Buch-Rezension: Die Brüder und die Lehren der Gnade - Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre?

Die Brüder und die Lehren der Gnade

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Wissenschaftliche Untersuchungen zur Soteriologie (Lehre vom Erlösungswerk Christi) der Brüderbewegung sind bis zur Veröffentlichung dieses Werkes Mangelware gewesen. Es ist begrüßenswert, dass der Autor seine Dissertation als Buch veröffentlicht und diese Lücke teilweise gefüllt hat. Wer dieses Buch liest, wird die enorme Forschungsleistung des Autors, der selbst der Brüderbewegung entstammt, zu würdigen wissen. Stevenson hat eine Fülle von Quellen ausgewertet – allein seine Bibliografie umfasst beeindruckende 49 Seiten. Dennoch ist das Buch leicht lesbar und bietet einen interessanten Einblick in das theologische Ringen der Brüder der ersten Stunde.

Nach einer kurzen Einführung (S. 23ff.) zeichnet Stevenson einen historischen Überblick über die calvinistische Heilslehre (S. 45ff.). Er arbeitet in diesem Zusammenhang heraus, dass die Brüder des 19. Jhdt. „ohne Ausnahme den Extremen des Hyper-Calvinismus kritisch gegenüber [standen]. Ihre Soteriologie bewegte sich vielmehr zwischen striktem und gemäßigtem Calvinismus.“ (S. 104f.). In seiner Untersuchung zur gefallenen menschlichen Natur im Denken der Brüder (S. 125ff.) kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Brüder „an einer kraftvollen Sicht von der „völligen Verderbtheit des Menschen“ festgehalten haben“, wenngleich gegen Ende des 19. Jhdt. einige Brüder weniger eindeutig calvinistisch oder sogar offen Arminianer waren (S. 195).

Im fünften Kapitel (S. 197ff.) geht Stevenson der Frage nach dem Verhältnis der Brüder zur Prädestinationslehre nach. Er folgert hierbei, dass die Brüder an der bedingungslosen Erwählung einerseits, aber auch an der menschlichen Verantwortung festhielten. Gleichermaßen bekräftigten sie die seelsorgerliche Zielrichtung der Erwählungslehre und warnten dagegen vor ihrer offensiven Verkündigung im Rahmen der Evangeliumsverbreitung (S. 275). Auch die Verwerfung des Menschen sei in der Schrift nicht gelehrt, sondern das Produkt menschlicher Schlussfolgerung (S. 276). Angemerkt sei, dass gerade die Evangelisten unter den Brüdern (besonders Alexander Marshall) dem Arminianismus gegenüber offener waren. Die Ansicht der Brüder zur Reichweite des Sühnungswerkes (universal oder partikular) wird in Kapitel 6 untersucht. Hierbei stellt Stevenson eine interessante Besonderheit für die Brüderbewegung fest. Sie hielten sich nicht an die übliche Formel „ausreichend für alle, wirksam für die Erwählten“, sondern unterschieden zwischen universaler Sühnung (Christus ist für alle Menschen gestorben) und partikularer Stellvertretung (Christus ist lediglich der Stellvertreter für die Seinen).

In dem letzten Forschungskapitel geht der Autor schließlich auf die Sichtweisen der Brüder im Hinblick auf den rettenden Glauben, der Buße sowie der Heilsgewissheit ein (S. 331ff.). In diesem interessanten Kapitel stellt er fest, dass viele Brüder wie Calvin die Heilsgewissheit zu einem wesentlichen Bestandteil des Glaubens machten. Dabei objektivierten einige Brüder die Heilsgewissheit so sehr, dass die Erfahrung irrelevant erschien, weswegen andere Brüder zu einer ausgewogeneren Haltung aufriefen.

Bis auf wenige Ungenauigkeiten (Norman L. Geisler und Dave Hunt werden salopp fälschlicherweise als Arminianer bezeichnet, S. 30) und fragwürdige Darstellungen (so stellt Stevenson vier unterschiedliche Sichtweisen innerhalb des Calvinismus dar, lediglich aber nur eine arminanische Position, S. 83f.) ist das interessante Buch sehr zu empfehlen. Die Hoffnung des Autors, „dass dieses Buch zu einer dringend benötigten Klarstellung beiträgt angesichts der anti-calvinistischen Stimmung“ (S. 44) wird sich sicherlich erfüllen.

Neben dem Forschungsergebnis der engen Beziehung der Brüder zur calvinistischen Heilslehre haben mich folgende Punkte beeindruckt:

  1. Es ist erstaunlich, auf welch hohem theologischen Niveau die Brüder mit ihren Zeitgenossen argumentiert und gerungen haben. Diese bibelorientierte, tiefgründige Auseinandersetzung wäre heute mehr denn je zu wünschen.
  2. Gleichermaßen ist es bewundernswert, wie (erfolgreich) um Ausgewogenheit gerungen und nicht blindlings einem System gefolgt wurde. Die Brüder sträubten sich, die Terminologie des Calvinismus oder Arminianismus ungeprüft zu übernehmen, sondern wollten streng bei der Schrift bleiben. Auch dies ist heute mehr denn je angezeigt. Man möchte mit Charles Simeon rufen: „Seid Bibel-Christen, nicht System-Christen.“ (S. 97)
  3. Besonders bei C.H. Mackintosh hat mich beeindruckt, dass tiefgründige, detailtreue Theologie in verständliche, warmherzige Worte gekleidet werden kann und muss. Zwei Beispiele: „Die Errettung – frei und umsonst wie die Sonnenstrahlen, voll wie der Ozean, ewig feststehend wie der Thron des ewigen Gottes – wird mir gepredigt; nicht als einem der Erwählten, sondern als einem, der vollkommen verloren, schuldig und zugrunde gerichtet ist; und wenn ich diese Errettung angenommen habe, dann habe ich einen schlagenden Beweis für meine Erwählung.“ (S. 234) „Wir glauben, dass der Evangelist nicht die Aufgabe hat, Erwählung zu predigen. Paulus predigte nie die Erwählung. Er lehrte die Erwählung, aber er predigte Christus. Daraus ergibt sich der ganze Unterschied.“ (S. 235)

Möge das Buch viele Christen anregen, sich mit schwierigen theologischen Fragestellungen allein von der Schrift her zu befassen und ihren Herrn auch im Detail neu lieb zu gewinnen.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Thimo Schnittjer
 Kategorie: Biblische Lehre

  Verlag: Christliche Literaturverbreitung e.V.
  Jahr: 2019
  ISBN: 978-3-86699-391-4
  Seiten: 480
 €    Preis: 16,90 Euro