Der unerkannte Freund

Es kam ein betrübter Mann zu Gotthold, welcher ehemals großen Vermögens gewesen, nunmehr aber durch Kriegsbeschwerden, Krankheit und andere Noth in Dürftigkeit gerathen war, klagend, daß er einem seiner nahen Anverwandten begegnet, der aber ihn keiner Rede gewürdigt, sondern, als kennete er ihn nicht, über die Seite sehend vorbei gegangen, welches, wie er sagte, ihm ein Pfriem ins Herz gewesen wäre. Mein (fürwahr), sagte Gotthold, kennt ihr die Welt noch nicht? Ich hätte wahrlich gemeint, euer so vielfaches Kreuz und Trübsal hätte euch längst von Herzen singen gelehrt:

Von allen Menschen abgewandt,
Zu dir mein Seel erhoben 
Hab ich allein, mein Herr und Gott! 
Laß mich nicht werdn betrogen.

Die Welt ist übersichtig, das Niedrige und was auf Erden liegt, sieht sie nicht. Ich weiß aber einen Mann, der sich zwar hoch gesetzt hat, sieht aber auf das Niedrige im Himmel und auf Erden. Ps. 113, 5. 6. Von diesem sagt der königliche Prophet: Du erkennest meine Seele in der Noth. Ps. 31, 8. Wenn wir schon unsern Schmuck verloren haben und in alten Lumpen aufgezogen kommen, wenn schon unsere Gestalt verfallen ist vor Trauern und alt geworden, Ps. 6, 8., wenn schon Krankheit und Herzeleid unsere Schöne wie Motten verzehrt, Ps. 39, 12., wenn schon unser Angesicht voller Schande, Thränen und Staubs ist, Ps. 69, 8., so erkennt er uns doch und schämt sich unser nicht. Dessen getröstet euch, daß wenn euch Menschen nicht kennen wollen, Gott doch euer nicht vergessen hat. Ihr seid auch der erste nicht, dem es also geht; König David hat dies Trauerliedlein längst und oft in seine Harfe gesungen: Ich schaue zur Rechten, spricht er, und siehe, da will mich niemand kennen; niemand nimmt sich meiner Seele an. Ps. 142, 5. Meine Freunde hast du ferne von mir gethan, du hast mich ihnen zum Greuel gemacht. Meine Gestalt ist jämmerlich vor Elend. Du machst, daß meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich ferne von mir thun um solches Elendes willen. Ps. 88,9. 10. 19. Merket, daß der Prophet sagt, es komme von Gott, wenn uns die Freunde nicht kennen wollen, ohne Zweifel darum, daß wir bei ihm allein die beständigste und treuste Freundschaft suchen sollen. Darum

Allein auf Gott setz dein Vertraun, 
Auf Menschen Hülf sollst du nicht baun; 
Gott ist allein, der Glauben hält, 
Sonst ist kein Glaub mehr in der Welt.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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