Wenn Gott die Stützen wegnimmt

Als der Missionar Samuel Gobat, der später die hervorragende Stellung eines Bischofs in Jeru­salem einnahm, einst schwer erkrankt von Abessinien nach London kam, dort Heilung zu suchen, führte ihn ein Freund zu einem Arzt, der sich besonders gütig und selbstlos kranker Gottesdiener annahm. Gobat fiel, während er im Wartezimmer auf den Arzt warten musste, ein großes Bild an der Wand auf, das eine Dame von Kindern um­geben darstellte, auch ein kleiner Kindersessel neben dem Schreibtisch des Professors. Da er nun nach der ärztlichen Untersuchung freund­lichst zum Tee eingeladen wurde, wunderte er sich, im Speisezimmer niemanden von der Familie vorzufinden, und fragte deshalb: "Ihre Familie ist wohl abwesend?" "Nein", war die Antwort, "sie sind alle daheim. Die Dame, deren Bild Sie im vorderen Zimmer sehen, ist mein liebes, treues Weib, und die sieben um sie her sind meine holden, köstlichen Kinder. Der Herr aber, der sie mir geschenkt, hat sie mir alle wieder genommen und mein Weib dazu, ich bin allein zurückgeblieben in der Fremde."

Eine schmerzliche Bewegung be­meisternd, fuhr er fort: "Das letzte meiner Kinder, mein Liebling, pflegte auf dem kleinen Stuhl, den Sie gesehen haben, bei mir zu sitzen, wenn ich arbeitete. Es war mein Trost in meiner Trübsal. Aber auch dieses Kind hat mir der Herr genommen, auf dass er selbst mir alles würde. Ich habe zuvor den Herrn nicht gekannt. Ich lebte mir selbst und der Welt. Mein Schatz waren meine Frau und meine Kin­der. Aber es ging mir wie einem Schiff, das man vom Stapel lässt. Das liegt stolz und sicher, vielfach gestützt, auf dem schiefen Damm. Da wird eine Stütze nach der anderen rechts und links weggenommen, bis zuletzt nur noch ein schwaches Tau es fesselt. Dann wird auch dieses noch zerhauen, und bebend stürzt das Schiff hinab in die Meeresflut. Ja, gerade so ist es mir ergangen", schloss der Arzt, "doch" - hier verklärte sich sein Gesicht - "doch ich bin nicht in einen Abgrund gestürzt, sondern mein schwaches Schifflein schwimmt jetzt auf dem Meer der Erbarmung Gottes."

Quelle: Neues und Altes
© Alle Rechte vorbehalten