Ein Bote des Friedenskönigs

»Herr Pfarrer! Sie machen uns Konkurrenz«, sagte der dicke Schutzmann und schlug mir wohlwollend auf die Schulter. »Wenn die Leute einen Krach haben, dann kom­men sie nicht aufs Revier, sondern zu Ihnen.« Ich lachte. Offenbar hatte er von der Geschichte auf dem Wohnungsamt gehört. Die war auch wirklich schön.

Es war tief in der Nacht. Da klingelte es aufgeregt an der Hausschelle. Ich kleidete mich notdürftig an. Draußen stand eine junge Frau, hoch in Hoffnung. Ich kannte sie gut. Sie wohnte mit ihrem Mann in einer riesigen Miets­kaserne, die jetzt längst ein Opfer der Bomben geworden ist. Es war ein schreckliches Haus. 40 Parteien wohnten dort. Der Hausbesitzer klagte mir einmal: »In jedem Win­ter wird das Treppengeländer abmontiert und verheizt.« Nun stand die junge Frau mit verstörtem Gesicht vor mir. Zuerst verstand ich gar nicht, was los war. Endlich hatte ich begriffen: Man war in Streit geraten mit dem Schwa­ger, der keine Wohnung hatte und auf das Zimmer der jungen Leute Anspruch machte. Jetzt hatte der Schwager eine Rotte von »Kumpels« (so nennen sich die Bergleute) versammelt wie eine Streitmacht. »Sie wollen meinen Mann erstechen und mich rauswerfen!«, schrie die Frau hyste­risch. »Gut! Ich komme sofort«, sagte ich. »Ich muss mich nur erst richtig anziehen. Gehen Sie schon mal voraus und sagen Sie, dass ich käme.«

Eine halbe Stunde später stieg ich die dunkle Treppe hin­auf. Das Geländer fehlte wieder einmal, und es war eine recht halsbrecherische Sache. So, hier ist der dritte Stock. Ich gehe den langen Korridor entlang. Auf einmal brüllt eine Stimme: »Halt! Es gibt Mord!« Wahrhaftig, da stand der junge Ehemann in der Tür hinter einer richtigen Barrikade von Möbeln. In der Hand hielt er einen gewaltigen Knüppel. »Nur Ruhe!«, rief ich. »Jetzt kommt der Pastor!« »Ah so! Ich dachte schon, sie kämen - die anderen.« »Mensch! Nun lassen Sie mich erst mal rein!« Die Barri­kade wurde beiseite gerückt. Im Zimmer brannte nur eine kleine Stahllaterne. Die Lampe war bei dem vorhergehen­den Kampf in Stücke gegangen. Der Boden war glitschig.

Ich erfuhr, das sei das Abendessen. Das habe man sich als erstes einmal an den Kopf geworfen. Die Scherben knirschten unter meinen Schuhen. »Wo sind denn die anderen?« - Hinten im Zimmer, wohin kaum ein Lichtschein drang, lag die Frau und wimmerte. »Die anderen sitzen oben in der Wohnung bei Kochs und beraten, wie sie mich hier rauswerfen können.« Da blieb nichts anderes übrig - ich musste hinauf zu den Angreifern. Also - noch einmal auf die geländerlose Treppe! Im vierten Stock konnte man gleich hören, wo die feindliche Kriegsmacht versammelt war. Mich wun­derte nur, wie die vielen Leute, die doch an diesem Flur wohnten, bei dem Lärm schlafen konnten. Vielleicht wa­ren sie aber auch wach und wagten nur nicht, sich zu be­schweren.

Mit einem Fußtritt stieß ich die Türe auf: Ein kahles Zim­mer. Auf dem Tisch zwei Schnapsflaschen. Männer und Frauen saßen umher. Einige hatten sich, weil nicht genug Stühle da waren, auf dem Boden niedergelassen, lehnten die Rücken an die Wand und streckten die Beine ins allge­meine Getümmel. Als ich eintrat, wurde es still. Jeder meinte, die Polizei käme. Nun war's nur der Pfarrer. »Die schwarze Drossel!« rief einer verächtlich in die Stille. Eine gefährliche Stim­mung kam auf. Mir wurde angst und bange. Und unhör­bar für die Menschen umher schrie mein Herz zu meinem himmlischen Vater um Hilfe: »Herr! Der du den Löwen des Daniel den Rachen zugehalten hast, bändige auch diese wilden Leute!«

»Männer«, sagte ich jetzt, »es ist gut, dass ihr alle versam­melt seid. Wir müssen die Sache in Ruhe bereden!« Eine Frau kreischte unverschämt auf. »Halt den Mund!«, sagte ich brutal. »Das ist Männersache!« Allgemeines Beifallsgemurmel der Männer erfreute mein Herz. Offenbar waren sie zufrieden, dass die Unverschäm­te eine Abfuhr bekam. »Also - was ist los? Erst muss der Fall geklärt werden. Aber es spricht immer nur einer!« Damit setzte ich mich auf den Fußboden, auf den einzigen freien Platz. Die Männer rückten etwas und nahmen mich solcherart in ihre Ge­meinschaft auf.

Nun begann die Verhandlung. Es war eine verwickelte Rechtslage. Die konnte ich nicht klären. So sagte ich: »Jetzt tun wir zweierlei. Erstens: Es geht ein Parlamentär in die umkämpfte Wohnung hinunter und sagt, dass die Leute die Barrikade abbauen können. Für heute nacht ist der Krieg zu Ende. Und zweitens: Morgen früh treffen sich alle, die keine Morgenschicht haben, um 9 Uhr hier vor dem Haus, und ich gehe mit euch zum Wohnungsamt. Ich verbürge mich dafür, dass dieser Schwager ein Zimmer be­kommt.« So geschah es.

»Na, nu' können Sie ja heimgehen!«, meinte mein Nachbar, der neben mir auf dem Boden saß. Ich lachte: »Jetzt wollt ihr mich los sein, damit ihr weiter saufen könnt! Daraus wird nichts. Jetzt bringe ich alle nach Hause. Wer nimmt den obdachlosen Schwager mit bis morgen?« Ein Mann meldete sich. »Gut! Jetzt gehen wir!« Alles brach auf. Trotz meiner Müdigkeit hatte ich keine Ruhe, bis ich den letzten an seiner Haustüre abgeliefert hatte.

Und dann kam der nächste Morgen! Da zog ich an der Spitze von etwa zwölf wilden Gesellen zum Wohnungs­amt. Ich weiß nicht, ob es Teilnahme war, was sie alle herbeigeführt hatte. Vielleicht war es auch mehr Neugier und die Hoffnung auf eine Enttäuschung, die dem Pfarrer auf dem Wohnungsamt zuteil werden musste. Ja, mir war übel zumute. Ich hatte mich verbürgt, ein Zimmer zu beschaf­fen. Wie, wenn es nun nicht gelang? Heimlich faltete ich meine Hände. »Herr, du kannst helfen!« Das Amt war in einer langgestreckten Baracke unterge­bracht. So konnten die Beamten aus ihren niedrigen Fen­stern deutlich sehen, wie diese gefährliche Truppe heranzog. Sie machten besorgte Gesichter. Es war ja eine unru­hige Zeit damals. Und dann das Erstaunen, als sie den verzagten Pastor mit­ten in der Kolonne entdeckten! Das war seltsam! Im Nu lief eine Menge Beamter zusammen. Ich tat grimmig und verlangte den Chef zu sprechen.

Bald saß ich dem gegenüber, während man vor der Tür das bedrohliche Gemurmel meiner wilden Begleitung hörte. Aber - wie wurde mir wohl, als ich in ein geistvol­les Gesicht sah, das hinter Brillengläsern mich freundlich anschaute. Da schüttete ich mein Herz aus. Der Chef lach­te zuerst, dann wischte er sich die Augen - und schließlich half er. Das war ein erhabener Augenblick, als ich vor der Baracke zwischen kümmerlichem Rasen und kargen Sträuchern meinem Volke die herrliche Lösung aller Knoten bekannt­gab. »Nun gehen wir einen trinken!«, rief befriedigt der Wilde­ste, den die Sache am wenigsten anging. Ich lächelte ihn an: »Kommt nicht in Frage! Jetzt helfen wir dem Schwager einziehen. Und jeder sieht zu Hause nach, ob er nicht einen Teller oder eine Lampe hat für das arme Paar, dem ihr gestern Abend alles kaputtgeschlagen habt.«

Der Plan leuchtete ein. Wohlwollen auf der ganzen Front! Müde schlich ich mich nach Hause durch staubige Straßen. In meinem Innern zankten sich zwei Stimmen. Die eine sagte: »Dazu studiert man Theologie, um am Ende solche Kämpfe auszufechten. Wenn unsere gelehrten Professoren doch wüssten, mit welchen Problemen wir uns an der Front herumschlagen müssen!« Kurz, es war eine verdrießliche Stimme. Die andere Stimme aber war sehr fröhlich. Die sang immer­zu: »Friede auf Erden! Friede auf Erden! Und wer dazu mithilft, ist ein Bote des Friedenskönigs!« Da entschloss ich mich, nur noch auf diese zweite Stimme zu hören. Und so wurde ich froh an meinem Amt.

Quelle: Aus dem Buch "Pastor Wilhelm Busch erzählt"
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