Große Heeresparade und ihr Eindruck auf die Juden; Aufwerfen der Dämme vor der Oberstadt und der Antonia. Rede des Josephus an seine Landsleute.


Titus beschloss zunächst, in der Belagerung eine kleine Pause eintreten zu lassen und so den Rebellen Zeit zur Überlegung zu geben, falls vielleicht doch der Abbruch der zweiten Mauer oder auch die Sorge vor der Hungersnot, welche die zusammengeraubten Vorräte wohl nicht lange mehr bannen konnten, sie nachgiebiger machen möchten. Er benützte jedoch diese Unterbrechung in der vorteilhaftesten Weise.

Da nämlich der regelmäßige Zahltag vor der Thüre stand, an welchem der Sold an die Soldaten zu verteilen war, so befahl Titus den höheren Offizieren, ihre Mannschaft auf einen auch für die Feinde sichtbaren Platz aufmarschieren zulassen und dort jedem einzeln sein Geld auf die Hand zu zählen.

Wie herkömmlich, erschienen dabei die Truppen in voller Rüstung, das sonst in der Scheide ruhende Schwert blank in der Faust tragend, die Reiter aber mit ihren kriegerisch aufgezäumten Pferden, die sie am Zügel führten.

Weithin erstrahlte die Umgebung der Stadt im Schimmer der goldenen und silbernen Rüstungen, und nie gab es wohl ein für das Herz des Römers erfreulicheres, nie aber auch ein für die Feinde schrecklicheres Schauspiel.

Die ganze alte Mauer und die Nordseite des Tempels war mit Zuschauern dicht besetzt, über die Häuser hinweg sah man alles voll von Leuten, die neugierig ihre Hälse streckten, und in der weiten Stadt war kein einziges menschenfreies Plätzchen mehr zu erblicken.

Eine furchtbare Bestürzung ergriff selbst die Unerschrockensten beim Anblick der gesammten, auf einen Punkt concentrierten Heeresmacht mit ihrem blitzenden Waffenschmuck und der strammen Haltung ihrer Reihen.

Ich glaube, dass selbst die eigentlichen Aufrührer bei diesem Anblick anderen Sinnes geworden wären, wenn nicht das Übermaß von Freveln, die sie an dem Volke begangen, auch die leiseste Hoffnung auf Verzeihung von Seite der Römer in ihnen erstickt haben würde.

Da ihnen der Tod durch Henkershand für den Fall ihrer Unterwerfung sicher war, so wollten sie doch weit lieber noch den edleren Tod auf dem Schlachtfelde sterben. Dazu kam die siegende Obmacht des Verhängnisses, nach welchem die Unschuldigen mit den Schuldigen und die ganze Stadt mit der Partei des Aufruhrs ins Verderben stürzen sollten.


In vier Tagen hatten alle Römer, eine Legion nach der andern, ihre Löhnung erhalten. Als nun am fünften Tage noch gar kein friedliches Entgegenkommen seitens der Juden sich zeigte, teilte Titus seine Legionen in zwei Partien und machte sich an die Aufschüttung der Dämme, sowohl gegen die Antonia zu, wie auch in der Nähe des Johannesdenkmals. Von der letzteren Stelle aus hatte er im Sinne, die Oberstadt zu nehmen, während er den Tempel von der Antonia aus erobern wollte; denn so lange der Tempel nicht in seiner Gewalt war, war auch der Besitz der Stadt nicht ganz sicher. An jeder der beiden Stellen wurden nun zwei Dämme aufgerichtet, von jeder Legion einer; doch wurden die Wallarbeiter bei dem Grabdenkmal von den Ausfällen der Idumäer und der Kriegsschar des Simon, die Römer vor der Antonia aber von den Leuten des Johannes und dem Zelotenhaufen belästigt, wobei die Juden nicht bloß mit ihren Handgeschossen, die sie von einem höheren Punkte aus schleudern konnten, im Vorteil waren, sondern selbst mit ihren groben Geschützen, da sie dieselben mittlerweile bedienen gelernt hatten, indem die tägliche Übung auch bei ihnen allmählich den Meister machte. Sie hatten 300 Katapulten und vierzig Steinschleudern, durch welche sie den Römern ihre Arbeit an den Dämmen sauer genug machten.

Da aber Titus sich wohl bewusst war, dass die Rettung und das Verderben der Stadt am tiefsten sein eigenes Interesse berühre, so unterließ er es bei dem nachdrücklichsten Betrieb der Belagerungsarbeiten nicht, den Juden ins Gewissen zu reden, und unterbrach seine kriegerischen Anstalten immer wieder durch Friedensvorschläge. Überzeugt davon, dass das Wort oft weit schneller zum Ziele führe, als das Schwert, mahnte er sie persönlich zu wiederholtenmalen, die fast schon genommene Stadt zu übergeben und damit auch das eigene Leben zu retten. Endlich schickte er auch noch den Josephus an sie mit der Weisung ab, mit den Juden in ihrer Muttersprache zu unterhandeln, weil er dachte, dass sie sich von einem Landsmann leichter zum Nachgeben bestimmen lassen würden.


Josephus suchte zunächst im Umkreise der Stadt einen Standort, der für die Pfeile der Juden nicht erreichbar war, von wo sie aber ganz gut seine Worte vernehmen konnten, und hielt dann eine sehr bewegliche Ansprache an sie: „Habet doch Erbarmen“, sprach er, „mit euch selbst und dem Volke, habet Erbarmen mit eurer Vaterstadt und dem Tempel und benehmet euch gegen sie doch nicht gefühlloser, als die Heiden.

Sehet, wie gerade die Römer, die im Tempel nichts zu suchen haben, Ehrfurcht vor dem Heiligtum ihrer Feinde tragen und bis auf diese Stunde dasselbe niemals angetastet haben; und ihr, die ihr im Schatten des Tempels groß geworden seid, und denen er, wenn er unversehrt bleiben sollte, wieder ganz ungeteilt gehören wird, wie, ihr könnt ihn nicht schnell genug der Vernichtung preisgeben!

Ihr seht doch fürwahr, wie schon eure stärksten Mauern zusammengestürzt sind, und dass die einzige, die noch steht, es an Festigkeit mit den schon erstürmten Mauern gar nicht aufnehmen kann. Ihr kennt zudem die Unüberwindlichkeit der Macht Roms und seid auch mit ihrer Knechtschaft von früher her schon bekannt geworden.

Ich sage letzteres aus dem Grunde, weil der Kampf für die Freiheit, soll er wirklich das schöne Streben sein, als das er gilt, von allem Anfang schon unternommen sein muss. Wer aber, nachdem er sich einmal schon unterworfen und lange Jahre gefügt hat, später erst das Joch abschütteln will, dessen Anstrengungen sind wie die letzten Zuckungen eines Sterbenden und nicht die Schläge eines Freiheitshelden.

Gewiss kann man sich auch über kleinere Herren hinwegsetzen, aber unmöglich über solche, die da schon Alles unter ihrer Faust haben. Was hat sich denn bis jetzt der Herrschaft der Römer entziehen können, außer jenen Gegenden, die wegen ihrer Hitze oder Kälte völlig uncultivierbar sind?

Allerwärts ist das Glück ihren Fahnen gefolgt, und Gott, der die Herrschaft von einer Nation auf die andere rollen lässt, steht jetzt eben bei Italien! Dass man aber dem Stärkeren weichen müsse, und dass der Sieg immer dort ist, wo die schärfere Waffe ist, das ist ein allgewaltiges, bei wilden Tieren ebenso wie bei den Menschen herrschendes Gesetz.

Aus diesem Grunde haben sich denn auch unsere Väter, die uns doch an geistiger wie an körperlicher Kraft und auch noch an sonstigen Hilfsquellen weit voraus waren, den Römern unterworfen. Sie hätten sich gewiss nie dazu verstanden, wenn sie nicht die sichere Überzeugung gehabt hätten, dass Gott auf Seite der Römer stehe.

Auf welche Hoffnung wollt ihr denn schließlich noch euren Widerstand bauen, da die Stadt zum größten Teil ohnehin schon erobert und die Lage der Leute drinnen, wenn auch die Mauern noch standhalten sollten, jetzt schon eine traurigere ist, als sie es durch eine Erstürmung je werden könnte?

Ich meine die in der Stadt bereits herrschende Hungersnot, die auch dem Auge der Römer keineswegs verborgen geblieben ist, und durch welche zwar vor der Hand nur die Bürger, über nicht lange aber auch die eigentlichen Streiter hingerafft werden müssen.

Denn sollten auch die Römer von der Berennung abstehen und nicht mit gezücktem Schwerte in die Stadt hineinstürmen, es hält euch doch da drinnen ein Feind umklammert, vor dem jedes Schwert zerbricht, und der von Stunde zu Stunde riesig emporwächst. Oder könnt ihr etwa auch gegen den Hunger die Waffen erheben, um ihn niederzukämpfen, und könnt ihr allein unter allen Menschen selbst über körperliche Bedürfnisse Herr werden?

Es ist wahrlich keine Schande“, fuhr Josephus weiter fort, „wenn man noch Vernunft annimmt, bevor es zum Aeußersten kommt, und wenn man nach dem Rettungsanker greift, so lange es noch möglich ist. Sicher werden euch auch die Römer das Geschehene nicht entgelten lassen, wenn anders euer Frevelmut wenigstens vor dem Abgrund noch Halt macht. Denn die Milde im Siege ist ihnen, sozusagen, angeboren, und gewiss werden sie auch weniger auf die Stillung ihres Rachedurstes schauen, als auf ihren eigenen Nutzen, der wahrlich nicht darin besteht, nur mehr eine menschenleere Stadt oder ein wüstes Land zu besitzen. Das ist auch der Grund, warum euch noch jetzt der Cäsar seine gnädige Hand reichen wollte. Denn hat er einmal die Stadt mit stürmender Hand genommen, so dürfte er wohl Niemand mehr pardonieren, am allerwenigsten solche, die nicht einmal im äußersten Elende auf seine wohlwollenden Mahnungen hatten hören wollen.

Dafür aber, dass auch die dritte Mauer in Kürze erobert werden wird, sollten euch doch die bereits Gefallenen Beweis genug sein. Gesetzt aber auch, es wäre dieses Bollwerk wirklich unzerstörbar, so wird für die Römer noch ein anderer mit euch ringen, der Hunger!


Diese gut gemeinten Worte des Josephus begleiteten viele Juden auf der Mauer mit ihren Spöttereien, viele mit Lästerungen, einige sogar mit Pfeilschüssen. Als nun Josephus mit seinen direkten Ratschlägen bei den Juden nichts ausrichtete, wandte er sich nunmehr in seiner Rede den Beispielen aus der heimatlichen Geschichte zu:

„O ihr Unglücklichen“, rief er aus, „die ihr auf eure angestammten Bundesgenossen ganz vergessen habt, wie, ihr wollet mit dem Schwert in der Faust gegen die Römer streiten? Über was für einen Feind haben wir denn überhaupt je auf diesem Wege den Sieg errungen?

War es denn nicht Gott, der besondere Schöpfer des jüdischen Volkes, der sich desselben jedesmal, so oft es bedrückt wurde, rächend angenommen hat? Kehrt euch jetzt nur einmal um! Sehet ihr denn nicht, was für einen Ort ihr zu eurem Waffenplatz gemacht habt, und was für einen starken Bundesgenossen ihr aufs schändlichste entehrt habt? Könnt ihr euch nicht mehr der Gottestaten zur Zeit unserer Väter entsinnen, und was für gewaltige Feinde ehedem gerade diese heilige Stätte dort uns zu Füßen geschmettert hat?

Mich überkömmt ein Grauen bei dem Gedanken, von den Werken Gottes vor so unheiligen Ohren reden zu müssen: aber höret es nur immerhin, damit ihr auch einsehet, dass ihr nicht bloß die Römer, sondern auch Gott zum Feinde habet!

Einst rückte der frühere ägyptische König Nechao, auch bloß Pharao geheißen, mit zahllosen Bewaffneten aus seiner Residenz und entführte die Fürstin Sarah, die Stammutter unseres Geschlechtes.

Was hat nun ihr Gemahl Abraham, unser Erzvater, getan? Hat er etwa an dem Frevler mit bewaffneter Faust Rache genommen, da er doch über 318 Scheiks gebot, deren jeder wieder unzählige Streitkräfte unter sich hatte? Oder hat er nicht vielmehr in dieser ganzen Macht nur die lauterste Ohnmacht gesehen, so lange Gott fehlte, und hat er nicht seine reinen Hände zu jener Stätte erhoben, die ihr jetzt so greulich entweiht habt, um sich den Unbesiegbaren zum Bundesgenossen zu werben?

Und ist nicht vor dem zweiten Abend noch die Fürstin unberührt zu ihrem Gemahl zurückgesandt worden? Der Ägypter aber kehrte, von tiefer Verehrung für diese Stätte durchdrungen, die von euch mit Brudermord besudelt worden, und zugleich von Schauder über die ihm gewordene nächtliche Erscheinung ergriffen, eilends nach Hause zurück, nachdem er die Hebräer als Gottes Lieblinge noch mit silbernen und goldenen Zieraten beschenkt hatte. Soll ich dann mit Stillschweigen übergehen oder nicht vielmehr ausdrücklich die Auswanderung unserer Väter nach Ägypten hervorheben, wo sie, tyrannisiert und 400 Jahre unter fremden Königen seufzend, trotzdem sie sich hätten mit bewaffneter Hand dagegen erheben können, dennoch ihr Schicksal ganz in Gottes Hände gelegt haben?

Wer wüsste nichts von dem unzähligen Tiergeschmeiß, von dem auf einmal Ägypten wimmelte, und von den verschiedenen Seuchen, die das Land verheerten, wie die Erde keine Frucht mehr gab, und der Nil kein Wasser mehr hatte, kurz, wie die zehn Plagen nacheinander über Ägypten kamen, und wie unter dem Eindruck derselben unsere Väter sogar mit militärischem Geleite, ohne einen Schwertstreich und ungefährdet das Land verlassen durften, geführt von Gott, der sie sich zu seinem Tempelvolke bestimmt hatte?

Hatten dann nicht auch den Raub unserer heiligen Lade durch die Syrer das Philisterland sammt seinem Götzenbilde Dagon und alle Landsleute der eigentlichen Räuber aufs bitterste zu beklagen?

Haben sie nicht, da ihnen die Schamteile ihres Leibes in Fäulnis übergingen, und sogar die Eingeweide mit dem Mageninhalt austraten, die Bundeslade mit denselben Händen, welche sie geraubt hatten, unter Cymbel- und Paukenklang wieder zurückbringen müssen, wobei sie das Heiligtum mit den mannigfachsten Sühnopfern feierten?

Gott war es wieder, der unseren Vätern diesen glänzenden Sieg errungen, weil sie, ohne einen Arm oder eine Waffe zu erheben, ihm allein die Sache zur Entscheidung überließen.

Oder ist etwa der assyrische König Senacherib, dem ganz Asien Heerfolge leisten musste, als er diese Stadt da umlagerte, durch Menschenhand gestürzt worden?

Hatten da nicht eben diese Menschenhände Wehr und Waffen abgelegt, um sich nur zum Gebete zu erheben, und hat da nicht der Engel Gottes dafür in einer einzigen Nacht das zahllose Heer vernichtet, so dass der Assyrer, als er sich beim Anbruch des Tages erhob, 185.000 Leichen fand und mit dem Reste vor den wehrlosen Hebräern, die nicht einmal eine Miene machten, ihn zu verfolgen, die Flucht ergriff?

Ihr kennt dann gewiss auch die Geschichte der Knechtschaft in Babylon, woselbst unser Volk in der Verbannung siebzig Jahre lang zubrachte, ohne sich auch nur einmal gegen die Feinde seiner Freiheit aufzubäumen, bis endlich Cyrus sie ihnen von freien Stücken um Gotteswillen zurückgab und sie in ihre Heimat geleiten ließ, damit sie dort wieder ihrem großen Helfer im Tempel dienen könnten.

Kurz gesagt, es lässt sich kein Beispiel nennen, wo unsere Väter mit den Waffen in der Hand wahre Erfolge erzielt oder umgekehrt ohne dieselben, wenn sie sich nur Gott überließen, es einmal schlecht getroffen hätten. Blieben sie nämlich ruhig, so siegten sie immer zur Zeit und Stunde, welche seiner Gerechtigkeit gefiel, kämpften sie aber, so erlitten sie regelmäßig Niederlagen. Ein Beispiel für das letztere!

Damals, als der König von Babylonien diese Stadt belagerte, da leistete unser König Sedecias entgegen den prophetischen Warnungen des Jeremias dem Feinde mit dem Schwerte Widerstand und – er ward nicht bloß selbst gefangen genommen, sondern musste auch Zeuge sein, wie Stadt und Tempel der Erde gleich gemacht wurden, und das alles, obgleich dieser König noch um vieles besser war, als eure Führer, und sein Volk besser, als ihr!

Denn trotzdem es Jeremias laut in die Stadt hinausrief, dass sie Gott wegen ihrer Vergehen gegen ihn zum Feinde hätten, und dass die Stadt sicher erstürmt werden würde, wenn sie dieselbe nicht übergeben wollten, ward er dennoch weder vom König noch vom Volke getödtet. Aber was tut denn ihr?

Um zu schweigen von dem, was bei euch drinnen vorgeht, von den Freveln, die ich gar nicht gebürend wiedergeben könnte, so sage ich nur: Ihr lästert mich ja und schießet nach mir in dem Augenblicke, wo ich euch wegen eurer Rettung zu Herzen rede, und tut schon so erbittert bei einer leisen Mahnung an eure Missetaten, ja ihr könnt von jenen Dingen, die ihr doch selbst, Tag ein, Tag aus verübet, aus meinem Munde nicht einmal den Namen vertragen.

Ein anderes Beispiel! Als Antiochus, mit dem Beinamen Epiphanes, nach vielen maßlosen Freveln gegen die Gottheit sich zuletzt vor dieser Stadt lagerte, da stürzten sich unsere Vorfahren mit den Waffen in der Hand gegen ihn, um zu erreichen, dass sie selbst im Kampfe hingemetzelt, überdies die Stadt von den Feinden vollständig ausgeraubt, und das Heiligtum für drei Jahre und sechs Monate verödet wurde. Wäre es da noch notwendig, die weiteren Ereignisse zu berühren?

Wer hat denn eigentlich die Römer gegen unser Volk zu den Waffen gerufen? Nicht die Gottlosigkeit der eigenen Landeskinder? Wo hat denn unsere Knechtschaft begonnen? War das nicht damals, wo unsere Vorfahren untereinander in blutige Fehde gerieten, wo der Wahnwitz eines Aristobulus und Hyrkan und ihre gegenseitige Eifersucht den Pompejus der Stadt auf den Hals geschickt oder eigentlich Gott der Herr jene unter das römische Joch gesteckt hat, die keiner Freiheit mehr wert waren?

Nach einer Belagerung von drei Monaten mussten sie sich bekanntlich den Römern unterwerfen, obschon sie keineswegs so große Verbrecher an Tempel und Gesetz waren, wie ihr seid, und weit reichlichere Hilfsquellen für ihren Widerstand zur Verfügung hatten.

Ist uns dann das Ende des Antigonus, des Sohnes des Aristobulus, nicht mehr erinnerlich, unter dessen Herrschaft Gott das nachlässige Volk mit einer abermaligen Eroberung geschlagen hat? Herodes, der Sohn des Antipater, hat uns damals den Sosius, Sosius aber ein römisches Heer ins Land gebracht. An sechs Monate waren die Juden damals umschlossen und belagert, bis sie mit der Eroberung und der totalen Plünderung der Stadt durch die Feinde für ihre Sünden büßen mussten.

So hat also Gott, wie man sieht, zu keiner Zeit unserem Volke das Schwert in die Hand gegeben: Das Schwert ergreifen und geschlagen werden, ist bei ihm völlig eines.

Denn nach meiner Meinung sollten die Umwohner einer gottgeweihten Stätte das ganze Gericht auch Gott überlassen und im selben Augenblick den Arm eines Menschen verschmähen, wo sie selbst sich um die Gunst des höchsten Richters bemühen.

Und habt ihr denn überhaupt etwas von dem getan, woran der Gesetzgeber die Verheißung des Segens geknüpft hat? Oder habt ihr etwas von dem unterlassen, was er mit dem Fluche bedroht hat? Um wie vieles überragt ihr doch an Gottlosigkeit jene, welche weit schneller in die Hände ihrer Feinde gefallen sind?

Sind euch denn nicht die geheimen Vergehen, wie z. B. Diebstähle, Intriguen und Ehebruch, noch viel zu geringfügig gewesen? Ihr setzt ja euren Ehrgeiz in Raub und Mord und wollet als Bahnbrecher der Schlechtigkeit derselben bisher unbekannte Wege erschließen. Der Tempel ist zur Kloake geworden, und zwar haben gerade die Hände von Stammesgenossen die göttliche Stätte besudelt, welche selbst die Römer nur von Ferne zu verehren wagten, wie sie denn überhaupt aus lauter Rücksicht auf unser Gesetz sich viele Einschränkungen in ihren eigenen Gewohnheiten gefallen ließen.

Ei, und ihr wollet nun wirklich unter solchen Voraussetzungen von eurem so schändlich behandelten Bundesgenossen ein Eingreifen erwarten? Gesetzt nun, ihr wäret in der Tat brave Schutzflehende und würdet mit reinen Händen euren Helfer bitten, sowie unser König ihn gegen den Assyrer angefleht hat, damals als wirklich Gott in einer Nacht jenes große Kriegsheer hingestreckt hat; gesetzt dies: ist dann aber auch das Benehmen der Römer gegen euch dasselbe, wie das des Assyrers, um auf Grund desselben auch auf eine solche Rache von Seite Gottes zählen zu können?

Hat nicht der Assyrer von eurem König zuerst Geld erpresst mit der Zusage, die Stadt nicht zu verwüsten, worauf er dessenungeachtet mit Hintansetzung seines Eides heranzog, um den Tempel in Asche zu legen? Was aber die Römer? Sie verlangen bloß die Abgabe, die schon unsere Väter ihren Vätern gezahlt haben, und haben sie diese, so denken sie weder an eine Verwüstung der Stadt noch an eine Verletzung des Heiligtums und lassen euch auch alles andere, wie die freie Familie, den ruhigen Genuss eurer Besitzungen und schützen sogar eure heiligen Gesetze.

Nun ist es gewiss eine Verrücktheit, von der Rache Gottes zu erwarten, dass sie ebenso die gerechten Menschen treffen werde, wie sie sich über Ungerechte geoffenbart hat! Gott weiß überdies auch auf der Stelle zu rächen, wann es sein muss. Hat er ja doch das assyrische Heer gleich in der ersten Nacht, nachdem es Jerusalem gegenüber sein Lager aufgeschlagen, zerschmettert!

Gewiss würde er daher auch für den Fall, dass unsere Nation nach seinem Urteile die Freiheit, die Römer aber Strafe verdienen würden, auf der Stelle, wie bei den Assyrern, nämlich schon damals dreingefahren sein, als Pompejus mit unserem Volke angebunden, als nach ihm Sosius heraufkam, als Vespasian Galiläa verwüstete, und zuletzt endlich Titus vor unseren Augen der Stadt zu Leibe gerückt ist.

Trotzdem haben Magnus und Sosius nicht nur keinen Unfall erlitten, sondern sogar mit stürmender Hand die Stadt genommen, Vespasianus aber hat in dem Feldzug gegen uns sogar eine Kaiserkrone gefunden, während dem Titus selbst die Quellen der Erde ein reichlicheres Nass spenden, nachdem sie doch vorher für euch versiegt waren.

Ihr wisset es doch, wie vor der Ankunft des Titus die Quelle Siloah und sämmtliche Quellen vor der Stadt ausgeblieben sind, so dass man sich das Wasser krugweise kaufen musste. Jetzt aber liefern sie den Feinden so viel Wasser, dass es nicht bloß für Menschen und Zugtiere, sondern selbst zur Bewässerung der Gärten reichlich genügt.

Dieses Gotteszeichen habt ihr übrigens schon früher einmal Gelegenheit gehabt, bei einer Eroberung Jerusalems wahrzunehmen: es war in dem Feldzuge des vorerwähnten babylonischen Königs, in welchem er auch eure Stadt erstürmte und sammt dem Tempel den Flammen preisgab, obwohl nach meiner Meinung die damaligen Einwohner keine so argen Bösewichter waren, wie ihr seid.

Es ist demnach auch meine persönliche Überzeugung, dass Gott aus seinem Heiligtum geflohen ist und in dem Lager jener steht, gegen die ihr eben streitet.

Wird ja doch schon ein ehrlicher Mensch ein liederliches Haus fliehen und für jene, die darinnen sind, nur Abscheu haben! Wie könnt ihr euch da noch einreden, dass Gott, der alles Verborgene schaut und alle Geheimnisse hört, noch länger unter euren Schandtaten verweilen werde?

Doch was sage ich? Gibt es denn bei euch überhaupt noch etwas, womit man geheim tut, und was man zu verbergen trachtet? Gibt es etwas, was nicht schon bei den Feinden sogar allgemein bekannt wäre? Ihr brüstet euch ja noch mit eurer Gesetzesverachtung, und euer täglicher Wetteifer geht nur dahin, wer denn noch schlechter werden könnte, wobei ihr noch mit euren Schurkereien herumstolzieret, als wäre alles nur eitel Tugend!

Aber dessenungeachtet bleibt euch noch ein Weg zur Rettung, wenn ihr ihn nur benützen wollt: die Gottheit ist ja so schnell bereit, sich mit denen, die ihre Schuld bekennen und bereuen, wieder auszusöhnen.

O ihr Männer mit dem eisernen Panzer und dem eisernen Herzen, schleudert doch von euch eure Rüstung, ziehet an dafür das Erbarmen für eure schon in Trümmer sinkende Vaterstadt! Kehret euch um und schauet, was für eine Schönheit, was für eine Wunderstadt, was für ein Heiligtum, was für Weihgeschenke unzähliger Nationen ihr dem Verderben überliefert!

Wer vermöchte es, die Flammen über diese Herrlichkeiten heraufzubeschwören? Wer möchte diese Pracht wohl vernichtet sehen? Was soll man denn überhaupt noch retten, wenn man das nicht rettet? O ihr Verstockte, gefühlloser als Stein!

Sollte für das alles euer Auge schon zu stumpf geworden sein, so habt doch wenigstens Mitleid mit euren Familien und stellt euch jeder das Elend eurer Kinder, eurer Frauen und Eltern vor Augen, welche entweder der Hunger oder das Schwert in kurzer Zeit verzehren wird.

Auch ich weiß mir eine Mutter, ein Weib, ein nicht ruhmloses Geschlecht und ein von altersher erlauchtes Haus in derselben Gefahr, und vielleicht denket ihr sogar, dass ich nur für sie jetzt rede. Wohlan, metzelt sie nur nieder, dies mein Blut soll euch gehören als Preis für euer eigenes Heil! Auch ich selbst will gerne sterben, wenn mein Tod euch nur die Vernunft zurückgeben könnte!“