Buch-Rezension: Von Gottes Gnade und des Menschen Elend - Ein Querschnitt durch das Werk eines faszinierenden Verfechters einer vergessenen Theologie

Von Gottes Gnade und des Menschen Elend

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Für alle, die auf der Suche nach einem Buch sind, das die reformierte Gedankenwelt lebendig und auf hohem theologischen und schriftstellerischen Niveau vorträgt, gibt es eine gute Nachricht: der in Bonn beheimatete Theologe Wolf Christian Jaeschke hat im Verlag für Kultur und Wissenschaft eine Sammlung mit Texten von Adolph Zahn herausgegeben.

Adolph Zahn (* 28.09.1834 - † 27.02.1900), übrigens ein Vetter Adolf Schlatters, war reformierter Pfarrer in Halle (Domprediger von 1859-1875), Elberfeld (er amtierte als einer von zwei Pfarrern in der reformierten Gemeinde Kohlbrügges von 1876-1877) und Stuttgart (ab 1881). Seinerzeit als der "klagende Jeremia auf den Trümmern der reformierten Kirche in Deutschland" bezeichnet (vgl. dazu S. 369f.), vereinte er als begnadeter und fleißiger Schriftsteller herausragende theologische Einsichten mit überzeugenden pastoralen Anliegen. Er war "ein Mann sprühenden Geistes, auf hoher Warte stehend und weit hinausblickend, eine Persönlichkeit schärfster Prägung" (Johannes Ninck).

Der Sammelband besteht aus zwei Teilen. Im ersten (S. 45-349) befindet sich eine gut gewählte und gründlich erläuterte Anthologie. Jaeschke entschied sich für Texte um die Schwerpunktthemen Pastorendienst, Schriftauslegung sowie Historische Theologie und bildet damit die Schaffensbreite von Zahns Wirken gut ab.

Jeder Themenschwerpunkt entpuppt sich dem Leser schnell als Schatzkammer. So werden nahezu alle, die selbst im Verkündigungsdienst stehen, von Zahns erstaunlichen seelsorgerlichen Einblicken profitieren, so wie sie im Aufsatz "Empfindungen eines Predigers" niedergeschrieben sind. Exegeten werden überrascht sein von der Tiefe und Qualität der Schriftauslegungen. Zahns Thesen zur Verbalinspiration entsprechen den Positionen von Princeton und den Missouri-Lutheranern (S. 105-107). In der im Band wiedergegebenen Besprechung des von Theodor Zahn 1898 gehaltenen Vortrags "Die bleibende Bedeutung des neutestamentlichen Kanons für die Kirche" wendet er sich entschieden und originell gegen jede Kanonkritik (S. 225-241). Sein vehementes Eintreten für die Autorität der Heiligen Schrift erhellt, warum historisch-kritisch lehrende Zeitgenossen, wie der Bonner Alttestamentler Kamphausen, vom "leider unzurechnungsfähigen Adolph Zahn" sprachen.

Erfrischend und höchst beachtenswert sind die Texte aus dem Bereich der historischen Theologie. Obwohl die Beiträge über hundert Jahre alt sind, wird so mancher gelehrte Theologe Überraschungen erleben. Wussten Sie, dass dem Reformator Zwingli in der Nacht vor dem ersten "zwinglianischen" Abendmahl im Traum eine Gestalt erschien und den Predigttext für den darauffolgenden Sonntag offenbarte (nämlich Ex 12,11 - siehe S. 249f.)? All jene, die sich mit den Positionen der Charismatischen Bewegung auseinandersetzen, werden zweifellos gewinnbringend Zahns Aufsatz über "Das inwendige Wort" lesen. Interessant außerdem, dass der Altcalvinist Zahn sich nicht für den "optimistischen Amillenniarismus" Calvins, sondern den "pessimistischen" Luthers stark machte.

Aber damit nicht genug. So fesselnd der erste Teil des Buches ist, im zweiten (S. 373-589) - obwohl Anhang genannt, eigentlich viel mehr als das - erörtert der Herausgeber den kultur- und theologiegeschichtlichen Kontext, in dem Zahn wirkte, auf souveräne und überaus horizonterweiternde Weise. Dem Leser kommt es vor, als ob bei der Weitung des Blickes A. Zahn aus dem Fokus gerät und man ihn trotzdem - weil im Zusammenhang sehend - noch besser verstehen lernt.

Im Anhang A widmet sich Jaeschke den theologiegeschichtlichen Fronten, zwischen denen Zahn in der Hochzeit des Liberalismus stand. Als Grundlage dafür steht Zahns Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert, das, obwohl weitaus weniger bekannt als Karl Barths Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert,durchaus mit diesem vergleichbar ist. Im Anhang B-F untersucht Jaeschke die Besonderheiten des "Zahnschen Calvinismus". Der Leser wird hineingenommen in wichtige theologische Auseinandersetzungen, wie z.B. in die um die Lehre der Heiligen Schrift und der Rechtfertigung. Eingehend entfaltet der Autor die Lehrunterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten (S. 489-523). Die Erläuterungen zur Eschatologie Zahns fallen so umfangreich aus, dass man sie gut als kurze Einführung in christliche Endzeitmodelle lesen kann.

Abgeschlossen wird das Buch mit Quellennachweisen, einem Abkürzungsverzeichnis und einem Namensregister, das die Erschließung des Werkes erheblich vereinfacht.

Wolf Christian Jaeschke verfügt über profunde Kenntnisse der reformierten Theologie und kann diese auf packende und anregende Art vermitteln. Das Buch ist sicher teuer, gibt aber mehr als es verspricht. Es ragt weit aus der unüberschaubaren Masse der theologischen Publikationen heraus. An der Qualität dieses Sammelbandes sollten sich theologische Neuerscheinungen unserer Zeit messen lassen.

 Die Rezension/Kritik stammt von: Ron Kubsch
 Kategorie: Sonstiges

  Verlag: Verlag für Kultur und Wissenschaft
  Jahr: 2001
  ISBN: 3-932829-27-1
  Seiten: 603
 €    Preis: 40,00 Euro