Der Vogel in der Kinder Händen

Etliche Kinder hatten einen Vogel an einen Faden gebunden und spielten mit demselben. Gotthold sah solches und gedachte: so geht’s mit unserm Gemüth und Geiste zu, wenn sich derselbe in zeitliche Dinge und weltliche Lüste vertieft. Die guten Freunde, die lustige Gesellschaft, die mancherlei Zeitkürzung und Gespräche sind oft nichts anders, als Stricke, damit unser Herz nieder gehalten und verhindert wird, daß es sich in Andacht und brünstigem Verlangen nicht erheben und nach dem Himmlischen sich nicht sehnen kann. Ich bin oftmals zu einer Ergötzlichkeit gekommen und habe nicht gemeint, auch nicht gemerkt, daß mein Herz in etwas ist verstrickt worden, bis ich’s hernach erfahren habe, wenn es sich im Gespräch mit Gott zu erheben gesucht; also spielt ein Mensch mit dem andern, wie die Kinder mit diesem Vogel, und ist guter Meinung und, indem er ihn zu ergötzen sucht, an seiner Gottseligkeit ihm schädlich. Wohl dem, der sich von diesem Bande los wirken und sich von weltlicher Freude je mehr und mehr abziehen kann! Wie selig ist die Seele, die ihre Ruhe, Freude, Lust und Ergötzlichkeit in Gott sucht und etliche Tropfen von seiner Süßigkeit kostet und darüber auch der vergönnten Lust in der Welt vergißt! Gott ist der Mittelpunkt unserer Seele. Wie nun in einem Kreise, was dem Mittelpunkt am nächsten ist, am wenigsten bewegt wird, also, je näher sich die Seele zu Gott hält, je weniger Unruhe und Bewegung ist sie unterworfen. Versuche es auf einem ebnen Platz, stecke einen Stab in die Erde, binde einen langen Faden daran und zieh nach demselben um den Stab als den Mittelpunkt einen ziemlich weiten Kreis, laß dann einen deiner Freunde in dem Kreis umhergehen, du aber bleibe unfern vom Stabe, so werdet ihr erfahren, daß jener viel mehr Schritte bedarf und fast laufen muß, feinen Kreis zu vollenden, da du mit etlichen wenigen zukommen kannst. So ist es mit deiner Seele; je weiter sie sich von Gott und geistlichen, himmlischen Dingen entfernt, je mehr geräth sie in Weitläufigkeit, läuft, rennt und weiß nicht warum, sucht Ruhe und findet sie nicht. Wer sich aber Gott aufs nächste in Andacht, Glauben, Liebe und Unterwerfung seines Willens hält, der findet, was sein Herz wünscht. Mein Gott! ich weiß wohl, daß du unserem Leib und Gemüth zu seiner Erquickung eine und andere Lust wol gönnst, allein zu beklagen ist es, daß wir solche zuweilen allzuweit suchen und unser Herz von dir flüchtig wird! So sollst du nun in aller meiner Lust , meine höchste Lust sein und, wenn mein Leib sich in vergönnter Lust ergötzt, soll doch mein Geist in deiner Güte seine höchste Ergötzlichkeit suchen.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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