Gischala ergibt sich. Johannes flieht nach Jerusalem.


Jetzt war nur mehr das Städtchen Gischala in Galiläa übrig, das noch nicht in den Händen der Römer sich befand. Zwar war hier die eigentliche Bevölkerung friedlich gesinnt, da sie zumeist aus Bauern bestand, deren ganzes Interesse stets nur die Hoffnung auf einen guten Ertrag in Anspruch zu nehmen pflegt, aber es hatte sich zu ihrem Unglück eine nicht unbedeutende Bande von Schurken in die Stadt eingeschlichen, in deren leidenschaftliche Umtriebe auch ein Teil des dortigen Bürgerstandes mit hineingerissen wurde.

Der treibende Factor unter ihnen, der auch den Aufstand organisierte, war Johannes, der Sohn eines gewissen Levi, ein Erzbetrüger, der alle Rollen spielen konnte und ebensoschnell dabei war, sich in kühnen Träumen zu wiegen, als er energisch war, das gehoffte Ziel auch zu erreichen, so dass es für Niemand ein Geheimnis war, er wolle den Krieg nur, um sich der Herrschaft zu bemächtigen.

So ward er das Haupt der eigentlichen Kriegspartei in Gischala, unter deren Zwang nun auch die Volkspartei, die sich vielleicht unter anderen Umständen sogar zu einer Gesandtschaft wegen der Übergabe entschlossen haben würde, den Anmarsch der Römer mit den Waffen in der Hand erwartete.

Gegen diese Rebellen von Gischala sandte nun Vespasian den Titus mit 1.000 Reitern ab, während er die zehnte Legion nach Scythopolis führte und dann in Begleitung der zwei anderen Legionen wieder nach Cäsarea zurückkam. Er wollte denn doch endlich seinen Soldaten einmal eine Erholung von der unausgesetzten Anstrengung gewähren und glaubte gerade in den genannten wohlhabenden Städten Leib und Geist seiner Truppe für die bevorstehende Campagne allmählig wieder kräftigen zu können.

War es doch kein kleines Stück Arbeit, das er in der Eroberung Jerusalems noch vor sich sah, da ja Jerusalem die alte Königsstadt, das Haupt der ganzen Nation und damals auch das Stelldichein aller jener war, die der Krieg zur Flucht gezwungen hatte.

Schon ihre von Natur aus starke, durch den Bau von Befestigungswerken noch verstärkte Lage machte ihm keine geringe Sorge; sah er aber dann erst auf die Entschlossenheit und Verwegenheit ihrer Verteidiger, so musste er voraussetzen, dass diese Leute selbst ohne Mauern schon sehr schwer zu bewältigen sein würden: Grund genug, seine Soldaten im vorhinein zu stählen, wie man Ringkämpfer vor dem Kampfe stählt!


Als Titus gegen Gischala herangeritten kam, sah er gleich, dass er die Stadt mit Leichtigkeit im ersten Anlauf nehmen könnte: er wusste aber auch, dass im Falle einer förmlichen Erstürmung die Bevölkerung von der Soldateska rücksichtslos niedergehauen werden würde, während er schon an der bisherigen Schlächterei übergenug hatte und mit der großen Mehrzahl des Volkes Erbarmen fühlte, das da unschuldig mit den Schuldigen ohne Unterschied hingemordet worden wäre. Er wünschte aus diesem Grunde, die Stadt lieber aus dem Wege der Capitulation sich zu unterwerfen.

Er hielt nun im Angesichte der Stadtmauer, die von Männern, zumeist freilich der Rotte jener Elenden angehörig, über und über bedeckt war, folgende Ansprache an sie: „Ich wundere mich nur, mit welcher Zuversicht ihr allein noch, nachdem schon alle Städte erobert sind, den römischen Waffen zu trotzen waget, da ihr doch sehen konntet, wie selbst viel stärkere Städte im ersten Ansturm in Trümmer gelegt worden sind, während andererseits alle diejenigen, welche sich den Römern auf Treue und Glauben ergeben haben, vor euren Augen in dem ruhigen Genüsse ihrer Güter dahinleben. Diese Gnade biete ich auch euch jetzt an, ohne euch im geringsten etwas wegen eures Übermutes nachzutragen.

Denn Nachsicht verdient die Hoffnung auf Freiheit, keine mehr aber ein aussichtsloser Starrsinn.

Wollet ihr euch nämlich meinen humanen Worten und der Zusicherung meiner Gnade nicht fügen, so werdet ihr die ganze Schärfe meines Schwertes fühlen müssen und nur zu bald die Entdeckung machen, dass eure Mauer für die römischen Maschinen bloß ein Kinderspiel ist, und dass das Vertrauen darauf euch vor allen Galiläern nur den traurigen Ruhm verleihen kann, freche Gefangene zu sein.


Keiner aus der Bürgerpartei durfte sich an der Erwiderung auf diese Vorschläge beteiligen; nicht bloß das, sie durften nicht einmal die Mauer betreten, die absichtlich schon zuvor in ihrer ganzen Ausdehnung von dem Gesindel in Beschlag genommen worden war. Auch die Tore waren von Wachen besetzt, damit niemand, sei es, zum Zwecke der Capitulation die Stadt verlassen oder einige von den Reitern hineinlassen könnte.

Dafür ergriff Johannes das Wort und erklärte, dass ihm die Aufforderung zur Übergabe sehr erwünscht komme, und dass er die Widerspenstigen zur Annahme derselben entweder bereden oder nötigenfalls auch zwingen werde. Indes müsse schon Titus jenen Tag – es war nämlich gerade Sabbat – dem jüdischen Gesetze zugute halten, weil es ihnen an diesem Tage nicht erlaubt wäre, sich auch nur in Friedensverhandlungen einzulassen, sowenig, wie zu den Waffen zu greifen.

Gewiss sei es auch den Römern nicht unbekannt, wie strenge der siebente Tag bei ihnen Woche für Woche von allen Geschäften freigehalten werden müsse: in der Verletzung desselben läge für den, der sie erzwingen möchte, kein geringerer Frevel, als für den, der dem Zwange nachgeben wollte. Übrigens könnte ja ein Aufschub dem Titus keinerlei Schaden bringen.

Denn was sollte wohl Jemand bei der Nacht noch besonderes im Schilde führen, da es doch Titus freistehe, sein Lager rings um die Stadt aufzuschlagen und dieselbe scharf zu bewachen.

Andererseits aber wäre den Juden sehr geholfen, wenn sie ihre väterlichen Gesetze in keiner Weise zu übertreten brauchten. Wenn schon Titus ihnen wider alles Erwarten den Frieden gnädig gewähren wolle, so wäre es geziemend, auch die Gesetze bei denen, die er retten wolle, zu schonen.

Mit diesen und ähnlichen Vorstellungen führte er wirklich Titus hinters Licht, da er es gar nicht auf den siebenten Tag, sondern nur auf seine eigene Rettung abgesehen hatte. Er fürchtete mit Grund, falls die Stadt sofort mit Sturm genommen würde, hier ergriffen zu werden, während eine nächtliche Flucht ihm allein noch Hoffnung gab, mit dem Leben davonzukommen.

Im Grunde genommen, war es eine Fügung Gottes, der Johannes zum Unheil Jerusalems erhalten wollte, dass Titus sich nicht nur durch den vorgeschützten Beweggrund zum Aufschub bestimmen ließ, sondern sogar in größerer Entfernung von der Stadt, bei Kydyssa, sein Lager aufschlug.

Es war dies ein stark befestigtes Dorf im tyrischen Grenzgebiet, welches ein Gegenstand beständiger Feindschaft und Fehde für die Galiläer war, da es eine zahlreiche Bevölkerung und in seiner Befestigung einen guten Hinterhalt für die Feindseligkeiten gegen die jüdische Nation besaß.


Als nun beim Eintritt der Nacht Johannes keine einzige römische Wache mehr in der Umgebung der Stadt gewahrte, benützte er rasch den günstigen Augenblick, nahm nicht allein seine Bewaffneten, sondern auch viele andere für den Kampf unnütze Männer sammt ihren Familien mit und flüchtete sich mit ihnen gegen Jerusalem.

Zwanzig Stadien weit gelang es nun dem Menschen, dem natürlich die Angst um seine Freiheit und sein Leben die Schritte beflügelte, den Tross der Frauen und Kinder in gleichem Schritte mit sich fortzubringen; darüber hinaus aber begannen sie zurückzubleiben und, von den Ihrigen verlassen, erbärmliche Klagen auszustoßen.

Denn die Männer liefen so, als würden ihnen die Feinde desto näher zu Leibe rücken, je weiter sie sich selbst von ihren Angehörigen entfernten. Sie vermeinten, dass jetzt und jetzt die Römer auftauchen würden, um sie gefangen zu nehmen, und jagten entsetzt weiter, wobei sie sich sogar auf das Geräusch hin, das die eigenen Leute beim Laufen verursachten, erschreckt umwandten, als ob die Gefürchteten schon zur Stelle wären.

Eine große Zahl verunglückte auf Abwegen, während auch der Straße entlang in der dringenden Hast, mit der einer dem anderen zuvorzukommen trachtete, eine Menge Leute niedergestoßen wurden.

Zum Erbarmen war zumal das Schicksal der Frauen und Kinder, von denen manche auf den Zuruf ihrer Gatten und Verwandten hin sich wieder aufrafften und unter lautem Schluchzen sie inständig baten, doch auf sie zu warten.

Aber den Ausschlag gab schließlich der Befehl des Johannes, der den Männern zuschrie, sie möchten sich selbst in Sicherheit bringen und jener Stadt zufliehen, in der sie auch für die verlassenen Familien, falls sie schon weggeschleppt würden, an den Römern Rache nehmen könnten.

So zerteilte sich der Haufe von Flüchtlingen da- und dorthin, wohin jeden seine Kraft oder Beine eben trugen.


Als es tagte, erschien Titus wieder vor den Mauern, um die Capitulation entgegenzunehmen. Die Bürgerschaft öffnete ihm auch sofort die Tore, zog ihm mit Frauen und Kindern entgegen und feierte ihn laut als ihren Wohltäter, der die Stadt von ihrem Kerkermeister befreit habe.

Man erzählte ihm nämlich zugleich von der Flucht des Johannes, bat ihn um Verzeihung für die Bürgerschaft und um die Bestrafung der noch übrigen Rebellen nach seinem Einzuge.

Ehe Titus die letztere Bitte der Bürger erfüllen wollte, sandte er vor allem eine Reiterabteilung zur Verfolgung des Johannes ab. Ihn selbst erwischten nun zwar die Reiter nicht mehr, da er schon vor ihnen Jerusalem mit heiler Haut erreicht hatte, aber von den Männern, die mit ihm von Gischala aufgebrochen waren, hieben sie an die 6.000 nieder, während sie von den Frauen und Kindern nicht viel unter 3.000 von allen Seiten zusammentrieben und zur Rückkehr nötigten.

Titus ärgerte sich natürlich, dass er nicht sogleich dem Johannes für seinen Betrug den Kopf vor die Füße hatte legen können, aber die Menge der Gefangenen und die Gefallenen boten immerhin seinem Grimme eine Genugtuung, mit der er sich über die fehlgeschlagene Expedition trösten konnte. Er betrat nun, von Lobeshymnen umrauscht, die Stadt und ließ durch seine Soldaten eine kleine Strecke von der Mauer einreißen, das gewöhnliche Zeichen der Einnahme, suchte aber im übrigen mehr durch Drohungen als durch wirkliche Executionen die Unfriedenstifter zur Ruhe zu zwingen: Denn würde er, meinte Titus, an die Ausscheidung der Strafbaren gehen, so würden wohl viele aus Privathass und persönlicher Feindschaft die unschuldigsten Leute angeben. Es sei aber doch gewiss besser, den Schuldigen zwischen Furcht und Hoffnung am Leben zu belassen, als einen, der es nicht verdient hat, mit ihm zugrunde gehen zu lassen.

Denn im ersteren Falle könnte es wohl sogar geschehen, dass er den begnadigten Störefried durch die Furcht vor der Strafe zur Vernunft brächte und durch den großmütigen Pardon für das Vergangene beschämte: umgekehrt aber könnte man die Hinrichtung widerrechtlich hingeopferter Menschen nicht mehr rückgängig machen.

Indes legte er in die Stadt zur Sicherheit eine Besatzung, um sowohl die Neuerungssüchtigen im Zaume zu halten, als die friedlich Gesinnten mit größerer Zuversicht bei seinem Scheiden zu erfüllen. So war nun Galiläa endlich nach vielem Schweiß und saurer Arbeit von den Römern vollständig bezwungen.