Überläufer. Hungerszenen in Jerusalem. Grausamkeiten der Gewalthaber.


Diese von Tränen begleitete laute Apostrophe des Josephus konnte die Rebellen weder zur Nachgiebigkeit bewegen noch auch zur Überzeugung bringen, dass sie bei einer Sinnesänderung von Seite der Römer nichts zu fürchten hätten, wohl aber vermehrte sie in starker Weise die Überläufer aus den Reihen der Bürger.

Um jeden Preis schlugen die einen ihre Besitzungen, die anderen ihre wertvolleren Kleinodien los, verschluckten die dafür erhaltenen Goldmünzen, damit sie nicht von den Banditen bei ihnen gefunden werden könnten, und liefen dann zu den Römern über. Sobald nun das Gold wieder abging, hatten sie wenigstens gleich die nötigsten Mittel zum Leben.

Titus gab nämlich den meisten die Freiheit, wo nur ein jeder wollte, sich im Lande niederzulassen, und gerade das ermutigte die Juden ganz besonders zur Flucht ins römische Lager, da ihnen die Hoffnung winkte, sowohl der Drangsale in der Stadt ledig zu werden, als auch der römischen Sklaverei zu entgehen.

Doch wachten die Leute des Johannes und des Simon fast noch ängstlicher darüber, dass kein solcher Bürger hinauskäme, als dass kein Römer hereinkäme, und wer nur den leisesten Verdacht erregte, ward auf der Stelle kalt gemacht.


Für die Vermöglichen war übrigens auch das Bleiben in der Stadt gleichbedeutend mit dem sicheren Untergang, da ein solcher schon um seines Vermögens willen unter dem Vorwand, er sei ein Überläufer, aus dem Wege geräumt wurde. Mit dem Hunger verschärfte sich auch die tolle Grausamkeit der Aufrührer, und die doppelte Qual ward von Tag zu Tag immer verzehrender.

Da die öffentlichen Getreidevorräte allerorts vollständig geschwunden waren, überfielen die Banditen sogar die Privathäuser und suchten sie sorgfältig ab. Fanden sie dann etwas, so misshandelten sie die Hausbewohner, weil sie das Vorhandensein von Speisen weggeleugnet hatten, fanden sie nichts, so marterten sie dieselben erst recht in der Voraussetzung, dass sie die Vorräte nur zu gut versteckt hätten.

Hiebei gab ihnen das leibliche Befinden der Unglücklichen einen Fingerzeig, ob sie wirklich noch etwas hatten oder nicht: Waren sie noch ziemlich gut beisammen, so mussten sie wohl auch noch über Speisevorräte verfügen, nur wer schon ganz abgezehrt war, den ließ man unbehelligt und hielt es auch für ganz überflüssig, einen solchen zu tödten, dem ohnehin gleich die Not den Garaus machen musste.

Viele handelten sich heimlich um ihr ganzes Hab und Gut eine Maß Weizen ein, wenn sie reicher, eine Maß Gerste, wenn sie ärmer waren. Dann schlossen sie sich damit in den entlegensten Winkel des Hauses ein und aßen dort das Getreide in ihrem grimmigen Hunger manchmal sogar noch ganz roh, hie und da auch zubereitet, je nachdem der Hunger und die Furcht es ratsam erscheinen ließen.

Ein förmlicher Tisch wurde nirgends mehr angerichtet, und noch fast ungekocht riss man die Speisen aus dem Feuer, um sie mit wilder Gier zu verzehren.


So erbärmlich nun auch diese Nahrung schon war, so konnte man sich der Tränen nicht mehr enthalten, wenn man erst sehen musste, wie die kräftigeren Familienglieder die Speisen an sich rissen, während die Schwächeren wimmernd zusehen mussten. Wie der Hunger bekanntlich alle anderen Gefühle zurückdrängt, so löst er noch am stärksten die Bande frommer Scheu! Denn was einen sonst mit Beschämung erfüllen müsste, das achtet man im Hunger für gar nichts mehr, und so rissen denn auch Frauen ihren Männern, Söhne ihrem Vater und, was selbst einen Stein hätte erweichen müssen, sogar Mütter ihren Kleinen die Nahrung aus dem Munde! Man hatte mit den teuersten Personen, wenn sie einem schon unter den Händen zu vergehen drohten, nicht einmal so viel Erbarmen, ihnen die letzten Tröpflein des verrinnenden Lebens zu gönnen.

Aber selbst diese klägliche Nahrung konnten sie nicht ungestört genießen, da die Aufrührer überall sogar auf solche elende Bissen noch Jagd machten.

Sahen sie irgendwo ein Haus abgesperrt, so war ihnen das ein Zeichen dass die Leute drinnen Speise zu sich nähmen, und sofort sprengten sie auch schon die Thüren auf, drangen hinein und würgten den Leuten fast den Bissen Brot wieder zum Schlunde heraus!

Hier schlug man einen Greis, der von seinem Vorrat nicht lassen wollte, dort schleifte man eine Frau bei den Haaren, weil sie, was sie eben in der Hand hielt, noch verstecken wollte. Weder das graue Haar des Alters, noch das kleine Kind fand Erbarmen: das Knäblein, das seinen Bissen krampfhaft in den Zähnen hielt, ward mit ihm aufgehoben und aus den Boden hingeschmettert.

War aber jemand doch noch schneller gewesen, als die Eindringlinge, und hatte er die Speise, die sie zu erbeuten gehofft hatten, schon vollständig verschlungen, so ward er von den Räubern nicht anders, als wäre er dadurch selbst an ihnen zum Räuber geworden, noch grausamer gemartert.

Furchtbar waren die neuen Arten von Qualen, die sie ausheckten, um den Versteck eines Speisevorrates aufzuspüren: mit Kichererbsen verstopften sie den Unglücklichen den Mastdarm und durchbohrten ihnen mit spitzigen Stäben das Gesäß! Peinen, die schon schauderhaft zum Anhören sind, mussten manche erdulden, bloß weil sie von einem einzigen Brot nichts sagen und eine Handvoll versteckter Gerstengraupen nicht verraten wollten.

Und dies taten die Peiniger nicht etwa darum, weil sie selbst Hunger gehabt hätten, in welchem Falle ja ihr Benehmen, weil von der Not eingegeben, weniger grausam gewesen wäre, sondern nur zu dem Zwecke, um ihren Frevelmut zu üben und für die folgenden Tage Lebensmittel aufzuspeichern.

Trafen sie auf Leute, welche sich des Nachts aus der Stadt hinaus und fast bis zur römischen Postenkette geschlichen hatten, nur um Feldgemüse und Kräuter zu sammeln, so entrissen sie ihnen in dem Augenblicke, wo die Armen sich bereits vor den Feinden in Sicherheit glaubten, alles, was sie trugen, und gaben ihnen trotz ihres inständigen Bittens und Flehens, und trotzdem sie sie beim Namen des furchtbaren Richters beschworen, ihnen doch einen Teil von dem zu überlassen, was sie sich mit eigener Lebensgefahr gebrockt hätten, nicht das Geringste mehr zurück. Ja es hatte noch seine liebe Not, dass die Geraubten nicht auch obendrein ums Leben gebracht wurden.


Während die gewöhnlicheren Bürger diese Grausamkeiten von den Schergen der Gewaltherrscher erfuhren, wurden dagegen die in Würden und Reichtum stehenden vor die letzteren selbst geschleppt. Die einen davon wurden unter der erdichteten Anklage, entweder geheime Verschwörungen gegen die Tyrannen angezettelt zu haben oder die Auslieferung der Stadt an die Römer zu planen, hingerichtet. Wozu man aber am gewöhnlichsten griff, das war die Anstiftung eines falschen Zeugen, welcher sagen musste, die Betreffenden hätten zu den Römern überlaufen wollen.

Ohnehin schon von Simon ausgezogen, wurden sie noch zu Johannes hinaufgeschickt, und so bekam auch umgekehrt Simon seinen Teil am Raube derer, die zunächst von Johannes waren geplündert worden. Auf solche Art trank man sich gegenseitig das Blut der Bürger zu und teilte sich, sozusagen, in die Leichen der Bedauernswerten.

Nur im Punkte der Herrschaft bestand Streit, in den Ruchlosigkeiten vollkommene Einigkeit: denn den andern Teil bei der Quälerei des Nächsten nicht mithalten lassen, galt als eine ausnehmende Schurkerei, und wenn einmal jemand nicht dabei sein durfte, so tat ihm dieser Ausschluss von dem grausamen Werke so weh, als hätte er ein Glück verscherzt.


Was nun die Einzelnheiten ihres ruchlosen Treibens anlangt, so ist es einfach unmöglich, dieselben genau zu verfolgen. Man kann nur kurz das eine sagen: Nie hat je eine andere Stadt solche entsetzliche Leiden erduldet, und nie war ein Geschlecht von Anbeginn der Welt fruchtbarer an Freveln.

Haben sie ja doch zuletzt selbst die hebräische Nation verhöhnt, um den Glauben zu erwecken, dass ihre Ruchlosigkeiten eigentlich gegen fremde Bürger gerichtet gewesen, in welchem Falle sie natürlich auch weniger abscheulich erschienen wären. Damit haben sie aber nur die schon anderweitig bekannte Tatsache zugegeben, dass sie selbst eigentlich nur Sklavengesindel, der Abschaum, die Bastarde und Auswürflinge der Nation waren.

Während im Grunde nur sie es waren, welche die Stadt ins Verderben stürzten, haben sie die Römer trotz ihres Widerstrebens dazu gezwungen, durch einen unseligen Sieg mit ihrem Namen dieses Zerstörungswerk zu decken, und sie haben die Brandfackel in des Feindes Hand, als sie noch zauderte, fast mit Gewalt an das Heiligtum herangezerrt.

So ist es auch sichere Tatsache, dass diese Menschen, als sie von der Oberstadt aus schon in die Flammen des Tempels hineinsahen, dafür weder einen Schmerz noch eine Träne gehabt haben, während die Römer davon tief ergriffen waren. Doch wir werden darüber später, wenn von diesen Ereignissen die Rede sein wird, an gehöriger Stelle noch reden.