Recht des Gerechten wird sicherlich angegriffen, aber ebenso gewiss geschützt.
  V. 7. 1) Der große Feind. 2) Die Verheerungen, die er angerichtet hat. 3) Die Mittel zu seiner Niederwerfung. 4) Die Ruhe, die daraus folgen wird.
  V. 8 a. Der Herr aber bleibt ewiglich: dies der Trost der Gläubigen und der Schrecken der Sünder.
  V. 9. Die Gerechtigkeit der sittlichen Weltregierung Gottes, besonders in Beziehung auf den jüngsten Tag. Mit Einschluss jenes Tages: die Weltgeschichte das Weltgericht.
  V. 10. Hilfebedürftige Leute, schwere Zeiten, und dennoch eine vollgenügsame Versorgung.
  V. 11. 1) Die wichtigste aller Kenntnisse: des Herrn Namen zu kennen. 2) Das selige Ergebnis: hoffen auf den Herrn. 3) Der hinreichende Grund zu solchem Vertrauen: denn du verlassest nicht, die dich, Herr, suchen. T. W. Medhurst.
  Erkenntnis, Glaube und Erfahrung und ihre Beziehung zueinander. Der Name Jahwes als unversiegbare Quelle des Hoffens (oder Vertrauens).
  V. 12. 1) Das Zion des alten und das des neuen Bundes. 2) Die herrlichen Taten des Herrn, der zu Zion wohnt. 3) Die zwiefache selige Pflicht der Zionskinder: dem Herrn zu lobsingen und unter den Völkern seine großen Taten zu verkündigen.
  V. 13. 1) Gott an einem furchtbar ernsten Werk. 2) Er gedenkt der Seinen, um sie zu erhalten, zu erhöhen, zu segnen und zu rächen. 3) Er erhört ihr Schreien, indem er sie rettet und ihre Feinde vernichtet. Eine Trostpredigt in Kriegsfällen und anderer böser Zeit.
  V. 14 a. Herr, sei mir gnädig! Die Bitte des Zöllners. 1) Was ist ihr Inhalt? 2) Wie wird sie vorgebracht? 3) Wie erhört? 4) Ist sie nicht nachahmenswert?
  V. 14. Tiefes Elend, große Erlösung, herrliche Erhöhung.
  V. 15. Fröhlich über deinem Heil: besonders weil es von dir kommt, o Gott, und deshalb dich ehrt; über seine Freiheit, Fülle, Angemessenheit, Gewissheit und ewige Dauer. Wer kann sich darüber freuen? Gründe, warum Gottes Kinder sich stets so freuen sollten.
  V. 16. Lex talionis das göttliche Gesetz der Vergeltung. Denkwürdige Beispiele.
  V. 17. mit V. 11: Zweierlei Erkenntnis; welch furchtbarer Unterschied.
  V. 18. Eine Warnung an solche, die Gottes vergessen.
  V. 19. Aufschub der Hilfe. 1) Wie sieht der Unglaube denselben an? Vergessen, verloren. 2) Gottes Verheißung: nicht für immer. 3) Die Pflicht des Glaubens: Warten.
  V. 20. Dass die Menschen nicht Überhand haben. Ein höchst wirksamer Beweggrund zu der Bitte: Herr, stehe auf. In welchen Fällen wird er in der Schrift angewendet? Die Ursache seiner großen Wirkung. Die geeigneten Zeiten zu seiner Benutzung.
  V. 21. Eine sehr notwendige Lektion und wie Gott sie lehrt.

Fußnoten

1. Luthers Übersetzung beruht auf der auch von LXX, Vulg., Syr. befolgten Lesart tObrfxA Schwerter statt tObrfxF Trümmer.

2. Diese frühere Übersetzung Luthers (1524) in Vers 2.3: Ich will danken, erzählen, mich freuen und fröhlich sein und loben, womit auch Spurgeons Auslegung übereinstimmt, ist entschieden besser.

3. In der engl. Bibel lautet der Vers: For thou hast maintained my right and my cause, etc.

4. Der Wahlspruch der englischen Krone.

5. Manche nehmen hier und Ps. 10,1 ein sonst nicht vorkommendes Wort hrfcIfbIa Abgeschnittensein, Klemme, Drangsal (von rcb abschneiden) an; andere fassen das b als Präposition: für Zeiten in der Not.

6. Manche übersetzen den Vers perfektisch, als beziehe er sich auf jüngst Erlebtes: Er hat nach den Blutschulden gefragt, hat ihrer (der Elenden) gedacht, hat nicht vergessen usw. Besser fasst man die Perff. des Grundtexts jedoch wohl als Bezeichnung von früher schon erfahrenen und noch immer dann und wann sich zu erfahren gebenden Tatsachen, übersetzt also im Präsens. Die in Spurgeons Auslegung allein hervortretende Beziehung auf die Zukunft liegt nicht direkt im Text, sie tritt erst V. 18 ff. hervor.

7. Die Bedeutung Sinnen, Nachdenken ist für das Wort in Ps. 19,15 und Klgl. 3,62 allgemein anerkannt. In Ps. 92,4 scheint es irgendeine Art Saitenspiel (Delitzsch: sinniges Spiel) zu bedeuten. Was an unserer Stelle sein Sinn sein mag, ist ungewiss.

8. Die Übersetzung Luthers (nach LXX) beruht auf der Vokalisierung hreOm. Diese wird z. B. noch von Bäthgen (1904) vorgezogen. Die gewöhnliche Lesart hrfOm gleich )rfOm Schrecken, ist aber vollkommen passend.