Einsturz eines Belagerungsturmes. Eroberung der ersten Mauer. Stürme auf die zweite. Der Held Longinus. Die List des Juden Castor hält einige Zeit den Fall der zweiten Mauer auf.


In der folgenden Nacht wurde auch das römische Lager von einem, allerdings blinden, Alarm in Aufregung versetzt.

Es hatte nämlich Titus drei fünfzig Ellen hohe Türme erbauen lassen, um sie auf allen drei Dämmen aufzustellen und von der Höhe derselben aus die Verteidiger auf der Stadtmauer zurück zu jagen. Da geschah es, dass plötzlich einer dieser Türme von selbst um Mitternacht zusammenstürzte.

Bei dem furchtbaren Krachen, das seinen Sturz begleitete, ward das ganze Lager von Schrecken ergriffen, und alles eilte, in der Meinung, dass die Feinde eingebrochen seien, zu den Waffen.

Ein wirres, lärmendes Durcheinander herrschte bei den Legionen, und da Niemand sagen konnte, was eigentlich geschehen war, schwebte man die längste Zeit in peinlichster Verlegenheit, und es ließ sich sogar in Ermanglung eines wirklichen Feindes einer vom andern ins Bockshorn jagen: wie wenn die Juden schon mitten im Lager stünden, rief jeder den Mann, der ihm nahte, stets um die Parole an. Ein panisches Schreckgespenst schien alle gelähmt zu haben, bis endlich Titus den wahren Sachverhalt erfuhr und im ganzen Lager kund zu machen befahl, worauf dann, allerdings erst sehr langsam, die Ruhe wiederkehrte.


Obwohl die Juden sonst den Römern einen ganz kräftigen Widerstand entgegenstellten, so erlitten sie doch den Belagerungstürmen gegenüber nur Verluste über Verluste. Denn von dort aus konnten sie sogar mit leichteren Geschützen und außerdem von Wurfspießschleuderern, Bogenschützen und Steinschleuderern beschossen werden, ohne dass sie selbst die feindlichen Schützen wegen der Höhe der Türme zu erreichen vermochten. Die Türme aber im Sturme zu nehmen, war unmöglich, da man sie wegen ihrer Riesenlast nicht leicht umwerfen, noch auch wegen des Eisenbeschlages, der sie bedeckte, anzünden konnte.

So mussten sie sich demnach außer Schussweite flüchten und waren dadurch natürlich außer Stand gesetzt, noch ferner den Ansturm der Widder aufzuhalten, die denn auch jetzt ununterbrochen gegen die Mauer dröhnten und nach und nach doch ihr Ziel erreichten.

Bereits wankte die Mauer unter den Stößen des Nikon (d.i. des Siegers), ein Name, den die Juden selbst der größten römischen Widdermaschine gaben, weil sie jeden Widerstand besiegte. Andererseits waren die Juden bereits infolge ihrer Kämpfe und der Wachen, für die sie hier weitab von den bewohnten Teilen der Stadt die Nächte hatten opfern müssen, längst viel zu erschöpft; auch schmeichelten sie sich in ihrer Bequemlichkeit und mit jener Voreiligkeit, die alle ihre Pläne so unheilvoll beeinflusste, mit dem Glauben, es wäre die Bewachung der Mauer ohnehin etwas ganz überflüssiges, in Anbetracht des Umstandes, dass hinter ihr ohnehin noch zwei andere Mauern lägen, und so zogen sich ein denn in der Tat schon früher die meisten von der Stelle zurück. Als dann die Römer an der vom Nikon gebrochenen Bresche hinaufstürmten, verließen schließlich alle Juden ihren Posten und flüchteten sich hinter die zweite Mauer, während die Soldaten, welche die Bresche überstiegen hatten, sofort die Tore öffneten und das ganze Heer hineinließen.

Auf solche Weise bekamen die Römer nach fünfzehntägiger Belagerung am siebenten des Monates Artemisius die erste Mauer in ihre Gewalt. Sie demolierten darauf ein langes Stück von dieser Mauer, wie auch den nördlichen Stadtteil, was früher schon Cestius getan hatte.


Nachdem Titus zunächst die ganze Strecke bis hinüber zum Kedronbach besetzt hatte, rückte er nach dem sogenannten Assyrierlager, so dass er sich gerade noch außerhalb des Schussbereiches der zweiten Mauer befand. Alsbald eröffnete er auch den Sturm auf die zweite Mauer, den die Juden, in zwei Scharen verteilt, von den Zinnen aus tapfer abzuschlagen suchten. Die Anhänger des Johannes kämpften von der Antonia und der nördlichen Halle des Tempels herab, wie auch vor dem Grabmonument des Königs Alexander, während die Schar des Simon den Zugang beim Johannesdenkmal besetzt hielt und bis zu jenem Tore hin sich verschanzt hatte, bei welchem die Wasserleitung nach dem Hippikusturme in die Stadt eintrat.

Oftmals stürzten die Juden zu den Toren heraus und rangen mit den Römern im Nahkampf; wurden sie aber zurückgetrieben, auf der Mauer. In offener Feldschlacht unterlagen sie in der Regel, weil sie von der militärischen Taktik der Römer nichts verstanden, beim Mauerkampf hingegen blieben die Juden im Vorteil.

Während den einen ihre Stärke, wie ihre kriegerische Erfahrung Mut einflösste, tat das bei den Juden die von der Furcht noch genährte Tollkühnheit und ihr im Unglück von jeher gestählter Charakter. Außerdem hatten die Juden doch noch einige Hoffnung auf Rettung, indes die Römer sich einen recht baldigen Sieg erwarteten.

Keine Partei schien eine Ermüdung zu spüren, vielmehr folgte den ganzen Tag Sturm auf Sturm, ein Mauerkampf dem andern, ein ausfallender Trupp dem andern. In allen möglichen Gestalten ward der Kampf geführt.

Kaum, dass die Nacht dem blutigen Ringen, das mit der Morgenröte begonnen, Einhalt tun konnte; doch brachte auch sie keinen Schlaf für die beiderseitigen Kämpfer, ja, sie war noch peinlicher, als selbst der Tag, da die einen jetzt und jetzt die Eroberung der Mauer, die Römer aber den Angriff der Juden auf ihr Lager besorgen mussten. So blieben denn beide Teile auch bei der Nacht unter den Waffen, wie sie der erste Morgenstrahl wieder kampfbereit fand.

Bei den Juden wetteiferte alles, um sich in das dichteste Kampfgewühl zu stürzen und so die Gunst der Führer zu erringen: am meisten Respekt und Furcht hatte man vor Simon, dem seine Parteigänger so ergeben waren, dass auf einen Wink von ihm jeder sich auf der Stelle selbst den Tod gegeben haben würde.

Für die Römer bildeten sowohl ihr beständiger Siegeslauf, der nie durch gewohnheitsmäßige Niederlagen unterbrochen ward, wie auch ihre fortwährenden Feldzüge, ihre beständigen Übungen und die Größe ihrer Herrschaft, vor allem aber die Erscheinung des Titus selbst, der immer und überall im ganzen Heere zu sehen war, einen starken Ansporn zum Heldenmute:

denn dort sich zu schonen, wo der Cäsar gegenwärtig war und sogar den Kampf teilte, erschien als ein arges Verbrechen: umgekehrt stand er auch als Augenzeuge und Vergelter in einer Person vor jenen, die sich tapfer schlugen, ja, es war schon Belohnung genug, dem Cäsar als ein wackerer Mann bekannt zu werden. Daher kam es, dass viele sich durch ihren Kampfesmut in einem Grade auszeichneten, zu dem sie wohl ihre natürliche Kraft nicht befähigt hätte.

So geschah es in diesen Tagen, als die Juden wieder einmal vor der Mauer in starker Masse den Römern die Spitze boten, und beide Teile noch im Plänkeln begriffen waren, dass ein Reitersmann, Longinus mit Namen, aus der römischen Schlachtlinie heraussprang und sich mitten in die Reihen der Juden stürzte, die vor seinem Anprall auseinanderstoben, während zwei der tüchtigsten Krieger unter seinen Streichen blieben. Der eine davon hatte in dem Augenblicke, wo er sich ihm entgegenwerfen wollte, von vorne den Todesstoß bekommen, dem zweiten hatte der Römer auf seiner Flucht den aus der Wunde des ersten gezogenen Speer durch die Seite gerannt, um dann mitten aus dem feindlichen Schwarm ohne eine einzige Schramme zu seinen Kameraden zurückzulaufen.

Er war nun wegen seines Heldenmutes ein gefeierter Mann, aber bald fanden sich viele, die seiner Tapferkeit nacheiferten.

Übrigens achteten auch die Juden der eigenen Wunden nicht, nur darauf bedacht, fremde zu schlagen. Der Tod erschien als etwas sehr leichtes, vorausgesetzt, dass sie im Augenblick, wo sie ihn erlitten, noch einen aus den Feinden niederhauen konnten.

Was aber die Haltung des Titus angeht, so war seine Sorge nicht weniger auf die Schonung seiner Soldaten, als auf den Sieg gerichtet, und er meinte, dass ein unbesonnenes Dreinschlagen eigentlich eine Torheit wäre, während die wahre Mannhaftigkeit mit Umsicht gepaart und so beschaffen sein müsse, dass man dem Feinde Verluste zuzufügen verstünde, ohne selbst einen solchen zu erleiden. Er verbot darum seinen Kriegern, in bloßen Bravourstücklein ihren Mut zu zeigen.


Titus ließ nun den Widder an den mittleren Turm der Nordmauer ansetzen. Auf diesem Turme hatte sich ein jüdischer Gauner, namens Castor, mit noch zehn seines Gelichters in einen Hinterhalt gelegt, während die übrige Mannschaft vor den Scharfschützen Reißaus genommen hatte.

Einige Zeit hielten sie sich in kauernder Stellung ruhig hinter der Brustwehre. Als aber der Turm schon zu wanken begann, sprangen sie auf einmal in die Höhe, und Castor rief mit aufgehobenen Händen, ganz wie ein Hilfeflehender, nach dem Cäsar und bat mit gar kläglicher Stimme um Schonung.

Arglos, wie er war, glaubte ihm Titus und hegte sogar die Hoffnung, die Juden würden jetzt in sich gehen, weshalb er gleich mit den Widderstößen aufhören ließ und den Bogenschützen verbot, auf die Schutzflehenden anzulegen. Castor erhielt die Erlaubnis, seinen Wunsch vorzubringen.

Auf seine Antwort, dass er sich auf Gnade unterwerfen und gerne herabkommen möchte, bemerkte Titus, dass er ihm zu seinem wohlberatenen Entschlusse nur gratulieren könne, und dass, wenn jetzt endlich alle dieselbe Gesinnung teilen möchten, es ihn im Interesse der ganzen Stadt herzlich freuen würde, auch den Übrigen sofort Gnade anbieten zu können.

Von den zehn anderen machten es fünf, wie Castor: sie flehten heuchlerisch um Erbarmen. Die übrigen fünf jedoch schrien laut auf, sie würden nie und nimmer Römersclaven werden, so lange sie noch die Wahl hatten, als freie Männer zu sterben.

Lange stritten sie so hin und her, und es ging unterdessen eine kostbare Zeit für den Angriff verloren, welche Castor dazu benützte, um dem Simon sagen zu lassen, er möge nur ohne Überstürzung die nötigen Vorkehrungen gegen die andringenden Römer treffen, da er, der Castor, ihren Oberfeldherrn noch eine ganze Weile an der Nase herumzuführen gedenke. Zu gleicher Zeit stellte er sich, als wolle er auch die nicht einverstandenen Kameraden zur Annahme der Gnade bewegen.

Aber scheinbar ganz empört darüber, ließen diese ihre blanken Schwerter über die Brustwehr aufblitzen, schlugen damit klirrend an ihren Harnisch und sanken, als hätten sie sich wirklich erstochen, auf den Boden nieder.

Staunen überkam den Titus und seine Begleiter über diese edle Haltung der Männer, und außerstande, von unten aus den eigentlichen Vorgang genau zu sehen, bewunderten sie ebenso ihren hohen Mut, wie sie ihr trauriges Ende bemitleideten.

In diesem Augenblicke schoss dem Castor ein Bogenschütze einen Pfeil an die Nase, den der Verwundete auf der Stelle selbst sich wieder herauszog, um ihn dem Titus vorzuweisen und sich über die angetane Unbill zu beschweren. Der Cäsar warf dem Schützen einen zornigen Blick zu und wollte dann den an seiner Seite stehenden Josephus zu Castor hinschicken, dass er ihm den Handschlag gebe.

Josephus aber erklärte nicht bloß für seine Person, dass er nicht hingehen werde, da die Schutzflehenden gar nichts Gutes im Sinne hätten, sondern hielt auch noch die Freunde, welche hinlaufen wollten, zurück. Da erklärte sich ein Überläufer, namens Aeneias, bereit, zu ihm hinzugehen, und lief auch, als Castor noch nach einem Römer verlangte, der ihm sein Geld auffangen möchte, das er bei sich trage, natürlich mit umso größerem Eifer zum Turme hin, um die Falten seines Busens emporzuhalten.

Da aber hob Castor einen Felsblock auf und schleuderte ihn auf Aeneias hinab, den er zwar, weil er zur Seite sprang, verfehlte, um aber dafür einen anderen Soldaten, der eben hinzugetreten war, zu verwunden.

Jetzt sah freilich der Cäsar den Betrug und zog daraus die Lehre, wie das Mitleid im Kriege nur Schaden bringen könne, weil ein härteres Gemüt weniger Gefahr laufe, der Tücke zum Opfer zu fallen. Im Zorn über den erlittenen Spott ließ er nun den Widder mit verdoppelter Kraft gegen den Turm anstürmen: wie er aber schon einzusinken drohte, da zündeten ihn Castor mit seinen Leuten an und sprangen durch die Flammen in die unter demselben befindliche Höhlung und erweckten auf solche Art abermals in den Römern den Glauben an ihren Heldenmut, gleich als hätten sie sich wirklich in das Feuer gestürzt.