Was ist ein Experte?

Wenn sich jemand einen Experten nennt, dann geht es zuerst darum, die Tatsache nachzuweisen, dass er es wirklich ist. Ein Experte kann unter Umständen mehr wert sein als eine Million anderer Zeugen, die keine Experten sind. Bevor jemand das Recht hat, über die Geschichte, die Sprache und die Paläographie (das Entziffern, Lesen und Deuten alter Schriften und Dokumente) des Alten Testaments zu sprechen, hat die christliche Kirche das Recht, von ihm zu verlangen, seine Autorität auf dem jeweiligen Gebiet nachzuweisen.

Seit fünfundvierzig Jahren widme ich mich nun ohne Unterbrechung dem einen großen Studium des Alten Testaments in all seinen Sprachen, in all seiner Archäologie, in all seinen Übersetzungen, und, soweit möglich, in allem und jedem, was irgendeine Bedeutung für seinen Text und seine Geschichte hat. Ich sage dies, damit Sie sehen, warum ich als Experte sprechen kann. Ich kann hinzufügen, dass das Ergebnis meines fünfundvierzigjährigen Studiums der Bibel mich ständig zu der noch stärkeren Überzeugung gebracht hat, dass wir im Alten Testament einen zuverlässigen historischen Bericht der Geschichte des israelischen Volkes haben; und ich habe ein Recht, dies einigen jener klugen jungen Männer und Frauen ans Herz zu legen, die meinen, über einen solchen altmodischen Christen und an die Bibel als Gottes Wort Glaubenden lachen zu können.

Sie werden bemerkt haben, dass die Kritiker der Bibel, die mit der Absicht, Fehler zu entdecken, an sie herangehen, auf einzigartige Weise alle Erkenntnis und alle Tugend und Wahrheitsliebe für sich selbst beanspruchen. Einer ihrer Lieblingsausdrücke ist: »Alle Gelehrten stimmen darin überein.« Wenn jemand ein Buch schreibt und ein Argument mit dem Satz »Alle Gelehrten stimmen darin überein« zu beweisen versucht, möchte ich gerne wissen, wer die Gelehrten sind und warum sie übereinstimmen. Woher stammen überhaupt ihre Beweise?

Ich denke daran, wie ich vor einigen Jahren das Wort »Baka« untersuchte, das wir in unserer Bibel haben: »Durch das Baka-Tal gehend, machen sie es zu einem Quellenort« (Ps 84,6 Elberfelder Fußnote, Jerusalemer, Menge, Rev. Elberfelder Fußnote). Im Hebräisch-Lexikon fand ich, dass ein Reisender namens Burckhardt behauptete, »Baka« bedeute »Maulbeerbaum«. Das war nicht besonders einleuchtend. Ich konnte nicht erkennen, wie Maulbeerbäume etwas mit Wasser zu tun haben sollten. Ich schlug bei allen gelehrten Autoritäten Deutschlands und Englands seit Burckhardts Zeit nach und stellte fest, dass sie allesamt Burckhardt zitiert hatten. Nur ein einziger Wissenschaftler stand hinter all den zahlreichen Aussagen der gelehrten Autoritäten! Als ich dann einmal im Orient reiste, stellte ich fest, dass wir hier und da äußerst wohlschmeckendes Wasser hatten. Es entsprang scheinbar direkt dem Boden mitten in der Wüste. Ich fragte meinen Bruder, der dort als Missionar arbeitete, woher dieses Wasser käme. Er sagte: »Sie bringen dieses Wasser von den Bergen herunter. Es ist ein unterirdisches Aquädukt. Sie verlegen ihn unter der Erde, um das Verdunsten zu verhindern.« Die Bezeichnung für dieses unterirdische Aquädukt nun war »Baka«.

Worauf ich hinauswill, ist, dass wir diese Übereinstimmung unter den Gelehrten bis zu dem ersten Gelehrten zurückverfolgen müssen, der die Aussage ursprünglich gemacht hatte, und dann herauszufinden haben, ob es wahr ist, was er sag­te. Was war die Begründung seiner Aussage?

Ich nenne mich einen Experten. Habe ich ein Recht dazu? Nun, als ich noch Theologie studierte, pflegte ich mein Neues Testament in neun verschiedenen Sprachen zu lesen. Ich lernte es auswendig, sodass ich es ohne Auslassung einer einzigen Silbe aufsagen konnte; das Gleiche galt für die Psalmen Davids, Jesaja und andere Teile der Schrift. Nach Abschluss meines Theologiestudiums lehrte ich ein Jahr lang Hebräisch und ging dann nach Deutschland. Als ich nach Heidelberg kam, traf ich eine Entscheidung. Ich entschloss mich – und ich tat es unter Gebet –, mein Leben dem Studium des Alten Testaments zu widmen. Ich war damals fünfundzwanzig; und ich nahm aufgrund der Lebenslänge meiner Vorfahren an, dass ich wahrscheinlich siebzig Jahre alt werden würde, sodass mir also noch fünfundvierzig Jahre für mein Lebenswerk blieben. Ich teilte diese Zeit in drei Teile. Die ersten fünfzehn Jahre würde ich dem Studium der für mein Vorhaben nötigen Sprachen widmen. Die zweiten fünfzehn Jahre würde ich mich dem Studium des Textes des Alten Testaments widmen; und die letzten fünfzehn Jahre reservierte ich dafür, die Ergebnisse meiner vorausgegangenen Studien und Untersuchungen niederzuschreiben, um sie der Welt zu geben. Und der Herr hat mich befähigt, diesen Plan fast aufs Jahr genau auszuführen. …

Nun erachtete ich es zur Prüfung der Begründung zuallererst für notwendig, die Sprache zu kennen, in der das Argument vorgefunden wurde. Deshalb ging ich nach Berlin und widmete mich fast ausschließlich dem Studium der Sprachen, die irgendetwas mit der Bibel zu tun haben; und ich entschloss mich, sämtliche Sprachen zu lernen, die Licht auf das Hebräische werfen, alle damit verwandten Sprachen, sowie schließlich auch alle Sprachen, in welche die Bibel bis 600 n.Chr. übersetzt wurde, sodass ich in jedem Fall den Text jeweils selbst würde untersuchen können.

Da ich dies alles getan habe, behaupte ich, ein Experte zu sein. Ich behaupte, dass kein Mensch das Alte Testament angreifen kann auf einer Beweisgrundlage, die ich nicht nachzuprüfen in der Lage wäre. Ich kann die Fakten untersuchen, wenn sie sprachlicher Natur sind. Wenn jemand eine Sprache kennt, die ich nicht kenne, werde ich sie lernen. Jetzt werde ich Ihnen einige der Ergebnisse zeigen.

Nachdem ich die notwendigen Sprachen gelernt hatte, machte ich mich an die Untersuchung jedes einzelnen Konsonanten des hebräischen Alten Testaments. Es gibt davon etwa 1,25 Millionen, und ich benötigte viele Jahre für diese Aufgabe. Ich musste das Alte Testament durchlesen und dabei jeden einzelnen Konsonanten unter die Lupe nehmen; ich musste auch die Textvarianten in den Manuskripten, die Anmerkungen der Masoreten, die verschiedenen alten Übersetzungen, die Parallelstellen und die Verbesserungsversuche der Kritiker in Betracht ziehen; und dann musste ich meine Ergebnisse einordnen und klassifizieren. Ich schätze diese Art der Textforschung äußerst hoch ein; denn mein Plan war es, die Kritik des Alten Testaments zu einer absolut objektiven Wissenschaft zu machen, zu etwas, was auf objektiven Fakten und nicht auf subjektiven Meinungen beruht. Kaum jemals mache ich eine Aussage, die lediglich auf meiner eigenen subjektiven Auffassung beruht.

Um ein derartiger Experte auf dem Gebiet der Textforschung zu sein, muss man Paläographie (das Entziffern alter Schriften) und Sprachwissenschaft gründlich beherrschen; man muss eine exakte Kenntnis von mindestens einem Dutzend Sprachen haben, sodass man jedes einzelne Wort gründlich unter die Lupe nehmen kann. Denn den wahren Text des Alten Testaments gesichert festzustellen, ist grundlegend für alles, was mit Geschichte und Lehre der Bibel zu tun hat.

Das Ergebnis dieser dreißigjährigen Studien, die ich auf den Text verwandt habe, ist folgendes: Ich kann gesichert behaupten, dass es keine Seite im Alten Testament gibt, bezüglich der wir auch den geringsten Zweifel haben müssten. Wir können absolut sicher sein, dass wir substanziell den Text des Alten Testaments haben, den Christus und die Apostel hatten und der von Anfang an in dieser Form existiert hat.

Ich möchte noch einige andere Beispiele wahrer Bibelkritik zeigen. Ich erinnere mich noch an die Zeit, wo es als nutzlos galt, die langen Geschlechtsregister in den ersten Kapiteln des ersten Chronikbuches zu lesen. Aber heute sind in der wissenschaftlichen Kritik des Alten Testaments Eigennamen von größter Wichtigkeit. Wie sie buchstabiert sind – ja, in der Tat alles, was mit ihnen zusammenhängt – ist zu einem der Fundamente schlechthin geworden, worauf die wissenschaftliche Kritik des Alten Testaments aufbaut.

Nehmen wir folgenden Fall: Es gibt 29 antike Könige, deren Namen nicht nur in der Bibel erwähnt sind, sondern auch auf Monumenten aus ihrer jeweiligen Zeit, viele davon unter ihrer eigenen Aufsicht gebaut. Diese 29 Eigennamen enthalten insgesamt 195 Konsonanten. Aber wir finden in den Dokumenten des Alten Testaments nur zwei oder drei aus den ganzen 195, bei denen es überhaupt fraglich ist, ob sie in genau derselben Weise geschrieben sind wie auf ihren eigenen Monumenten. Einige von ihnen gehen 2.000 Jahre zurück, andere 4.000 – und doch sind sie so geschrieben, dass jeder einzelne Buchstabe klar und korrekt ist. Das ist ohne Zweifel ein gewaltiges Wunder.

Vergleichen wir diese Exaktheit mit der anderer Schriftstücke. Man hat mir vorgeworfen, in meinen Büchern über Daniel nicht mehr auf die klassischen Schriften Bezug zu nehmen. Hier ist der Grund: Nehmen wir die von dem größten Gelehrten seines Zeitalters, dem Bibliothekar von Alexandria, im Jahr 200 v.Chr. verfasste Liste. Er stellte einen Katalog der Könige von Ägypten zusammen, insgesamt 38; und von diesen 38 sind nur drei oder vier identifizierbar! Er machte auch eine Königsliste von Assyrien; hier können wir nur bei einem Namen feststellen, wer gemeint ist, und selbst der ist nicht richtig buchstabiert! Oder nehmen wir Ptolemäus, der ein Register von 18 babylonischen Königen zusammengestellt hat. Kein einziger ist richtig buchstabiert, und man könnte keinen identifizieren, wüssten wir nicht aus anderen Quellen, auf wen oder was er sich bezieht. Wenn jemand etwas gegen die Bibel sagt, fragen Sie ihn nach den darin erwähnten Königen. Dort werden 29 Könige von Ägypten, Israel, Moab, Damaskus, Tyrus, Babylon, Assyrien und Persien erwähnt, und zwar aus zehn verschiedenen Ländern. Diese alle werden sowohl in der Bibel als auch auf zeitgenössischen Monumenten der betreffenden Länder genannt. Jeder einzelne hat in der Bibel seinen richtigen Namen, wird seinem richtigen Land zugeordnet und in der korrekten chronologischen Abfolge genannt! Denken Sie einmal nach, was das bedeutet!

Noch ein letztes Beispiel, wo die Arbeit des Experten nötig ist: Es ist die Behauptung der Kritiker, dass das Vorkommen aramäischer Wörter (Aramäisch war die Sprache Mesopotamiens und angrenzender Länder) in alttestamentlichen Büchern ein Schlüssel zu ihrer Datierung sei. Ich kam zu dem Schluss, dass die Kritiker viele Worte über die so genannten Aramaismen von sich gaben, die sie jedoch nicht belegen konnten. Deshalb nahm ich ein hebräisches Lexikon, ging es Wort für Wort von Anfang bis Ende durch und sammelte die Ergebnisse. Dann machte ich das Gleiche mit Aramäisch. Ich stellte eine Liste aller relevanten Wörter zusammen und verglich sie mit Akkadisch (der babylonischen Sprache).

Als ich meine Untersuchung auf diese Weise wissenschaftlich-objektiv durchführte, stellte ich fest, dass das auf das Vorkommen so genannter Aramaismen in alttestamentlichen Büchern aufgebaute Argument so gut wie hinfällig war. Es gibt nur fünf oder sechs dieser Wörter im ganzen AT überhaupt, bei denen vielleicht ein geringer Zweifel bestehen bleiben könnte. Tatsache ist, dass vor 150 Jahren das Akkadische nicht bekannt war; wenn man also im Alten Testament ein Haupt- oder Zeitwort fand, das sich nicht ganz in die hebräische Formenlehre einordnen ließ, sagte man einfach, es wäre Aramäisch, und das Bibelbuch, das dieses Wort enthielt, sei wesentlich späteren Datums, als es selbst vorgab. Aber inzwischen hat uns Gott die Kenntnis des Akkadischen geschenkt, und daraus erkennen wir nun unter anderem Folgendes: Bestimmte aramäische Hauptwörter enden auf »-ut«, und man hielt dies für eine Eigenheit dieser Sprache. Aber nun wissen wir, dass diese Endung auch im Akkadischen und sogar im Hebräischen vorkommt. Die babylonischen Aufzeichnungen (in Akkadisch) gehen zurück bis zur Zeit vor Abraham; und von da an bis zum Ende des babylonischen Reichs finden wir immer wieder diese Endung. So wurde also die Begründung für das alte Argument der Spätdatierung biblischer Bücher unhaltbar.

Zum Schluss möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass das Studium der religiösen Systeme der alten Völker gezeigt hat, dass bei ihnen einerseits ein tastendes Suchen nach Gott vorhanden war, andererseits jedoch nirgendwo zu sehen ist, dass sie ein klares Verständnis des einen wahren Gottes erlangten, des Schöpfers, Erhalters, Richters, Retters und Heiligers Seines Volkes. Ihre Religionen waren äußerer Art; die Religion des Alten Testaments ist ihrem Wesen nach eine des Geistes und Herzens; eine Religion von Liebe, Freude, Glaube, Hoffnung und Rettung durch die Gnade Gottes. Was ist der Grund für dies alles?

Die Propheten Israels erklärten, ihre Lehre käme von Gott. Die moderne bibelkritische Richtung steht diesem Anspruch direkt entgegen. Sie behauptet, die Propheten hätten lediglich Ideen ihrer eigenen Zeit geäußert, und sie seien durch ihr gesellschaftliches, politisches und geschichtliches Umfeld beschränkt gewesen. Aber wenn dem so wäre, wie ist es dann zu erklären, dass weder von den Orakeln von Theben und Memphis, noch von Delphi und Rom, noch aus Babylon oder aus den Wüsten Mediens, sondern aus den Schafhürden und einfachen Hütten Israels, ja sogar aus dem Mund von Gefangenen am Fluss eines fremden Landes diese gewaltigen Botschaften der Hoffnung und Erlösung erschollen? Einer der mächtigsten Ausdrücke der Schrift ist »Gott ist mit uns«; dies ist der Schlüssel, der die geheimnisvollen Kammern des Alten Testaments aufschließt und uns ihre reichen und unvergänglichen Schätze entfaltet.

Hier eine Info über den Autor:
Robert Dick Wilson - Der Mann, der 45 Sprachen und Dialekte beherrschte

Quelle: Robert D. Wilson (1856-1930)
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