Was meint Paulus, wenn er sagt: „Mein Evangelium“?

Was meint Paulus, wenn er sagt: „Mein Evangelium“ (z. B. Röm. 16,25)?

Antwort A

Wir finden diesen Ausdruck des Apostels Paulus dreimal in seinen Schriften: Röm. 2,16; 16,25 und 2. Tim. 2,8. Nur der Apostel Paulus, soviel ich weiß, gebraucht diesen Ausdruck. Auch nennt nur er sich nach Kol. 1,23-25: „Diener des Evangeliums und Diener der Gemeinde, um das Wort Gottes zu vollenden”, obwohl er nicht der letzte Schreiber war, denn viele Teile des Neuen Testamentes sind später als seine Briefe geschrieben, z. B. Judas und die Johannesbriefe und die Off. Joh. u. a. m.
Aber auch nur dieser Apostel litt nach Kol. 1,24 in einer Weise, wie die anderen Apostel wohl kaum gelitten haben; sie erfreuten sich einer gewissen Ruhe, obwohl sie um Jesu willen auch verfolgt wurden; aber Paulus wurde wie ein gehetztes Wild von Ort zu Ort gejagt, nirgends war er seines Lebens sicher; besonders war er der Gegenstand des Hasses der Juden, wie die Apostelgeschichte uns so klar zeigt. Warum dies alles? fragen wir.

1. Weil er wie kein anderer Apostel das klare Zeugnis gibt, dass alle Menschen ohne Unterschied (Röm. 3), ob Jude oder Heide, fromm oder gesunken, religiös oder gottlos, hoch oder niedrig, nahe oder fern (d. h. den Vorrechten des irdischen Volkes Israel), verlorene Sünder waren. D. h. er ignorierte durch sein Evangelium aufs gründlichste die Vorzüge des natürlichen Menschen vor Gott. Vielmehr predigte er, dass es nur allein darauf ankomme, wie man sich als Nachkomme des ersten Adam - für einen solchen Nachkommen Adams gibt es keine nationalen Vorrechte wie bei den Junden, sondern es wird erklärt, dass eben alle Menschen Sünder sind -, dem letzten Adam, dem zweiten Menschen aus dem Himmel, Jesus Christus, gegenüber verhalte. Diese Tatsache erregte besonders den Zorn der Juden (vgl. 1. Thess. 2,14-16), aber auch heute noch solcher Menschen unter uns, welche noch etwas auf ihren Stand, ihre Bildung, Weisheit und Frömmigkeit geben. Denn nach dem Evangelium des Paulus „kann sich vor Gott kein Fleisch rühmen”, d. h. nichts von dem, was soeben genannt ist an Gütern des ersten, des natürlichen Menschen. Sondern „wer sich rühme, der rühme sich des HERRN” (1. Kor. 1,29-31). Nur der zweite Mensch, Christus, der HERR, hat einen Platz vor Gott; und wie kostbar ist es, dies zu wissen, dass wir nichts sind noch haben, dass wir von Natur arme Bankrotteure sind, aber in Christo alles sind und besitzen! Haben wir dies erkannt? Hast du dies erkannt, lieber Leser?

2. Der Apostel Paulus entfaltet die Ratschlüsse Gottes, die Er in Christo gefaßt hat vor Grundlegung der Welt. Darum konnte der Apostel Paulus schreiben, dass durch ihn das Wort Gottes vollendet worden sei (Kol. 1,25), obwohl er, wie wir schon vorher bemerkt haben, nicht der letzte Schreiber war. Dies bedeutet, dass es eine höhere Offenbarung, als sie uns Gott durch Paulus gegeben hat, nicht gibt. In anderen Worten: Gott hat Sein ganzes Herz gleichsam ausgeschüttet durch Jesum Christum, so dass wir alles in Ihm haben, und befestigt werden nicht durch das, was wir tun können, sondern nach dem, was Christus getan hat, und nach dem, was Er ist. Und dies alles nach den ewigen Ratschlüssen Gottes, in der Herrlichkeit Gottes.

3. Keiner spricht so klar wie Paulus in bezug auf die Nichtigkeit der Menschen, keiner so tief von den ewigen Ratschlüssen Gottes, aber auch keiner hatte gelernt, so zu leiden wie er (der Herr Jesus ausgenommen). Darum konnte er sagen wie keiner seiner Mitapostel: „Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi” (vgl. genau 1. Kor. 11,1 und Kol. 1,24). Dies war sein Evangelium, seine besondere Botschaft, seine besondere Offenbarung. Vergessen wir nicht in diesen flachen, leidensscheuen Zeiten seine besonderen Leiden! Man hat mit Recht gesagt, er sei der Christo ähnlichste Mensch gewesen. Möchten wir solche werden, indem „wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des HERRN anschauen und verwandelt werden nach Seinem Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit als durch den HERRN, den Geist!
K. O. St.

Antwort B

Römer 16,25 stellt Paulus den Unterschied oder Gegensatz zu den verschiedenen Evangelien, die in der Welt verkündigt wurden, dar, und darum auch das Wort „mein Evangelium”. Auch heute werden viele Arten von Evangelien verkündigt nach menschlicher Einrichtung und Betrug Satans. Das Evangelium des Paulus führte die Seele in die Gegenwart Gottes, heraus aus dieser Welt, gelöst von allen Vereinigungen, hin zu der Einheit des Leibes, zu dem Haupte. Es stellt den ganzen Ratschluß Gottes dar. Hier ist der Mensch ganz ausgeschlossen, und allein, was Gott in Seinem Sohn vollbracht hat, wird gepredigt. Sein Evangelium verkündigte eine neue Welt, wo Christus der Mittelpunkt ist. Paulus genoß die Kostbarkeit dieses Geheimnisses, und darum flehte oder wünschte er, dass Gott alle befestigen möchte. Sein Evangelium war für ihn Leben, nicht Amt, Erwerb, Ehre oder dergleichen. Bitten wir den HERRN, dass alle Prediger nach Röm. 16,25 lernen möchten, sein Evangelium zu erkennen, dann würde ihr Dienst Gott wohlgefällig, und das Leben Seiner Kinder anders geführt werden.
H. B.

Antwort C

Der große Apostel konnte mit Recht sagen: „mein Evangelium”. Seine Berufung war eine außergewöhnliche. Er Selbst, der verherrlichte Christus, erschien dem Paulus und gab ihm Seine Botschaft. Der HERR Selbst war der Auftraggeber, indem Er sagte: „Indem Ich dich herausnehme aus dem Volk und den Nationen, zu welchen Ich dich sende, ihre Augen aufzutun, auf dass sie sich bekehren usw.” (Apg. 26,17.18.) Paulus war so erfüllt von der Aufgabe, die ihm geworden war, dass er sich nicht mit Fleisch und Blut besprach noch mit denen, die früher Apostel waren, sondern sich von allen absonderte und in die Stille ging (vgl. Gal. 1,16.17). Das Evangelium der Herrlichkeit war Paulus in ganz besonderer Weise anvertraut, und darum konnte er sagen „mein Evangelium” und „mir, dem Allergeringsten, ist diese Gnade gegeben worden, unter den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen” (Eph. 3,8.9).
B. B.

Antwort D

Im Anfang des Briefes an die Römer teilt der Apostel Paulus mit, dass er ein berufener Apostel, abgesondert zum Evangelium Gottes, sei (1,1). Dieses Evangelium hatte der Apostel durch Offenbarung Jesu Christi empfangen (Gal. 1,12). Wenn er also sagt „mein Evangelium”, so gebraucht er diese Bezeichnung wohl in dem Sinne, wie der Herr Jesus im Evang. Joh. 7,16 sagt: „Meine Lehre ist nicht Mein, sondern Dessen, der Mich gesandt hat.
E. H.

Antwort E

Wenn Paulus von seinem Evangelium spricht, so denkt er zweifellos an das Evangelium in seiner Beziehung zu den Offenbarungen, die ihm gegeben waren, und das er als erster verkündigte. Jede gute Botschaft, die Gott verkündigen ließ, gründete sich auf Christus und Sein Werk, mag sie an Israel in der Wüste, an Israel in den Tagen des HERRN auf Erden oder an uns gerichtet sein.

Dass Unterscheidungen vorhanden sind, beweist schon das Wort, indem es vom Evangelium des Reiches, vom Evangelium der Herrlichkeit usw. spricht.
Obgleich nun die frohe Botschaft aller Zeiten ihren Grund in Christus hatte, so war dieselbe stets in Verbindung mit den Wegen, in denen Sich Gott in den verschiedenen Zeitperioden offenbarte. So öffnete das Evangelium nach der vollendeten Erlösung ein weit größeres Gebiet der Gnade Gottes als das, welches der HERR in den Tagen Seines Fleisches vor Seinem Tode verkündigte.

Das Evangelium, welche der HERR verkündigte, stand mit dem Reiche Gottes in Verbindung (Mk. 1,14). Er brachte Israel die frohe Botschaft, das Reich Gottes in der Person des Erben anzunehmen: Ein Evangelium, das Segnungen auf Erden in sich barg.

Weit umfassender war das Evangelium, das der HERR nach Seiner Auferstehung den Jüngern anvertraute (Mk. 16,15.16). Es umschloss die Errettung (Apg. 2,21.47 u. a.). Die Gläubigen, die das Evangelium annahmen, verwirklichten ihr Errettetsein aus dem ganzen Machtgebiet des Feindes derart, dass sie abgesondert von der Welt alles gemein hatten und ein Herz und eine Seele waren, obgleich die Einheit des Leibes Christi, „das Geheimnis”, noch nicht geoffenbart war.
Das von Paulus verkündigte Evangelium umfaßt nicht nur alles bisher Geoffenbarte, sondern erweitert sich zur Verkündigung der wunderbaren Verbindung der Gemeinde mit Christus in der Herrlichkeit. Es umfaßt den „ganzen Ratschluß” Gottes (Apg. 20,27). Es ist das Evangelium der Herrlichkeit. Das Zentrum ist Christus, der Sohn Gottes. Eine neue Schöpfung - ein neuer Mensch - Christus!

Aus der Apostelgeschichte lernen wir, dass bei der Verkündigung des Evangeliums bis zum Tode Stephanus' Israel in dem Vordergrund stand. Gott handelte noch in Gnade mit Israel als Volk. Aber Israel verwarf die Stimme Gottes in den Propheten, die Stimme des Sohnes, indem sie Ihn töteten, und jetzt auch die Stimme des Heiligen Geistes in Stephanus (Apg. 7,52ff.). Gottes Gnade beruft nun Saulus und bestimmt ihn zum Zeugen auch dessen, was ihm noch geoffenbart werden soll (Apg. 26,16). Nun wurde die Zwischenwand der Umzäunung zwischen Israel und den Nationen abgebrochen (Eph. 2,11-22), und ihm wurde es gegeben, den „ganzen Ratschluß Gottes” zu offenbaren, und sein Evangelium war mit der Weite dieser Offenbarungen in Übereinstimmung.

Nicht als ob Paulus ein anderes Evangelium verkündigte als die anderen Apostel, aber das, was teilweise schon in der Verkündigung Petr. usw. enthalten war, wurde durch Paulus völlig offenbart. - Der HERR hatte zu Seinen Jüngern gesagt, dass der Geist sie in „die ganze Wahrheit” leiten würde, dies geschah in bezug auf das „Geheimnis” durch die Lippen Pauli.

Zu welcher Zeit und in welcher Beziehung wir auch das Evangelium in der Schrift finden mögen, immer ist Christus der Inhalt desselben, aber die Segensbestimmungen sind verschieden, je nachdem es Gott gefiel, in den verschiedenen Verwaltungszeiten Seine Berufung und Seine Ratschlüsse zu offenbaren.
v. d. K.

Anmerkung des Herausgebers

Zu den umfassenden Ausführungen über diesen Punkt möchten wir nur weniges hinzufügen: Nirgends gibt die Schrift dem Gedanken Raum, dass das Israel verkündete Evangelium ein anderes gewesen sei als das den Nationen gebrachte. Das geht aufs deutlichste schon daraus hervor, dass Paulus sich stets zuerst an die Juden wandte bei seiner Predigt und erst, wenn sie ihn abwiesen, ausschließlich zu den Nationen sprach. Und was sagte er diesen? Im Grunde genau das gleiche wie denen aus Israel. Recht deutlich geht dies hervor noch aus dem letzten Kapitel der Apostelgeschichte (vgl. Apg. 28,23 mit 28 und 31); aber die ganze Apostelgeschichte ist voll davon. Ferner ist zu betonen, dass das von Paulus verkündete Evangelium schon deshalb in seinen Grundzügen kein anderes sein konnte als das der übrigen Apostel, weil diese ihn sonst gar nicht anerkannt hätten (vgl. Gal. 1 und 2 und Apg. 15, besonders V. 9). Wäre es anders gewesen, wie hätte dann Paulus in Gal. 1 die verfluchen können, die ein anderes Evangelium predigten (Kap. 1,8), wenn die, welche ein anderes Evangelium verkündeten, die Säulenapostel gewesen wären, die lange vor Paulus göttlich legitimiert waren?!

Aber nicht genug kann hervorgehoben werden, dass die Evangeliumsverkündigung des Paulus, wenn auch auf derselben Grundlage auferbaut und denselben Mittelpunkt habend (Christus) wie die der anderen, umfassender und in ihren Beziehungen, Empfängern (Röm. 16,25.26), Tragweite (vgl. Röm. 2,16), Begleitumständen (z. B. Leiden für Christus, vgl. 2. Tim. 1,8-12 mit Kol. 1,24-29) ausgestalteter, mehr vertraut mit der Herrlichkeit des Christum war, als die bis dahin geübte Verkündigung der guten Botschaft. Man vgl. das Bild einer voll aufgeblühten Rose mit einer mehr oder weniger entfalteten Rosenknospe!


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 1 (1913)