Der Seidenwurm

Als Gotthold etliche Seidenwürmer, welche ein Knabe in einer Schachtel mit Maulbeerblättern speisete, sah, gedachte er bei sich selbst: so ist es denn ein Wurm und Raupe, der den Menschenkindern zur Ueppigkeit und Pracht dient; ich wollte wünschen, daß niemals ein Seidengewand verkauft oder angelegt würde, ehe man einen solchen Wurm vorgezeigt und in Betrachtung genommen, ob etwa der Mensch bedenken wollte, wie albern es ist, daß ein Wurm mit des andern Gespinnste prange, da doch endlich er und seine Pracht von Würmern muß gefressen werden. Sonst macht’s dieser Wurm nach aller Raupen Art; wenn er genug gegessen und seine Zeit erreicht hat, so sieht er sich um nach einem Ort, wo er sicher und wie heimlich sterben kann; da verbaut und verwickelt er sich selbst und dient all sein gesammelter Vorrath ihm nirgends zu, als daß er sich ein Grab daraus macht. Also ihr Menschenkinder! esset und trinket und sammelt einen Vorrath und bemüht euch, groß in der Welt zu werden; es läuft doch endlich alles dahinaus, daß ihr eine Gruft erwählen müßt, da ihr sicher verwesen wollt! Und wohl dem, der es von diesem Wurm lernt, daß er in der Zeit sich des Zeitlichen begeben und alle seine Gedanken dahin richten muß, wie er endlich selig sterben und in feinem Grab mit Ruhe und Ruhm verwesen möge! Mein getreuer Gott! meine vornehmste Sorge betrifft die Wohlfahrt meiner Seele, die weiß ich nicht besser, als mit der weißen schönen Seide der Gerechtigkeit meines Herrn Jesu, Offenb. 19, 8., zu verhüllen und einzuwickeln. Aufs nächste bin ich auch billig darauf bedacht, daß ich meinem Leibe ein ehrliches Ruhestättlein verschaffen möge, und die will ich mir bei Zeit erkiesen, damit ich, so oft ich sie ansehe, meiner Sterblichkeit mich erinnern möge.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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