Der süße Wein

Gottholden hatte ein wohlthätiges Herz einen Trunk süßen Weins gesandt; als nun sein Söhnlein nach Kinderart denselben auch gern kosten wollte und er ihm ein weniges in sein Becherlein schenkte und zu trinken darreichte, fragte er: Wie schmeckt das? Das Kind antwortete: Süß. Er fuhr fort: Wie süß? Das Knäblein antwortete: Süß, süß. Gotthold lachte und sagte: So weißt du denn nicht anders zu sagen, als daß es süß sei? Ach, mein Gott! fuhr er fort bei sich selbst, wie süß ist deine Gnade! wie lieblich sind die Tropfen deiner Güte! Ich fühle und schmecke es im Geist und Glauben; sollte mich aber ein anderer fragen, wie süß deine Liebe und wie schmackhaft deine Gnade sei, so weiß ich eben so wenig, als dies Kind es zu sagen. Süß, süß ist deine Güte. Wie aber süß, das läßt sich besser erfahren, als sagen. Ich empfinde ja etwas in meinem Herzen, ich koste etwas in meiner Seele, das durchgeht mir Mark und Bein, es ist lieblich über alle Lieblichkeit, süß über alle Süßigkeit. Es ist so süß, daß es alle Bitterkeit verzehrt, so süß, daß ich’s nicht weiß und es nicht sagen kann, wie süß es ist. Und das sind, mein süßer Gott! nur etliche Tropfen deiner Güte; deren Süßigkeit kann mein Verstand nicht erreichen und meine Zunge nicht aussprechen, was wird alsdann werden, wann du mich im Himmel mit deiner Liebe und Gnade als mit einem Strom tranken wirst! Was ist das ewige Leben? die süße Gnade, Liebe und Güte Gottes. Wie süß ist denn die? süß, süß ist sie. Mehr weiß ich nicht zu sagen. Du unendlicher Gott! deine Süßigkeit und Seligkeit ist unendlich, denn du bist die Süßigkeit und Seligkeit deiner Gläubigen. Wann werde ich dahin kommen, daß ich dein Angesicht schaue und deine Süßigkeit völlig schmecke? Wenn du alle Meere, alle Ströme, Seen, Pfützen, Brunnen und Quellen zu Wermuth, Galle und Aloe machtest und gössest es alles in und über mich allein, so könnten doch etliche wenige Tröpflein deiner süßen Liebe und Güte dieses alles süß und lieblich machen. Gönne mir, mein Gott! so viel von deiner Lieblichkeit in diesem Leben, als dir gefällt und mir dienlich ist. In jenem Leben will ich die Krümlein deiner Gnade und die Tropfen deiner Güte unter dem Tisch deiner Auserwählten gern aufsammeln und dennoch in Ewigkeit nicht mehr begehren.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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