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Buch-Rezension: Paulus im Kampf gegen den Schleier - Eine alternative Auslegung von 1. Korinther 11,2-16

Paulus im Kampf gegen den Schleier

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Ohne Zweifel gehört Mut dazu, sich dem 11. Kapitel des ersten Korintherbriefes zu stellen, den "vielleicht schwierigsten Text des Neuen Testamentes, der nicht nur ein Heer von Auslegungen hervorgebracht hat, sondern in dem fast bei jedem Vers ein eigenes, in der Literatur stark umstrittenes Problem liegt" (S. 47f). Thomas Schirrmacher legt nun "nach langem Zögern" eine alternative Auslegung vor, für die er von vornherein viele Missverständnisse befürchtet (S. 13).

Seine Hauptthese besteht in der Annahme, dass es sich bei einem großen Teil des Textes (Verse 4-9 bzw. 10) um Aussagen der Korinther handle, die Paulus ironisch widerlegen würde, was Thomas Schirrmacher durch eine ungewöhnliche Übersetzung der Verse 13-15 untermauert: "Urteilt bei euch selbst! Es ist anständig, dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet! Die Natur lehrt euch nicht, dass, wenn ein Mann langes Haar hat, es eine Schande für ihn ist, wenn aber eine Frau langes Haar hat, es eine Ehre für sie ist. " Damit sagt er praktisch das Gegenteil von dem, was der Bibelleser an dieser Stelle gewöhnlich vorfindet.

Dass der Verfasser sehr experimentierfreudig ist, geht nicht nur aus dem Inhalt seines 165 Seiten umfassenden Buches hervor, sondern auch aus dessen Gliederung. Wenn man gewohnt ist, ein Buch hintereinander zu lesen, wird man auf viele Wiederholungen stoßen. Im ersten Kapitel stellt der Verfasser seine Thesen vor, im zweiten diskutiert er die Problematik und behandelt im dritten die Thesen noch einmal ausführlich. Im 4. Kapitel versucht er, seine Hauptthese, die Zitattheorie, zu beweisen und diskutiert schließlich noch einige andere "Frauentexte" des Neuen Testaments. Zweimal listet er eine optisch imposante Reihe von Vertretern der Zitattheorie auf (beim zweiten Mal in Bezug auf 1Kor 14,34-36). Allerdings kommt die Zahl dadurch zustande, dass fast jeder Autor mehrmals erwähnt wird. Auch sich selbst führt der Verfasser in der ersten Liste dreimal auf. Bemerkenswert ist, dass sich unter den neun Anhängern der Zitattheorie vier Frauen finden.

Nun ist die Übersetzung der Verse 13-15 formal zwar so möglich, wird aber weder von einer bekannten Bibelübersetzung, noch von einem Herausgeber eines wissenschaftlich bearbeiteten griechischen Neuen Testaments, vor allem aber nicht durch den Kontext unterstützt. Der ganze Zusammenhang spricht eigentlich gegen eine Wiedergabe der Verse als Aussagesätze ("Es ist anständig, dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet!"), es sei denn, man setzt die vom Verfasser vertretene Zitattheorie voraus.

Dass Paulus die Verse 4-9 als Meinung der Korinther zitiert, geht aus dem Text selbst in keiner Weise hervor, im Gegenteil: Es ist viel sinnvoller anzunehmen, dass die Aussagen des Paulus von V. 3-5 noch unter der Aussage " Ich will aber, dass ihr wisst! " stehen, und anschließend von ihm begründet werden, denn jeder der folgenden Verse bis einschließlich V. 12 beginnt mit "denn", "darum" oder "dennoch". Die Meinung des Verfassers, dass in V. 10 bzw. 11 plötzlich wieder die Argumentation des Paulus beginne, ist in diesem Zusammenhang nicht einsichtig zu machen. Außerdem hat Paulus das Gedankengut der Korinther sonst immer klar kenntlich gemacht und dann jeweils eine deutliche Widerlegung angefügt. Zum Beispiel Kapitel 1,11f: " Es ist mir ... bekannt geworden, ... dass Streitigkeiten unter euch sind. Ich meine aber dies ...". Kapitel 7,1: " Was aber das betrifft, wovon ihr mir geschrieben habt, so ist es gut ...". Kapitel 8,1: " Was aber das Götzenopferfleisch betrifft, so wissen wir ...". Kapitel 15,12: " Wenn aber gepredigt wird, dass Christus aus den Toten auferweckt sei, wie sagen einige unter euch, dass es keine Auferstehung der Toten gebe? " Im 11. Kapitel jedoch lässt der Text selbst in keiner Hinsicht erkennen, dass Paulus hier die Korinther zitiert. Eine solche Annahme ist deshalb nicht nur willkürlich, sondern könnte die Tür für ein gefährliches hermeneutisches Prinzip öffnen. Wenn man nämlich derartige Vermutungen an andere Texte heranträgt, könnte man unter Umständen das Gegenteil von dem herauslesen, was dasteht. Bei diesem Text des Paulus mit seinen für den modernen Menschen unangenehmen Konsequenzen scheint das aber beabsichtigt.

Der Leser von dieser oder anderen Auslegungen zu 1Kor 11 fragt sich schon, unter welchen Voraussetzungen die jeweilige Auslegung überhaupt begonnen wurde. Bei den meisten hat man den Eindruck, dass bestimmte, schon vorher feststehende Meinungen mehr oder weniger wissenschaftlich oder plausibel belegt werden sollen. Einerseits sind diese Meinungen durch den Zeitgeist bestimmt, denn mehr als 1800 Jahre lang war diese Frage kaum ein Problem. Andererseits sind die Auslegungen durch bestimmte Traditionen so stark beeinflusst, dass nur eine Bestätigung der betreffenden Praxis herauskommen kann und man den Eindruck hat, die Verfasser haben die Probleme des Textes noch nicht einmal verstanden. Sehr selten findet sich die Haltung, möglichst unabhängig von Zeitgeist und Tradition aufrichtig zu fragen, was der Text wirklich sagt und dann auch entsprechende Konsequenzen vorzuschlagen.

Auch wenn man sich seiner These nicht anschließen kann, sollte man Thomas Schirrmacher dankbar sein, dass er den Mut gehabt hat, diesen schwierigen Text anzugehen und dabei die immensen exegetischen Probleme bewusst gemacht zu haben. Dass er seine Zitattheorie noch mit einigen anderen Texten plausibel zu machen versucht, um sie schließlich auf 1Kor 14,34-35 anzuwenden, wodurch er das dortige Schweigegebot elegant außer Kraft setzen kann, ist von seiner Sicht aus gesehen nur konsequent. Er hat versucht, auf bibeltreuer Basis eine alternative Auslegung zu 1Kor 11 vorzutragen. Die meisten anderen evangelikalen Autoren stimmen zwar der Auslegung zu, dass Paulus die Frauen zum Tragen einer Kopfbedeckung verpflichtet. Sie lehnen dies dann aber als Gebot für die heutige Zeit ab, weil sich unsere kulturelle Situation geändert habe. Das lässt sich meiner Meinung nach aber weder aus dem Text noch aus der Zeitgeschichte sauber begründen.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Karl-Heinz Vanheiden
 Kategorie: Sonstiges

  Verlag: Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR)
  Jahr: 2002
  ISBN: 978-3933372451
  Seiten: 130
 €    Preis: 14,95 Euro

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