Das tat ich für dich

Durch die hohen Fenster der Düsseldorfer Gemäldegalerie flutete heller Sonnenschein. Die wenigen Besucher, Herren und Damen in der Tracht des Spätbarock, lustwandelten plaudernd durch die Säle. Hier und dort machten sie vor einem Bilde halt, betrachteten es und gaben ihr Urteil ab. Nicht alle, welche diese Räume aufsuchten, taten es aus Kunstbegeisterung. Viele wollten nur die Langeweile der unausgefüllten Stunden des Tages totschlagen.

Um so mehr fiel ein junger Mann auf, der versunken vor einem Gemälde stand, das den leidenden Heiland darstellte. "Das tat ich für dich, was tust du für mich?", las er. Man merkte es dem jungen Mann an, dass ihn nicht so sehr die künstlerische Ausführung des Gemäldes fesselte, als vielmehr die Inschrift.
"Das tat ich für dich..." Seine Gedanken führten ihn durch die Gassen des alten Jerusalem. Ihm war, als hörte er das Geschrei der entfesselten, aufgehetzten Menge, die das Blut des Nazareners forderte, und als sähe er den göttlichen Dulder selbst, der blutüberströmt, wankenden Schrittes, unter der Last des schweren Kreuzes fast zusammenbrechend, von römischen Söldnern nach Golgatha geführt wurde. Er vernahm die Schmährufe und Verwünschungen, die den Sohn Gottes auf seinem Leidensweg begleiteten, bis das schreckliche Ziel erreicht war und er ans Kreuz geheftet wurde, während über seine Lippen die Bitte kam: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Da hing der verwundete Leib des Gottessohnes in den von den Nägeln geschlagenen und gerissenen Wundmalen, qualvoll der sengenden Mittagssonne preisgegeben. Zu allem was Hass, Roheit und Unverstand zu verüben im Stande waren, gesellte sich noch der geheimnisvolle, von Menschen nie völlig ergründete Schmerz, der in dem Ruf: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", erschütternden Ausdruck fand. Er, der Reine und Heilige, von Gott verlassen - wie war das möglich? Ach, er trug ja die Sünde der ganzen Welt! "Das tat ich für dich..."

Welch ein Zusammentreffen von Gerechtigkeit und Liebe am Kreuz von Golgatha! Die ungeheure Schuld des Menschengeschlechtes war nicht durch eine einfache Amnestie aus der Welt zu schaffen. Dem gebrochenen göttlichen Gesetz musste durch den Tod des Übertreters Genüge geschehen, es sei denn, dass ein anderer für ihn die Sühne leistete. Eben das hat der Sohn Gottes getan. Er wurde Bürge und Stellvertreter der Menschheit. "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."
Lange stand der junge Graf Zinzendorf, von seinen Gedanken überwältigt, vor dem Bilde. Zeit und Ort hatte er vergessen. In seinen Ohren klang die Frage nach: "Was tust du für mich?"

Was konnte er für Jesus tun? Es wurde ihm klar, dass nur eines des großen Opfers auf Golgatha würdig wäre: Das eigene Leben. Sein Wollen, Denken und Fühlen.
Zinzendorf verließ rasch den Saal. Er wollte nach diesem großen, inneren Erleben nichts anderes mehr sehen. Der Eindruck dieser Stunde aber begleitete ihn durch sein ganzes ferneres Leben und machte ihn zu dem großen Bahnbrecher der deutschen Heidenmission.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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