Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 99 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Wir können diesen Psalm das Sanctus nennen, denn das Wort Heilig ist der Kehrreim seiner drei Teile. Sein Gegenstand ist die Heiligkeit der göttlichen Weltregierung. Unserm Dafürhalten nach bezeugt der Psalm in V. 1-3 die Heiligkeit Jehovahs selber; sodann erwähnt er V. 4-5, als ein Beispiel dafür, wie der HERR die Heiligkeit liebt, die Gerechtigkeit des Königs, den der HERR verordnet hat, oder beschreibt wohl wahrscheinlicher Jehovah selber als König, und endlich stellt er V. 6-9 die so streng gerechte Art ins Licht, in welcher Gott mit den bevorzugten Männern gehandelt hat, die er in vorigen Zeiten dazu ausgesondert hatte, dass sie ihm zum Besten des Volkes nahten. Das Lied passt für die im ersten Vers erwähnten Cherube, die Gottes Thron umgeben; höchst geziemend ist der Psalm aber auch für die Heiligen, die in Zion, der Heiligen Stadt, wohnen, und sonderlich ist er wert, ehrfurchtsvoll von allen denen gesungen zu werden, die gleich David dem König, Mose dem Gesetzgeber, Aaron dem Priester oder Samuel dem Seher gewürdigt werden, die Kirche Gottes zu leiten und für sie vor dem HERRN einzutreten.


Auslegung

1. Der HERR ist König, darum zittern die Völker;
er sitzt auf Cherubim, darum bebt die Welt.
2. Der HERR ist groß zu Zion
und hoch über alle Völker.
3. Man danke deinem großen und wunderbaren Namen,
der da heilig ist.


1. Der HERR ist König worden. (Grundtext) Das ist einer der fröhlichsten Ausrufe, der je sterblichen Lippen entquollen ist. Der Umsturz des Reiches des Bösen und die Aufrichtung der Herrschaft Jehovahs, seines Königreichs der Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit, ist es wert, immer aufs Neue besungen zu werden, wie wir es hier schon zum dritten Mal in den Psalmen finden. Darum zittern die Völker. Die Menschheit wird ob dieser Offenbarung der Königsherrlichkeit Jehovahs von heiligem Schauer ergriffen. Die Frommen erbeben in ehrfurchtsvoller Freude und die Sünder fahren vor Schrecken zusammen, wenn sich die Herrschaft des Allgewaltigen völlig wahrzunehmen und zu fühlen gibt. Es handelt sich da ja nicht um eine der kurzlebigen politischen Tagesneuigkeiten, die wir gleichgültig lesen und morgen wieder durch andere aus unserem Gedächtnis drängen lassen, sondern um eine welterschütternde Tatsache, die mehr denn alles andere die Tiefen unseres Gemütes bewegen sollte. Er sitzt auf Cherubim. In der Erhabenheit überweltlicher Herrlichkeit und doch in der Nahbarkeit mittlerischer Herablassung offenbarte Jehovah sich über dem Gnadenstuhl, auf welchem sich die Abbilder der glänzenden Gestalten befanden, die im Himmel seine Herrlichkeit schauen und allezeit rufen: Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen. Gerade diese Offenbarung des HERRN als dessen, der da regiert auf dem Thron der Gnade, welcher mit dem Sühnblut besprengt und von den die Sünde bedeckenden Flügeln der mittlerischen Liebe beschattet ist, ist unvergleichlich köstlich und wohl geeignet, in der ganzen Menschheit eine tiefe Bewegung hervorzurufen. Deshalb wird hinzugefügt: Darum bebt die Welt, oder wörtl.: es schwankt die Erde. Die ganze Erde wird sich von heiliger Scheu durchdrungen fühlen, wenn offenbar wird, dass Gott auf dem Gnadenthrone sitzt als Alleinherrscher aller Welt. Die Pracht des Himmels umgibt ihn, wie das ja durch die ausgestreckten Flügel der Cherube abgebildet wird; möge denn die Erde nicht weniger zur Anbetung bewegt sein, sondern mit ehrfurchtsvollem Leben seine Gegenwart anerkennen.

2. Der HERR ist groß zu Zion. Vor alters war der heilige Tempelberg der Mittelpunkt der Anbetung des großen Königs und die Stätte, da seine Hoheit am deutlichsten erschaut ward. Jetzt ist seine Gemeinde der Ort, wo seine Größe sich erweist und anerkannt und angebetet wird. Dort enthüllt er seine herrlichen Eigenschaften und zwingt die Herzen zu der demütigsten Huldigung. Die Unwissenden vergessen ihn, die Ruchlosen verachten ihn, die Gottesleugner widersetzen sich ihm; aber unter seinen Auserwählten tut sich seine unvergleichliche Erhabenheit kund. Er ist groß in der Wertschätzung der Begnadigten, groß in seinen Gnadentaten, wahrhaft groß in sich selbst: groß an Gnade, Macht, Weisheit, Gerechtigkeit und Herrlichkeit. Und hoch über alle Völker. Seine Erhabenheit übersteigt die höchsten Gedanken und die kühnsten Vorstellungen der Menschen. Die Höchsten sind vor ihm nicht hoch und - gepriesen sei sein Name - die Niedrigsten bei ihm nicht verachtet. Über einen solchen Gott frohlocken wir; seine Größe und Majestät sind uns über alle Maßen köstlich. Je mehr er in den Herzen der Menschen geehrt und erhöht wird, desto mehr triumphiert sein Volk. Wenn Israel über Saul jauchzte, weil er jedermann im Volke um Haupteslänge überragte (1. Samuel 10,23.24), wie viel mehr sollten wir über unseren König frohlocken, der so hoch ist über uns wie der Himmel über der Erde!

3. Sie sollen preisen deinen großen und furchtbaren Namen. (Grundtext) Mögen alle, die zu Zion wohnen, und alle Nationen auf der ganzen Erde den HERRN loben und dankbar die Güte des göttlichen Wesens anerkennen, so vieles in demselben auch ist, das ihnen heilige Scheu einflößt. Selbst wo der HERR sich in der Furcht erregendsten Weise enthüllt, ist er dennoch zu preisen. Gar viele sind voller Bewunderung für die milderen Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit, lodern aber in Empörung gegen ihren heißer flammenden Glanz. Aber es sollte wahrlich nicht so sein; wir sind verpflichtet, Gott auch als den Erschrecklichen zu preisen und ihn als den, der die Gottlosen in die Hölle wirft, anzubeten. Sang Israel nicht dem, "der Pharao und sein Heer ins Schilfmeer stieß, denn seine Güte währet ewiglich"? (Ps. 136,15) Der schreckliche Vergelter ist ebenso zu preisen wie der liebevolle Erlöser. Dagegen empört sich freilich das arge Menschenherz wegen seiner geheimen Übereinstimmung mit der Sünde; es ruft nach einem verweichlichten Gott, in welchem das Mitleid die Gerechtigkeit erstickt hat. Aber die wohl unterwiesenen Knechte Jehovahs lobpreisen sein Wesen, in welchem Lichte es sich auch enthülle, ob furchtbar oder zart und mild. Nur die Gnade kann in uns diese Stellung zu dem HERRN bewirken. Heilig ist er. In ihm ist kein Makel oder Tadel, kein Übermaß oder Mangel, kein Irrtum oder Unrecht. Er ist in allen Stücken gut, darum heißt er der Heilige. In seinen Worten, seinen Gedanken, seinen Taten und seinen Offenbarungen sowohl als in sich selber ist er die Vollkommenheit selbst. Ja kommt, lasst uns anbeten und niederfallen vor ihm!


4. Im Reich dieses Königs hat man das Recht lieb.
Du gibst Frömmigkeit,
Du schaffest Gericht und Gerechtigkeit in Jakob.
5. Erhebet den HERRN, unseren Gott,
betet an zu seinem Fußschemel;
denn Er ist heilig!


4. Und die Stärke des Königs liebt das Recht.1 Gott ist dieser König, der Gnadenstuhl ist sein Thron, und das Zepter, welches er schwingt, ist heilig wie er selber. Seine Kraft zeigt sich niemals tyrannisch; er ist unbeschränkter Alleinherrscher, aber seine Macht hat an Gerechtigkeit ihre Freude, seine allgewaltige Kraft wird nur zu rechten Zwecken verwendet. Die Menschen fechten in unseren Tagen immer wieder Gottes Weltregierung an und setzen sich hin, darüber zu urteilen, ob Gott das Rechte tue oder nicht; aber die gottseligen Alten waren andern Sinnes, sie waren überzeugt, dass alles, was der HERR tut, gerecht sei, und statt ihn zur Verantwortung zu fordern, beugten sie sich demütig unter seinen Willen, indem sie sich der Gewissheit freuten, dass Gott mit all seiner Allmacht sich verbürgt hat, die Gerechtigkeit zu fördern und unter allen seinen Geschöpfen das Recht auszuführen. Du hast Gerechtigkeit (gerechte Ordnung) aufgerichtet. (Grundtext) Du urteilst nicht nur gelegentlich nach Billigkeit oder stellst vorübergehend gerechte Ordnung her, sondern du richtest die Gerechtigkeit als eine bleibende Einrichtung auf, die fest ist wie dein Thron. Auch nicht der Barmherzigkeit zuliebe hebt der HERR die Unparteilichkeit seiner sittlichen Weltregierung auf oder verletzt er sie; in der Vorsehung wie in dem Gnadenreich ist er sorgfältig darauf bedacht, die unbefleckte Reinheit seiner Rechtshandhabung zu bewahren. Die meisten Reiche haben viele Einrichtungen, die der Billigkeit nicht entsprechen; hier sehen wir die Billigkeit selber als große Staatseinrichtung. Der HERR, unser Gott, zerstört jedes ungerechte System, und nur das Recht bleibt bestehen. Du hast Gerechtigkeit und Gericht an Jakob geübt. (Grundtext) In Gottes Reich werden nicht nur gerechte Ordnungen aufgestellt, sondern es wird Gerechtigkeit geübt; die Gesetze werden ausgeführt, die ausübende Gewalt ist dort so gerecht wie die gesetzgebende. Liegt darin nicht reicher Anlass zu Lobpreis für alle Unterdrückten wie für alle, die das Recht lieb haben? Andere Völker sind unter ihren launischen Gewalthabern Opfer und wiederum selbst Verüber arger Ungerechtigkeiten gewesen; Israel aber erfreute sich, sofern es dem HERRN untertänig war, einer rechtschaffenen Regierung in seinem Lande und handelte auch redlich gegen seine Nachbarn. Eine Regierungskunst, die an Ränken, Günstlingschaft und rohen Gewalttaten ihre Freude hat, ist dem göttlichen Königtum so entgegengesetzt wie die Finsternis dem Lichte. Jehovahs Königsschloss ist keine Raubburg und keine Tyrannenfeste, auf Kerkern erbaut aus Steinen, die von Sklaven behauen sind, und zusammengekittet mit dem Blut geplagter Leibeigener. Die Chroniken der meisten irdischen Regierungen sind geschrieben mit den Tränen Untertretener und den Flüchen Bedrückter; die Annalen des Königreichs des HERRN sind anderer Art, bei ihnen leuchtet aus jeder Zeile Wahrheit, aus jeder Silbe Güte, aus jedem Buchstaben Gerechtigkeit. Preis sei dem Namen des Königs, dessen milde Herrlichkeit zwischen den Cherubsflügeln hervorstrahlt.

5. Erhebet den HERRN, unseren Gott. Wenn andere ihn nicht anbeten, so bringe doch sein Volk ihm inbrünstigste Verehrung dar. In unendlicher Herablassung steigt er zu uns hernieder, lässt sich unsern Gott nennen, und seine Wahrhaftigkeit und Treue verbinden ihn, dies Bundesverhältnis aufrecht zu halten; da sollten wir, denen er sich aus freier Gnade so liebend hingibt, ihn doch wahrlich von ganzem Herzen erhöhen! Sein Glanz erstrahlt über uns vom Gnadenthron her, darum kommt und betet an zu seinem Fußschemel. Da er sich in Christo Jesu als unser versöhnter Gott offenbart, der uns erlaubt, sogar zu seinem Thron zu nahen, so ziemt es sich uns, Freimut mit Demut, Freude mit Ehrfurcht zu vereinigen und, während wir ihn erhöhen, uns vor ihm in den Staub zu werfen. Aber müssen wir denn wirklich so dazu angetrieben werden, den HERRN anzubeten? Wie müssen wir uns solcher Lässigkeit, wohl gar Abgeneigtheit schämen! Sollte es uns doch täglich neue Wonne sein, einen so guten und großen Gott zu lobpreisen. Denn Er ist heilig. Zum zweiten Mal ertönt dieser Ruf, und da soeben die Bundeslade, der Fußschemel des Höchsten, erwähnt worden, scheint die Stimme von den Cherubim am göttlichen Thron auszugehen, die unablässig rufen: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth! Die Heiligkeit ist der Zusammenklang aller Tugenden. Der HERR hat nicht eine herrliche Eigenschaft allein oder über die Maßen, sondern alle Vollkommenheiten sind in ihm zu einem Ganzen harmonisch vereint. Das ist die Krone seiner Ehren und die Ehre seiner Krone. Nicht seine Macht und nicht seine unbeschränkte Freiheit ist der köstlichste Edelstein in seinem Diadem, sondern seine Heiligkeit. Diese seine allumfassende sittliche Vortrefflichkeit soll nach seinem Willen die Wonne seiner Geschöpfe sein; und ist das bei ihnen der Fall, so erweist sich darin, dass ihre Herzen erneuert worden und sie seiner Heiligkeit selbst teilhaftig geworden sind. Die Götter der Heiden waren, nach ihren Anbetern, wollüstig, grausam und brutal; ihr einziger Anspruch auf Verehrung lag in der ihnen angedichteten Gewalt über die Schicksale der Menschen. Wer wollte da nicht lieber Jehovah anbeten, dessen Wesen unbefleckte Reinheit, unbestechliche Gerechtigkeit, unbeugsame Wahrhaftigkeit, unendliche Liebe, mit einem Wort gesagt: vollkommene Heiligkeit ist?


6. Mose und Aaron unter seinen Priestern,
und Samuel unter denen, die seinen Namen anrufen,
sie riefen an den HERRN, und er erhörte sie.
7. Er redete mit ihnen durch eine Wolkensäule;
sie hielten seine Zeugnisse
und Gebote, die er ihnen gab.
8. HERR, Du bist unser Gott, du erhörtest sie;
du, Gott, vergabest ihnen
und straftest ihr Tun.
9. Erhöhet den HERRN, unseren Gott,
und betet an zu seinem heiligen Berge;
denn der HERR, unser Gott, ist heilig.


6. Mose und Aaron unter seinen Priestern, und Samuel unter denen, die seinen Namen anrufen. Wiewohl Mose nicht zu dem vorbildlichen Priesteramt geweiht war, war er doch ein echter Priester, wie vor ihm Melchisedek. Gott hat stets ein Priestertum neben und über dem gesetzlichen gehabt. Die drei hier genannten heiligen Männer hatten alle in Jehovahs Vorhöfen gestanden und seine Heiligkeit geschaut, ein jeder nach seiner Ordnung. Mose hatte den HERRN im flammenden Feuer sein vollkommenes Gesetz offenbaren sehen, Aaron war gar oft Augenzeuge davon gewesen, wie das heilige Feuer das Sündopfer verzehrte, und Samuel hatte das Gericht geschaut, das über das Haus Elis kam um der Missetat willen seiner Söhne. Jeder dieser drei war in den Riss getreten, wann der Zorn Gottes hervorbrach, weil seine Heiligkeit geschändet worden war. Indem sie so als Fürsprecher ins Mittel getreten waren, hatten sie das Volk vor dem großen und schrecklichen Gott beschirmt, der sonst in furchtbarer Weise an Jakob Gericht geübt haben würde. Mögen Männer wie sie uns bei dem Anrufen Gottes leiten; und lasst uns dem HERRN am Gnadenthron nahen, wie sie es getan, denn er ist uns so zugänglich wie ihnen. Sie machten es zu ihrer Lebensaufgabe, ihn im Gebet anzurufen, und zogen durch ihr Flehen unzählige Segnungen auf sich und andere herab. Ruft der HERR uns nicht auch, mit Mose auf den Berg zu steigen und mit Aaron in das Allerheiligste zu treten? Hören wir ihn nicht auch uns beim Namen rufen wie einst Samuel? Und ist nicht unsre Antwort auch: Rede, HERR, denn dein Knecht hört? Sie riefen an den HERRN, und Er erhörte sie. Ihre Gebete waren nicht vergeblich, sondern er, der Heilige, war seinen Zusagen treu und horchte auf ihr Flehen von dem Gnadenthron aus. Das bietet uns Ursache zu gläubigem Lobpreis; denn die Antworten auf die Gebete einiger sind Beweise, dass Gott bereit ist, auch andere zu erhören. Jene drei Gottesmänner erbaten große Dinge, sie flehten für ein ganzes Volk, taten schweren Plagen Einhalt und wandten flammenden Zorn ab; wer wollte sich nicht befleißen, einen so erhabenen und gnädigen Gott anzubeten? Wäre er nicht heilig, so würde er seinem Worte untreu werden und seiner Kinder Flehen abweisen. Darum wird es hier zu unserem Troste und seiner Verherrlichung festgestellt, dass er die heiligen Männer der alten Zeit nicht vergeblich hat beten lassen.

7. Er redete mit ihnen durch eine Wolkensäule. Diese war ein weiteres sichtbares Zeichen der Gegenwart Gottes inmitten Israels. Aus der herrlichen sie überschattenden Wolke kamen dem Mose und Aaron göttliche Antworten, und wiewohl Samuel die Wolke nicht sah, so kam doch auch an ihn die geheimnisvolle Stimme, die so oft mit Donnerschall von jenem göttlichen Thronhimmel aus geredet hatte. Zu Menschen hat Gott gesprochen, so mögen denn die Menschen auch wieder mit Gott reden. Er hat uns zukünftige Dinge verkündigt; lasst uns in Erwiderung darauf die Sünden der vergangenen Zeit bekennen. Er hat uns geoffenbart, wie er gegen uns gesinnt ist; so wollen wir vor ihm unsre Herzen ausschütten. Sie hielten seine Zeugnisse. Wenn andre abtrünnig wurden, blieben sie treu; sie bargen sein Wort im Herzen und gehorchten demselben im Leben. Wenn er zu ihnen redete, so achteten sie auf das, was er ihnen als seinen Willen kundtat; darum willfahrte er auch ihren Begehren, wenn sie sie ihm vorlegten. Dies Halten der göttlichen Zeugnisse ist eine in unseren Tagen gar selten gewordene Tugend. Die Menschen richten ihren Lauf nach ihren eigenen Anschauungen und Meinungen und nehmen es mit der göttlichen Wahrheit sehr leicht; deshalb beten sie so oft vergeblich, und Spötter haben es sogar gewagt, zu behaupten, dass das Beten überhaupt nichts nütze. Ach dass der HERR sein Volk wieder dazu bringe, sein Wort mit wahrer Ehrfurcht zu achten; dann wird er auch wieder auf die Stimme ihres Flehens achten. Und Gebote (wörtl. Einzahl: die Verordnung), die er ihnen gab. Seine Lebensregel beobachteten sie ebenso wohl wie seine Lehrzeugnisse. Man darf die Verordnungen des HERRN nicht als bedeutungslose Kleinigkeiten behandeln, andernfalls werden auch die Lehren der Verachtung anheimfallen; und das Gegenteil ist ebenso wahr: Geringschätzung der gottgeoffenbarten Lehrwahrheit wird stets in Vernachlässigung der sittlichen Tugenden enden. Einem Mose, Aaron und Samuel waren besondere persönliche Aufgaben übertragen, und sie waren ein jeder dem ihm anvertrauten Amte treu, weil sie den HERRN, ihren Gott, fürchteten und ihm mit ganzer Seele dienten. Sie waren gar verschiedener Art und hatten jeder ein eigentümliches Lebenswerk zu vollbringen; aber weil ihrer jeglicher ein Mann des Gebets war, wurden sie in ihrer Rechtschaffenheit bewahrt, erfüllten ihre Aufgabe und waren dem Geschlecht ihrer Tage ein Segen. HERR, lehre uns, gleich Mose unsre Hände im Gebet emporhalten und Amalek besiegen (2. Mose 17,11), gleich Aaron das Räucherwerk zwischen den Lebendigen und den Toten weben, bis der Plage gewehrt ist (4. Mose 17,11 ff. [16,46 ff.]), und gleich Samuel einem schuldbeladenen Volke sagen: Es sei ferne von mir, mich also an dem HERRN zu versündigen, dass ich sollte ablassen für euch zu beten. (1. Samuel 12,23) Gibst du, o HERR, uns Kraft, dich mit Flehen zu überwinden, so werden wir auch treu bewahrt werden vor dir in dem Dienste, den du uns auferlegt hast.

8. HERR, unser Gott (wörtl.), Du erhörtest sie. Ein köstlicher Gottesname und eine höchst ermunternde Tatsache. Unser Bundesgott erhörte diese drei Knechte in ganz besonderer Weise, wenn sie für ihr Volk bittend eintraten. Ein vergebender Gott warst du ihnen, und ein Rächer ihrer Taten. (Wörtl.) Er vergab den Sündern, aber ihre Sünden strafte er. Manche beziehen diesen Vers auf Mose, Aaron und Samuel und erinnern uns daran, dass jeder dieser Männer in einen Fehler verfallen und dafür gezüchtigt worden sei. Auch von Samuel behaupten sie das, denn dadurch, dass er seine Söhne zu seinen Nachfolgern eingesetzt habe, sei er zu seinem großen Kummer gezwungen gewesen, die Salbung Sauls zum König über sich ergehen zu lassen. Das ist aber unserer Meinung nach eine sehr zweifelhafte Behauptung, die uns veranlasst, diese ganze Deutung fahren zu lassen. Wir glauben, dass die Stelle sich auf das Volk bezieht, das durch die Fürbitte jener drei heiligen Männer vor der Vernichtung bewahrt, aber dennoch für seine Übertretungen streng gezüchtigt wurde. Auf das Flehen Moses blieben die zwölf Stämme am Leben, doch konnte das damals lebende Geschlecht nicht in das verheißene Land eingehen. Aarons goldenes Kalb ward zermalmt, wiewohl das Feuer des HERRN das Volk nicht verzehrte. Und Israel schmachtete unter der harten Regierung Sauls, obgleich auf Samuels Bitte hin des Volkes Murren gegen das theokratische Regiment des Gottes ihrer Väter nicht mit Pestilenz oder Hungersnot heimgesucht ward. Auf solche Weise Sünde zu vergeben, dass zu gleicher Zeit der Abscheu vor ihr zum Ausdruck kommt, das ist der eigentümliche Ruhm Gottes, wie wir es am besten an der durch unseren Herrn Jesus vollbrachten Erlösung ersehen können. Lieber Leser, gehörst du zu den Glaubenden? Dann ist deine Sünde dir vergeben; aber so gewiss du ein Kind Gottes bist, wird die Rute der väterlichen Zucht sich dir zu fühlen geben, wenn du nicht in enger Gemeinschaft mit Gott wandelst. "Aus allen Geschlechtern auf Erden hab ich allein euch erkannt, darum will ich auch euch heimsuchen in all eurer Missetat." (Amos 3,2.)

9. Erhöhet den HERRN, unseren Gott. Abermals wird der kostbare Name "Jehovah unser Gott" gebraucht, und ein drittes Mal folgt schnell. Der Psalm ist trinitarisch in seiner ganzen Anlage. In jeder seiner drei Personen oder Offenbarungsweisen ist Gott der Gott seines Volkes: der Vater ist unser, der Sohn ist unser, der Heilige Geist ist unser - so lasst uns den dreieinigen Gott als unseren Gott erhöhen mit allen unseren geheiligten Kräften. Und betet an zu seinem heiligen Berge. Wo er seinen Tempel bestimmt hat, dahin lasst uns gehen und in Anbetung niedersinken. Kein Fleck Erde ist jetzt als besonderes Heiligtum abgezäunt oder als heiliger denn andere zu betrachten; doch ist die sichtbare Gemeinde des HERRN der Berg, den er erwählt hat und da er Lust hat zu wohnen. Da will auch ich erfunden werden, zu seinem Volke zählend und mit ihm zu Gottes Füßen sinkend. Denn der HERR, unser Gott, ist heilig. Wieder wird diese anbetende Beschreibung wiederholt und damit zum Gipfel des Psalms gemacht. O dass unsre Herzen gereinigt und geheiligt werden möchten, die unendliche Vollkommenheit des dreieinigen Gottes recht zu erkennen und würdig zu preisen!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Der Psalm hat drei Teile, in welchen der HERR als der da kommt, als der da ist und als der da war gerühmt wird, und jeder Teil wird mit dem Lobspruch beschlossen: Er ist heilig. Prälat Joh. Albrecht Bengel † 1752.
  In jeder der drei Strophen wird Jehovah in seiner besonderen Bundesbeziehung zu seinem Volke gefeiert. Nach der ersten Strophe ist er "groß zu Zion" (V. 2); nach der zweiten hat er "Recht und Gerechtigkeit in Jakob gehandhabt" (V. 4); in der dritten werden hervorragende Beispiele dieses seines Bundesverhaltens aus Israels alter Geschichte angeführt und wird Gott wieder, sogar zweimal, als "Jehovah unser Gott" in Anspruch genommen. J. J. St. Perowne 1864.
  In diesem Psalm - dem letzten der drei, die mit dem Ausruf "Der HERR ist König" beginnen - werden die Worte "Er ist heilig" dreimal (V. 3.5.9) wiederholt. So können wir den Psalm ein Glied in der Kette nennen, welche die erste Offenbarung Gottes in der Genesis mit der vollen Enthüllung der Wahrheit von der Heiligen Dreieinigkeit verbindet, die in dem Auftrag des auferstandenen Heilandes an seine Apostel Mt. 28,19 f. hervortritt und die Gläubigen dazu bereitet, in das himmlische Halleluja der verherrlichten Gemeinde: "Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt" (Off. 4,8), einzustimmen. Die andern Glieder dieser Kette im Alten Testamente sind der aaronitische Segen 4. Mose 6,24-27 und das seraphische Dreimal-heilig in Jes. 6,1-3. Christopher Wordsworth 1868.
  Viele der vorhergehenden Psalmen hatten von dem Messias, indem sie seine Herrschaft und Oberhoheit priesen, nur als Gegenstand des Rühmens und Frohlockens gesprochen. Er war dargestellt worden in der ganzen Freigebigkeit seiner Gnade und dem Überschwang seiner Freundlichkeit, und die Macht und Majestät, mit welcher er bekleidet ist, schien hauptsächlich als das Mittel gedacht zu sein, mit welchem diese gnadenreichen Absichten zu ihrer sicheren Verwirklichung geführt werden sollten. In solchen Gedanken liegt stets eine große Gefahr, dass wir die Gegenseitigkeit des Bundes zu sehr vergessen und auf unsere Vorrechte pochen mit Außerachtlassung des uns geziemenden Wandels. Das war ja bei den Juden ein eingefleischter Fehler. "Wir haben Abraham zum Vater", das hatten sie beständig auf der Zunge, als ob die ihrem Volke gegebene Verheißung ewig unveräußerlich und unübertragbar gewesen wäre. Spätere Zeiten haben das Vorhandensein des gleichen falschen Grundsatzes bei den Völkern dargetan; er ist ein Teil der Schwachheit der menschlichen Natur. Deshalb ward der Prophet durch Gottes Geist dazu angeleitet, die Welt vor dem Bösen zu warnen und das Gemüt der Menschen zu einer richtigen Empfindung von der Schrecklichkeit der Majestät des Erlösers zu leiten. Da der Psalm damit die Versicherung verbindet, dass der Messias allezeit bereit sei, den im Glauben Bittenden zu erhören, ist er von großer Kraft und reichem Trost zugleich. William Hill Tucker 1840.


V. 1. Darum zittern die Völker - es schwankt die Erde. Sowohl jene Furcht, die rein aus der Ehrfurcht hervorgeht, wie diejenige, die der Vorahnung drohenden Gerichts entstammt, bewirken ein Zittern des Körpers. Daher kann diese Aussage sowohl auf gläubige als auf ungläubige Nationen gehen. Moyse Amyraut (Amyraldus) † 1664.
  Jarchi bezieht es auf den Krieg von Gog und Magog. John Gill † 1771.
  Es ist kein Zittern gemeint, welches der Gegensatz der Freude schlechthin ist, sondern ein Zittern zum Heil. Das Breviarium in Psalterium, welches den Namen des Hieronymus trägt, bemerkt: Solange die Erde unbeweget ist, kann sie nicht genesen; wann sie in Wahrheit bewegt sein wird, dann wird sie die Gesundheit erlangen. Nach dem Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Diejenigen, die ihm huldigen, werden gefestigt werden und nicht wanken; aber seine Widersacher werden zittern und wanken. Himmel und Erde werden bewegt werden und alle Nationen der Erde; aber das Reich Christi kann nicht wanken. Das Unbewegliche wird bleiben, Hebr. 12,27. Matthew Henry † 1714.


V. 2. Hoch über alle Völker. Das Bild ist von großen Dingen, wie großen Bäumen, Tieren, Menschen, Schlössern, Türmen und dergleichen, genommen, die je mehr geschätzt und je stärker geachtet werden, je höher sie sich über andere erheben. Vergl. 5. Mose 1,28; 2,10.21. Martin Geier † 1681.


V. 3. Sie sollen preisen deinen großen und furchtbaren Namen; heilig ist er. Welche Kraft hat für ein beladenes Gewissen dieser Ausdruck: dein furchtbarer Name. Der Jammer der Sünde besteht nicht nur in ihren Folgen, sondern in ihrer Natur, dass sie zwischen Gott und die Seele tritt, uns von Gott und Gott von uns scheidet. Doch zeigt der Geist Gottes in dem Gnadenbunde eine dreifache Wirkung der Heiligkeit Gottes auf uns, deren Ende das Gegenteil von Verzweiflung ist. Die verschiedenen Stufen dieser Wirkung werden als preisen, erheben und anbeten bezeichnet, V. 3.5.9. Von diesen scheint das letzte am schwersten zu sein, denn es liegt in der Natur der Sündenerkenntnis, dass sie uns daran hindert, zu Gott zu nahen, uns von aller vertrauten Gemeinschaft mit Gott abhält und mit dem erdrückenden Gefühl unserer unendlichen und hoffnungslosen Gottesferne erfüllt. Dennoch sollen wir den großen und furchtbaren Namen Gottes preisen, denn er ist heilig. Groß ist er, überaus herrlich und erhaben, hoch über alle menschlichen Begriffe. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet führt selbst die sonst so tröstliche Tatsache, dass der HERR König ist, nur zu der Folgerung: "Es müssen zittern die Volker", und die Wahrheit, dass er über Cherubim thronet (oder sich als der Bundesgott offenbart), zu dem Schluss: "Es schwankt die Erde". Aber sein Name ist nicht nur groß und furchtbar in seinen Offenbarungen, sondern auch heilig, und darum preisen wir ihn. Seine Größe zeigt sich vornehmlich in seiner Güte, seine Macht in seiner Gerechtigkeit und Zuverlässigkeit. Alfred Edersheim 1873.
  Furchtbar - heilig. In den Taten der menschlichen rächenden Gerechtigkeit ist etwas Unreines, Unruhiges, Leidenschaftliches, eine Beimischung von Grausamkeit; doch nichts von alledem befleckt Gott bei seinen Zorneserweisungen. Als Jehovah dem Hesekiel in feuriger Gestalt erschien zum Zeichen seines Zornes gegen das Haus Israel wegen ihres Götzendienstes, siehe da war es von seinen Hüften herunterwärts gleichwie Feuer, aber oben über seinen Lenden war es lichthelle, wie das Leuchten von Glanzerz. (Hes. 8,2) Sein Herz ist klar wie Kristall auch in seinen sichtbarsten Gerichtstaten; rein ist die Flamme, mit der er seine Feinde verbrennt. Er ist heilig auch in der verzehrendsten Feuergestalt. Stephen Charnock † 1680.
  Heilig ist er. Keine Eigenschaft Gottes wird so laut und mit solcher Feierlichkeit verkündigt und so häufig von den Engeln, die vor seinem Throne stehen, gepriesen wie gerade diese. Vergl. Jes. 6,3 und Off. 4,8, wo seine Herrschermach als des HERRN der Heerscharen nur einmal, eine Heiligkeit aber dreimal genannt wird. Hören wir in irgendeinem biblischen Lobgesang eine andere göttliche Vollkommenheit dreimal wiederholt? Wo lesen wir den Ruf: Du Ewiger, Ewiger, Ewiger, oder Du Treuer, Treuer, Treuer, HERR der Heerscharen? Welche andre seiner Eigenschaften auch übergangen werden möge, von dieser soll der Mund der heiligen Engel und der seligen Geister im Himmel allezeit überströmen. - Wie diese Eigenschaft Gottes eine alle andern Eigenschaften überstrahlende Herrlichkeit an sich hat, so ist sie auch die Herrlichkeit, die Zier aller andern. Wie sie die Herrlichkeit der Gottheit ist, so auch die Herrlichkeit aller Eigenschaften der Gottheit. Wie alle Eigenschaften Gottes schwach sein würden, wenn nicht die Allmacht sie stützte, so wären sie alle auch nicht schön, wenn nicht Heiligkeit sie zierte. Könnte diese befleckt werden, so verlören auch die übrigen ihre Ehre und ihre erfreuliche Wirksamkeit, gerade wie die Sonne in demselben Augenblicke, da ihr Licht verlöschte, auch ihre Wärme, ihre Macht, ihre Leben weckende und erhaltende Kraft einbüßen würde. Wie die Lauterkeit des Herzens dasjenige ist, was allen Tugenden eines Christen erst ihre strahlende Schönheit verleiht, so ist die Reinheit der Lichtglanz jeglicher Eigenschaft der Gottheit. Seine Strafgerechtigkeit ist eine heilige Gerechtigkeit, seine Weisheit eine heilige Weisheit, sein Arm der Macht ein heiliger Arm (Ps. 98,1), sein Verheißunswort ein heiliges Wort (Ps. 105,42). Heiligkeit und Wahrhaftigkeit sind in ihm vereinigt (Off. 6,10). Sein Name, das ist alle seine Eigenschaften in ihrer Vereinigung, ist heilig. Stephen Charnock † 1680.


V. 4. Die Auffassungen und Einteilungen dieses Verses sind sehr verschieden. Wir heben zwei heraus. Man kann die ersten Worte von V. 4 noch von dem "Mögen sie preisen" V. 3 abhängen lassen, über das dann als Zwischenruf (eines zweiten Chors) gedachte "Er ist heilig" hinweg, so dass V. 3.4 also lauten: Mögen sie preisen deinen Namen, groß und furchtbar - "heilig ist Er (Jehovah) " - und die Macht des Königs, der das Recht liebt! Du hast gerechte Ordnung aufgerichtet; Recht und Gerechtigkeit hast Du an Jakob geübt. So Bäthgen. Fasst man dagegen V. 4 als ein zusammengehörendes Ganzes, so wird man ihn mit Delitzsch übersetzen: Und eines Königs Gewalt, der das Recht liebt, hast Du festgestellt in Geradsinnigkeit; Recht und Gerechtigkeit hast Du in Jakob vollzogen. Im ersteren Fall wird unter dem König Jehovah selber, im letzteren der theokratische Herrscher verstanden. "Er ist heilig" bezieht man wohl am besten auch V. 3 auf Jehovah. - James Millard
  Wir können aus unserem Vers drei Stufen im Entwicklungsgange guter Grundsätze entnehmen: das Recht lieben, gerechte Ordnung aufrichten (als Gesetz), und Recht und Gerechtigkeit vollziehen. (Siehe den Grundtext.) Diese drei Stücke entsprechen dem Wesen Gottes und treten in seinem Walten zu Tage. Sie sollen sich auch in unserem Denken und Handeln sowohl im privaten wie im bürgerlichen Leben wiederfinden. Nach Charles A. Davis 1874.


V. 6. Das Gesicht des dritten Sanctus (V. 6-9) blickt in die Geschichte der vorköniglichen Zeit. Der Dichter beruft sich dafür, dass Jehovah ein lebendiger und in Gnade und Gericht sich bewährender Gott ist, auf drei Heroen der Vorzeit und deren urkundliche Erlebnisse. Die Verteilung der Prädikate auf die drei ist wohl bedacht. Mose war auch ein gewaltiger Beter, denn mit seinen zum Gebet emporgehobenen Händen schaffte er seinem Volke Sieg über Amalak (2. Mose 17,11 f.) und stellte sich ein ander Mal vor den Riss und rang es von Gottes Zorne und dem Untergang los (Ps. 106,23; 2. Mose 32,30-32, vergl. auch 4. Mose 12,13), und Samuel ist zwar der Abkunft nach nur Levit, aber dem Amte nach in einer Zeit des Notstandes Priester, denn er opfert selbständig an Orten, wo wegen Abwesenheit des heiligen Zeltes mit der Lade nach dem Gesetzesbuchstaben nicht geopfert werden durfte, baut in Rama, seinem Richtersitze, einen Altar und hat bei den Gottesdiensten auf der "Höhe" daselbst eine mehr denn hohepriesterliche Stellung, indem das Volk die Opfermahlzeiten nicht beginnt, ehe er die Opfer gesegnet (1. Samuel 9,13). Aber der Charakter des gewaltigen Beters wird bei Mose und zumal bei Aaron, bei dem an solche Interzessionen (Fälle von mittlerischem Eintreten), wie 4. Mose 17,12 f. [16,47 f.] gedacht sein mag, durch den des Priesters überwogen. Mose ist sozusagen der Urpriester Israels, indem er zweimal auf ewige Zeiten grundlegliche priesterliche Akte vollzogen, nämlich bei der Bundesweihe unten am Sinai die Blutsprengung 2. Mose 24 und bei der Priesterweihe das gesamte, für die geweihte Priesterschaft musterbildliche Ritual 3. Mose 8; auch war er es, der vor der Priesterweihe den Dienst im Heiligtum versah: die Schaubrote auslegte, den Leuchter herrichtete und auf dem goldenen Altar räucherte, 2. Mose 40,22-27. Und Aaron ist der erste durch Mose bestellte Priester, der Vater der Priesterschaft, mit welchem das gotterkorene mittlerische Priestertum seinen Anfang genommen. Bei Samuel hingegen wird der Charakter des gottesdienstlichen Mittlers durch den des gewaltigen Beters überwogen: er erflehte Israel den Sieg von Ebenezer über die Philister 1. Samuel 7,8 f. und bekräftigte seine Mahnworte mit dem Wunderzeichen, dass es auf seinen Ruf zu Gott mitten in wolkenloser Zeit donnerte und regnete 1. Samuel 12,16-18, vergl. Sirach. 46,16 f. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Aben-Ezra nennt Mose den Priester der Priester, und Philo schließt das Leben Moses mit den Worten: Das war das Leben und der Tod Moses des Königs, Gesetzgebers, Propheten und obersten Priesters. John Trapp † 1669.
  Das Wort Priester wird nicht nur als Amtstitel der levitischen Priester gebraucht; es wird auch auf Melchisedek und andere angewandt. Mose wird hier unter Gottes Priester gerechnet in Übereinstimmung mit der wahren Idee von dem Priester als dem verordneten Repräsentanten der Liebe und Gnade Gottes - einem Manne, der Gottes Sache vertritt, wiewohl er zum Besten der Menschen handelt. Robert Baker Girdlestone 1871.
  Im gewöhnlichen Sinne war nur Aaron Priester, aber auf Grundlage desselben erhob sich ein anderer geistigerer Sprachgebrauch, nach welchem alle diejenigen Priester genannt wurden, die das Wesentliche des gewöhnlichen Priestertums (wenn auch nicht seine Äußerlichkeiten) besaßen, die innige Verbindung mit Gott, den freien Zutritt zu dem Throne der Gnade, die Gabe und Vollmacht der Fürbitte. Dieser geistigere Sprachgebrauch findet sich schon im Gesetze selbst, vergl. 2. Mose 19,6, wo zu ganz Israel gesagt wird: Ihr sollt mir sein ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.


V. 6-9. Absichtlich sagt der Dichter: unter seinen Priestern - unter seinen Betern. Diese dritte zwölfzeilige Strophe gilt nicht den drei insbesondere, sondern dem zwölfstämmigen Priester- und Beter-Volke, zu dem sie gehören. Denn V. 7a (in Wolkensäule redete er zu ihnen) kann nicht von den drei gemeint sein, da es, ausgenommen einen einzigen Fall, 4. Mose 12,5, immer nur Mose, nicht Aaron, geschweige Samuel ist, mit welchem Gott solchergestalt verhandelt. Das "zu ihnen" geht auf das Gesamtvolk, welches 2. Mose 33,7 ff. mit seinen Anliegen an die durch Mose vermittelte Gottesoffenbarung aus der Wolkensäule gewiesen wird. So wird denn auch der Schluss von V. 6 von den drei mit Einschluss des Volkes zu verstehen sein, welches sie mittlerisch vertraten. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 7. In Wolkensäule redete er zu ihnen, die da beobachteten seine Zeugnisse. Ein Blick auf V. 8 zeigt, dass in Israel Gute und Böse, Gutes und Böses unterschieden werden. Gott erhörte die, welche erhörlich beten konnten. Prof. Frz. Delitzsch † 1890.


V. 8. Ein vergebender Gott warst du ihnen und ein Rächer ihrer Taten. (Grundtext) Der in Christo geschlossene Bund ist nicht ein Bund mit Werken, sondern mit Personen; darum fährt Gott fort, die Personen zu lieben, obgleich ihre Werke oft hassenswert sind, und vertilgt aus ihnen, damit seine Liebe gegen sie Bestand haben könne, das, was er hasst, vertilgt sie selber aber nicht. Ein Mensch, der ein Glied hat, das schwärt, liebt es als sein eigen Fleisch, wiewohl er den Eiter und Stank, der darin ist, verabscheut; darum schneidet er das Glied nicht alsbald ab, sondern reinigt es täglich und legt ein Pflaster auf, das das Böse herausziehen soll. Thomas Goodwin † 1679.
  Nicht von leichter Bestrafung, sondern von Rächen ihrer bösen Taten wird geredet, zu zeigen, dass Gott die Sünde als Sünde hasst und nicht etwa nur, wenn und weil ausnehmend schlechte Personen sie begehen. Vielleicht hätte, wenn ein ganz gottloser Mensch die heilige Lade berührt hätte, die Hand Gottes diesen nicht so schnell getroffen. Wo aber Usa, den wir nach seiner Sorge um die wankende Lade doch für einen um Gott eifernden Mann ansehen dürfen, den Glaubensgehorsam verlässt, da schlägt Gott ihn zur Seite der Bundeslade nieder (2. Samuel 6,7). Und unser Heiland hat die Pharisäer kaum so hart gescholten, sich nicht so schroff von ihnen gewandt wie von Petrus, als dieser ihm einen fleischlichen Rat gab, der dem, worin sich die göttliche Heiligkeit aufs erhabenste offenbaren sollte, nämlich dem Sterben Christi, widersprach. (Mt. 16,23). Da nennt Jesus ihn einen Satan, zeichnet ihn mit einem Namen, der noch schärfer ist als der Name Teufelssöhne, mit welchem er die Pharisäer brandmarkte (Joh. 8,44). Solch schrecklichen Namen hat er außer Petro nur noch dem Judas gegeben (Joh. 6,70 Teufel), der sich auch zu ihm bekannt hatte und der Jüngerschar eingereiht war. Ein Gärtner hasst das Unkraut umso mehr, wenn es sich in einem Beet sonderlich kostbarer Blumen findet. Stephen Charnock † 1680.


Homiletische Winke

V. 1. 1) Der Psalmist verkündigt die Tatsache, dass der HERR König (worden) ist. 2) Der Psalmist fordert auf zur Anerkennung dieser göttlichen Herrschaft. In den Herzen sollte diese anerkannt werden, denn dort vor allem will Gott König sein. Alle Sterblichen haben Ursache, vor ihm, der allein Unsterblichkeit hat, zu erbeben, sonderlich die Gottlosen. 3) Der Psalmist deutet an, dass Gott trotz seiner Herrschermacht und in seiner Herrscherglorie nahbar ist. Seine Herrlichkeit ruht auf dem Gnadenstuhl, denn dort sind die Cherubim, die Throndiener des Höchsten. 4) Der Psalmist beschreibt die Wirkung der göttlichen Herrschaft, die starken Erschütterungen (zittern, beben) sollen die Menschen dazu bewegen, den König, vor dem die Cherubim sich neigen, zu fürchten und ihm zu gehorchen, und seine Gnade zu suchen, in welche Engel gelüstet zu schauen. William Durban 1874.
  1) Wo Gott thront: auf dem Gnadenstuhl, über den Cherubim. Dort hört er Gebet und Bekenntnis und gibt Heil. 2) Die Wirkung, die von dem göttlichen Throne ausgeht: die Welt bebt - bewegt von Anbetung, Reue, Flehen um Gnade usw. E. G. Gange 1874
V. 2. Der HERR ist groß zu Zion: 1) in der Offenbarung seines Wesens, denn alle seine Vollkommenheiten enthüllen sich hier abseitiger als in der Schöpfung, auf dem Sinai oder in der Engelwelt; 2) in seinen dort zur Erlösung der Sünder geschehenen Taten; 3) in den Erweisungen seiner Liebe gegen seine Erlösten. George Rogers 1874.
  Der Herr ist groß zu Zion: 1) an Herablassung (Ps. 132,13), 2) an Herrlichkeit, 3) an Menge der Untertanen (Ps. 87), 4) an Reichtum des Segens, den er austeilt, 5) an Macht und Gewalt, die er ausübt. William Jackson 1874.
V. 3. Die Ehrfurcht gebietende Größe Gottes: ("dein großer und furchtbarer Name") ist verbunden mit Heiligkeit und preiswürdig.
V. 5. Erhebet den HERRN, unseren Gott: 1) Warum? Um deswillen, was er euch ist, was er für euch getan und euch zugesagt hat. 2) Wie? Im Lieben, Sinnen, Flehen, Reden, Bekennen, Verleugnen, Mitarbeiten. William Jackson 1874.
  Bei der Anbetung Gottes sei vereint treuliebende Begeisterung, die den HERRN erhebt, ihn frohlockend preist, und demutsvolle Schüchternheit, die sich zu seiner Füße Schemel niederwirft. Wir haben allen Grund zu solcher Anbetung, denn Er ist heilig. Charles A. Davis 1874.
V. 6.7. 1) Gebet. Mose der Prophet, Aaron der Priester, Samuel der Richter: sie riefen an usw. 2) Bestätigung des Gebets durch Gott: er erhörte sie, redete zu ihnen. 3) Bestätigung des Gebets durch die Beter selbst: sie hielten seine Zeugnisse usw. George Rogers
V. 7. Die Offenbarung in der Wolke, oder was Gott in der Wolkensäule Israel vorbildlich anzeigte: 1) dass Gott willens sei, mit dem Menschen zu verkehren; 2) dass der sündige Mensch nicht Gott sehen und doch leben könne; 3) dass Gott sich verhüllt enthüllen, sich in Fleisch kleiden werde, wie er sich im Schattenbund mit der Wolke umkleidete; 4) dass Gott des Menschen Zuflucht, Schutz und Führer sein werde; 5) dass Gott, geoffenbart im Fleisch, sie in das gelobte Land, die himmlische Heimat, einführen werde. Charles A. Davis.
V. 8b. Gnade und Gericht, oder das Meer von Glas mit Feuer gemengt. Charles A. Davis.
  Beachte, 1) dass Gottes Heimsuchung der Sünde seine Vergebungsgnade nicht ausschließt; 2) dass Gottes Vergebungsgnade nicht die Heimsuchung der Sünde ausschließt. Stephen Bridge 1852.
V. 9. Der HERR unser Gott. Eine köstliche Predigt könnte sich aus der Betrachtung folgender Fragen ergeben: Wie fern ist Gott unser, und in welchen Beziehungen steht er zu seinem Volke?

Fußnoten

1. So übersetzt die engl. Bibel. (Vergl. die LXX.) Dann wäre die Stärke des Königs gesetzt für: der starke König. Das ist kaum haltbar. Übersetzt man aber, wie es natürlicher ist: und Macht des (oder eines) Königs, der das Recht liebt, so ist es ein Satzteil, den man entweder mit Überspringen des Refrains "Heilig ist er" zu dem Vorhergehenden: Mögen sie preisen, oder zu dem Nachfolgenden: hast du festgestellt billiglich, ziehen muss.