Wir singen den Krach einfach nieder

»Mensch, guck dir dies Gedränge an!« - Rappelvoll stand der Bahnsteig des riesigen Frankfurter Hauptbahnhofs. Und als der Zug nach Heidelberg endlich anrückte, gab's einen Sturm wie auf die »Duppeler Schanzen«. Nun ja. Ferienanfang! Da geht's eben ein bisschen stür­misch her auf der Eisenbahn.

Mit meinen Geschwistern hatte ich mich in ein großes Ab­teil »für Reisende mit Traglasten« gequetscht. Jeder kennt ja die Wagen: »9 Sitzplätze, 20 Stehplätze«. Unserer alten Mutter hatten wir im Eck einen Sitzplatz ergattert. Wir an­deren türmten unser Gepäck aufeinander und setzten uns darauf. Ja, und dann ging's los! Der Bummelzug hielt an jedem Nest. Wenn man gerade meinte, nun sei er glück­lich in Fahrt, da war's schon wieder aus. Und kein Mensch wollte aussteigen! Im Gegenteil, immer mehr stiegen zu. Wir hatten das Gefühl, als reise die ganze Menschheit nach Heidelberg. Und dazu brannte die Sonne nicht schlecht auf die heißen, überfüllten Wagen. Es war schon kein Vergnügen mehr. Kein Wunder, dass die Stimmung im Abteil »für Reisende mit Traglasten« schlecht, ja ge­radezu gereizt war. Es fehlte nur noch das »Streichholz«, welches das Pulverfass zur »Explosion« brachte.

Das kam dann auch wirklich an irgendeiner Station in Gestalt einer sehr resoluten Frau, die, ihr Kindchen auf dem Arm, auch noch mitfahren wollte. »Besetzt!« brüllte ein Mann zum Fenster hinaus. Die Frau tat, als habe sie nichts gehört. Entschlossen riss sie die Tür auf und drängte sich herein. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass besetzt ist«, sagte der Mann scharf und drückte gegen die Frau. »Ich muss aber mit«, schrie sie aufgeregt und drückte sich herein. Sie hätte aber doch den Kürzeren gezogen, wenn nicht der Schaffner von außen her die Türe zugequetscht hätte. »Nu' ist die Heringstonne fertig«, meinte einer trocken.

Aber der wütende Mann hatte keinen Sinn für Humor. Er schimpfte Mord und Brand. Alle seine Gereiztheit ließ er an der armen Frau aus. Andere fielen ihm zu.
Doch die Frau hatte den Mund am rechten Fleck. Kein Wort blieb sie schuldig. Und bald war der hitzigste Krach im Gange. Der Mann wurde vor Wut richtig blaurot im Gesicht. Der Krach nahm immer bedrohlichere Formen an. Da - stimmt unsere Mutter mit ihrer schönen, hellen Stimme ein Lied an. Wir begreifen schnell und fallen, zuerst ein wenig verlegen, ein. Aber dann klingt's aus acht Kehlen:

»Geh aus, mein Herz, und suche Freud
In dieser schönen Sommerzeit...
«

Wahrhaftig, wir singen den Krach einfach nieder. Die Leu­te schauen uns erstaunt an. Jede Miene fragt: »Seid ihr verrückt?« Aber nun sind wir schon mal dran und machen fröhlich weiter. Und das schöne Lied hat viele Strophen.

»Die Bäume stehen voller Laub,
Das Erdreich decket sei­nen Staub
Mit einem grünen Kleide ...
«

Wirklich, jetzt gucken schon ein paar ganz schüchtern aus dem Fenster und entdecken auch, dass da draußen in som­merlicher Herrlichkeit Gottes schöne Welt liegt.

»Die Bächlein rauschen in dem Sand
Und malen sich und ihren Rand
Mit schattenreichen Myrten.
Die Wiesen liegen hart dabei...
«

Uns selber gefällt unser Lied immer besser. Und - wie es scheint - den Leuten auch. Sie schweigen jetzt wenig­stens.

»Der Weizen wachset mit Gewalt,
Darüber freut sich jung und alt
Und rühmt die große Güte
Des, der so überschwänglich labt
Und mit so manchem Gut begabt
Das menschliche Gemüte
.« 

Ach, wie schaut der Mann noch finster drein! Und wie bissig ist das Gesicht der Frau! Aber wo Gottes Lob er­klingt, hält's der Teufel nicht aus.

»Ich selber kann und mag nicht ruhn,
Des großen Gottes großes Tun
Erweckt mir alle Sinnen.
Ich singe mit, wenn alles singt..

Wie ging es nun weiter? Allmählich hellte sich die böse Miene des Mannes auf, und er rückte ein ganz klein we­nig beiseite. So hatte die Frau nun auf einmal Platz und guckte auch schon fröhlicher in die Welt. Wir aber sangen und sangen... Wir sangen die Ewigkeit in die Zeit.

»Welch hohe Lust, welch heller Schein
Wird wohl in Christi Garten sein?
Wie wird es da wohl klingen ...
«

Und schließlich schlossen wir unser Lied mit dem ernsten Gebetsvers:

»Erwähle mich zum Paradeis
Und lass mich bis zur letzten Reis'
An Leib und Seele grünen...
«

Wir waren zu Ende. Da erhob sich in der Ecke ein Mann und bot der Frau schweigend seinen Platz an. Jeder be­mühte sich auf einmal, so lieb wie möglich zu sein. Und da war's nun - seltsam - ganz erträglich im Abteil. Alle hat­ten Platz genug, die überhitzte Spannung war verflogen. Schließlich meinte jemand schüchtern: »Singen Sie doch noch eins.« So stimmten wir an: »Harre, meine Seele, harre des Herrn...« Das konnten viele. Erst brummten sie leise mit, bald san­gen ein paar und rissen die anderen mit, und schließlich sangen alle. Und so sangen wir miteinander bis Heidelberg hinauf.

Quelle: Aus dem Buch "Pastor Wilhelm Busch erzählt"
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