Buch-Rezension: Luther und Paulus - Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers

Luther und Paulus

Autor:

In der Vorrede zum ersten Band seiner gesammelten lateinischen Schriften (1545) schreibt Martin Luther im Rückblick auf das sog. „Turmerlebnis“ von seiner Erfahrung mit dem Römerbrief (1.16f):

„Da erbarmte sich Gott über mich, so dass ich ... auf die Verknüpfung der Wörter achtete, nämlich: „Gottes Gerechtigkeit“ offenbart sich in ihm, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die der Gerechte lebt, weil Gott sie ihm schenkt, und zwar auf der Grundlage des Glaubens, und die Aussage zu begreifen, dass durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart werde: die passive nämlich, durch die der barmherzige Gott uns mittels des Glaubens rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben. Jetzt fühlte ich mich wie neu geboren, die Türen waren aufgegangen, und ich war ins Paradies selber eingetreten“.

Auch dort wo Luther sich nicht explizit auf Paulus beruft, ist sein Einfluss auf Luther an vielen Stellen zu spüren. Durch die Geschichte der evangelischen Christenheit (zumindest luth. Prägung) wirken diese Bezüge Luthers auf Paulus weiter – mit all ihren Stärken, mit ihren Einseitigkeiten und deutlichen Schwächen. Die vorliegende Studie will den exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der bis heute umstrittenen Rechtfertigungslehre Luthers im Paulusverständnis des Reformators nachspüren.

Nach einführenden Überlegungen zur biblischen Botschaft und ihrer geschichtlichen Prägung zeigt Stolle zunächst die vielfältigen Beziehungen zwischen Luther und Paulus und die Geschichte der Erforschung dieser Beziehung (u. a. mit Bemerkungen zur Dissertation B. Kaisers und einer hilfreichen Zusammenfassung der Lutherkritik der sog. „new perspective on Paul“, 43-49). Daneben bespricht Stolle Entwicklungen bei Luther und bei Paulus und das Verhältnis von Paulus, Luther und luth. Kirche. Stolle will einerseits Paulus möglichst unabhängig von Luthers Anleitung lesen, andererseits sollen Luthers Auslegungen in ihrem Bezug auf die Paulustexte analysiert werden.

Im zweiten Kapitel, „Luthers autobiographische Selbstvorstellung als ‘Paulus’“, greift Stolle die interessante Frage auf, inwieweit sich Luther als ein Paulus für seine Zeit gesehen hat (73-116). Er zeigt wann und wie Paulus für Luther maßgeblich geworden ist. Dies führte zu Luthers Arbeit als Schriftausleger und auf die inhaltliche Mitte der Rechtfertigungslehre. Anschließend zeichnet Stolle umfassend die Entwicklung des luth. Paulusverständnisses nach. Zu Luthers früher Beschäftigung mit Paulus gehören seine Vorlesungen der Jahre 1513-18 (117-60, Paulusinterpretation als Element der Psalmenauslegung, Vorlesungen über den Römerbrief 1516/17, den Galaterbrief 1516/17 und über den Hebräerbrief 1517/16). Luther läßt sich in dieser frühen Phase zum einen von seinen eigenen philologischen Beobachtungen und dem neu entdeckten Hintergrund der paulinischen Terminologie im AT leiten, zum anderen bleibt er inhaltlich weitgehend Augustinus verpflichtet. Dann folgt Luthers Argumentation mit Paulus im wissenschaftlichen Diskurs zunächst im Kommentar zum Galaterbrief von 1519. Durchweg zeigt sich die Funktionalisierung der Bibelauslegung in der zeitgenössischen kirchl. Auseinandersetzung. Anschließend zeigt Stolle das unterschiedliche Verständnis der Gottesgerechtigkeit bei Paulus in ihrer exklusiven Ausrichtung auf Gott (hervorragende Darstellung des paulinischen Befundes) und bei Luther auf (starke anthropologische Adaption, 170-202). An verschiedenen zeitgenöss. Vertretern zeigt Stolle die nachhaltige Einwirkung der Paulusinterpretation Luthers auf die Paulusauslegung auf. Unter der Überschrift „Paulus und Luther: Ein Irrweg christlicher Frömmigkeit wird zu ihrer Normalsituation“ geht es um Luthers Verständnis von Römer 7. Röm 7.23 wurde Luthers eigentlicher Schlüssel in seiner Paulusinterpretation („Luther interpretiert die Thematik des Röm. also deutlich anders als Paulus, indem er den Glaubenden in einer Weise zum Thema macht, wie es erst vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Vorgeschichte möglich war. Die streng theologische Fragestellung des Paulus ging dabei verloren“, 228).

Weiter geht es mit Luthers eigenständig geprägtem Verständnis des Paulus seit 1522 (233-374, Weihnachtspostille 1522, die Definition des „Paulinischen“ im Rahmen des Kanons in den Vorreden zum Septembertestament und zum Römerbrief, von der Tora Frömmigkeit Israels zur Willenserforschung durch das Gesetz – in der Schrift Vom unfreien Willen 1523 und die Vorlesung über den Galaterbrief von 1531-35 unter dem Stichwort „Paulus und Luther im Kampf um die Wahrheit des Evangeliums“). Mit dem Wartburgaufenthalt beginnt die von den Anfängen zu unterscheidende späte Phase der luth. Paulusinterpretation.

Ein weiterer Teil gilt der Wirkungsgeschichte des luth. Paulusverständnisses in der bekenntnismäßigen Ausprägung der luth. Rechtfertigungslehre (Darstellung Luthers als Paulus, die Bewahrung des luth. Paulusverständnisses, Melanchton und sein Paulusverständnis sowie das Paulusverständnis der Konkordienformel, 375-412). Luthers Paulusverständnis ist aus seiner situativen Funktion und von seinem aktuellen Hintergrund gelöst und zu einer normativen Größe für die Identität der luth. Kirche durch die Zeiten hindurch gemacht worden. ... [es] ist auf diese Weise sowohl direkt durch Schriften, deren Autor er selber war, als auch indirekt durch Dokumente, die von anderen verfasst wurden, für die weitere Paulusauslegung lange Zeit leitend und tonangebend geworden. Paulus wurde unter lutherischem Vorzeichen gelesen, mit allen Konsequenzen, die damit verbunden waren. Paulus wurde gleichsam zum Lutheraner gemacht. Zugleich fand Luthers Paulinismus Anwendung als hermeneutischer Schlüssel für die Auslegung der gesamten heiligen Schrift mit der Folge, dass Paulus auch durch diese dichte Integration in den gesamtbiblischen Kontext eigenständige Profilierungskraft einbüßte (408).

m letzten Abschnitt (413-80) fasst Stolle die Bewegung von Paulus zum luth. Paulusverständnis zusammen und beschreibt Paulus und Luther in ihrer Bedeutung angesichts heutiger Herausforderungen (u.a. mit guten Abschnitten zum röm-kath. und luth. Dialog über die Rechtfertigung). Literaturverzeichnis und verschiedene Register runden den Band ab. Stolle schließt:

Luther entwickelt kein autonomes, in sich ruhendes theologisches System, sondern errichtet in Interpretation, Kontrolle, Korrektur, Modifikation und Anwendung auf seine eigene Zeit ein eigenes Gedankengebäude auf der Basis des biblischen Gesamttextes mit deutlicher Schwerpunktsetzung bei Paulus. Seine eigene Theologie bietet er als Paulus-Renaissance dar. Diese ist jedoch keine bloße Paulus-Repristination, sondern eigene Theologie Luthers von einem paulinischen Ansatz aus (26).

Diese Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Bibelauslegung und zum Verständnis Luthers. Ferner zeigt sie, wie Luther trotz allen Bemühens, die Schrift nicht durch die Augen der kirchlichen Tradition zu lesen (sola scriptura), sein eigenes Verständnis des Paulus oft im Wege stand, um Paulus wirklich zu verstehen. Dass es Luther auf diese Weise gelang, seine existentielle Situation und die der Kirche seiner Zeit von Paulus her zu verstehen und zu bestimmen, ist die positive Kehrseite. Die Gefahr eines einseitig oder verzerrt wahrgenommenen Paulus ist freilich nicht auf Luther und Lutheraner beschränkt!

Ferner hilft diese Studie, manche bis heute vehement verteidigten, fromm gepflegten und vermeintlich evangeliumsgemäßen Einseitigkeiten luth. Theologie zu verstehen und zu überwinden. Während z.B. der Pietismus, die ev. Freikirchen und auch die Heiligungsbewegung durch die andere Wahrnehmung der pln. Rechtfertigungslehre und weiterer wichtiger Aspekte paulinischer Theologie wichtige Korrekturen vorgenommen haben (u.a. durch das Wahrnehmen, dass die Rechtfertigungslehre im Röm und Gal nicht für sich steht, sondern dem Indikativ des Heilszuspruches der Anspruch des Evangeliums und seine ekklesiologische Verankerung folgt), hält man auf Seiten der luth. Kirchen – soweit Schrift und Bekenntnisse noch eine Rolle spielen – vielfach beherzt am luth. Paulusverständnis mit allen Stärken, Einseitigkeiten und Schwächen fest.

Freilich muss man fragen, ob in anderen Konfessionen nicht die Schriften der Stifter oder Gründergeneration und deren Wirkungsgeschichte eine ähnlich zum Teil verhängnisvolle Rolle für die Schriftinterpretation spielen. Ob man dort den Mut des Lutheraners Stolle aufbringt und ähnlich kritisch fragt? Stolles Band ist keine einfache, aber durchweg eine lohnende und herausfordernde Lektüre!

 Die Rezension/Kritik stammt von: Christoph Stenschke
 Kategorie: Biblische Lehre

  Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
  Jahr: 2002
  ISBN: 3-374-01990-0
  Seiten: 528
 €    Preis: 48,00 Euro