Evangelium - geschichtliche Reihenfolge

Welches von den vier Evangelien bringt die geschichtliche Reihenfolge der Berichte?

Antwort

Die Frage nach der geschichtlichen Reihenfolge setzt den Gedanken voraus, dass die Evangelien etwas wie eine Beschreibung des Lebens des HERRN seien. Dem steht abweisend gegenüber, dass Johannes feststellt: „Wenn alles, was Jesus getan hat, einzeln niedergeschrieben würde, so würde nach meinem Dafürhalten die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen.

Das sagt deutlich, dass sowohl seine eigene Schrift über den HERRN wie die Schriften der anderen nur eine Auswahl von dem geben, was über den HERRN, über Sein Tun und über Seine Reden gesagt und geschrieben werden könnte.

Dass über 40 Fälle gleichermaßen von Matthäus, Markus und Lukas mitgeteilt werden, zirka 8 von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, dass außerdem manche Begebenheiten von 2 oder 3 der 4 Evangelisten berichtet werden, aber manchmal unter einem anderen Gesichtspunkte und in anderer Reihenfolge, zeigt an, dass ein und dieselben Mitteilungen in bestimmter Absicht ausgewählt wurden. Wenn etliche Begebenheiten nur von einem der vier berichtet werden, so wird es noch augenscheinlicher, dass ein jeder eine besondere Aufgabe hatte.

Wenn man sich in den Geist eines jeden der vier Schriftsteller hineingelesen hat und dann alle vier Berichte zusammen auf sich wirken läßt, so merkt man, dass man es eigentlich nicht mit der Lebensbeschreibung einer Person zu tun hat, sondern dass man sich vor die Persönlichkeit selbst gestellt findet, dass uns eine Persönlichkeit geoffenbart wird.

In Matthäus unterscheiden wir den König-Messias der Juden, in Markus den Knecht Jehovas, der als Sohn Gottes Sich zu dieser Stellung erniedrigt, in Lukas den Sohn des Menschen, der kam, um zu suchen und zu erretten, was verloren ist, was in mancher Szene, die nur er berichtet, auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. In Johannes stehen wir unvermittelt vor dem Fleisch gewordenen Wort, das bei Gott war und Selbst Gott ist. Es ist nicht überraschend, dass wir darum, weil Er das Wort, der Offenbarer Gottes ist, weniger Taten als vielmehr Reden haben.

Selbstverständlich ist der HERR in jedem der vier Evangelien neben dem Charakter, der Ihm in demselben hervorstechend eigen ist, auch das, als was Er in den jedesmaligen drei anderen geschaut wird. Denn in den Schriften des Alten Testaments wird von Ihm als alle vier Charaktere in sich vereinigend geweissagt. Das göttlich Große ist, dass Er, nachdem Er dagewesen ist, der Erinnerung, dem Gedächtnis (2. Tim. 2,8), dem Glauben (Joh. 14,1) unter je einem der vier Charaktere übergeben worden ist.

Wenn Er in Matthäus in dem Charakter des König-Messias und des Gott-mit-uns in Verbindung mit dem des Propheten und des leidenden und danach verherrlichten Knechtes Jehovas dargestellt werden soll, werden wir erstaunt sein, zu finden, dass Matthäus sich souverän über die Zeitfolge hinwegsetzt und zeitlich auseinanderliegende Taten und Reden in Gruppen zusammenfaßt, um in ihrer gedrängten Kürze großartige Gemälde zu entwerfen, wie wir sie aus den Propheten, allermeist aus Jesaja, gewohnt sind? Z. B. Mt. 4,23-25 und Kap. 8 und 9 für Taten entsprechend Jes. 35,5.6 und 53,4; Mt. Kap. 5-7 für Lehren, nämlich, dass Er die Vielen zur Gerechtigkeit weise, d. i. ihnen praktische Unterweisung darin gebe nach Jes. 53,11 und Ps. 40,9. Wir werden es nicht anders erwarten.
Das Evangelium des Matthäus kann also nicht das sein, nach dem gefragt wird.

Wenn Lukas Ihn besonders als Den darstellen soll, der als Sohn des Menschen den Menschen da sucht, wo er ist, die geheimen Beweggründe des Menschenherzens offenlegt und gleichzeitig die vollkommene Gnade Gottes zum Ausdruck bringt, die dem Herzen so wohl tut, oder wenn Er zwei sich ergänzende, aber zeitlich nicht nebeneinander liegende Tatsachen ins Licht stellen will, wie das Hören des Wortes Gottes und das Gebet, Lk. 10,38 bis 11,13: wundern wir uns darüber, dass der Geist Gottes Sich die Freiheit nimmt, Sich zweckshalber nicht an die zeitliche Reihenfolge zu binden? Wir Menschen machen es gegebenenfalls ebenso. Wenn Lk. Kap. 1,3 von „der Reihe nach schreiben” spricht, so meint er eben der Reihe nach so, wie der Zweck es ihn tun heißt. Das Evangelium nach Lukas ist also auch nicht das, nach welchem gefragt wird.

Bei Johannes dienen die wenigen geschichtlichen Ereignisse allermeist als Anlaß, längere, in sich abgeschlossene Reden des HERRN einzuführen. So lag für ihn kein Grund vor, die Zeitfolge zu verlassen. Zur Darstellung der persönlichen und göttlichen Herrlichkeit des HERRN in Wunderzeichen und Reden brauchte er das nicht. Da aber der Aufbau seines Evangeliums von dem Aufbau der drei anderen so grundverschieden ist und er so wenig von dem Tun des HERRN berichtet, ist sein Evangelium eigentlich auch nicht die Antwort auf die gestellte Frage.

So wird das des Markus das erfragte sein. Denn eins wird doch nach dem genannten Gesichtspunkt angelegt sein. Und von einem Diener oder Knecht erwartet man, dass er die ihm aufgetragene Arbeit eines nach dem anderen in rascher Folge tue. So ist es auch in diesem Evangelium. „Alsbald” ist das Kennzeichnende der Geschehnisse. Man nimmt auch gern davon Kenntnis, dass die Arbeit eines Knechtes gründlich getan sei. Auch das trifft zu. Das Gehaben, Tun und Reden des HERRN zieht in präziser, packender, Einzelheiten darbietender Form an uns vorüber. Man hat bei der Lektüre bald den Eindruck: Hier liegt zeitliche Reihenfolge vor.
Von den frühesten Zeiten an war das Interesse an der vorliegenden Frage wach. Seit Erfindung des Buchdrucks sind in alten Bibelausgaben Evangelienharmonien zu finden. Eine mir vorliegende aus dem 18. Jahrhundert deckt sich mit neueren und mit den hier gemachten Ausführungen: Johannes und Markus chronologisch folgerichtig; Lukas weniger; Matthäus am allerwenigsten.

Wenn Markus allenthalben als der die Zeitfolge genau Einhaltende hingestellt wird, so muss doch gesagt werden, dass man nicht behaupten darf, Lukas und Matthäus müßten sich an der Hand von Markus zurechtstellen lassen, wenn man sie der Zeitfolge nach ordnen wollte. Es mögen sich ähnliche Dinge mehrfach ereignet haben, von denen wir meinen, es sei ein und dasselbe Geschehnis. Ein Beispiel: Ist der Besuch in der Synagoge in Nazareth in Lk. 4 derselbe wie der in Mk. 6 und Mt. 13? Für solche, die der Meinung sind, die Dienstzeit des HERRN habe 2½ Jahre gedauert, ist es ein und derselbe Besuch; für die anderen, die in der Mehrzahl sind und wohl recht haben, umfaßte die Dienstzeit des HERRN 3½ Jahre, und dann ist das in Matthäus und Markus Berichtete ein späteres Geschehen als das in Lk. 4. Noch ein Beispiel: Lk. 9,51.52; 13,22; 17,11: sind das drei Reisen nach Jerusalem oder zwei, oder beziehen sich alle drei Stellen auf die eine letzte Reise? Alle drei Annahmen finden ihre Vertreter. Es sind triftige Gründe da, welche weiter auszuführen hier nicht der Ort ist, die nahelegen, dass Lukas in allen drei Stellen ein und dieselbe Reise im Auge hat. Und hatte Markus, Kapitel 5,22 (= Lk. 8,41) das eine Mal die Zeitfolge verlassen, oder tut das Matthäus, Kapitel 9,18?
Wenn ich mich unterfange, als Antwort auf die gestellte Frage zu sagen: Markus ist es, der die geschichtliche Reihenfolge der Berichte bringt, so füge ich allen Ernstes hinzu: Es ist nicht wichtig, hierüber im Rahmen des Möglichen Bescheid zu wissen; einzig wichtig, heilsam und förderlich dagegen ist, die Persönlichkeit unseres HERRN so zu studieren, wie Gott sie uns auf vierfache Weise in den vier Evangelien offenbart.
Franz Kaupp.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 22 (1937)