Worauf bezieht sich die zweite Hälfte des Verses 22 in Jeremia 31?

Worauf bezieht sich die zweite Hälfte des V. 22 in Jer. 31? Darf man das Wort vielleicht auch auf die (entrückte) Gemeinde Gottes anwenden?

Antwort

Was ist, in gedrängtester Zusammenfassung ausgedrückt, der Inhalt der Propheten? Nicht dieses: Jehova tut Israel wegen seiner Sünden von Seinem Angesicht weg; Er ruft es aber zu Seiner Zeit in Gnaden wieder zurück? Die 64 Verse der Kapitel 30 und 31 des Jeremia enthalten „das Wort, welches von seiten Jehovas zu Jeremia geschah” (30,1). Man lese sie im Zusammenhang. Ist es nicht ein einziges Wort über den zweiten der als Inhalt des Propheten genannten Punkte? Sollte Kap. 31, Vers 22b nicht im Zusammenhang damit sein? Was lesen wir sonst des öfteren in den Propheten als Begleiterscheinungen der Rückkehr Israels, der abtrünnigen Tochter? Nicht die Tatsache, dass das Kräfte- und Machtverhältnis zwischen den Nationen und Israel sich ins Gegenteil dessen, was bis dahin gewesen war, verschieben wird, nämlich dass die mächtigen Nationen dem bis dahin schwachen, zertretenen Israel unterliegen werden? Um nun aufs Geratewohl aus zwei Propheten etwas herauszugreifen: Siehe Micha 4,12.13 in dem Abschnitt 9-13; Vers 7 in dem Abschnitt 5,2-8; Sach. 10,5 in dem Abschnitt 2-7 (oder bis 12). Der gleiche Gedanke liegt unserer Stelle zugrunde. Die Form, wie er ausgedrückt wird, ist außergewöhnlich, aber umso treffender. Es ist wie einer der Weisheitssprüche, die den Sinn nicht gerade an der Stirne tragen. „Kehre um,” ruft Jehova der Tochter Israel gleichsam zu; „Ich stelle etwas vor dich hin, das dich anziehen kann; brauchst dir nicht bange sein zu lassen darüber, dass du kraftlos bist und deine Feinde stark; ein schwaches Weibliches, wie du es bist, wird einen Mann, einen Starken: mächtige Nationen, umschließen, bedrängen, umgeben, wie ein Heer eine Stadt belagert”.

Zur Erläuterung muss gesagt werden, dass die hier gebrauchten Wörter „Mann” und „Weib” solche sind, die das starke und das schwache Geschlecht ausdrücken, und dass das Wort „umgeben” alle möglichen Arten des Umgebens, Umschließens, Umlagerns zum Ausdruck bringt. - Es wäre etwas Ungeheuerliches, hier die entrückte Gemeinde hereinzubringen. Es ist schon geschehen, muss aber der Unwissenheit betreffs Israels und der neutestamentlichen Gemeinde zugute gehalten werden; wie wenn z. B. als Parallelstelle Off. 21,1.2 in einer Bibelausgabe angegeben wird. Oder wenn gewisse Kirchenväter und ihnen nach auch Moderne es auf die Jungfrau Maria und den Messias, den ihr Mutterschoß umgab, beziehen; oder sogar Rabbiner der alten Zeit in etwas ähnlichem Sinne auch auf den Messias; oder noch andere auf schönes Familienleben inmitten des Israel des Reiches. Alles das ist an den Haaren herbeigeholt und steht nicht in Verbindung mit dem Vorangehenden und Nachfolgenden. Es muss immer festgehalten werden, dass die Gemeinde ein in Gott verborgenes Geheimnis war. Schatten davon sind da im A. T. Solch ein Wort ist aber kein Schatten, sondern ein Spruch, in einem Bilde ausgedrückt, mit einer Spitze (einer Pointe), die erkannt sein will.
F. Kpp.

Antwort des Schriftleiters

Diese hochbedeutsame Antwort wird manchen Leser in Erstaunen versetzen. Es ging mir nicht anders, als ich sie empfing, und es entspann sich dann zwischen dem Verfasser derselben und mir ein längerer sehr intensiver Briefwechsel, in welchem mir besonders an Hand des hebräischen Grundtextes die wahrscheinlichere Richtigkeit obiger Anschauung gegenüber der meinen nahegerückt wurde. Ich war während dieses Briefwechsels auf der Reise im Werk des HERRN und konnte mangels hebräischer Hilfsmittel das Sprachliche nicht so nachprüfen, aber auf Grund genauerer Prüfung des Grundtextes nach meiner Heimkehr neige ich noch mehr wie schon unterwegs dazu, dem Verfasser rechtzugeben, wenngleich die Anschauung manchem absonderlich und umstritten bleiben mag.
Da nun nicht jeder vielerlei deutsche Texte zur Verfügung haben wird, so setze ich zunächst etliche verschiedene zur Vergleichung hierher:

das Weib wird den Mann umgeben” (Luth. und Elberf.)
... ein Weib, das den Mann umgeben wird” (Miniatur)
ein Weib wird einen Mann umschließen” (Allioli)
das Weib wird den Mann beschützen” (van Eß); „schützend umgeben” (Giesebrecht)
das Weib beschirmt den Mann” (Menge)
das Weib wird umgeben (einschließen) den Mann” (aus der franz. Bibel von Osterwald übersetzt)
ein Weib wird umringen einen Mann” (aus dem Engl. übersetzt)
das Weib wird sich (werbend) umtun um den Mann” (Gesenius, Hitzig u. a.).

Alle diese Übersetzungen widersprechen obiger Auslegung ganz entschieden. Zumeist unterstützen sie Anschauungen, wie etwa (was ich seither auch dachte) die in manchen anderen Stellen, z. B. Hosea 2,16, zum Ausdruck kommende Wahrheit, dass das Weib, lies: die einst zurückgekehrte und wiederhergestellte „Jungfrau Israel” (V. 21), ihren Mann, den Messias, umgeben, sich um Ihn scharen, gleichsam als die irdische Braut, das irdische Weib, des Messiaskönigs um Ihn (den HERRN) sein wird, nach Analogie der Verheißung 1. Mose 2,18.22.23. Dass von hier aus nur wenige Schritte (aber gefährliche!) sind zu der Meinung, dass hier das Weib (im Vorbild) die Gemeinde des HERRN ist, die um Ihn versammelt sein wird (Mt. 18,20), und in weiterer Folge die entrückte Gemeinde um ihr verherrlichtes Haupt - das erwähne ich nur beiläufig (um des Fragestellers willen). Natürlich müssen diese letzteren Anschauungen, die Gemeinde betreffend, als schriftwidrig abgelehnt werden, denn die Lehre von der Gemeinde Gottes ist und bleibt ein Geheimnis neutestamentlichen Bodens und ist nur dort enthüllt, wenn auch in Vorbildern im A. T. angedeutet (vgl. Antwort A am Schluß). Israel und die Gemeinde zu vermischen oder zu verwechseln ist ein bekannter Grundirrtum, besonders der neuerer Zeit, und in den Zusammenhang unserer Stelle die Gemeinde hineinzubringen wäre ein schweres Unrecht am Text!

Obige Übersetzungen aber lassen auch solche phantastischen Deutungen zu, wie Antwort A sie zur Orientierung anführt, und die von den oft die einfache Wahrheit der Schrift sehr verdunkelnden „Kirchenvätern” an bis in die neueste Zeit immer wieder in die Stelle hineingetragen sind (vgl. hier z. B. das Gerlach'sche Bibelwerk), wozu der von der „Septuaginta” dem Text untergelegte völlig unwahrscheinliche Sinn vielfach die Anregung gegeben haben mag. Darauf einzugehen führt hier zu weit.
Aber noch einer schon unter den Rabbinern bekannten Anschauung möchte ich hier Raum geben - unter den vielen Deutungen dieser Stelle! -, die Naegelsbach im Lange'schen Bibelwerk vertritt, der übrigens die Meinung von Antwort A (der ich mich als der mich nach dem Grundtext befriedigendsten ja anschließe) auch berührt, aber verwirft. Er übersetzt: „Das Weib wird den Mann umwenden,” d. h. zu sich zurückführen. Er sieht in dem ganzen Zusammenhang das „Wenden”, und so ist auch die Jungfrau Israel „wendisch” (vgl. „wetterwendisch”) oder „sich hin und her wendend”, und Gott bringt nun ein Neues: das Weib wird nicht mehr sich wenden, sondern den Mann, d. h. den HERRN Selbst wird es (wieder) wenden, nämlich zu sich hin, um sich ihrer zu erbarmen. So kunstvoll und interessant diese Auslegung auch ist, so glaube ich nicht, dass sie dem Hebräischen gerecht wird, doch muss ich mir die nähere Begründung meiner Ablehnung hier versagen.

Jedoch obige in Antwort A vertretene Auffassung wird m. E. sowohl dem hebräischen Grundtext am ehesten gerecht als auch dem Zusammenhang, als auch der Tatsache, dass es „ein Neues” ist. wenn nämlich ein schwaches „Weibliches” einen „Starken”, einen Kriegsmann (vgl. 41,16!), „umschließen”, „einschließen” wird. Die Worte „Weib” oder „Weibliches” und „Männliches” (Kriegsmann) sind ohne Artikel, also im Sinne einer allgemein neuen Tatsache, die wie ein Grundsatz sich durchsetzen wird. Hierbei möchte ich noch betonen, dass die Worte für „Weibliches” oder „Schwaches” und „Männliches” oder „Starkes” nicht die von „Mann” und „Männin” in 1. Mose 2,18-24 sind. Es enthält also diese Stelle einen (fast) poetisch-geheimnisvollen Hinweis auf die herrliche Zukunft, in der das jetzt so schwache Israel seine jetzt noch so gewaltigen Feinde völlig überwinden wird.

Wem nun aber diese (mir zumeist zusagende) Auffassung gleichwohl nicht die richtige zu sein scheint, zumal nur die wenigsten sie am Grundtext nachprüfen können, der möge sich aus den verschiedenen genannten und den Umsetzungen die heraussuchen, die ihm der Wahrheit am nächsten dünkt! Denn wo so viele Deutungen vorhanden sind, können wir mangels einer wirklichen Parallelstelle nicht felsenfest behaupten: So ist die Stelle zu verstehen und nicht anders! Wir müssen eben immer weiter forschen und um mehr Licht bitten, bis wir „in Seinem Lichte das Licht sehen” werden. Wer weiß, wie bald uns alle Rätsel, auch die Seines Wortes, klar werden! Bis dahin lasst uns demütig und aufrichtig „suchen”, denn „jeder Suchende findet” (Mt. 7,8), und lasst uns nicht denken oder sagen: „Ach, das ist ja nicht so wichtig!” In des HERRN Wort ist alles wichtig, wenngleich nicht immer jedes Wort, „das durch den Mund Gottes

gegangen und uns zur „Speise” gegeben ist, für unser „stückweises Erkennen” gleich so leicht zu erklären ist. Dennoch:
Das Wort des HERRN ist wahrhaftig, und was Er zusagt, das hält Er gewiß” (Ps. 33,4 nach Luther). Er sei dafür gepriesen!
F. K.


Beantwortet von: Team Handreichungen
Quelle: Handreichungen - Band 13 (1928)