Fall der zweiten Mauer. Rückzug der Römer auf die erste Mauer. Abermaliger Sturm und endgültige Besetzung der zweiten Mauer.


Durch diese Bresche bekam nun der Cäsar die zweite Mauer fünf Tage nach der ersten in seine Gewalt und drang, da die Juden sie völlig verlassen hatten, mit tausend Bewaffneten und seinen Gardetruppen gerade an jener Stelle in die Stadt ein, wo die Bazars der Wollhändler, die Schmiedewerkstätten und der Kleidermarkt der Neustadt sich befanden, und wo die Gassen ganz quer gegen die Stadtmauer abfielen.

Hätte nun Titus entweder ein größeres Stück von dieser Mauer sofort abbrechen lassen, oder wenigstens von dem Kriegsrechte Gebrauch gemacht und den eroberten Stadtteil gleich nach seinem Eindringen verwüsten lassen, so wäre meines Erachtens der Sieg ohne jede Scharte geblieben.

So aber hoffte Titus durch seinen Edelmut die Juden zu beschämen, wenn er die Gelegenheit, ihnen zu schaden, nicht benützen würde, und unterließ es daher, den Eingang so weit zu verbreitern, dass er Raum für einen geordneten Rückzug geboten hätte. Denn er glaubte von den Juden keine Nachstellungen befürchten zu dürfen, in einem Augenblicke, da er sich ihnen eben gnädig zeigen wollte.

Kaum war er nämlich in die Stadt gedrungen, als er auch schon den Befehl gab, keinen der hier ergriffenen Juden zu tödten, oder die Häuser anzuzünden, ja, er war sogar geneigt, die Rebellen als ebenbürtige Gegner zu behandeln, wenn sie nur das Volk bei ihren Feindseligkeiten aus dem Spiele lassen wollten, und machte auch dem Volke selbst die Zusage, ihm sein Hab und Gut wieder zurückzustellen: so sehr war ihm zu tun, die Stadt seiner Herrschaft, den Tempel aber der Stadt zu erhalten!

Das eigentliche Volk nun fand Titus für seine Aufforderungen längst schon empfänglich, aber die kriegerische Mannschaft wollte in seiner Menschenfreundlichkeit nur Schwäche erblicken und gab sich dem Glauben hin, dass Titus nur darum, weil er sich zu schwach fühle, die übrigen Teile der Stadt zu erobern, diese Vorschläge mache.

Sie drohten den Bürgern mit augenblicklichem Tod, wenn einer sich unterstehen sollte, an eine Ergebung zu denken, und wer nur ein Wort vom Frieden verlor, den stachen sie nieder. Endlich warfen sie sich auch noch auf die eingedrungenen Römer. Die einen stürmten die Straßen hinab, denselben entgegen, andere kämpften von den Häusern herab, wieder andere endlich sprangen gar zu den weiter oben gelegenen Toren vor die Mauern hinaus und brachten unter den auf der Mauer postierten Wachen eine solche Bestürzung hervor, dass sie von den Türmen herabeilten und in das Lager zurückliefen.

Drinnen schrien nun die von allen Seiten umzingelten Römer, draußen schrien ihre Kameraden, die für die abgeschnittene Schar das Schlimmste befürchteten. Die Zahl der Juden schwoll immer mehr, und da ihnen auch die genaue Kenntnis der Straßen eine große Überlegenheit sicherte, so verwundeten sie viele Römer und stießen sie im ungestümen Angriff immer weiter hinaus.

Die Römer leisteten freilich ziemlich lange Widerstand, aber nur aus bitterer Verlegenheit, weil eine massenhafte Flucht durch die enge Mauerlücke nicht möglich war. Wie es den Anschein hatte, wären wohl alle, die in die Stadt eingedrungen waren, niedergemetzelt worden, wenn ihnen nicht Titus Luft gemacht hätte.

Er dirigierte nämlich die Bogenschützen an die Eingänge zu den verschiedenen Straßen und wählte für sich selbst gerade jene, wo das dichteste Gewühl war, um mit seinen Geschossen die Feinde zurückzujagen, an seiner Seite Domitius Sabinus, der sich auch in diesem Gefechte wieder durch seinen Heldenmut hervortat.

Unerschütterlich blieb der Cäsar, Pfeil auf Pfeil abschnellend, auf seinem Posten und hinderte die Juden am weiteren Vordringen, bis der letzte Römer sich zurückgezogen hatte.


So wurden die Römer über die zweite Mauer, die sie bereits erstürmt hatten, wieder hinausgedrängt. Darob schwoll den Streitern in der Stadt der Mut gewaltig, und sie bauten auf diesen Erfolg gar hochgespannte Erwartungen, indem sie meinten, dass die Römer sich nicht mehr getrauen würden, in die Stadt einzudringen, wie auch, dass, wenn sie selbst jetzt die Römer angreifen würden, sie vor jeder Niederlage gefeit wären.

Denn Gott verblendete um ihrer Missetaten willen ihren Sinn derart, dass sie weder die Macht der Römer mehr sahen, von der ja doch nur ein kleiner Bruchteil durch die Juden hinausgedrängt worden war, noch auch die Hungersnot gewahrten, die da schon allmählich an sie heranschlich.

Denn während sie selbst bis zur Stunde sich noch von dem Fleische der Bürger sozusagen mästen und das Blut der Stadt trinken konnten, herrschte bei den Gutgesinnten schon längst die bittere Not, und viele starben bereits aus Mangel an Nahrung dahin.

Aber „je mehr Volk hinstirbt, desto besser für uns“, meinten die Rebellen. Denn nach ihrer Ansicht sollten überhaupt nur jene am Leben bleiben, die keinen Frieden wollten und ihr Leben nur dem Kampfe gegen die Römer zu weihen entschlossen wären; die nicht so gesinnte Menge des Volkes dagegen betrachteten sie nur als eine große Last und sahen sie mit wahrer Lust zu Grunde gehen.

Das also war ihr Gebaren gegen die eigenen Landsleute in der Stadt. Den Römern aber gegenüber hatten sie sich an der Mauer fest verschanzt, und schirmten die Bresche mit dem Walle ihrer Leiber, so dass sie wiederholt ihre Versuche, sich den Eingang zu erzwingen, vereitelten. In dieser Weise behaupteten sie sich unter tapferem Widerstande noch drei Tage, bis sie endlich am vierten Tage dem von Titus glänzend geleiteten Sturm erlagen und an der nämlichen Stelle, wie früher, abermals in die Flucht geschlagen wurden.

Zum zweitenmal im Besitze der Mauer, ließ Titus jetzt auf der Stelle die Nordseite derselben in ihrer ganzen Ausdehnung niederreißen, während er die Türme des nach Süden hin verlaufenden Teiles mit Wachen besetzte. Nunmehr konnte er an den Sturm auf die dritte Mauer denken.