Buch-Rezension: Das Israel Gottes - Die Frage nach dem Volk Gottes im Neuen Bund

Das Israel Gottes

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Welche Bedeutung hat das Wort „Israel“ im Neuen Testament? Kann man die Gemeinde „Israel“ oder „Gottes Volk“ nennen? Der Verfasser vertritt die These, die neutestamentliche Gemeinde aus christusgläubigen Juden und Heiden sei das „Israel Gottes“. Dabei übt er scharfe Kritik am Dispensationalismus. Die Lehre der „Entrückung vor der großen Trübsal“ lehnt er ebenso ab wie ein irdisches tausendjähriges Reich (nachfolgend: TJR). Das Buch besteht aus 7 Kapiteln (wobei der Autor Einleitung und Schlusswort mitzählt) und einem sehr umfangreichen Anhang, der rund die Hälfte des Buches ausmacht. Zu beachten ist, dass Senk schon in der Einleitung die Meinung abweist, das Volk Israel als solches sei gänzlich von Gott verstoßen (S. 11f); gegen Antisemitismus-Vorwürfe verwahrt er sich.

In Kapitel 2 stellt der Verfasser die grundlegende Frage, wer zu Gottes Volk gehört. Dieses „wahre Israel“ (S. 14) sei schon immer die Schar der zum Heil Erwählten aus allen Völkern gewesen; von einer „Neudefinition“ Israels könne man daher im eigentlichen Sinne des Wortes nicht reden (ebd.; verwirrend ist nur, dass er dies z.B. auf S. 30+58 dennoch tut). In einer Tabelle stellt der Autor gegenüber, wie das AT Israel und das NT die Gemeinde mit denselben Bezeichnungen beschreibt (S. 17). Die scharfe Trennung des klassischen Dispensationalismus zwischen Israel und der Gemeinde ist also in dieser Form nicht haltbar. Senk weist auch darauf hin, dass dieser sich nicht schon bei den frühen Kirchenvätern finde, wie manche meinen: Bereits Justin der Märtyrer nenne die Christen das „wahre Israel“ (S. 22f). Papias und Irenäus hingegen, die ein TJR für Israel vertraten, hätten diese Ansicht nicht aus der Schrift, sondern aus fragwürdigen Quellen (S. 21). Doch übersieht Senk hier, dass auch Justin definitiv ein TJR vertrat – und zwar unter Berufung auf die Bibel, nicht auf menschliche Traditionen (s. Dialog mit Trypho, Kap. 80-81). Man kann also höchstens sagen: die Meinungen über das TJR gehen schon seit frühchristlicher Zeit auseinander.

Im dritten Kapitel will Senk nachweisen, dass die Verheißungen des AT über den Neuen Bund sich am „neuen Israel Gottes“ erfüllen, der „Christusgemeinde aus Juden und Heiden“; eine nationale Wiederherstellung Israels als Gottesvolk verneint er (S. 28). Die entsprechenden Prophezeiungen des AT will er auf die Gemeinde gedeutet wissen: z.B. versteht er die von Jeremia und Hesekiel angekündigte Wiedervereinigung des Südreichs Juda mit dem Nordreich Israel als die Sammlung der Gemeinde aus Juden und Heiden (S. 30ff). Man kann darüber zwar geteilter Meinung sein, doch von grundsätzlicher Bedeutung ist Senks Hinweis, „dass der Neue Bund in Jesus Christus und in seinem Heilswerk gestiftet worden ist“ (S. 30, Fn. 21); wer lehrt, die Gemeinde habe mit dem Neuen Bund nichts zu tun, greife direkt die Heilsaussagen der Schrift an und untergrabe diese (S. 29, Fn. 19; solche wichtigen Aussagen gehören eigentlich in den Text statt in die Fußnoten). Ferner legt der Autor dar, dass die in Hes 40ff beschriebenen Schlacht- und Sündopfer keineswegs in einem künftigen TJR dargebracht werden können, da sie nach dem Hebräerbrief durch das Opfer Christi ein für allemal abgeschafft sind (S. 33ff). Wegen der Parallelen zu Offb 21-22 versteht der Verfasser Hes 40ff als symbolische Darstellung der Ewigkeit.

Kapitel 4 befasst sich ausschließlich mit dem TJR. Was damit konkret gemeint sein soll, wird mir nicht klar. Senk vermutet, vielleicht seien dies die ersten tausend Jahre in der neuen Schöpfung, wobei die Zeitangabe auch symbolisch gemeint sein könnte (S. 46). Ein TJR auf der jetzigen Erde lehnt er wiederholt ab. Auch sei eine Verbindung von Offb 20 zu einem (irdischen) Reich des Volkes Israel nicht gegeben, da dies dort nicht ausdrücklich erwähnt werde (S. 39). Da die Offenbarung in schwer deutbarer Symbolik rede, müsse man von den Aussagen der Lehrbriefe des NT ausgehen, in denen kein TJR vorkomme. Die Beweislast liege daher auf der Seite derer, die ein buchstäbliches TJR vertreten (S. 43).

Bei der Diskussion der Entrückungslehre wärmt Senk leider auch die alte Mär auf, Darby habe diese „wahrscheinlich“ von der falschen Prophetin Margaret MacDonald übernommen (S. 49f, Fußn. 35). Den Aufsatz Stadelmanns, der dies widerlegt, wischt er mit der Bemerkung beiseite, Stadelmann gebe diese Verbindung also zu, und Darbys Versuch einer nachträglichen biblischen Begründung ändere nichts daran, dass die Entrückungslehre unbiblisch sei. Das ist schon ärgerlich: muss man denn derart ad hominem argumentieren?

In Kapitel 5 untersucht der Autor, ob das ethnische Israel als Gottes Volk wiederhergestellt wird. Zu 2Kor 3,15f muss man ihm Recht geben: dieser Vers spricht nicht von einer späteren Bekehrung ganz Israels, sondern von der gegenwärtigen Rettung einzelner Juden, was Senk exegetisch sauber belegt. Im selben Sinn versteht er Röm 9-11; auf diese Kapitel legt er hier den Schwerpunkt. U. a. will er nachweisen, dass das „bis“ in Röm 11,25 („Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren, bis...“) so gemeint sei, dass diese Verstockung endgültig sei; sie werde nicht später aufgehoben, sondern dauere bis zum Gericht an. InV.26 sei mit „so wird ganz Israel gerettet werden“ das „geistliche Israel“ aus Juden und Heiden gemeint; dessen Rettung geschehe zur jetzigen Zeit. Eine künftige Bekehrung des Volkes Israel könne man daraus nicht ableiten. Im Licht von Röm 11,1-2a.12.15.23f sei aber die Frage erlaubt, ob das wirklich so abwegig ist. Die Endzeitrede Jesu in Mt 24-25 behandelt der Verfasser auf nur zwei Seiten. Neben wiederholten Verneinungen, es könne nicht so sein, wie es „der“ Dispensationalismus lehre, bringt er m.E. nur unzureichende Argumente. Ein ausführlicher Vergleich der synoptischen Evangelien würde diese Frage gewiss mehr erhellen.

In Kapitel 6 fasst Senk kurz die vorherigen Kapitel zusammen. Eher beiläufig meint er hier, dass es seit 1948 wieder einen Staat Israel gibt, stehe auf gleicher Stufe wie die deutsche Wiedervereinigung und sei „keine Heilsgeschichte im eigentlichen Sinn“ (S. 75). Darüber muss ich wirklich staunen: Erfüllt sich hier denn nicht biblische Prophetie buchstäblich vor unseren Augen (z.B. Jes 11,11f)? Zustimmen muss man jedoch Senks Kritik daran, dass selbst manche Evangelikale die Judenmission ablehnen, denn alle Menschen, Juden wie Nichtjuden, sind verlorene Sünder und können nur aus Gnade durch den Glauben an Jesus Christus gerettet werden. Auch wenn man meint, dass die Israeliten immer noch Gottes Volk sind (so der Rezensent im Gegensatz zum Autor), bedeutet das für sie keinen Heilsautomatismus.

Im Anhang steht manch Lesenswertes, etwa zur Frage einer bibeltreuen Hermeneutik. Der Autor weist darauf hin, dass viele Evangelikale heute leider vom Prinzip „Allein die Schrift“ abweichen. Beachtenswert ist seine Stellungnahme zur Prädestinationslehre, die in jüngster Zeit unter Evangelikalen wieder sehr umstritten ist. Senk zeigt hier auf, dass sie durchaus biblisch ist. Auch stellt er die Schriftgemäßheit manch anderer evangelikaler Traditionen provokativ in Frage. Man muss sicher nicht alle seine Ansichten teilen (der missionstheologische Exkurs z.B. erscheint recht einseitig); es lohnt sich aber durchaus, darüber nachzudenken.

Fazit: Manche Fehler des Dispensationalismus kritisiert der Verfasser zu Recht, doch neigt er auch selbst zu dogmatischen Aussagen, deren Begründung mir oft unzureichend scheint. Durchaus gehört die Gemeinde zum Neuen Bund und ist auch Gottes Volk; allerdings kann mich der Autor nicht davon überzeugen, das irdische Israel habe seinen Status als Volk Gottes verloren. Sein Stil ist zuweilen schwer verständlich und zäh zu lesen. Das Buch ist zwar hilfreich, insofern es einige unter Evangelikalen verbreitete Irrtümer hinterfragt, wird aber dem selbstgesetzten Maßstab nicht immer gerecht, der Bibel keine vorgefassten Meinungen überzustülpen.

[Die Neuauflage dieses Buches ist verbessert worden und wird empfohlen - Markus Mayer]

 Die Rezension/Kritik stammt von: Joachim Schmitsdorf
 Kategorie: Biblische Lehre

  Verlag: Reformatorischer Verlag Beese
  Jahr: 2006
  ISBN: 3-928936-88-3
  Seiten: 154
 €    Preis: 9,60 Euro

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