Das neu geborne Kind

Gotthold sah ein Kind, das vor wenig Stunden geboren war, in seiner Wiege liegen und sprach: Wohl haben die lieben Alten gesagt, man sollte ein solches Kind, sobald man es ansichtig würde, küssen, den wundersamen Händen Gottes zu Ehren, die allda auf frischer That ergriffen würden. Ach, wer ist unter den Menschen, der das große Wunder der Weisheit, Güte und Allmacht Gottes an der menschlichen Geburt recht beherzigt und, wenn er hört, daß ein, Kind geboren ist, sich seiner Geburt mit Dankbarkeit gegen seinen Schöpfer erinnert? Und was sag ich von einem Wunder? Hier kommen ihrer viele zusammen. Der wunderbare Gott nimmt etliche wenige Blutstropfen, die in seltsamer Lust verschüttet worden, und verschließt dieselben aufs festeste an einem verborgenen und dunkelen Orte; da bearbeitet er den Menschen mit seinen Händen und bildet ihn im verborgenen so künstlich, daß der Mensch sich niemals genug über sich selbst wird verwundern können; bald überschattet er das zarte Bild so kräftiglich und ernährt es so weislich, daß aller Weisen Witz hierüber erstaunt, und die Gelehrten noch jetzt nicht eins darüber werden können, woher und auf welche Art der Frucht unter mütterlichem Herzen die Nahrung zu ihrem Wachsthum zugeflößt werde; wie süßiglich aber solches geschehen müsse, ist aus den vielfältigen Freudensprüngen, so sie, also zu reden, ihrem Schöpfer und Erhalter zu Ehren thut, abzunehmen. Wenn nun die Zeit der Geburt da ist, so ist die Güte Gottes die beste Hebamme, die den Menschen aus Mutterleibe zieht und der er zu allererst in den Schooß geworfen wird. Ps. 22, 10. 11. Dieselbe ist auch die beste Wärterin, welche bei unsern Wiegen nicht schläft, noch schlummert, ohne deren Aufsicht aller andern Fleiß zu wenig wäre, einem Kinde aufzuhelfen. Eben sie macht es auch, daß sich nach der Geburt das Geblüt muß sofort in die Brüste ergießen, woselbst es der liebreiche Gott in Milch verwandelt und mit seinem süßen Segen zum Gedeihen seines zarten Geschöpfes vermischt. Mein Gott! ich danke dir darüber, daß ich wunderbarlich gemacht bin; wunderbarlich sind deine Werke; das erkennt meine Seele wohl! Ps. 139, 14. Ich bin dir, mein Schöpfer und Erhalter! alles schuldig, meinen Leib und dessen Glieder, meine Seele und dessen Kräfte. So will ich mich mein Leben lang befleißigen, daß du an meinem Leib und meiner Seele allezeit hoch gepriesen werdest.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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