Wilhelm Busch im Lügennetz

Wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, wird mein Herz fröhlich. Wir hatten die besten Eltern, die je gelebt haben. Und gerade darum tut es mir heute noch weh, wenn mir eine böse Geschichte in den Sinn kommt. Ande­rerseits habe ich gerade damals meinen Vater erst richtig lieben gelernt. Aber nun will ich ordentlich der Reihe nach erzählen:

Damals war ich ein Junge von zwölf Jahren. Außerdem war ich Quartaner in einer höheren Schule. Aber nur sehr ungern! Ich glaube, ich war ganz einfach - faul. Jungen haben manchmal so Zeiten, in denen ihnen der »Ernst des Lebens« höchst zuwider ist. Ich weiß gar nicht recht, wie es kam - auf einmal war ich in ein richtiges Lügennetz verstrickt. Es fing wohl so an, dass ich eine schlechte Arbeit geschrie­ben hatte. Bekümmert sah ich Unheil auf mich zukom­men. Nun würde man diese schlechte Note zum Anlass nehmen, meine Schularbeiten zu kontrollieren; ich würde Fehlendes nachholen und schrecklich arbeiten müssen. Dazu hatte ich einfach keine Lust. Und so verschwieg ich die schlechte Note.

Die nächste Arbeit wurde noch schlim­mer. Wieder beichtete ich zu Hause das Unglück nicht. Sondern vielmehr, als eines Tages mein Vater nach den Arbeiten fragte, log ich ihm mit klopfendem Herzen etwas vor. Er wollte das Heft sehen. Da habe ich mich des Nachts hingesetzt und habe neue Hefte angefertigt. Dann musste ich mir Geld verschaffen, um rote Tinte zu kaufen, mit der ich die Unterschrift des Lehrers fälschte. Mein Vater bekam ein Heft mit den herrlichsten Zensuren zu sehen. Damals habe ich gelernt, dass aus jeder Lüge wenigstens zehn neue herauswachsen. Schließlich war mein ganzes Jungenleben nur noch ausgefüllt damit, zu vertuschen und zu schwindeln. Das Lügennetz wurde immer verworrener. Mich hatte eine Art Panik gepackt. Ich hätte es jetzt viel bequemer gehabt, wenn ich nur meine Schulaufgaben hätte machen müssen. Nun aber saß ich nachts und schrieb doppelte Hefte oder fälschte Entschuldigungen.

Und dabei ging es auf Weihnachten zu. Meine Eltern zer­brachen sich den Kopf darüber, wie sie uns erfreuen könn­ten. Und ich ...! Wenn meine Geschwister fröhlich spiel­ten, dann packte mich der ganze Jammer eines verpfusch­ten Daseins. - Wie sollte ich je herauskommen?! Aber eines Tages brach die drohende Katastrophe herein. Deutlich - als wäre es erst gestern gewesen - sehe ich im Geist die Szene vor mir. Meine Schwestern spielten im Flur mit dem Ball. Und ich saß finster brütend auf der Treppe. Dann schellte es - der Briefträger gab die Post ab ... We­nige Minuten später ging die Tür des Studierzimmers auf, mein Vater erschien, und ruhig forderte er mich auf: »Komm doch mal herein!«

Mir klopfte das Herz bis zum Halse. Die Schreibtischlampe beleuchtete einen eben geöffneten Brief. Ich erkannte sofort die Schrift meines Klassenlehrers. Was enthielt der Brief?! Ich bemühte mich vergeblich, ihn zu entziffern. Da reichte mein Vater mir ihn schon. Und während ich zitternd las, setzte er sich in den Sessel. Es waren nur zwei Zeilen, in denen der Lehrer meinen Vater um eine Aussprache bat. »Komm, setz dich«, sagte mein Vater, »und erzähl mir, was denn da los ist!« Nun musste ich bekennen, und aus meinem Herzen brach es heraus: All dies ganze Geknäule von Schwindel und Betrug und Lüge und Faulheit und Schmutz. Ich war sel­ber entsetzt, als ich es nun alles so ausgebreitet vor mir sah. Oh, ich hätte mich anspeien mögen! Da saß nun mein lie­ber Vater, der uns täglich seine Liebe bewies, und es war, als wenn ein dunkler Schleier von abgründiger Traurig­keit sich über ihn legte.

Endlich war ich fertig. Mein Vater war ganz in sich zusam­mengesunken. Eine schreckliche und tiefe Stille lag zwi­schen uns. Nur von draußen hörte man das fröhliche La­chen meiner Schwestern. Dann richtete mein Vater sich auf und sagte aus tiefster Seele: »Du wirst ein Nagel an meinem Sarge werden! Nun geh!« Und ich ging. Die Tränen flössen mir über das Gesicht, als ich die dunkle Treppe hinaufstieg zu meinem Zimmer­chen. Erschrocken sahen die Schwestern mir nach. Mechanisch zog ich mich aus und legte mich ins Bett. Keiner rief mich zum Abendessen. Ich hatte auch kein Verlangen danach. Später hörte ich, wie meine Mutter mit den Geschwistern Weihnachtslieder sang. Da heulte ich los. Ich begriff dunkel, dass Sünde ausschließt und einsam macht.

Ich war maßlos verzweifelt - über mich selbst! Kein Hund würde mehr ein Stück Brot von mir annehmen können! Mein Vater würde nie mehr fröhlich lachen können! Kein Mensch würde mich jemals mehr lieb haben! Es war tief in der Nacht. Alle außer meinem Vater waren schon zu Bett gegangen. Ich hatte die gewohnten Geräu­sche gehört. Einsam saß der Vater wohl noch über der Ar­beit in seinem Studierzimmer. Jetzt hörte ich seine Tür gehen. Jetzt stieg er zu seinem Schlafzimmer im ersten Stock hinauf ... Da! Mir stockte der Herzschlag - ich hörte deutlich, wie er auf der Treppe weiterstieg - herauf zu mir in den zweiten Stock! Ganz langsam - Stufe für Stufe! Als wenn er eine schwere Last trüge!

Meine erschrockenen Gedanken jagten sich: Ich konnte mich nicht erinnern, dass mein Vater je in meine kleine Bude gekommen wäre. Was wollte er jetzt! Kam jetzt die große Abrechnung? Wies er mich aus dem Hause? Schon war er vor meiner Tür angelangt. Ich merkte, wie er einen Augenblick stockte ... dann ging die Tür auf ... er trat in das dunkle Zimmer ... Ich hielt den Atem an. Er stand ganz still. Dann fragte er leise: »Schläfst du schon?« Mir stieg ein unbändiges Schluchzen hoch. Sagen konnte ich nichts. Da kam er auf mein Bett zu ... unendlich zart legte er mir die Hand auf den Kopf und sagte: »Nun bist du froh, dass alles im Licht ist, mein lieber Sohn!« Ich spür­te, wie er sich herabbeugte und mir einen Kuss gab. Dann ging er.

Ich lag wie gelähmt. Und doch - am liebsten wäre ich herausgesprungen ... ich hätte ihm um den Hals fallen mögen: »Mein lieber Vater!« Aber ehe ich dazu die Kraft fand, hörte ich seine Tür gehen. Ich lag allein im Dunkel. Selten habe ich eine solche un­endliche Seligkeit gefühlt. Vergebung!! Vergebung!! Ja, nun würde alles, alles neu werden! ... Am nächsten Tag ging mein Vater zum Lehrer. Ich weiß nicht, was sie miteinander gesprochen haben. Mit gewal­tigem Eifer setzte ich mich auf die Hosen und brachte Ostern ein gutes Zeugnis nach Hause. Niemals aber hat mein Vater wieder diese Geschichte er­wähnt. Sie war ganz und gar abgetan. Die Schuld war ver­geben - »in des Meeres Tiefe geworfen«, wie die Bibel sagt...

Viele Jahre später lernte ich die Vergebung der Schuld kennen, die der lebendige Gott uns im Herrn Jesus, dem Gekreuzigten, schenkt. Da fiel mir wieder die alte Geschichte aus meiner Jugendzeit ein: Das ist die Vergebung, dass unsere Schuld gar nie mehr zur Sprache kommt und wirklich und wahrhaftig abgetan ist. Und hier - in der Vergebung - liegt alle Kraft zu einem neuen Leben. Wer sie erfährt und glaubt, dem quillt das Herz über vor Liebe zum Vater.

Quelle: Aus dem Buch "Pastor Wilhelm Busch erzählt"
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