Aufregung in Jerusalem. Zusammenströmen der Rebellen. Das Wüten der Zeloten gegen die Aristokraten und Hohenpriester. Wahl des Phannias zum Hohenpriester. Ananus bietet das Volk gegen die Zeloten auf. Letztere im Tempel eingeschlossen. Verrat des Johannes


Beim Einzug des Johannes war in Jerusalem alles Volk aus den Häusern auf die Straßen hinausgelaufen, und eine vielhundertköpfige Menge umstand jeden einzelnen Flüchtling, der mit ihm gekommen, um etwas Näheres über die traurigen Vorgänge außerhalb Jerusalems zu erfahren.

Obschon der noch heiß fliegende Athem nur zu deutlich ihre ausgestandene Angst verriet, konnten sie doch selbst im Unglück noch groß tun, indem sie meinten, sie hätten nicht vor den Römern Reißaus genommen, sondern wären nur gekommen, um von Jerusalem aus desto sicherer dieselben zu bekämpfen.

Denn nur unvernünftige und unpraktische Leute könnten wegen Gischala und ähnlicher elender Nester tollkühn ihre Haut zu Markte tragen, da man doch Wehr und Mannschaft lieber für die Hauptstadt sparen und zusammenhalten sollte.

Dabei ließen sie natürlich auch ein und das andere Wort über die Einnahme von Gischala fallen, aus denen die meisten schon herausmerkten, dass das, was man etwas nobler „Rückzugsbewegung“ benamset hatte, im Grunde nur eilige Flucht gewesen sei.

Als sich aber dann noch die Kunde von den Vorgängen bei der Gefangennahme verbreitete, griff im Volke keine geringe Bestürzung Platz, da man dieselben als gewaltig ernste Vorzeichen der eigenen Niederlage betrachten musste.

Anstatt nun wegen seines Benehmens gegen die feige verlassenen Familien schamrot zu werden, ging Johannes vielmehr in Jerusalem von dem einen zum anderen und stachelte durch selbstgemachte Hoffnungen zum Kriege auf, indem er die Macht der Römer als recht schwach darstellte, die der Juden aber recht herausstrich und noch seinen Spott mit der Unkenntnis des unerfahrenen Volkes treiben konnte durch die Bemerkung, dass die Römer nicht einmal, wenn sie sich Flügel nähmen, jemals über die Mauern Jerusalems hinüberkämen, da sie sich schon an den Galiläischen Dörfern die Köpfe blutig gestoßen und an den dortigen Mauern ihre Maschinen zerrieben hätten.


Durch diese Reden wurde der Großteil der jungen Leute auf die Seite der Schurken gezogen und war Feuer und Flamme für den Krieg. Unter den besonneneren und älteren Leuten dagegen gab es wohl keinen, der nicht in Voraussicht der kommenden Dinge die Stadt wie eine bereits verlorene betrauert hätte.

So herrschte nur Verwirrung unter dem Volke zu Jerusalem. Bevor aber noch in Jerusalem der Zwiespalt eingerissen, hatte sich schon die Bevölkerung im Lande in zwei Lager geteilt.

Den Anstoß dazu gab die Ankunft des Titus in Cäsarea und der Zug, den darauf Vespasian von Cäsarea nach Jamnia und Azotus unternahm. Es gelang ihm hiebei, diese Städte auf seine Seite zu bringen und durch eine Besatzung zu sichern, worauf er, begleitet von einer zahlreichen Menge, die er sich bei den friedlich unterworfenen geholt hatte, wieder nach Cäsarea zurückkehrte.

Jetzt regte sich dafür in jeder Stadt Unfriede und Bruderkampf, und wo man sich vom Schrecken vor den Römern wieder erholt hatte, kehrte man jetzt die Fäuste gegeneinander. Zwischen der Kriegspartei und der friedliebenden Bevölkerung herrschte eine arge Verbitterung.

Zuerst griff der Streit nur in einzelnen Häusern bei Leuten um sich, die schon von jeher nicht gerade in der besten Eintracht miteinander gelebt hatten: dann aber kam es soweit, dass selbst Personen, die bislang durch die engsten Bande der Liebe verbunden gewesen, in zügelloser Feindschaft sich nunmehr gegenüber traten, und da sich jedermann natürlich an seine Gesinnungsgenossen anschloss, bereits in ganzen Massen bekämpften.

Überall herrschte Parteiung, und überall bekam gerade jene Partei, die für den Umsturz war und nur den Kampf herbeiwünschte, dank ihrer jugendlichen Kraft und Verwegenheit, das Übergewicht über die alten und vernünftigen Leute.

Anfänglich verlegten sich nur einzelne auf eigene Faust auf die Plünderung der Ortsbevölkerung, dann aber bildete man förmliche Rotten, um die Bewohner des flachen Landes auszurauben, was mit einer Grausamkeit und Frevelei geschah, dass die Einwohner hierin keinen Unterschied mehr zwischen den Römern und ihren eigenen Landsleuten spüren konnten, ja, dass den ausgezogenen Opfern selbst die römische Gefangenschaft noch viel erträglicher schien.


Die römische Besatzung in den Städten gewährte teils aus Besorgnis, selbst hart mitgenommen zu werden, teils aus Hass gegen die jüdische Nation den Bedrängten gar keine oder nur geringe Hilfe. Endlich, nachdem sich die Banden allerorts auf dem Lande an dem dort gemachten Raube vollgesogen, begannen sie sich unter ihren Hauptleuten zu sammeln und zogen sich, eine wahre Armee von Schurken, zum Unheil Jerusalems in diese Stadt hinein, in diese Stadt, sage ich, die damals leider keine feste Führung hatte und nach väterlicher Sitte alles, was Stammgenosse hieß, ohne Untersuchung aufnahm, und wo damals auch noch die allgemeine Überzeugung herrschte, dass alle Scharen, die hineinströmten, nur Bundesgenossen seien, die das Wohlwollen für die Stadt herbeigeführt habe.

Das waren nun jene Leute, welche, auch von der Empörung abgesehen, die Stadt später in das Verderben stürzen mussten, da ein unnützer und fauler Haufe schon zum voraus die für die ehrlichen Kämpfer in eben hinreichender Menge gesammelten Vorräte gründlich aufzehrte und zu dem Kriege mit den Römern auch noch den Bürgerkrieg und die Hungersnot daherbrachte.


Auch noch andere Räuberbanden kamen vom Lande in die Stadt hinein, welche im Bunde mit den noch schlimmeren Gesellen in der Stadt vor keiner Gewalttat mehr zurückscheuten.

Ihre Verwegenheit beschränkte sich nämlich nicht darauf, bloß zu plündern und die Leute splitternackt auszuziehen, sondern sie griff sogar nach dem Mordstahl, und das nicht etwa bei Nacht oder verstohlen oder gegen gemeine Leute, sondern ganz ungescheut und am hellichten Tage, und zwar fing man gerade bei den Vornehmsten an!

Zuerst nahmen sie einen gewissen Antipas fest, einen Mann von königlichem Geblüte, der in der Stadt ein solches Ansehen genoss, dass seinen Händen die Stadtkasse anvertraut war, und warfen ihn in das Gefängnis, nach ihm einen gewissen Levi, einen Mann von hohem Rang, und den Sophas, den Sohn des Raguel, die beide königlicher Abstammung waren, und außerdem noch eine ganze Reihe von Männern, die im Lande als Leute von hervorragender Stellung galten.

Eine schreckliche Bestürzung herrschte darüber unter dem Volke, und nicht anders, als wenn schon der Feind die Stadt erstürmt hätte, suchte jeder nur mehr sein eigenes Leben zu schützen.


Die Räuber waren aber mit der bloßen Einkerkerung der Verhafteten nicht zufrieden, und hielten es auch für gefährlich, Männer von solchem Einfluss längere Zeit in dieser Weise in Gewahrsam zu halten, da schon deren zahlreiche Sippschaft nach ihrer Meinung gar wohl in der Lage war, den Gefangenen beizuspringen, und nicht bloß das, sondern auch die Bürgerschaft selbst, empört über diese Ruchlosigkeit, gar leicht sich gegen sie erheben konnte.

Sie beschlossen daher die Gefangenen zu beseitigen, und schickten einen gewissen Johannes, den größten Blutund, den sie unter sich hatten, den Sohn der Dorkas oder Gazelle, wie er in der heimischen Sprache hieß, und mit ihm noch zehn andere nach dem Kerker. Mit gezückten Schwertern drangen sie dort ein und schlachteten die Gefangenen ab.

Natürlich mussten sie für eine solche Verruchtheit auch einen ebenbürtigen Vorwand erdichten, indem sie erklärten, die Verhafteten hätten wegen Auslieferung der Stadt Jerusalem mit den Römern Unterhandlungen gepflogen, und seien es ja nur Verräter der gemeinsamen Freiheit, die sie aus dem Wege geräumt hätten: kurz sie rühmten sich noch ihrer Schandtaten, als wären sie damit die Wohltäter und Retter der Stadt geworden.


Mit dem zunehmenden Kleinmut und der Furcht des Volkes hielt aber die Tollheit der Räuber gleichen Schritt, und es sollte endlich soweit kommen, dass in ihrer Hand sogar die Wahlen der Hohenpriester lagen.

Sie ließen nämlich die Geschlechter, aus denen bisher die Hohenpriester abwechselnd ernannt wurden, nichts mehr gelten und setzten Leute ohne Namen und Priesteradel an ihre Stelle, um an ihnen Genossen ihrer Frevel zu haben.

Denn jene, welche ohne ihr Verdienst zur höchsten Auszeichnung gelangt waren, mussten notwendig sich denjenigen gefügig erweisen, die ihnen dieselbe verschafft hatten.

Durch die mannigfachsten Intriguen und Klatschereien hetzten sie auch die Behörden gegeneinander, da offenbar ihr Weizen dann am besten blühen musste, wenn jene, die ihn allein noch hätten stören können, sich selbst in den Haaren lagen. Nachdem sie sich in den Ruchlosigkeiten gegen die Menschen über und über genug getan, ließen sie endlich ihren Übermut auch noch am Göttlichen aus und betraten mit ihren blutbedeckten Füßen das Heiligtum.


Angefeuert nämlich von dem ältesten Hohenpriester Ananus, einem Mann von großer Klugheit, der wohl noch die Stadt aus diesen Wirren gerettet hätte, wenn er den Händen seiner tückischen Feinde entgangen wäre, nahm jetzt das Volk gegen die Räuber eine drohende Haltung an. Um nun auch der Volksbewegung trotzen zu können, machten sich die letzteren aus dem Tempel Gottes eine förmliche Festung, und es ward ihnen so das Heiligtum Schlupfwinkel und Zwingburg zugleich.

Ihre Gewalttaten mischten sie noch mit Spott, der bekanntlich noch bitterer schmerzt, als der Schaden selbst: so wollten sie jetzt den Kleinmut des Volkes auf die härteste Probe stellen und ihre eigene Macht daran bemessen, dass sie den Versuch unternahmen, die Hohenpriester durch das Los zu bestimmen, während sonst, wie bemerkt, der Wechsel in diesem Amte nach dem Geschlechteradel erfolgte.

Sie deckten ihre List mit der Berufung auf ein altes Herkommen, da schon von Alters her, wie sie sagten, das Hohepriestertum auf dem Wege des Loses vergeben worden sei. In Wirklichkeit handelte es sich ihnen um die Beseitigung eines begründeteren Rechtes und um einen neuen Anschlag auf die Herrschaft, da sie dann die Bestellung der obersten Behörden in ihrer Hand hatten.


Sie ließen nun eine einzige der hohenpriesterlichen Familien, namens Enjachim, herbeiholen und einen Hohenpriester auslosen. Zufällig traf das Los einen Mann, dessen Wahl, wie keine andere, die volle Gesetzlosigkeit des Vorganges beleuchten musste, nämlich einen gewissen Phannias, den Sohn des Samuel aus dem Dorfe Aphtha, einen Menschen, der nicht bloß kein Hoherpriester aus dem Geschlechteradel war, sondern auch nicht einmal recht wusste, was denn eigentlich das Hohepriestertum wäre: so verbauert war er!

Hatte man ihn doch gegen seinen Willen vom Lande herbeigeschleppt und ihn, wie man es auf der Theaterbühne macht, in eine ihm ganz fremde Rolle gesteckt, indem man ihm das heilige Kleid umhieng und von Zeit zu Zeit einsagte, was er jetzt zu tun habe!

So entsetzlich diese Gottlosigkeit, sie war den Räubern nur vergnüglicher Spott und Kinderspass – den anderen Priestern aber traten die Tränen in die Augen, wenn sie untätig zusehen mussten, wie man mit dem Gesetze seinen Spott trieb, und seufzten tief auf über die Entweihung des heiligen Amtes.


Dieses ihr tolles Beginnen ließ sich aber das Volk nicht mehr gefallen: allgemein war die Bewegung, die Gewaltherrschaft zu brechen: Die Männer von Ansehen, wie ein Gorion, Sohn des Josephus, und Symeon, des Gamaliel Sohn, redeten in den Volksversammlungen den breiten Massen, im Privatverkehr aber jedem einzelnen eifrig zu, endlich einmal die Todfeinde der Freiheit gebürend zu züchtigen und das Heiligtum von den Mordbuben zu säubern.

Auch die Hohenpriester, Jesus, Sohn des Gamala, und Ananus, Sohn des Ananus, die das meiste galten, ließen es an Vorwürfen gegen das saumselige Volk bei den Zusammenkünften nicht fehlen und steigerten die Bewegung gegen die „Eiferer“ (Zeloten).

Das war nämlich der Name, den sie sich selbst gaben, als ob ihr Eifer edlen Bestrebungen gegolten hätte, während sie in Wahrheit nur den größten Schlechtigkeiten nacheiferten und dieselben noch zu überbieten suchten.


Als nun wieder einmal das Volk bei einer solchen Versammlung war, und sich allgemein der Unwille über die Besetzung des Heiligtums, die vielen Plündereien und Meuchelmorde Luft machte, ohne dass man jedoch schon den Mut gefunden hätte, sich zur Rache dafür aufzuraffen, da man die Zeloten, wie es auch der Sachlage entsprach, für schwer angreifbar hielt, da trat Ananus in ihrer Mitte auf, erhob zuerst seinen Blick wiederholt zum Tempel, wobei sich seine Augen mit Tränen füllten, und begann dann folgendermaßen: „Besser, fürwahr, wäre es für mich gewesen, früher zu sterben, ehe meine Augen das Haus Gottes mit so vielen und großen Freveln angefüllt und die unnahbaren heiligen Räume unter den blutbefleckten Sohlen von Mördern zerstampft sehen mussten.

Aber nein! Bekleidet mit den hohenpriesterlichen Gewändern und geschmückt mit dem schönsten aller ehrwürdigen Titel, lebe ich noch und klammere mich noch an das Leben, anstatt wenigstens für die paar Tage meines Greisenalters einen ruhmreichen Tod mir einzutauschen! Stehe ich indes wirklich ganz allein, und ist es für mich her wie zur Wüste geworden, gut, so will ich doch wenigstens mein eigenes Leben ganz allein für meinen Gott hingeben.

Denn was soll mir auch das Leben unter einem Volke, das für sein eigenstes trauriges Schicksal schon ganz abgestumpft, und bei dem jedes Verständnis selbst für das Unheil, das ihm bereits am Nacken sitzt, völlig erloschen ist. Raubt man euch aus, so duldet ihr es, schlägt man euch, so schweigt ihr dazu und selbst für die Gemeuchelten habt ihr und wagt ihr keinen lauten Seufzer! O, der bitteren Tyrannei!

Doch was klage ich über die Tyrannen? Sind sie denn nicht von euch selbst und eurer Lammsgeduld groß gezogen worden?

Habt ihr sie denn nicht damals, als sich die ersten zusammenrotteten, und ihre Zahl noch geringe war, voll Nachsicht gewähren lassen und so durch euer Stillschweigen selbst zu ihrer Vermehrung beigetragen? Habt ihr nicht auch, wie sie sich ihre Hände zu wappnen begannen, ruhig zugesehen, um so das Schwert der Räuber euch an die eigene Kehle zu setzen, anstatt schon ihren ersten Anlauf zu unterdrücken, als sie zunächst nur mit Schmähungen sich an eurem Fleisch und Blut vergriffen? Ihr aber habt euch darum gar nicht gekümmert und so die Schurken auch noch zum Rauben und Stehlen förmlich herausgefordert und kein Wort dazu gesagt, als sie selbst ganze Häuser zu verwüsten anfingen. Ganz natürlich, dass sie dann auch zur Verhaftung der Eigentümer schritten, und wieder war niemand zum Beistande da, als man die Verhafteten mitten durch die Stadt schleppte!

Man hat sie, die von euch so schmählich preisgegebenen Männer, den Kerkerqualen überantwortet, ich will hier nicht hervorheben, wie viele und was für Männer, sondern nur was das ärgste ist, ohne alle Anklage, ohne Untersuchung. Dennoch ist kein Mensch den Gefangenen zu Hilfe gekommen. Es war vorauszusehen, dass wir dieselben dann auch sterben sehen mussten.

Ja, wir haben auch hier zugesehen, wie eine Herde vernunftloser Tiere zuschaut, wenn aus ihr das stärkste, das ja stets das Opfer sein muss, herausgerissen wird, und keiner von uns hat einen Laut von sich gegeben, geschweige, dass er eine Faust gerührt hätte!

Traget es also jetzt nur, traget es, wenn ihr das Heiligtum niedergetreten seht, und nachdem ihr Stufe um Stufe den Ruchlosen zu ihren Freveln selbst aufgebaut habt, dürft ihr euch jetzt ihre Obmacht nicht schwer fallen lassen. Sicherlich wären sie ja jetzt noch weiter gestiegen, wenn es noch etwas Erhabeneres zum Zerstören für sie gäbe, als das Heiligtum! So haben sie nun den festesten Punkt der Stadt in ihrer Gewalt – ich meine den Tempel, der sich nunmehr den Namen einer „Burg“ oder „Festung“ gefallen lassen muss. Jetzt, nachdem ihr eine so ungeheuerliche Tyrannei auch noch in einer Trutzburg in eurer Mitte habt und eure Feinde ober eurem Haupte sehen müsst, was beratschlagt ihr noch und womit wollt ihr denn noch länger euren Hoffnungen schmeicheln?

Wartet ihr etwa auf die Römer, damit diese unserem Heiligtum Hilfe bringen? Also steht es so mit unserer Stadt, und ist es so weit schon mit uns gekommen, dass sich sogar die Feinde unserer erbarmen müssen?

Ihr dreimal Elenden, werdet ihr euch nicht endlich aufraffen und, was bekanntlich selbst die wilden Tiere tun, auf die Hiebe euch umwenden, um euch eurer Peiniger zu erwehren? Überkommt euch denn keine Erinnerung mehr an das, was jeder einzelne von euch für sich allein schon erlitten hat, und schweben die ausgestandenen Leiden wirklich nicht mehr vor euren Augen, um die ganze Schärfe eurer Rache gegen sie herauszufordern?

So ist denn bei euch gänzlich erstorben das heiligste und natürlichste Gefühl, die Liebe zur Freiheit? Sklavenseelen und knechtische Kriecher sind wir geworden, als hätten wir den gekrümmten Rücken schon von unseren Ahnen her erhalten.

Doch nein! jene haben vielmehr zahlreiche und schwere Kämpfe für ihre Unabhängigkeit durchgefochten und haben weder dem Joche der ägyptischen noch der medischen Herrschaft sich gebeugt, um ja von Niemand Befehle annehmen zu müssen.

Aber wozu auf die Vorfahren zurückgreifen? Was hat denn doch nur der gegenwärtige Krieg mit den Römern, bei dem ich nicht erörten will, ob er vorteilhaft und nützlich oder das Gegenteil sei, was hat denn derselbe nur, sage ich, für einen Beweggrund? Ist es nicht die Freiheit?

Sonach wollten wir also zwar die Herren der Welt nicht mehr dulden, wohl aber die Tyrannei unserer Stammesgenossen uns gefallen lassen.

Es dürfte indes verzeihlich sein, wenn Jemand einem auswärtigen Herrn gehorcht, weil ihn eben einmal sein Glücksstern verlassen hat, aber dem Schurken im eigenen Hause den Platz räumen, das ist gemein, weil selbstgewollt.

Nachdem ich schon gelegentlich der Römer gedacht habe, so will ich offen vor euch aussprechen, was mir soeben unter der Rede eingefallen ist und meinen Geist lebhaft in Anspruch genommen hat: dass wir nämlich, auch wenn wir in ihre Hand fallen sollten – möchte ich hier ein falscher Prophet sein! – jedenfalls nichts schlimmeres mehr zu gewärtigen haben, als was diese Leute uns angetan haben.

Oder wie? ist es nicht ein Schauspiel, das uns die Tränen auspressen muss, wenn wir im Heiligtum sogar Weihgeschenke erblicken, welche die Hand der Römer gespendet hat, während man ebendort in den Händen unserer Stammgenossen die Beutestücke schauen muss, die sie der Blüte der Hauptstadt geraubt und mit deren Blute bespritzt haben, wenn wir die Leichen gemordeter Männer schauen, deren selbst die Römer im Falle einer Erstürmung geschont haben würden; ja sehen zu müssen, wie die Römer niemals die Schranke des Heidenvorhofes überschritten und nicht eine unserer heiligen Gewohnheiten bei Seite gesetzt, vielmehr sich begnügt haben, von weitem auf die Mauern des Tempels mit einem geheimen Schauer hinzusehen,

während gewisse Leute, die auf diesem unserem Boden das Licht der Welt erblickt haben, die unter dem Einfluss unserer Sitte auferzogen worden sind und den Namen „Juden“ führen, im Herzen des Heiligtums herumstampfen, die Hände noch bedeckt mit dem warmen Blute ihrer gemordeten Brüder!

Sollte da jemandem noch bange sein vor einem bloßen Kampf nach außen und vor Leuten, die im Vergleich zu den unserigen tausendmal gemäßigter gegen uns sind? Denn, wenn wir ehrlich die Dinge beim rechten Namen nennen sollen, so könnte man wohl sogar in den Römern Schirmer unserer Gesetze, in den Einheimischen dagegen ihre wahren Feinde finden!

Übrigens, glaube ich, seid ihr alle schon von Hause aus mit der vollen Überzeugung hiehergekommen, dass diese heimlichen Feinde unserer Freiheit von Grund aus verworfen seien, und dass man gar keine Strafe gegen sie ausdenken könne, welche da ihren Schandtaten angemessen wäre, wie ich auch glaube, dass euch schon vor meiner Ansprache die Untaten, die ihr selbst von diesen Bösewichtern erfahren habt, aufs höchste empört haben.

Vielleicht aber flösst doch den meisten aus euch ihre Masse und Frechheit, wie auch ihre vorteilhafte Stellung Schrecken ein.

Wie indes diese Vorteile nur durch eure Saumseligkeit den Feinden erwachsen sind, so werden sie ebenso gewiss auch von jetzt an noch immer zunehmen, falls ihr noch länger die Entscheidung hinausschiebt. Denn was ihre Masse anbelangt, so schwillt dieselbe von Tag zu Tag, da jeder Taugenichts zu seinesgleichen überzulaufen trachtet, das Feuer ihres Übermutes aber muss schon der eine Umstand schüren, dass sie bis zur Stunde gar keinem Widerstand begegnet sind, und in Betreff der Stellung könnte es wohl auch geschehen, dass sie, einmal dort oben, sich auch dort planmäßig verschanzen, wenn wir ihnen die Zeit dazu lassen.

Gebet euch andererseits der vollen Überzeugung hin, dass, wenn wir den Sturm auf das Gesindel wagen, das schlechte Gewissen ihren Arm lähmen, und dass den Vorteil der Höhe kluge Berechnung unsererseits wettmachen werde.

Vielleicht kehrt sogar die Gottheit für die Schmach, die man ihr angetan, die Geschosse gegen die Schützen, so dass die Gottlosen von den eigenen Pfeilen durchbohrt werden. Wir brauchen uns nur sehen zu lassen, und ihre Macht ist gebrochen!

Sollte es aber dabei nicht ohne alle Gefahr abgehen, so ist es gewiss etwas schönes, an den heiligen Toren zu sterben und sein Leben, diesmal freilich nicht für Weib und Kind, wohl aber für Gott selbst und seine heilige Stätte hinopfern zu dürfen.

Was aber meine Person betrifft, so werde ich überall mit Rat und Tat euch an die Hand gehen, und von meiner Seite soll keine Maßregel verabsäumt werden, die zu eurem Schutze dienen kann, noch sollet ihr je bemerken, dass ich selbst mein eigen Leib und Leben schonen werde.“


Mit diesen Worten suchte Ananus die Menge zum Kampfe gegen die Zeloten zu begeistern. Er täuschte sich übrigens durchaus nicht darüber, dass dieselben schon jetzt, dank ihrer Masse, ihrer Jugendkraft und Entschlossenheit, am allermeisten aber gerade infolge ihres Schuldbewusstseins fast unüberwindlich seien. Denn dass Leute, welche für das, was sie verübt, keinen Pardon mehr zu hoffen hatten, es bis zum äußersten kommen lassen und sich nie ergeben würden, war ihm klar.

Dennoch war sein Entschluss gefasst, lieber alles mögliche zu leiden, als bei einem solchen Aufruhr aller Elemente das Staatsruder sich selbst zu überlassen.

Das Volk verlangte jetzt stürmisch, gegen das von Ananus gezeichnete Gesindel geführt zu werden, und jeder wollte der erste sein, um der Gefahr die Stirne zu bieten.


Während aber Ananus die Kampffähigen aus dem Volke noch aussuchte und ordnete, hatten schon die Zeloten durch ihre Spione, die ihnen alle Vorgänge unter dem Volke hinterbrachten, von dem beabsichtigten Angriffe Wind bekommen. Höchst ergrimmt darüber, stürzten sie sofort, teils in dichten Massen, teils auch in kleinen Banden aus dem Heiligtum heraus und stießen jeden, der ihnen in den Wurf kam, schonungslos nieder.

Rasch ward nun von Ananus die Bürgerpartei gesammelt, die allerdings an Zahl den Zeloten überlegen war, aber dafür in der Bewaffnung und in der Schulung ihrer Massen hinter denselben zurückstand.

Doch ergänzte die Streitbegier, was beiden Parteien noch fehlen mochte. Die Stadtbevölkerung hatte sich mit Ingrimm, der da stärker ist, als jegliches Rüstzeug, die Räuber im Tempel aber mit der Verzweiflung, die keinen Gegner mehr zählt, gewappnet, und während die einen das Leben in der Stadt für unerträglich hielten, solange sie nicht das Raubgesindel daraus vertilgt hätten, wussten die Zeloten ihrerseits, dass ihnen im Falle einer Niederlage wohl keine Marter erspart bleiben würde.


Beherrscht von diesen Gefühlen, stürzte man gegeneinander. Zuerst begann man in der Stadt und vor dem Tempel sich gegenseitig mit Steinen zu bewerfen und mit Wurfspießen zu plänkeln. Wich ein Teil, so griff der Sieger auch zum Schwerte; es gab ein grässlich Morden beiderseits und zahlreiche Verwundungen.

Die Leute aus dem Volke wurden von ihren Angehörigen in ihre Häuser getragen: die verwundeten Zeloten kamen in den Tempel hinauf, wo ihr Blut den heiligen Boden bedeckte, oder, was wohl allein richtig gesagt ist, das Heiligtum befleckte.

Bei den Zusammenstößen waren immer die ausfallenden Räuber im Vorteile: aber die Volkspartei wurde dadurch nur noch erbitterter und zog immermehr Kämpfer an sich: man schimpfte auf jene, die zurückwichen, und die von hinten nachdrängenden Angreifer machten den Fliehenden bald keinen Platz mehr, so dass schließlich das Volk in seiner ganzen Masse auf den Feind drückte.

Letzterer konnte dem Anprall nicht länger widerstehen und zog sich allmählich in den Tempel zurück, wobei aber nun auch die Leute des Ananus mit ihm eindrangen.

Als sich das Gesindel von der ersten Mauer abgedrängt sah, ward es von einem panischen Schrecken ergriffen und flüchtete in den inneren Tempelraum, dessen Tore es schleunig zuschlug.

Ananus wollte vorderhand noch nicht den Angriff auf die Tore des Heiligtums eröffnen, zumal auch die Räuber von der Höhe aus einen Hagel von Geschossen unterhielten. Er hätte es selbst im Falle des Gelingens für unrecht gehalten, das Volk ohne vorgängige Reinigung in den Tempel hineinzuführen.

Er ließ vielmehr aus der ganzen Menge bei 6.000 Bewaffnete auslosen und postierte sie als Wachen auf die Hallen, die dann wieder von anderen abgelöst wurden. Jeder musste, wenn die Reihe an ihn kam, persönlich zur Wache erscheinen: dagegen wurden viele Rangpersonen von den obersten Behörden vom Wachdienst losgezählt, unter der Bedingung, dass sie ärmere Leute gegen Entgelt für sich aufnahmen und auf die Wache schickten.


Alle diese Leute miteinander sollte aber eben jener Johannes ins Verderben stürzen, von dessen Flucht aus Gischala wir früher erzählt haben. Ein äußerst verschlagener und von glühender Herrschsucht beseelter Mann, hatte er es schon von langer Hand auf das Staatsruder abgesehen.

Damals musste er natürlich den Volksfreund spielen und befand sich immer in der Gesellschaft des Ananus bei Tag sowohl, wo derselbe mit den Häuptern Beratungen pflog, als auch bei der Nacht, wenn er die Wachen abging; er setzte aber regelmäßig die Zeloten von den geheimsten Abmachungen in Kenntnis, und alle Pläne des Volkes waren selbst, ehe sie noch reiflich erwogen waren, auch schon bei den Feinden durch seinen Verrat bekannt.

Um aber gar keinen Verdacht gegen sich aufkommen zu lassen, erging er sich in maßlosen Schmeicheleien gegen Ananus und die Vorsteher des Volkes.

Seine Liebesmühe erzielte indes das gerade Gegenteil, da seine plumpen Komplimente den Verdacht gegen ihn erst recht herausforderten, und auch der Umstand, dass er als ungebetener Gast sich überall einstellte, sein verräterisches Spiel mit den geheimen Beschlüssen halb und halb erkennen ließ.

Denn man merkte gar wohl, dass die Feinde mit allem, was beim Volke beraten wurde, Fühlung hatten, und keine Persönlichkeit musste andererseits den Verdacht eines Verrates so stark nahelegen, als gerade die des Johannes.

Sich den Mann vom Halse zu schaffen, ging nicht leicht an, da er schon wegen seiner Bosheit zu fürchten war und überdies zu den Vornehmeren zählte; auch hatte er bei den Mitgliedern des großen Rates einen starken Anhang. So beschloss man denn, ihn durch einen Eid zur Bürgschaft für seine aufrichtige Anhänglichkeit zu verhalten.

Ohneweiters leistete Johannes diesen Schwur, nämlich die Wohlfahrt des Volkes zu befördern und weder einen Plan noch einen Vorgang den Feinden zu verraten und mit Rat und Tat an der Vernichtung der Bedränger mitzuarbeiten.

Von jetzt an ließ ihn die Partei des Ananus im Vertrauen auf diesen Treueid ganz unbedenklich zu jeder Beratung zu: schickte man ihn doch sogar zu den Zeloten hinein, um wegen Beilegung des Bürgerkrieges zu unterhandeln! Denn die Volkspartei wollte durchaus, was an ihr lag, jede Befleckung des Tempels verhindern, wie auch, dass kein Stammgenosse daselbst sein Leben lasse.


Johannes ging nun zu den Zeloten hinein, stellte sich in ihre Mitte und hielt mit einer Unverfrorenheit, gleich als ob er den Schwur für seine Ergebenheit in die Hände der Zeloten abgelegt hätte und nicht das Gegenteil, folgende Rede: „Oft schon habe ich um euretwillen Gefahren ausgestanden, um euch alle geheimen Pläne, welche die Partei des Ananus gegen euch ausgeheckt, aufzudecken.

Diesmal aber spielen wir miteinander den letzten Wurf, wenn uns nicht eine wunderbare Hilfe wird.

Ananus zaudert nämlich keinen Augenblick länger und hat bereits unter Zustimmung des betörten Volkes Gesandte an Vespasian abgeschickt, mit der Bitte, eiligst vor Jerusalem zu erscheinen und die Stadt zu besetzen. Er hat andererseits auch, aber nur um euch eine Falle zu legen, eine allgemeine Reinigung auf den morgigen Tag angeordnet, damit das Volk entweder unter dem Vorwande des Gottesdienstes zu euch hereinkommen oder mit offener Gewalt sich den Eintritt erzwingen und euch erdrücken sollte.

Ich sehe aber wirklich nicht ein, wie lange ihr die Absperrung durch die Wachen ertragen, oder gegen eine solche Übermacht im Kampfe euch halten wollet. Es ist nun eine göttliche Fügung“, bemerkte Johannes weiter, „dass gerade ich als Abgesandter zu euch hereingeschickt worden bin, um euch zur Beilegung der Feindseligkeiten zu bestimmen: es ist das nämlich nur eine Vorspiegelung von Seite des Ananus, um euch zuerst wehrlos zu machen und dann zu überfallen.

Es bleibt uns also nur die Wahl, entweder die Wachen um Schonung anzuflehen, damit wir wenigstens mit dem Leben davonkommen, oder aber uns Hilfe von auswärts zu verschaffen.

Sollte sich übrigens jemand aus euch mit der Hoffnung auf Begnadigung für den Fall unserer Niederlage schmeicheln, so müsste ein solcher entweder auf seine eigenen Streiche ganz vergessen haben, oder in der Meinung leben, dass auf die Reue der Übeltäter hin auf der Stelle auch die Geschädigten schon alles verziehen haben müssten.

Indes sieht man leider allzuoft bei denen, die uns Unrecht getan haben, selbst ihre Reue nur mit großem Missbehagen: andererseits wächst auch in den Herzen der Beleidigten der Ingrimm mit der Macht, die ihn befriedigen kann.

Zum mindesten werden euch immer die Freunde und Verwandten der Ermordeten auf der Ferse sein, nicht zu vergessen das Volk, das über die Unterdrückung von Recht und Gesetz ganz empört ist, und von dem auch jener Teil, der vielleicht mit euch noch Mitleid hätte, hinter seiner erbitterten Mehrheit ganz zurücktreten muss.“