In den großen Schattenschleier hüllet

1) In den großen Schattenschleier hüllet
feierlich die stille Erde sich,
wieder ist ein Tag hinabgesunken -
Herr des Lebens, Du erforschest mich!

2) Immerdar, ich gehe oder liege,
bin ich, unsichtbarer Geist, vor Dir!
Und auf jedem Lebens-Pfade schwebet,
Richter, deine Waage über mir!

3) Stillverschwunden gleiten meine Tage,
wie verwelkte Blätter in den Bach,
eilen hin im flücht'gen Strom der Zeiten,
und wer weiß, bald folgt der letzte nach!

4) Liebe Seele, unter allen Schätzen
ist der größte Deine Lebenszeit!
Ach, Du kannst sie nicht zurückerkaufen,
denn ihr Wesen ist Vergänglichkeit!

5) Sieh, mit jedem leisen Tritt verrinnet
unvermerkt sie hinterm Wanderstab,
und kaum hat der Mensch den Lauf begonnen,
so erscheint ihm schon das Ziel, das Grab.

6) Blick ich auf, Herr über Tod und Leben!
Prüfe mich, wie ist mein Herz bestellt?
Bebt es nicht vor Dir, dem ewig Nahen,
nicht vor Dir, dem Richter aller Welt?

7) Hab ich fromm und treu den Bund gehalten,
den Du, Ewiger, mit mir gemacht?
Hab ich ohne Fehl' gerecht gehandelt,
ohne Tadel meine Pflicht vollbracht?

8) Hat nicht Torheit, Leichtsinn und Begierde,
Hochmut, Missgunst, Eigennutz und Wahn
mich von Dir, dem guten Geist, entfernet
auf der ungewissen Lebensbahn?

9) Habe ich für meinen Geist gewuchert
mit dem Pfund, das Deine Huld mir leiht?
Ist mein Herz am Glauben reicher worden
und dadurch an innrer Seligkeit?

10) Ja, ich fühl es, Gott, zu Deinem Frieden
leitet zwar der Tugend steile Bahn -
doch wo schlägt das reine Herz auf Erden,
das sich keiner Sünde zeihen kann?

11) Du allein bist immer gut und heilig,
du alleine wohnest in dem Licht,
du bist weise, bist vollkommen, Vater,
aber wir im Staube sind es nicht!

12) Doch Dir immer ähnlicher zu werden,
dieser Wunsch ist edel, fromm und groß,
und uns Deiner Gnade ewig rühmen
ist ja unser freudenvolles Los.

13) Dieses, Vater, lehre mich bedenken,
sei mir gnädig in der stillen Nacht!
Und mit diesem frommen Wunsch sei heute
dieser Tag und mein Gebet vollbracht!