Der junge Baum

Gotthold hatte in seinem Garten einen jungen Baum, welchen er selbst geimpft oder gepfropft, mit großem Fleiß seiner gewartet und bisher mit Verlangen Früchte von ihm gehofft hatte. Als er nun zu tragen begann und er die ersten Früchte, welches rosenrothe schöne Aepfel waren, mit eigner Hand abbrach, sagte er: Wie mags immer kommen, daß die Früchte eines jungen Stamms, den wir selbst erzeugt, wenn es nur etliche wenige Aepfel sind, uns mehr belustigen und erfreuen, als wenn andere von fremder Hand mit großen Körben voll vorgetragen werden? Gewiß ist hiebei eine subtile und heimliche Eigenliebe, daß unser Eigenes, so gering es auch ist, uns mehr erfreut, als Fremdes, wenn es schon größer ist. Hieraus aber kann ich etlichermaßen abnehmen, wie eine große Freude es sein müsse, wenn Gott die Eltern mit Früchten der Tugend und des Wohlverhaltens ihrer Kinder sättigt. Die Kinder sind anfangs junge Reislein, den Eltern, wenn ich so reden mag, vom Herzen entsprossen und gebrochen, sie werden befeuchtet durch viel Schweiß und Thränen, beschnitten durch ernste und gottselige Zucht, gewartet durch sorgfältige Aufsicht, gewärmt und gleichsam beschienen von herzlicher Liebe, gedüngt durch alles Vermögen; wer kann denn zur Genüge beschreiben die Freude der Eltern, wenn sie die Zweiglein grünen sehen, gedeihen und wachsen? wenn Gott zu ihrem Pflanzen und Begießen das Gedeihen giebt, und ihr junger und lieber Baum seine gesegneten Früchte in ihren Schooß zu schütteln beginnt? Die Kinder sind ein Spiegel der Eltern; je tugendhafter und gottseliger, je heller und schöner. Wie nun die Sonnenstrahlen am stärksten sind, wenn sie an einem hellen Spiegel zurückprallen, also durchdringts den Eltern das Herz, wenn ihre Kinder, von den Strahlen der göttlichen Gnade und Segens erleuchtet, ihr Licht mit ihnen theilen. Die Kinderfreude ist kräftiger, das Herz der alten und abgearbeiteten Eltern zu stärken und zu erquicken, als der edelste Wein und der köstlichste Balsam. Die Musik, welche alle Leute am liebsten hören, ist, wenn ihre Kinder ihres Wohlverhaltens halber gerühmt werden; darum auch der weise Mann unter den 10 Stücken, die er in seinem Herzen hoch zu loben hält, oben ansetzt einen Mann, der Freude an seinen Kindern erlebt. Sir. 25, 9. 10. Mein frommer Gott, hier sind meine Pflänzlein! Ob ich zwar keine Liebe, Sorge, Mühe, Seufzer, Kosten an ihnen spare, besteht doch darinnen ihr Wachsthum und seliges Gedeihen nicht, sondern bloß in deiner Gnade. Laß mich, mein Vater, die Frucht ihrer Gottseligkeit und Tugend genießen; dies ist meines Erachtens unter allen vergänglichen Freuden die edelste und beste. Doch was sag ich vergänglichen Freuden! Wer will leugnen, daß frommer Eltern Freude an ihren frommen Kindern nicht wird ewig währen?

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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