Der Pfarrer hat doch Recht gehabt!

Das ist schon sehr lange her. Ich war noch ein junger Hilfs­prediger in einer westfälischen Stadt. Aber obwohl ich seither viel erlebt habe, kann ich jene unheimliche Nachtstunde nicht vergessen. Es lebte damals in meinem Pfarrbezirk ein Mann in mitt­leren Jahren, der bei jeder Gelegenheit das Christentum, die Kirche und auch mich grausam lästerte und verhöhnte. Als ich davon hörte, beschloss ich, ihn aufzusuchen. Selten habe ich einen so erfolglosen und traurigen Haus­besuch gemacht. Der Mann war für jedes ruhige Gespräch unzugänglich. Lachend sagte er: »Geben Sie sich nur keine Mühe mit mir! Ich habe den Schwindel längst durchschaut. Ihr Pfarrer seid entweder selber dumm oder aber - ihr seid von irgendwelchen Mächten angestellt, die Leute dumm zu machen.« »Gott lebt!«, erwiderte ich. »Und Sie selbst werden einmal vor Ihm stehen.«

Schallend lachte er mich aus: »Das ist so ein Hauptwitz von euch Pfarrern, dass ihr den Leuten Angst macht mit dem, was nach dem Tode kommt.« »Nun«, entgegnete ich, »das ist auch eine ernste Frage. Das begreifen Sie vielleicht eines Tages, wenn es ans Sterben geht.« Da wurde er plötzlich ganz feierlich und erklärte: »Hören Sie gut zu: Niemals - noch einmal: Niemals werde ich Sie brauchen. Ich gehöre nicht zu den armseligen Leuten, die im Sterben auf einmal nach Gott rufen. Ich kann und werde ohne Sie sterben. Sterben ist die natürlichste Sache von der Welt. Jede Pflanze hat einmal ausgeblüht. Und ge­nauso geht es dem Menschen. Natürliche Vorgänge brauchen nicht so ein Brimborium, wie ihr es um das Sterben anzustellen beliebt.«

Ich ging. Dieser Mann war eisern entschlossen, ohne Gott zu leben und ohne Gott zu sterben. Hier war mein Dienst zu Ende. Doch da irrte ich mich. Es war etwa ein Jahr nachher. Da schellte es mitten in der Nacht an meiner Wohnung. Drau­ßen stand die Frau dieses Mannes und bat mich aufge­regt, mit ihr zu kommen. Ihr Mann sei seit einiger Zeit krank. Und nun habe der Arzt keine Hoffnung mehr. Es gehe mit ihm zu Ende. Ich wehrte ab: »Liebe Frau! Ihr Mann hat mir ausdrücklich gesagt, er wolle mich nicht an seinem Sterbebett sehen. Ich hätte damals nicht gedacht, dass diese Lage so bald ein­treten würde. Aber - ich kann doch nicht zu ihm gehen, wenn er mich unter keinen Umständen sehen will.« Darauf rief die Frau mit Zittern: »Kommen Sie schnell! Er hat mich ja selber nach Ihnen geschickt. Er sagt immerzu: Der Pfarrer hat doch Recht gehabt! Der Pfarrer hat doch Recht gehabt!«

So machte ich mich schnell fertig und ging mit. Aber - ich kam zu spät. Der Mann war schon besinnungslos und ist nicht mehr aufgewacht. Wohl sagte ich leise einige Bibelworte in seine Bewusstlosigkeit hinein von dem »Blut Jesu, das uns rein macht von aller Sünde«. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er sie vernahm. So ist er gestor­ben. Ich fror, als ich in der Morgendämmerung nach Hause ging. Nicht nur die Kühle des jungen Tages machte mich frösteln. Meine Seele war voll Traurigkeit. Und auf einmal verstand ich ganz neu das gewaltige Gebet des großen Mannes Mose: »Herr, lehre uns bedenken, dass wir ster­ben müssen, auf dass wir klug werden.«

Quelle: Aus dem Buch "Pastor Wilhelm Busch erzählt"
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